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Das Buch

Schon als Kind faszinierten Vera Koffer. Sie waren der Inbegriff der großen weiten Welt, bedeuteten Freiheit und Unabhängigkeit. Als erwachsene Frau bringt sie ihr Hang zum Klauen von fremden Koffern in Lebensgefahr, als sie hierdurch an einen Psychopathen gerät. Sie überlebt und beginnt eine Therapie, um ihr Kofferproblem in den Griff zu bekommen. Von ihrer Kleptomanie geheilt, entdeckt sie eine andere Sucht. Sie ist nun ständiger Gast auf Beerdigungen und Trauerfeiern fremder Menschen. Waren es vorher die Koffer der Anderen, so sind es jetzt die Lebensentwürfe und Schicksale der Toten, hinter denen sie sich bei ihrer Identitätssuche verschanzt. Und dann erfährt sie auch noch im zarten Alter von über 40 Jahren, dass sie als Säugling ausgetauscht wurde und ihre genetisch „richtige“ Familie in Frankfurt lebt.

Auf turbulente Weise erzählt die Autorin von der umtriebigen Suche einer Frau nach Identität und Glück.

Die Autorin

Sabine Kobel, Jahrgang 1955, wurde in Plauen im Vogtland geboren und lebte bis zum Abitur in Bruchsal. Nach dem Studium der Rechtswissenschaften in Heidelberg und Frankfurt am Main arbeitete sie bei verschiedenen Versicherungen.

Mit ihrem Mann lebt Sabine Kobel in der Pfalz.

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Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit Personen und Sachverhalten sind rein zufällig und vom Autor nicht beabsichtigt.

Die deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter www.dnb.de abrufbar.

© 2020 Lauinger Verlag, Karlsruhe, 3. Auflage

Projektmanagement, Umschlaggestaltung: Sonia Lauinger

Projektassistenz: Claudia Düppe

Satz & Layout: Sonia Lauinger, Stephanie Achstetter

Lektorat: Miriam Bengert, Mara Wolf

Korrektorat: Hannah Kesenheimer, Claudia Düppe

Umschlagfoto © Simona Pilolla, http://www.shutterstock.com

https://www.maxpixel.net/Pink-Petals-Flower-Carnation-Blossom-Bloom-1364746

Druck: ARKA, Polen

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes (auch Fotokopien, Mikroverfilmung und Übersetzung) ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Dies gilt auch ausdrücklich für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen jeder Art und von jedem Betreiber.

ISBN: 978-3-7650-9130-8

Dieser Titel ist auch als E-Book erschienen:

ISBN: 978-3-7650-9131-5

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Inhalt

Das Buch

Die Autorin

PROLOG

DIE KOFFER DER ANDEREN

Der Psychopath

Black - out

Die erste Liebe

Eine unordentliche Kindheit

Die rote Phase

Ein Outing und zwei Abschiede

Die Annonce

Die Ghostwriterin

Das geheime Leben des Professors oder wie man Bomben baut

Freitag, 9.45 Uhr, Flughafen Frankfurt am Main

Die Wende

Der große Umbruch

Die andere Familie

Neuer Versuch zum Glück

EPILOG

Danksagung

„Viele Menschen verreisen, um zu vergessen. Und wenn sie dann am Ziel sind und ihre Koffer öffnen stellen sie fest, dass ihnen das auch gelungen ist.“

Unbekannt

PROLOG

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Durchgeknallt

Ich hatte gerade einen weiteren Bestseller in Folge geschrieben und fühlte mich ausgelaugt und verbrannt. Zwar wohnte ich jetzt in einer Penthousewohnung mit Schlossblick und hätte zufrieden sein können, aber ich genoss weder die Aussicht noch den Luxus, den ich mir nun leisten konnte und mit dem ich mich hemmungslos umgab. Stattdessen verfolgten mich Umsatzzahlen, die mich ständig zu neuen Höchstleistungen antrieben. Zu allem Übel wartete der Verlag schon wieder auf die Abgabe meines vertraglich zugesagten nächsten Romans, der mir über den ersten Satz einfach nicht hinauswachsen wollte. Früher, als ich noch als Ghostwriterin mein Geld verdienen musste, fühlte ich mich unterfordert und glaubte, dass das Leben ungerecht sei und an mir vorbeilief. Jetzt dominierten Versagens- und Existenzängste, und ich war zu einer Getriebenen geworden, die sich völlig überfordert fühlte.

Mein Nervenkostüm befand sich also nicht gerade in bester Verfassung, als ich meinen Wagen in der Fußgängerzone im absoluten Halteverbot parkte. Ich hatte es eilig und war ohnehin schon immer der Meinung, dass Angriff die beste Methode zum Erfolg sei. Deshalb lief ich mit Henry, meinem Mops, im Schlepptau auf die wenige Meter entfernt tätige Politesse mit einem gewinnenden Lächeln zu, drückte ihr meine Autoschlüssel in die Hand und einen Kuss auf die Wange und hauchte ihr mit gekünstelter Besorgnis ins Ohr: „Bitte passen Sie auf, dass meinem Wagen nichts passiert.“

Beschwingt entfernte ich mich von diesem für Autos verbotenen Ort, als sie mich mit einem durchdringenden, markerschütternden Pfiff ihrer Trillerpfeife zum Stehenbleiben zwingen wollte und ihren männlichen Kollegen zur Verstärkung heranwinkte. Beide stürmten auf mich zu. Bevor ich mich in die rettende Eingangstür flüchten konnte, die nur wenige Meter entfernt lag und hinter der sich im dritten Stock des Hauses die Wohnung meines zukünftigen Ghostwriters befand, warfen sich die beiden Gesetzeshüter mit vollem Körpereinsatz auf mich. Zum einen hatte ich noch nie viel für Menschen übriggehabt, die einen Beruf ausübten, der dem eines Wegelagerers glich, zum anderen war mir jede Gewaltanwendung, insbesondere wenn sie sich gegen mich richtete, zuwider. Deshalb blieb es nicht aus, dass ich beim Versuch, mich zu befreien, heftig um mich schlug. Plötzlich fand ich mich in einem unübersichtlichen Gerangel wieder, in dessen Verlauf ich meinen Elektroschocker zu fassen bekam, der mir aus der Handtasche zu fallen drohte. In Nullkommanichts packte ich zu und ging zum Gegenangriff über. „Notwehr“, signalisierte mein Gehirn. Zeitgleich brüllte ihr männlicher Kollege: „Achtung, Hildegard!“.

Doch ich war schneller, und die gute Hilde lag bereits flach auf dem Asphalt, während die elektrische Energie des Schockers ihren Körper zum Zittern brachte. Fatalerweise hatte ich keine Zeit, meine Schadenfreude auszukosten, denn die Lage wurde jetzt wirklich brenzlig. Einer der zahlreichen Passanten, der Zeuge unserer Rangelei geworden war, hatte Verstärkung herbeigerufen. Wenige Augenblicke später klickten Handschellen um meine Gelenke und ich wurde von rabiaten Händen rücksichtslos auf den Rücksitz eines Einsatzfahrzeuges der Polizei gestoßen.

Auf dem Weg zur Wache ließ ich es verbal gesehen noch einmal so richtig krachen, was den Vorwurf des Widerstandes gegen die Staatsgewalt zur Folge hatte. Henry saß auf dem Schoß eines jungen, nicht minder beunruhigt dreinblickenden Beamten.

Es war gegen 11 Uhr, als wir das Sanatorium Hubertusblick erreichten. Der Entscheidung für meine Einweisung in diese Institution ging eine heftig geführte Debatte voraus, die zu dem Schluss führte, dass man es für sinnvoller erachtete, mich in eine Klinik für psychisch Kranke einzuweisen, statt sich auf der Polizeiwache weiter mit mir herumzuärgern, zumal mittlerweile meine Identität bekannt geworden und es nur eine Frage der Zeit war, wann die Presse Wind bekommen und einen Medienrummel auslösen würde. Dies hätte unweigerlich Überstunden für die Beamten in Blau zur Folge gehabt. Meine zwei uniformierten Begleiter machten einen sichtlich erleichterten Eindruck, als sie mich der Obhut Professor Vergissmeinnichts übergaben.

Die Freude des Professors mich wiederzusehen hielt sich in Grenzen, als er von meinem ungebührenden Benehmen gegenüber den Beamten erfuhr. Außerdem hatte er ja auch allen Grund mich zu verabscheuen. Schließlich hatte ich ihm seinen Liebhaber abspenstig gemacht. Meinem Mops gegenüber verhielt er sich äußerst korrekt, wenngleich ein wenig reserviert. Tiere waren hier nämlich strengstens verboten. Aber womöglich ahnte er, zu welchem Aufstand ich fähig gewesen wäre, wenn man versucht hätte, ihn mir wegzunehmen.

Es dauerte über eine Woche und bedurfte einer großen Menge beruhigender Pillen, bis ich wieder halbwegs zu mir fand. Eine schizoide Mitpatientin, die mich im Park des Sanatoriums ansprach, schaffte es letztendlich, mich wieder auf den Boden der Realität zurückzuholen.

„Ich bin die Josephine. Wissen Sie, wo mein Mann steckt?“

Ich verneinte höflich. Doch Josephine ließ sich nicht so einfach abspeisen. „Napoleon ist ständig auf Kriegsfuß. Nie ist er da, wenn ich ihn brauche. Gehören Sie auch zum kaiserlichen Hof?“

Gute Frage, dachte ich und wollte gerade ansetzen ihr zu erklären, dass es sich bei mir eher um ein einsames, außer Kontrolle geratenes Weib handelte, als ich den Schmöker entdeckte, den sie unter dem Arm trug und liebevoll streichelte, während sie mit mir redete.

Mein interessierter Blick auf ihr Buch war ihr offenbar nicht entgangen, denn sie schenkte mir zuerst ein entrücktes Lächeln und überreichte mir schließlich feierlich das gute Stück. Jetzt erst konnte ich den Namen der Verfasserin erkennen.

Vera Flemming! „Die Koffer der Anderen.“ Das bin ja ich, schoss es mir durch den Kopf. Mein Erstlingswerk. Wie lange war das her? Josephine betrachtete mich mit seltsam glänzenden Augen. Sie schien ein wenig gedankenverloren zu sein.

„Eine begnadete Schriftstellerin. Ein bisschen sonderbar vielleicht! Aber sind wir das nicht alle?“

Sie lächelte noch einmal arglos und dann verschwand sie so still und leise, wie sie gekommen war. Ich stand da und sah ihr verblüfft hinterher.

Hatte ich das soeben wirklich erlebt oder eine Psychopille zu viel geschluckt? Mit widersprüchlichen Empfindungen machte ich mich mit Mops Henry auf den Weg zu Professor Vergissmeinnicht.

Bevor ich an seine Bürotür klopfte, atmete ich tief durch. Mit sonorer Stimme bat er mich hinein.

Kühl und sachlich fragte er mich, was mich zu ihm geführt habe. Henry bedachte er lediglich mit einem strengen Blick. Dann erklärte ich ihm feierlich, dass ich seine Hilfe nicht weiter in Anspruch nehmen und mein Leben wieder selbst anpacken wollte. Der Professor sah mich lange nachdenklich an. Schließlich erhob er sich, baute sich in seiner ganzen Größe vor mir auf, streckte mir dann die Hand entgegen und wünschte mir viel Glück für die Zukunft. Ohne zu überlegen schlug ich ein. Während mir das Herz klopfte und mir feierlich zumute war, schien der gute Vergissmeinnicht eher erleichtert, als er mich zur Tür geleitete und mich endgültig verabschiedete.

Mein Entschluss stand fest. Ich würde mir eine Auszeit nehmen. In Zukunft würde ich keine einzige Zeile mehr selber verfassen.

Ich hatte meinen Wagen ordnungsgemäß in einem Parkhaus in der Nähe der Wohnung meines zukünftigen Ghostwriters abgestellt, als ich leichten Herzens und guten Gewissens mein neues Leben beschritt und die ausgetretenen Stufen des tristen Altbaus erklomm.

Ich war frei!

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DIE KOFFER DER ANDEREN

Schon als Kind faszinierten mich Koffer. Sie waren der Inbegriff der großen weiten Welt und bedeuteten Freiheit und Unabhängigkeit. Sehnsüchtig sah ich den Reisenden hinterher, wenn sie in ihre Taxis stiegen und auf dem Bahnsteig auf Züge warteten, die sie in eine andere ferne Welt beförderten. Es war wie eine heimliche Übereinkunft, eine Absprache zu einem Abenteuer, das mir nicht vergönnt war, an dem ich nicht teilnehmen durfte.

Später, als erwachsener Mensch, bewegte ich mich selbst inmitten der Reisenden. Stundenlang sah ich den An- und Abfliegenden auf den Airports zu, wie sie eilig hastend ihre Habseligkeiten hinter sich herzogen oder sie auf einem der Kofferkulis transportierten. Doch bald reichte mir das bloße Beobachten nicht mehr. Ich wollte mehr!

Eines Tages war ich gerade gelandet und stand wartend am Gepäckband, als mein Koffer als einer der ersten ausgespuckt wurde. Wenn ich heute daran zurückdenke, kommt es mir vor wie ein fremdes Leben.

Routiniert griff ich nach ihm und stellte ihn neben mich. Ich hätte jetzt gehen und diese schwüle Wartehallenatmosphäre hinter mir lassen können, aber irgendetwas hielt mich zurück. Gebannt starrte ich auf die nachfolgenden Gepäckstücke, die polternd aus dem Rachen des dunklen Ungeheuers fielen. Wie hypnotisiert griff ich zu dem gerade an mir vorbei gleitenden silbergrauen Samsonite und schwang ihn auf meinen Gepäckwagen. In meinem Kopf rauschte es. Mein ganzer Körper begann zu kribbeln und wurde regelrecht überrollt von einer Welle tiefen sinnlichen Empfindens, gefolgt von einer kurzen, heftigen Eruption. Es war wie ein Vulkanausbruch, bei dem tief im Inneren bei sehr hoher Temperatur Gestein zu Magma schmilzt und sich durch einen extremen Druck als Lava auf die Erdoberfläche ergießt.

Tief befriedigt schwebte ich mit den beiden Gepäckstücken dem Ausgang entgegen. Der Gedanke, dass mich jemand beobachtet haben könnte, kam mir erst, als sich meine hochfrequente Atmung zu beruhigen begann. Statt der S-Bahn entschied ich mich für ein Taxi. Das Risiko, jetzt noch ertappt zu werden, war dadurch wesentlich minimiert.

Ich konnte es kaum erwarten, dem Schnappen der Schlösser zu lauschen; zuhause, in der Sicherheit meiner vier Wände.

Der Koffer ließ sich leichter öffnen als gedacht, denn dessen bisheriger Eigentümer hatte sich nicht einmal die Mühe gemacht ihn abzuschließen. Sage und schreibe fünfzig Seidenkrawatten lagen fein säuberlich, einzeln in Folie verpackt, auf dem Boden des Koffers.

Während ich jedes einzelne Modell hochhob und mit glänzenden Augen bestaunte, knisterten die Hüllen vielversprechend in meinen Händen. Neugierig begutachtete ich die Winterkollektion der Firma Missoni, wie auf der Packung zu lesen war.

Um mehr Klarheit über die Identität des Besitzers zu erlangen, öffnete ich dessen schweinsledernen Toilettenbeutel. Das darin befindliche Rasierwasser roch teuer und mondän. Außerdem bevorzugte Mister Unbekannt offenbar die gute alte Nassrasur. Spielerisch strich ich den feinen Pinsel, der noch jungfräulich unbenutzt zu sein schien, über meine Gesichtshaut, was einen wohligen Schauer zur Folge hatte. Selbst die schmutzige Unterwäsche roch irgendwie aufregend männlich. Das Rasierwasser platzierte ich selbstgefällig auf die Ablage unter meinem Badezimmerspiegel. Pinsel und Messer stellte ich behutsam daneben. Der Besitzer dieser Utensilien hieß Peter Matussek und wohnte in der Gaisbergstraße in Heidelberg.

Ich hatte den Vorfall längst vergessen, als ich zwei Monate später auf dem Flughafen von Hurghada landete. Ich hatte mich kurzfristig für einen Urlaub in Ägypten entschieden und stand an einem der zwei Gepäckbänder, die unablässig nebeneinander herliefen und für Verwirrung sorgten, da keiner aus unserem gerade gelandeten Flieger wusste, wo er sich anstellen sollte.

Nachdem ich trotz der chaotischen Verhältnisse meinen Koffer wie durch ein Wunder in dem Gewühl entdeckt und an mich genommen hatte, blieb ich noch eine Weile in Gedanken stehen. Plötzlich hatte ich wieder dieses Rauschen im Kopf. Eine kaum auszuhaltende Spannung bemächtigte sich meines Körpers, gleichzeitig spürte ich jeden einzelnen Nerv. Waren es die ägyptischen Temperaturen oder war es die Situation, die mich zum Schwitzen brachte? Herzrasen und Lustgefühl vermischten sich, als ich den Griff eines mittelgroßen braunfarbenen Rimowas in die Hand nahm. Schwungvoll zog ich ihn vom laufenden Band und stellte ihn wie selbstverständlich zu meinem eigenen auf den Gepäckwagen. Dann machte ich, dass ich wegkam.

Draußen vor dem Flughafengebäude standen schon die Transferbusse bereit, um uns Touristenvieh in die gebuchten Unterkünfte zu bringen. Plötzlich versetzte mich ein Gedanke in Angst und Unruhe. Was, wenn der Besitzer des fremden Koffers im gleichen Bus saß und mich als Diebin entlarven würde?

Mit zittrigen Händen entfernte ich den Anhänger mit der Heimatadresse und ließ ihn in den Tiefen meiner Handtasche verschwinden. Dann kritzelte ich meinen eigenen Namen auf einen eilig abgerissenen Notizblockzettel und steckte ihn in den Plastikfolienanhänger. Im Hotel würde ich genug Zeit haben, mich näher mit der Identität meines „Opfers“ auseinanderzusetzen.

Wir standen noch eine ganze Weile auf dem schmucklosen, in der prallen Sonne liegenden Busbahnhof herum, bis der Fahrer endlich das Zeichen gab, einzusteigen. Er wollte nicht mehr länger auf den fehlenden Fahrgast warten, der noch unabgehakt auf seiner Liste stand.

Beim Abendessen erfuhr ich von der etwas erschöpft wirkenden Dame zur Rechten, „ich bin die Traudel“, dass sie sich im Laufe des Nachmittags in der Hotelboutique komplett neu hatte einkleiden müssen, weil ihr der Koffer mit den gesamten Designerklamotten abhanden gekommen war. Sie schimpfte ausgiebig auf die ägyptischen Gauner im Allgemeinen und die Moslems im Besonderen. Ich versuchte ihr, so gut es ging, aus dem Weg zu gehen, aber sie schien einen Narren an mir gefressen zu haben.

Nach spätestens drei Tagen waren wir die dicksten Freundinnen – und für die restlichen Urlaubstage unzertrennlich. Ihr Interesse an mir genoss ich sehr. Endlich könnte sie sich mal bei jemandem aussprechen, der zuhören konnte, meinte sie dankbar. Im Gegenzug trug ich ihre teuren Designerstücke heimlich auf meinem Zimmer und machte mich mit der Gebrauchsanweisung des künstlich nachgebildeten Penis, in Fachkreisen auch Dildo genannt, vertraut, von dessen Existenz ich bis dato nur vom Hörensagen wusste und den sie dezent in einer der Seitentaschen ihres Koffers verstaut hatte.

Dagegen war Traudels Tagebuch bei weitem nicht so spannend und effektiv. Immerhin erfuhr ich beim Lesen der unzähligen Seiten jeden ihrer düsteren Gedanken. Nach nur wenigen Stunden Lektüre wusste ich, welch erschütternde Gefühle sie plagten. Schon am dritten Abend vertraute sie mir alles an, was ich bereits aus ihrem Diarium wusste. Wenngleich auch in einer, aus ihrer Sicht, etwas beschönigenden Fassung.

Den Abschiedsbrief ihres Mannes, den ich während des gesamten Urlaubs als Lesezeichen missbraucht hatte, zerriss ich in tausend kleine Fetzen und spülte sie am letzten Ferientag die Toilette hinunter. Aus den lieblosen Zeilen dieses miesen Schuftes ging hervor, dass er sie wegen einer Jüngeren verlassen hatte. Mit wenigen, herzlos dahin geschmierten, Worten, ließ er sie wissen, dass er mit der anderen zum ersten Mal in seinem Leben wirklich glücklich war. Mir hatte Traudel in den gemeinsam verbrachten Urlaubstagen weiszumachen versucht, dass es sich genau umgekehrt verhalten und sie ihn wegen eines weitaus attraktiveren Mannes vor die Tür gesetzt hatte.

Na ja. So wie jeder andere auch, mochte ich keine Lügen und Schwindeleien. Aber ich drückte beide Augen zu, denn ich hatte noch nie einen Menschen kennen gelernt, der sich so sehr für mich interessierte wie Traudel. Es tat mir gut: das Gefühl, ihre beste Freundin zu sein.

Diese Hochstimmung war jedoch nur von kurzer Dauer und stellte sich schon bald als Irrtum heraus.

Als ich Traudel nach dem Urlaub anrief, um mich mit ihr zu treffen, konnte sie sich nicht einmal mehr an meinen Namen erinnern. Aufgrund ihrer Tagebuchaufzeichnungen und der Lügengeschichten, mit denen sie mich zwei Wochen lang traktiert hatte, hätte ich eigentlich merken müssen, was für ein mieses Aas sie war. Meine Schwäche für fremde Koffer sollte mir noch so manche Einblicke in menschliche Abgründe gewähren.

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Der Psychopath

Wenige Tage später – es war ein Mittwoch – saß ich in der S- Bahn in Zürich, als an der vorletzten Station ein attraktiver Mann um die fünfzig zustieg. Blaugraue Augen. Graublonde kurze Haare. Gepflegter Oberlippenbart. Mittelgroß. Drahtig. Kultivierte Erscheinung.

Selbstbewusst drückte er sich durch die Menschenmenge zu dem einzigen noch freien Sitzplatz. Unter dem Arm trug er ein etwas ungewöhnliches Gepäck, eine Art Kunststofffaltbox mit Griff, was zwar einen eleganten, aber zugleich sperrigen Eindruck vermittelte.

Angestrengt schaute er sich nach einer geeigneten Stelle um, an der er den Gegenstand sicher verstauen konnte. Schließlich entschied er sich, nicht ohne Bedenken, wie mir schien, das seltsame Behältnis neben der Kofferablage am Eingang des Waggons zu deponieren.

Während er geistesabwesend in einer Zeitschrift blätterte, starrte er unentwegt auf das aus dem Rahmen fallende Gepäckstück.

Als sich die Türen erneut öffneten und die hereindrückenden Menschenmassen einen kurzen Moment sein Gesichtsfeld versperrten, sah ich meine Chance gekommen. Flink griff ich nach der Box und stürzte aus der Bahn, hinein ins Menschengewimmel und in die Anonymität der Massen. Verstohlen guckte ich hinter mich. Verfolgte er mich? Offenbar hatte er nichts bemerkt.

Ohne lange zu überlegen, stieg ich in die erste S-Bahn, die neben mir hielt und in die entgegengesetzte Richtung fuhr, aus der ich gerade kam. An der nächsten Station stieg ich wieder aus und suchte mir einen ruhigen beschaulichen Ort, an dem ich mich meiner Beute in Ruhe widmen konnte.

In gespannter Erwartung betrat ich ein Café, das gerade aufgemacht hatte und um diese Zeit noch wenig frequentiert wurde. Ich setzte mich an den Ecktisch am Fenster und bestellte bei der dröge wirkenden Kellnerin eine Tasse Kaffee, die ich, so heiß wie sie war, in wenigen Schlucken gierig hinunterstürzte und mir prompt die Oberlippe verbrannte. Ich spürte schmerzhaft die sich entwickelnde Brandblase auf meiner Schleimhaut und ärgerte mich über meine Maßlosigkeit. Doch die war jetzt Nebensache.

Mit wenigen Handgriffen öffnete ich das ungewöhnliche Konstrukt. Ein Gemälde! Staunend betrachtete ich die Schönheit der Abbildung. Ich konnte den Blick nicht abwenden von dem Liebreiz der Frau, die eine Schachtel in der Hand hielt, aus der rötlicher Rauch aufstieg, der sie geheimnisvoll umhüllte.

Als Ghostwriterin hatte ich vor etlichen Jahren einer Kunststudentin für 3000 Euro geholfen, eine wissenschaftliche Abhandlung zum Thema Griechische Mythologie zu verfassen und wusste deshalb sofort, um welches Motiv es sich hierbei handelte. Ich hielt die „Büchse der Pandora“ in meinen Händen. (Die Auftraggeberin war übrigens dennoch durch ihr Examen gefallen, denn trotz meiner Bemühungen ihr die mythologische Bedeutung näher zu bringen, zog sie es vor, das Geld ihrer Eltern mit Drogen und Alkohol zu verpulvern und zur mündlichen Prüfung völlig bekifft zu erscheinen.)

Ich starrte auf das Bild. Es zeigte Pandora – in der griechischen Göttersage die erste Frau auf der Erde – wie sie eine Dose in der Hand hielt, die sie auf Geheiß des Gottes Zeus nicht öffnen durfte. Als sie es aber dennoch tat, entließ sie damit all die Übel aus ihr, die seither die Welt plagten.

In der biblischen Überlieferung war es bekanntermaßen keine Dose, sondern ein rotbackiger Apfel, angesichts dessen Eva schwach wurde und ihn trotz göttlichen Verbots vom Baum der Erkenntnis pflückte.

Ich musste offenbar laut vor mich hingesprochen haben. Denn auf einmal hörte ich eine selbstbewusste männliche Stimme neben mir sagen: „Dann schloss sie die Schachtel aber noch so rechtzeitig, dass darin nur noch die Hoffnung enthalten blieb.“

Der attraktive Typ aus der S-Bahn stand wie aus dem Nichts vor mir und betrachtete mich mit einer Mischung aus Neugierde und wissenschaftlichem Interesse. Wie hatte er mich finden können? Niemand war mir gefolgt. Mein fragender Gesichtsausdruck war ihm wohl nicht entgangen.

„Das Gemälde ist zu kostbar, um es ungeschützt zu transportieren. Es wird mit einem Navigationssatellitensystem überwacht.“ Belustigt zeigte er auf ein kleines unscheinbares Gerät, das er aus seiner Jackentasche zauberte und mir stolz präsentierte.

„Der Sender ist im Koffer eingearbeitet. Über GPS wusste ich die ganze Zeit, wo Sie sich aufhalten und musste Ihnen lediglich gemütlich folgen.“

Selbstgefällig schob er dann einen Satz nach, der mich ins Schwitzen brachte. „Ihnen ist aber schon bewusst, dass Sie sich strafbar gemacht haben?“

Ich bin das krasse Gegenteil eines selbstbewussten Menschen. Selbst meine Auftraggeber werfen mir vor, mich zu oft zu entschuldigen. Meistens gelingt es ihnen, mein mir zustehendes Honorar herunterzuhandeln oder mich unter Zeitdruck zu setzen. Ich gehe automatisch jeder Konfrontation aus dem Weg. Meine Gesten sind eher klein und unauffällig. Ich mache meistens, was von mir erwartet wird.

Der attraktive Unbekannte setzte sich wie selbstverständlich zu mir an den Bistrotisch und betrachtete mich eingehend. Sofort fühlte ich mich hässlich und kam mir wie ein Stück Vieh vor, das gleich zur Schlachtbank geführt werden soll. Wahrscheinlich würde er mir als nächstes mitteilen, dass er mich wegen Diebstahls anzuzeigen gedachte. Aber ich hatte mich gründlich geirrt. Gut gelaunt rief er stattdessen die Kellnerin herbei und bestellte eine Flasche Champagner – nur das Beste. Die eben noch verschlafen wirkende Bedienung wuselte plötzlich hyperaktiv zwischen Ausschank und Tisch hin und her, während der Unbekannte ihr ein charmantes Lächeln schenkte.

Dann schien er sich wieder meiner Person zu besinnen und forderte mich mit einem spitzbübischen Blick auf: „Erzählen Sie. Was hat Sie dazu getrieben, mir meine schöne Pandora wegzunehmen?“

Er räusperte sich geziert, bevor er fortfuhr: „Wenn Sie dafür eine originelle Erklärung haben, lasse ich Sie unbehelligt laufen.“

Während er sprach, prostete er mir aufmunternd zu, so als ob er mir dadurch meine Antwort leichter machen wollte. Was verstand er unter „unbehelligt“?, schoss es mir durch den Kopf. Ich war in all der zurückliegenden kofferkleptomanisch geprägten Zeit noch nie erwischt worden, musste mich deshalb auch niemals rechtfertigen. So fiel mir auch jetzt nichts Außergewöhnliches oder gar Skurriles ein. Deshalb schwieg ich vorsichtshalber und starrte angespannt auf das Gemälde. Plötzlich kam mir die Idee, es zur Abwechslung mit der Wahrheit zu versuchen.

„Ich war neugierig, was sich in der Box befindet.“ Dabei sah ich ihn mit meinen grünen Augen so unschuldig wie nur möglich an. Was für ein schöner Mensch, stellte ich gedankenverloren fest. Noch nie zuvor hatte sich ein solch Mann für mich interessiert. Und er würde es auch nicht mehr lange tun, nachdem er die Polizei verständigt hatte, die mich in stundenlangen Verhören weichklopfen würde.

Stattdessen füllte er unsere Gläser nach und lachte laut auf. Meine Antwort hatte ihm offenbar gefallen.

„Sie sind ja ein Kind geblieben. Unschuldig und ohne Moral. Gibt es doch noch Hoffnung auf dieser Welt? Was glauben Sie?“

Sein Blick verlor sich versonnen in meinem Gesicht. Wie in Trance antwortete ich: „Ohne Hoffnung gäbe es doch nur Angst und Verzweiflung.“ Wie wahr. Ich sprach aus, was ich aus eigener Erfahrung gerade selber durchlebte. Ich hatte den Eindruck, dass mein Verfolger von meinem augenscheinlich scharfen Verstand hingerissen war. Zumindest hatte ich ihn sprachlos gemacht. Er schien nachzudenken. Nach einer gefühlten Ewigkeit nahm er den Dialog wieder auf.

„Sie sind eine äußerst bemerkenswerte Frau. In einer Zeit der Lüge und des Selbstbetruges haben Sie sich Ursprünglichkeit und Echtheit bewahrt.“ Selbstverliebt strich er sich über seinen gepflegten Oberlippenbart. Dann schien er sich wieder zu besinnen. „Ich habe eine sträfliche Unterlassung begangen. Darf ich mich vorstellen? Adrian van Ackeren. Kunsthändler und Sammler.“ Er sah mich erwartungsfroh an. Als ich stumm blieb, hakte er leicht gereizt nach: „Darf ich nun auch Ihren Namen erfahren?“

Ich entschied mich für den Mittelweg.

„Ich heiße Vera.“

„Und weiter?“

„Nichts weiter.“

In ihm arbeitete es auf Hochtouren. Ich hatte ihn verärgert, aber er ließ sich nicht so leicht aus der Fassung bringen. Stattdessen machte er mir folgenden Vorschlag: „In drei Stunden findet eine wichtige Kunstauktion statt, bei der ich nicht fehlen darf. Unglücklicherweise hat sich meine Sekretärin ein Bein gebrochen und kann mich nicht begleiten. Was halten Sie von der Idee, für Sie einzuspringen?“

Wahrscheinlich hatte er damit gerechnet, dass ich in Freudengeheul ausbrechen würde.

Als ihm klar wurde, dass er durchaus mit einer abschlägigen Antwort rechnen musste, erinnerte er mich erneut an meine Verfehlung.

„Sie können sich entscheiden zwischen einem gebildeten und nicht ganz unsympathischen Kavalier alter Schule, oder einer wenig angenehmen Vernehmung durch die Polizei. Die Konsequenzen dürften Ihnen ja bekannt sein? Vorstrafe, sozialer Abstieg. Wer einmal in die Mühlen der Justiz gerät …“

Das Ende des Satzes ließ er unausgesprochen. Eindringlich und im Flüsterton fuhr er fort: „Ich denke, Sie sind mir diesen kleinen Gefallen schuldig. Was meinen Sie?“

Ja, was meinte ich? Blieb mir denn eine andere Wahl? Mit der Polizei wollte ich auf keinen Fall etwas zu tun bekommen. Andererseits war es doch nicht so schlimm, mit diesem gutaussehenden Kerl eine Kunstauktion zu besuchen.

Er hatte wohl meine Gedanken durchschaut, denn er meinte ziemlich sachlich: „Ihre Bedenken in Ehren. Aber auch ich gehe ein gewisses Risiko ein. Denn ich weiß ja nicht, ob Sie wieder zuschlagen, weil Sie Ihre diebischen Hände nicht im Zaun halten können. Aber was sind schon Skrupel? Die Menschheit belastet sich viel zu sehr damit.“ Dabei lachte er, als sei ihm gerade ein besonders guter Witz gelungen. Ich gab mich geschlagen. Nonchalant meinte er dann noch: „Vera, wir werden uns gut verstehen. Sie werden mich nicht enttäuschen!“

Mit seltsam aufgewühlter Stimme fragte er mich dann plötzlich, ohne Zusammenhang zum Vorhergesagten: „Glauben Sie, dass es noch Hoffnung gibt auf dieser Welt?“ Er war schon ein komischer Heiliger. Aber ich hatte meine Entscheidung gefällt.

Doch bevor ich sie ihm mitteilen konnte, offenbarte er mir völlig überraschend: „Sie erinnern mich übrigens an ein Gemälde von Gustav Klimt. Er hat es 1907 gemalt und es trägt den Titel: Danaë. Ich weiß, ein kühner Vergleich, zumal die Dame auf dem Bild nackt ist und einen gerade erlebten Orgasmus durch den Göttervater Zeus ahnen lässt.“

Ich musste ihn wohl ziemlich verstört angesehen haben, denn er lenkte sofort ein.

„Hoffentlich habe ich Sie nicht gar zu sehr erschreckt? Aber meine Fantasien gehen mal wieder mit mir durch. Ich kann einfach nichts dagegen tun. Daran sind Ihre rotblonden Haare schuld.“ Fast entschuldigend schob er dann noch nach: „Danaë war übrigens ein Symbol für die Göttliche Liebe und die Transzendenz.“

Keine Widerrede zulassend stand er auf und beglich die Champagnerrechnung. „Kommen Sie, wir brechen auf. Ich möchte Ihnen einige faszinierende Bilder zeigen.“

Während er ein Taxi bestellte, das uns zur Auktion bringen sollte, meinte er plötzlich: „Ich habe es mir anders überlegt. Ich pfeife auf die Auktion. Hier in Zürich findet zurzeit eine Ausstellung statt, die Sie interessieren könnte. Sie trägt den Titel ‚Mythos Frau‘.“ Dann wies er den Fahrer an, zu wenden und zur Galerie Bührle zu fahren.

Während wir unterwegs waren, hielt er mir einen Vortrag über Gabriel Rossetti.

„Er war ein beeindruckender Maler. Ach übrigens, Sie waren doch so begeistert von dem Pandora-Gemälde? Das ist übrigens auch von ihm, jedenfalls das Original.“ Ein verschmitztes Lächeln huschte über sein Gesicht. Er sah mich an wie ein Komplize nach einem gelungenen Coup. Dann fuhr er fort: „Das Bild, das Sie sich unter den Nagel reißen wollten, ist, nebenbei bemerkt, eine außergewöhnlich gute Fälschung. Die Fachwelt wäre entsetzt, wenn sie es erfahren würde. Köpfe würden rollen. Eventuell auch meiner. Aber genug der Worte.“

Ich ließ mich willig durch die Ausstellung führen. Er machte mich auf ein Selbstporträt des jungen Dante Gabriel Rossetti aufmerksam. „Er war gerade neunzehn Jahre alt, als er diese Zeichnung von sich anfertigte. Was für ein schöner junger Mann! Später, in die Jahre gekommen, sieht man ihm seine Ausschweifungen deutlich an. Opium, Alkohol, Huren, durchlebte Nächte.“

Wir gingen ein paar Schritte weiter. Schließlich blieb er vor einem Gemälde stehen, das einen Frauenkopf mit dicker roter Mähne zeigte. Da fing er plötzlich laut an zu rezitieren:

„Geheimnis: Sieh dort zwischen Mond und Sonne

Die Syrische Astarte! Venus war

Vor Aphrodite Königin. Wunderbar

Umschließt ihr Silbergürtel ew‘ge Wonne …“

Ich fühlte mich plötzlich grenzenlos überfordert, und es war mir peinlich, wie die umstehenden Leute uns anstarrten. Der Auftritt dieses Mannes inmitten fremder Menschen kam mir entschieden übertrieben und lächerlich vor.

„Sie sind nicht bei der Sache. Überfordere ich Sie etwa?“, raunzte er mich ungehalten an.

Ich fühlte mich wie in einem Wechselbad der Gefühle, als er mir einen Atemzug später mit seltsam sanfter Stimme zuflüsterte:

„Ist Ihnen eigentlich aufgefallen, dass all diese Frauen auf den Bildern Ihnen ähnlich sehen? Es sind Schönheiten mit vollen Lippen unter schweren Haaren, müde und schweigend, dem Tod näher als dem Leben.“

Mit dem letzten Teil seiner Beschreibung konnte ich mich durchaus identifizieren, denn ich war müde und erschöpft. Aber gleichzeitig beunruhigten mich seine Fantasien. Was die Schönheit anging, so interpretierte er übertrieben viel hinein – überhaupt war sein Verhalten ziemlich seltsam und überspannt. Doch er schien nun ganz in seinem Element zu sein.

„Betrachten Sie mich als Ihren Lehrer. Und seien Sie meine gelehrige Schülerin. Als international angesehener Kunsthändler bin ich nicht willens, meine kostbare Zeit zu vertun.“

Seine blaugrauen Augen taxierten mich nüchtern und kalt. Doch in Sekundenschnelle änderte sich plötzlich sein ganzes Gebaren, und er bat mich mit gedämpfter weicher Stimme, fast flüsternd: „Versprich mir, mich nie zu enttäuschen. Du bist meine letzte Hoffnung, Vera!“

Komischer Heiliger, dachte ich, und verbot mir weitere Gedanken zu machen, zumal Adrian seine Ausführungen fortsetzte, als sei nichts passiert. Doch am Ende seines Vortrags belehrte er mich mit erhobenem Zeigefinger:

„Die Frau als solche hatte schon immer die Möglichkeit, sich zwischen Gut und Böse zu entscheiden. Und doch lässt sie sich immer wieder vom Satan beschwatzen.“

Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Einerseits sprach er begeistert von mystischen, jungfräulichen, reinen Schönheiten. Andererseits gab er unpassende frauenfeindliche Äußerungen von sich. Ich nahm einen roten Warnblinker ganz hinten in meinem Unterbewusstsein wahr. Doch sein Charme hatte mich so in seinen Bann gezogen, dass ich ihn kurzerhand abschaltete.

„Schau dich an! Du bist wunderschön. Noch sind dein Körper und deine Seele jungfräulich rein. Versprich mir, mich nicht zu enttäuschen.“

Langsam ging mir seine ständige Angst vor Enttäuschung auf die Nerven. Dass er mich duzte, fiel mir erst jetzt auf. Doch bevor ich aufbegehren konnte, hatte er bereits ein Taxi bestellt, das uns in ein Restaurant brachte, in dem er offensichtlich Stammgast war und die Kellner ihn mit größter Zuvorkommenheit behandelten.

Während Adrian mit großer Selbstverständlichkeit für uns beide bestellte, fiel mir ein Mann am Nachbartisch auf, der mich unentwegt anzustarren schien. Dies war auch Adrian nicht entgangen.

„Beruht das Interesse auf Gegenseitigkeit?“, fragte er mich unverblümt. Als ich ihn fragend ansah, wurde er konkreter.

„Könntest du dir vorstellen, mit ihm zu schlafen? Für eine Frau ist es doch sicher aufregend, mit einem völlig Fremden Sex zu haben?“