Über Paul Theroux

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Paul Theroux, geboren 1941 in Medford, Massachusetts/USA, ist mit mehr als dreißig veröffentlichten Büchern einer der weltweit populärsten US-Gegenwartsautoren. Als Reiseschriftsteller erlangte er Weltruhm. Theroux ist seit 2013 Mitglied der American Academy of Science and Arts. Er lebt mit seiner Familie auf Hawaii und auf Cape Cod. Bei Hoffmann und Campe erschienen zuletzt der Roman Mutterland sowie die Reisebücher Tief im Süden und Ein letztes Mal in Afrika.

 

Die Übersetzerin

Erica Ruetz studierte Anglistik und Germanistik und war anschließend in München und Zürich als Verlagslektorin tätig. Heute lebt sie als freie literarische Übersetzerin und Autorin in Berlin und Andalusien. Zu den von ihr übersetzten Autoren gehören u.a. Lucy Ellmann und Sue Gee.

que me acompañaron por los caminos de México

No los olvidaré

Wir hielten den Pick-up an und ließen ihn einsteigen. Nach einer guten Stunde Rüttelei erreichten wir die Fernstraße. Der Mann reichte uns die Hand: »Danke.«

»Wie heißt das Dorf hier?«

»San Juan Bautista Coixtlahuaca«, sagte er. »Da, das alte Kloster.«

Die gigantische Kirchenruine lag leer, hohl und einsam in der Landschaft.

»Was bedeutet ›Coixtlahuaca‹?«

»El llano de los serpientes.«

Die Schlangensteppe.

Paul Theroux' Reiseroute

Grenzlande

Die mexikanische Grenze ist der Rand der bekannten Welt: Dahinter lauern Schatten, Gefahren und finstere Gestalten – hungrige, kriminelle, raffgierige Feinde –, ein böswilliger, unbeherrschbarer Pöbel, der es auf unschuldige Reisende abgesehen hat. Und die Beamten der Policía Federal sind diabolische, schwerbewaffnete Typen; eben noch stur und muffig, sind sie mit einem Mal wütend, schreien dich an und wollen dich erpressen, wie sie es mit mir gemacht haben.

Schickt Anwälte, Feuerwaffen und Geld! Fahr da nicht hin! Das überlebst du nicht!

Aber halt – tiefer im Land (breitkrempige Sombreros, Mariachi-Musik, trötende Trompeten, Zahnpastagrinsen) liegen die erholsamen Urlaubsorte. Da kann man für eine Woche hinfliegen, sich sinnlos mit Tequila volllaufen lassen und mit elendem Durchfall flachliegen, und dann fährt man mit einem handgewebten Poncho oder einem bunten Keramiktotenschädel wieder nach Hause. Und hier und da, am Strand und in den Bergen, gibt es die sonnigen Reservate für US-amerikanische Rentner – haufenweise weißhaarige Gringos in Gated Communities und Künstlerkolonien.

Ach ja und dann die Bonzen und Ölbarone in Mexiko-Stadt. Carlos Slim, der siebtreichste Mann der Welt, steht ganz oben auf einer Liste von dreißig bekannten mexikanischen Milliardären, die zusammen mehr Geld besitzen als die gesamte übrige Bevölkerung Mexikos. Die Campesinos in den südlichen Bundesstaaten Oaxaca und Chiapas haben ein niedrigeres Jahreseinkommen als ihre bäuerlichen Kollegen in Bangladesch oder Kenia und darben in erodierten Bergregionen in stumpfer Tristesse dahin; Licht in die Dunkelheit des

Dazu kommen riesige Ferienanlagen für sonnenhungrige kanadische Winterflüchtlinge. Und die Überreste von fünfzehn Kolonien polygamer Mormonen, die von Utah nach Mexiko flohen, um ihre Harems von gefügigen häubchentragenden Ehefrauen behalten zu können, die unter dem »Tempelgewand« mit seinen Schichten von züchtiger Unterwäsche in der Wüste von Chihuahua ziemlich schwitzen dürften. Und abgeschottete Gruppen von Plautdietsch sprechenden Altkolonier-Mennoniten, die in den ländlichen Regionen von Cuauhtémoc und Zacatecas Rohmilchkäse machen: buttrigen queso menonita aus Chihuahua, sehr schmackhaft in einem mennonitischen Wareniki-Auflauf oder in Bubble Bread.

Baja California ist protzig und arm zugleich, die frontera gehört hüben wie drüben den Kartellen und Maulwürfen, im Staat Guerrero regieren Drogengangs, in Chiapas die vermummten, idealistischen Zapatisten – und an den Rändern des Landes sind die Kurzurlauber, die Surfer, die Rucksacktouristen, die rüstigen Rentner, die Hochzeitsreisenden, dann Drop-outs, Flüchtlinge, Waffenschmuggler, schnüffelnde CIA-Fieslinge, Geldwäscher, Währungsbetrüger – und ach, dort: ein alter Gringo in einem Auto, der mit zusammengekniffenen Augen auf die Straße schaut und denkt: Mexiko ist kein Land. Mexiko ist eine Welt mit so vielen in Kultur, Temperament und Küche extrem voneinander verschiedenen Staaten, dass man alle Facetten seines sonderbaren Mexicanismo niemals auf einen Nenner bringen kann: ein Paradebeispiel für die normative Kraft des Faktischen.

 

Dieser alte Gringo war ich. Ich saß in meinem eigenen Auto und fuhr im Sonnenschein Mexikos die kurvenlos ansteigende Straße durch die menschenleeren Täler der Sierra Madre Oriental – Mexikos Rückgrat ist schroff und gebirgig. In dieser weiten, abweisenden Gegend wuchsen Tausende einzeln stehende Yucca-Bäume der Gattung

In diesem Moment sah ich im erdähnlichen Sediment unter einer der Pflanzen einen schlanken Ast zucken. Er bewegte sich. Eine Schlange, ein Knäuel schimmernder Schuppen. Es zog sich zusammen und umschlang sich selbst – der glatte, dünne Körper pulsierte in peristaltischen Serpentinen; eine einzige Bedrohung, hellbraun wie der staubige Schotterboden. Ich ging einen Schritt zurück; das Tier fuhr fort, sich langsam um sich selbst zu winden. Ungiftig, wie ich später erfuhr. Keine gefiederte Schlange und auch nicht die zappelnde Klapperschlange im Schnabel des augenrollenden Adlers, das Emblem der mexikanischen Nationalflagge. Es handelte sich um eine Kutscherpeitschennatter, hier genauso oft anzutreffen wie die Klapperschlange mit ihren sechsundzwanzig in Mexiko vorkommenden Unterarten, ganz zu schweigen von der Dreiecksnatter, Blindschlange, Rattennatter, Berggrubenotter, Strumpfbandnatter und der drei Meter langen Boa Constrictor.

 

Das Glück der freien Fahrt – es grenzte an Euphorie. »Hinter uns lag ganz Amerika und alles, was Dean und ich bisher vom Leben gewusst hatten und vom Leben auf der Straße«, schreibt Kerouac in Unterwegs über seine Einreise nach Mexiko. »Schließlich hatten wir am Ende der Straße das zauberische Land gefunden; nie hatten wir uns träumen lassen, wie groß sein Zauber war.«

Aber dann, beim Weiterfahren, dachte ich über die alten, knorrigen Stämme der Yuccas nach und über ihre runden Kronen mit den spitzen, schwertartigen Blättern. (»Die Blätter der Jungpflanze stehen aufrecht, senken sich aber bei älteren Exemplaren bogig nach unten«, schreibt ein Botaniker, als beschriebe er einen alten Knacker.) Die Strünke gehören alle zur Familie der Spargelgewächse. Es ist vorstellbar, dass ein saftiger Speer hier zu einer Wüstenpalme angeschwollen ist, die ihre Wurzeln hartnäckig in den Sand gräbt, zäh, aber gebeugt von den Jahren. Und ich dachte: Es war ein böser Sommer. Verachtet,

Also habe ich hier etwas, mit dem ich mich identifizieren kann. Dass ich in einer Seelenlage nach Mexiko abreise, in der ich mir besonders missachtet und schwach vorkomme, ist weder Anlass zu Besorgnis noch zu Mitleid. So ist es eben. Es ist großartig. Ich gehe auf eine lange Reise, verschwinde einfach, gebe niemandem Bescheid und bin ziemlich sicher, dass es nicht einmal auffällt, wenn ich weg bin.

Wie der verachtete Mexikaner, wie ein Mensch, den man stets daran erinnert, dass er oder sie nicht willkommen ist, dass er oder sie genauso gut wegbleiben könnte, komme auch ich mir vor: Ich habe das größte Mitgefühl. Ich bin die Yucca mit den wirren Haaren und dem krummen Rücken, ich bin (auch wenn ich in die entgegengesetzte Richtung reise) der durchtriebene Migrant. Yo soy tú, denke ich mir, ich bin du.

Ein Gringo in der Dégringolade

Nach gängiger amerikanischer Auffassung bin ich alt, überständig und überflüssig. Also werde ich mit einem Diminuendo, zu dessen traurigen Klängen ich ein letztes Mal mit meinem Rentenbescheid winke, langsam ausgeblendet. In den USA ist ein alter Mensch entweder unsichtbar oder wird überhört, weil er sowieso bald von der Bildfläche verschwindet: ein Gringo im freien Fall, für den es das französische Wort dégringolade gibt.

Natürlich kränkt mich das, aber ich bin zu stolz, es mir anmerken zu lassen. Meine Trotzreaktion besteht in Arbeit und Reisen. Lieber möchte ich sein, was die Mexikaner unter einem Senior verstehen: ein hombre de juicio, ein Mann mit Urteilskraft, eine Respektsperson, die

Wie eine Art Ancient Mariner würde ich gern meine Widersacher mit knochigen Fingern bei der Hand nehmen, sie mit funkelnden Augen fixieren und ihnen sagen: »Ich war an einem Ort, an dem keiner von euch je gewesen ist und den keiner von euch jemals erreichen wird. Das ist die Vergangenheit. Ich habe Jahrzehnte dort zugebracht und kann euch nur sagen, dass ihr völlig ahnungslos seid.«

Bei meiner ersten langen Reise – vor fünfundfünfzig Jahren nach Zentralafrika – fand ich es aufregend, als Fremder in einem fremden Land zu leben: weit weg von zu Hause, mit einer neuen Sprache und zwei Jahren mit wenig Außenkontakt vor mir, in denen ich barfüßige Schüler im Busch unterrichten würde. Ich blieb schließlich sechs Jahre und lernte, was es heißt, nicht dazuzugehören. Der nächste Job als Lehrer brachte mich nach Singapur, und als dieser nach drei Jahren zu Ende war, gab ich das Dasein als Gehaltsempfänger auf und ließ mich siebzehn Jahre lang in Großbritannien nieder, wo ich den vorgeschriebenen Ausländerausweis stets bei mir zu tragen hatte.

Teils aus leidenschaftlicher Neugier, teils zum Geldverdienen war ich viel auf Reisen. Heute staune ich darüber, was für gefährliche Fahrten ins Unbekannte ich mit dreißig und vierzig unternommen habe. Ich habe einen Winter in Sibirien zugebracht. Ich bin auf dem Landweg bis Patagonien gefahren. Ich habe in jedem klapprigen Bummelzug in China gesessen, habe ein Auto nach Tibet gesteuert. Mit fünfzig paddelte ich allein in meinem Kajak im Pazifik, wurde von Insulanern bedroht, von Wellen herumgeworfen und im Sturm vor der Osterinsel vom Kurs abgebracht. Auch die Reise von Kairo nach Kapstadt (auf der ich im Jahr 2001 in Johannesburg meinen Sechzigsten beging) möchte ich nicht noch einmal machen – wenn ich daran denke, dass in der Kaisut-Wüste bei Nasabit ein shifta auf

»Die Geschichte eines Zeitgenossen schreiben, der allein durch die eingehende Betrachtung einer Landschaft von seiner Zerrissenheit geheilt wird«, schreibt Camus in seinen Notizbüchern. Als ich schon glaubte, es sei nun vorbei mit langen Reisen, rief ich mir Camus’ Rat ins Gedächtnis, setzte mich ins Auto und begab mich auf einen zweijährigen Ausflug in den tiefen Süden der USA, ein Buchprojekt im Hinterkopf. Und während ich mit meinem Auto auf den Landstraßen herumkutschierte, wurde ich im wahrsten Sinn des Wortes verjüngt.

Bei einem Abstecher nach Nogales hatte ich damals zum ersten Mal die mexikanische Grenze überquert. Dieser Gang war wie eine Erleuchtung, ein Blick in eine andere Welt. Ich musste nur von Arizona aus durch ein aus dem Neunmeterzaun herausgefrästes Loch mit Drehkreuz schlüpfen und war Sekunden später in einem fremden Land: Düfte und Fettgezisch von Essensbuden, Gitarrenklänge, Scherze der Markthändler.

»Gleich jenseits der Straße begann Mexiko«, schreibt Kerouac, »wir sahen neugierig nach vorn. Zu unserem Erstaunen sah es genau aus wie Mexiko.«

Damals lernte ich einige Migranten kennen, Mexikaner, die über die Grenze wollten, und andere, die man zurückgeschickt hatte. Bei diesem Besuch sah ich eine etwa vierzigjährige Frau im Speisesaal einer Flüchtlingsunterkunft, im Comedor der Grenzinitiative Kino, ein Tischgebet sprechen. Sie war Zapotekin aus einem Bergdorf im Bundesstaat Oaxaca. Ihre drei kleinen Kinder hatte sie bei ihrer Mutter zurückgelassen, wollte in die USA, um, wie sie sagte, einen Aushilfsjob irgendwo in einem Hotel anzunehmen und Geld an ihre Familie zu schicken. Aber sie hatte sich in der Wüste verirrt, war von der US-Grenzpatrouille aufgegriffen, zusammengeschlagen und

Das Wissen um die Gefahren, denen die Migranten sich aussetzen, stachelte mich bloß an. Ich wollte mir selber ein Bild von Mexiko machen. Ich breitete die Landkarten vor mir aus. Ich hatte keinen anderen Status als den meiner Lebensjahre, aber in einem Land, in dem man Respekt vor dem Alter hat, sollte das völlig genügen.

Und noch ein entscheidender Punkt, der mit meinem Alter zu tun hatte: Wie lange würde ich noch lange Strecken allein im Auto herumfahren können, durch die Wüsten, Städte und Gebirge Mexikos? Wer sechsundsiebzig ist, muss alle zwei Jahre seinen Führerschein erneuern lassen. Wenn ich beim nächsten Mal durch den Sehtest fiele, wäre dies das Ende meiner Zeit als Autofahrer. Mein Führerschein hat ein Verfallsdatum: Ich musste mich beeilen. Das Auto hatte mir auf der Reise in den Südstaaten gute Dienste geleistet. Also plante ich mit fast dem gleichen Reisefieber wie in jungen Jahren einen improvisierten Roadtrip, der mich an der Grenze entlang und dann weit nach Süden bis nach Chiapas führen sollte.

Ein Buch über Mexiko schwebte mir vor. Allerdings gibt es Hunderte von guten Büchern ausländischer Autoren, die über das Land geschrieben haben. Ein sehr frühes Werk stammt von Job Hortop, einem Engländer, der sowohl Besatzungsmitglied auf einem Sklavenschiff als auch zwölf Jahre lang selber Galeerensklave auf spanischen Schiffen gewesen war. In seinen The rare travales of an Englishman who was not heard of in three-and-twenty year’s space, die 1591 herauskamen und in Hakluyts Voyages nachzulesen sind, schildert er seine Leiden in Mexiko. Die erste umfassende englischsprachige Schilderung von Mexiko erschien etwa fünfzig Jahre später, geschrieben von dem englischen Dominikanermönch Thomas Gage, der 1625 in Veracruz eintraf. Gages Buch über seine Reisen und die Wunder von Neuspanien erschien 1648. Ein wichtiges Werk des 19. Jahrhunderts war der sehr detailreiche, in Briefform abgefasste Bericht Viva Mexiko! Im Wirbel der Revolution (Original 1843, deutsch 2017,

Stephen Crane, D.H. Lawrence, Evelyn Waugh, Malcolm Lowry, John Dos Passos, Aldous Huxley, B. Traven, Jack Kerouac, Katherine Anne Porter, John Steinbeck, Leonora Carrington, Sybille Bedford, William S. Burroughs, Saul Bellow, Harriet Doerr – und so weiter, die Liste ist lang. Es war gut für Mexiko, dass bedeutende Autoren hier reisten und schrieben. Obwohl jeder von ihnen etwas anderes sieht, steht Mexiko bei ausnahmslos allen immer für das Exotische, das Farbige, das Primitive, das Unbegreifliche. Ein Defizit ist aber allen Autoren gemein: ihre sehr dürftigen Kenntnisse des Spanischen.

Graham Greene, 1938 für nur fünf kurze Wochen in Mexiko unterwegs, konnte überhaupt kein Spanisch. Sein Gesetzlose Straßen, von einigen Kritikern gelobt, ist ein sauertöpfisches und herabwürdigendes Werk. Als er gerade in Tabasco und Chiapas unterwegs war, wurde dort die katholische Kirche von der Regierung belagert – auch in den übrigen Landesteilen standen damals Regierungstruppen schwerbewaffneten katholischen Cristeros gegenüber. Greene, der konvertierte Katholik, nahm die Unterdrückung der Kirche persönlich.

William Somerset Maugham war 1924 wegen eines Zeitschriftenartikels im Land, zur gleichen Zeit wie D.H. Lawrence, mit dem er eine Auseinandersetzung hatte. Er schrieb ein paar deprimierende,

Hass und Verachtung ziehen sich ebenso durch Evelyn Waughs verbittertes Reisebuch Robbery under Law: The Mexican Object Lesson wie durch Aldous Huxleys bekannteres Beyond the Mexique Bay. Waugh: »Von Jahr zu Jahr wird es (Mexiko) hungriger, böser und elender.« Huxley: »Der Sonnenaufgang, als er dann kam, war eine vulgäre Angelegenheit«, und: »Unter den festgezogenen Umschlagtüchern erheischt man den reptilienhaften Glitzerblick indianischer Augen.«

Bücher über Mexiko erscheinen nach wie vor, und es sind viele hervorragende darunter: Werke über die Kartelle, den wilden Drogenhandel, die großartigen Ruinen, die Grenze, über mexikanische Kunst und Kultur, Küche, Politik, Wirtschaft. Es gibt Bücher für Einsteiger, Bilderbücher, Hotel- und Strandführer, Ratgeber für potenzielle Ruheständler, Surfer, Wanderer und Camper, idealisierende Werke über die Landschaft und warnende Schriften voller Vorurteile, wie etwa der hilfreiche, 2012 erschienene Titel: Don’t Go There. It’s not Safe. You’ll Die, and Other More Rational Advice for Overlanding, Mexico and Central America.

Die Urteile von auswärtigen Autoren mögen hart sein, aber niemand geht stärker mit Mexiko ins Gericht als die Mexikaner selbst. Carlos Fuentes, der im Ausland bekannteste mexikanische Autor, bekam so viel Ärger mit seinen Schriftstellerkollegen, dass er nach Paris umzog. Andere mexikanische Autoren suchen sich gern Jobs in US-amerikanischen Universitäten oder wandern in andere Länder aus. Man kann es ihnen nicht verdenken: Geld spielt auch eine Rolle. Die Anklageschriften füllen Regalmeter. Einen guten Überblick gibt das dicke, erhellende Sammelwerk The Sorrows of Mexico: An Indictment of Their Country’s Failings by Seven Exceptional Writers. Octavio Paz’ Das Labyrinth der Einsamkeit mit seinen Gedanken über Tod und Einsamkeit, Masken und Geschichte ist unbarmherzig, gehört nach meiner Auffassung aber zu den aufschlussreichsten Texten über mexikanische Überzeugungen und Geisteshaltungen.

Aus allen Büchern über das Land geht das Gleiche hervor: Europäer können nach Mexiko auswandern und Mexikaner werden. Amerikaner können das nicht; der Gringo bleibt unwiderruflich Gringo. In der Praxis ist das eher befreiend als unangenehm. Man denke nur an das ritualisierte Wortgeplänkel von der Art, die Verhaltensforscher »Scherzbeziehung« nennen. Diese Blödelei findet in Mexiko auf hohem Niveau statt. Mexikaner konzedieren Gringos ihre Eigenarten, indem sie sie damit aufziehen. Gut gemeinte Respektlosigkeiten werden zur Konfliktvermeidung eingesetzt. Der Anthropologe A.R. Radcliffe-Brown beschreibt diese Form sozialer Interaktion als »Beziehung zweier Personen, in der es einer Person gewohnheitsmäßig gestattet ist oder gar von ihr verlangt wird, die andere zu ärgern und zu verspotten, während es von der anderen erwartet wird, gute Miene dazu zu machen«.

Dank der gelassenen Gutmütigkeit der mexikanischen Kultur mit ihrem Sinn für gute Sitten, die wiederum die Grenzen für die scherzhafte Aufzieherei vorgeben, wird ein Amerikaner, der sich mit der Rolle des Gringos abfindet, in seinem Gringotum akzeptiert. Wenn er diesen Status nicht missbraucht, kann er so anders sein, wie er will. Im Allgemeinen verwenden Mexikaner das Wort »Gringo« nicht böswillig. (Stärker ist der in Spanien nur für Franzosen, hier

Widersinn wie dieser und die gebetsmühlenartige Wiederholung von Vorurteilen waren Motiv genug für eine Reise, von der ich mir mehr Einblick in das fremde Land hinter dem hohen Zaun am Ende der Straße versprach. Ein Roadtrip würde zudem meine Stimmung heben, mich von sinnloser Selbstreflexion ablenken und vielleicht an den Punkt bringen, den der britische Autor Henry Green in seinem Buch Pack my Bag so beschreibt: »Der selige Moment, in dem man auf alles pfeift.«

Eine Vergnügungsreise von einem Ende Mexikos bis zum anderen wollte ich machen, einen Sprung ins kalte Wasser wagen, sozusagen als Gegenbeweis für den freien Fall der dégringolade. Ich wollte einfach von zu Hause weg, die Grenze überqueren und fahren, bis keine Straße mehr übrig war. Aber aus dem Spaß einer Reise nach Mexiko wird irgendwann Ernst – es wird gefährlich, tragisch, riskant, aufschlussreich, und manchmal werden einem auch kräftig die Eingeweide durchgeschüttelt. All das sollte für mich zutreffen.

Kaum saß ich aber hinter dem Steuer, schien mich ein himmlischer Windhauch zu streifen und mich an das zu erinnern, was Reisen sein kann: Ich war frei.

»Fahr da nicht hin! Das überlebst du nicht!«

Viereinhalb Tage brauchte ich von Cape Cod bis zur Grenze. Ich war mitten am Nachmittag spontan einen Tag früher als geplant aufgebrochen, hatte hastig den Inhalt meines Kühlschranks in eine große Kiste gepackt und als Proviant ins Auto verfrachtet. Bei Sonnenuntergang

Vom trägen, verschlafenen Süden aus fuhr ich Richtung Golf von Mexiko, passierte Biloxi, Pascagoula und das Sumpfland um New Orleans mit seinen bayous, um Beaumont in Texas zu erreichen, wo sämtliche Motels voller Leute waren, die im letzten Hurrikan ihre Häuser verloren hatten. Displaced Persons im buchstäblichen Sinn: Halbnackte Halbwüchsige und ganze Familien hatten die Lobbys in Beschlag genommen, Raucher palaverten auf dem Parkplatz. Sie wirkten verloren, erbarmungswürdig und schicksalsergeben wie Flüchtlinge am Tag des Jüngsten Gerichts. So ungefähr könnte das Ende der Welt aussehen: Hoffnungslose Gestalten hocken in überfüllten Motels und wissen nicht wohin.

Näher bei Houston bekam ich fernab von der Hauptstraße im flachen Städtchen Winnie (3254 Einwohner) ein Zimmer und einen bierseligen Vortrag von einem Motorradfahrer der von Billings, Montana, hierhergefahren war.

»Billings, schön? Nee, das isses nich. Du sagst, du willst zur Grenze? Ich war mal in Laredo. Hab mich verfahren. Hab das Schild gesehn ›Nach Mexiko‹ und bin sofort umgekehrt – U-Turn auf der Einbahnstraße, scheiß auf die Cops. In das Scheißland fahr ich nich. Die Mexikaner würden meine Maschine klauen, und ich wär am Arsch. Keine zehn Pferde bringen mich über die Grenze da.«

Dieser Mensch, der sich da auf dem Parkplatz des Motels an seine Harley gelehnt ein Bier genehmigte – er war tätowiert, hatte wenige Zähne, fettige Haare und vom Umklammern der Lenkergriffe einen krummen Rücken –, war der härteste Typ, der mir in dieser Woche begegnet war: gewieft, über Fliegende Untertassen, Kettensägen und

Man sollte nicht herumerzählen, dass man unbedingt irgendwohin fahren möchte, weil einem jeder zehn Gründe dafür aufzählt, es sein zu lassen. Alle wollen, dass man zu Hause bleibt, Hackbraten mümmelt und am Computer spielt – weil sie das selber auch tun. Die gleiche Litanei hörte ich am folgenden Tag in Corpus Christi, als ich, völlig fertig von der Fahrt durch die struppige Wüste zwischen Victoria und Refugio, an einer Tankstelle den Weg nach McAllen erfragte.

Ein stämmiger, schielender Mann, schon wieder ein harter Typ, allerdings nüchtern, betankte gerade seinen riesigen Truck und schrie mir seine Vorsichtsmaßregeln geradezu ins Gesicht: »Bloß nicht in Brownsville rüber. Eigentlich nirgendwo rüberfahren. Die Drogenkartelle gucken, wer du bist, dann folgen sie dir. Und wenn du Glück hast, schmeißen sie dich bloß am Straßenrand raus und nehmen dein Auto mit. Wenn du Pech hast, bringen sie dich um. Bleib bloß raus aus Mex.«

Ich wollte aber den Zaun sehen und fuhr zum Tal des Rio Grande, südwärts nach Harlingen, dann rüber nach McAllen und schließlich die Dreiundzwanzigste Straße runter zum International Boulevard nach Hidalgo an die Grenze, wo das Ding steht: auffällig, hässlich und unmissverständlich. Diese Grenze unseres grandiosen Landes ragt hinter einem Whataburger-Stand, einem Flohmarkt und einem Haushaltswarengeschäft auf, ein über sieben Meter hohes Stahlgebilde, das aussieht wie der Gitterzaun um ein Gefängnis. In keinem anderen Land hatte ich je so etwas zu sehen bekommen. Ein texanischer Kongressabgeordneter hat den Zaun mal treffend »eine ineffiziente mittelalterliche Antwort auf ein Problem des 21. Jahrhunderts« genannt. In der Tat ist er wie eine mittelalterliche Mauer mehr Symbol für Abwehr als Mittel zu ihrer Durchsetzung; man kann ihn ziemlich leicht überklettern oder untertunneln. Im Zeitalter von

»Zehn Leute am Tag bringen sie um, mehr nicht.« Jorge (»Nennen Sie mich George«), der Frühstückskellner im Hotel in McAllen, wandte mir sein leichenblasses Gesicht zu.

»Das war in Juárez«, sagte ich. »Aber da soll es ja jetzt ruhiger sein.«

Geschichten von blutrünstigen Mexikanern gibt es schon so lange wie ihre frühesten Berichterstatter, so zum Beispiel Francisco López de Gómara, dessen Hispania Victrix von 1553 Montaigne in seinem Aufsatz »Über die Mäßigung« zitiert: »Alle ihre Götzen schlürfen Menschenblut.« Wie so viele sensationshungrige Berichterstatter heutiger Tage war auch Gómara nie in Mexiko gewesen und hatte seine Informationen aus zweiter Hand. Das Gleiche gilt für Daniel Defoe, der im Robinson Crusoe (erschienen 1719) von spanischen Gräueltaten ebenso spricht wie von den »Götzendienern und Barbaren«, die sie in der Neuen Welt massakrierten, eben weil sie »ihren Götzen Menschenopfer brachten«. Der Held des Buches sagt über die Spanier, »der bloße Name jenes Volkes [hat] bei allen Leuten von christlichem Mitgefühl einen schrecklichen Klang«.

»Und die Frau, die den Unfall hatte«, Jorge hob den Zeigefinger, »wegen der Leiche, die an einer Brücke aufgehängt war und auf ihr Auto gefallen ist?«

»Tijuana«, antwortete ich besserwisserisch. »Und ist länger her.«

»Die dreiundvierzig Studenten, die sie in Guerrero gekidnappt und umgebracht haben?«

»Ich weiß, was Sie sagen wollen, George.«

»Nehmen Sie ein Flugzeug. Fahren Sie nicht mit dem Auto.«

»Ich fahre rüber. Das ist der Plan.«

»Und warum mit dem Auto?«

»Verschiedene Gründe.«

»Mucha suerte, señor.«

Jorges mahnende Worte gehörten zu den üblichen Sprüchen wie »Pass auf dich auf«, die jeder Reisende bei der Abfahrt zu hören bekommt: leere Worte, in denen der Neid mitschwingt, Vorsichtsmaßregeln, die dem muffigen Stubenhocker später das Recht geben, mit einem »Siehst du, ich hab’s dir doch gesagt!« aufzutrumpfen.

»Me vale madre.« Jorge quittierte den groben mexikanischen Ausdruck, mit dem ich seine Mahnungen in den Wind schlug, mit einem lächelnden Seufzen und Kopfschütteln. Er hielt mich offenbar für sehr töricht.

Eigentlich hatte er recht damit, weil ich tatsächlich wenig Ahnung von dem ganzen Chaos hatte. Es sind eine Menge Menschen von den Kartellen umgebracht worden, das weiß man, aber die brutalen Fakten waren mir nicht im Detail bekannt. Vielleicht hatte ich sie auch bewusst ausgeklammert, um mich nicht beirren zu lassen. Was ich hier aufschreibe, entstand im Nachhinein. Die Statistik zum Beispiel besagt schlicht, dass seit September 2006, als die mexikanische Regierung dem organisierten Verbrechen den Krieg erklärt hatte, zweihunderttausend Menschen umgebracht wurden oder verschwunden sind. Was ich bei meinem Aufbruch im Frühjahr 2017 nicht wusste, ist, dass es allein in den ersten zehn Monaten jenes Jahres 17063 Mordfälle im Land gegeben hatte, wobei Ciudad Juárez im Durchschnitt einen Mord am Tag verzeichnete – bei meiner Abfahrt waren es also schon mehr als 300, weil die Drogenkartelle von Sinaloa und Juárez sich in der Stadt erbitterte Revierkämpfe lieferten. Zum Jahresende 2017 verzeichnete Mexiko 29168 Mordfälle, überwiegend standen sie im Zusammenhang mit den Kartellen.

In Reynosa, der mexikanischen Stadt gleich gegenüber von McAllen, Texas, wo ich in all meiner Unkenntnis stand, war Gewalt inzwischen Dauerzustand: Die Straßen waren unsicher, weil es immer wieder blutige Auseinandersetzungen gab – es wurde gemordet und gekidnappt – und weil immer wieder narcobloqueos errichtet wurden, Straßensperren aus gekaperten, manchmal in Brand gesteckten Autos als Barrikaden zum Schutz der narcos gegen die Belagerung durch

Reynosa war zu einer der Städte mit der höchsten Kriminalitätsrate in Mexiko geworden, weil ein erfolgreicher Schlag der mexikanischen Armee, die zwei der Bosse des Golfkartells aufgespürt und getötet hatte, ein Machtvakuum ergeben hatte. Julian Loiza Salinas (»Comandante Toro«) wurde im April 2017 getötet, und der Mord an Humberto Loiza Méndez (»Betito«), der im Jahr darauf zusammen mit drei Kumpanen von Regierungstruppen umgebracht worden war, erzeugte noch mehr Chaos und Machtkämpfe.

In Reynosa kamen Los Zetas, die zuerst zur Verstärkung des bewaffneten Flügels des Golfkartells eingesetzt wurden, auf die Idee, ihr eigenes Kartell zu bilden; die Zetas galten als gnadenlos. Die meisten von ihnen waren Deserteure aus einer Spezialeinheit der mexikanischen Armee, hatten sich gegen ihre Offiziere erhoben und dann beschlossen, mit ihren Fertigkeiten im Töten als sicarios, als Auftragskiller, richtiges Geld zu machen. Die Kämpfe in den Straßen von Reynosa forderten zwischen Mai 2017 und Juni 2018 insgesamt vierhundert Todesopfer. Um diese Zeit überquerte ich mehrmals die Grenze und fuhr, von einem Schlagloch ins andere rumpelnd, die Gassen und Straßen von Reynosa entlang – in einem Auto mit auffällig beschrifteten Nummernschildern: Massachusetts – The Spirit of America.

Ich hatte mich von Reynosas Anblick täuschen lassen, von der malerischen Plaza, der hübschen Kirche und den freundlichen Ladenbesitzern, von den guten Restaurants und Taco-Buden, dem florierenden Markt, dem Treiben der Schulkinder in ihren Uniformen. Erst nachdem ich öfter dort gewesen war, begriff ich, was sich hinter der Fassade des heiteren mexicanismo abspielte: zwielichtige Gassen, kleine Dealer, sogenannte narcomenudeos in den Slums und Elendsquartieren am Stadtrand, dürre, kläffende Hunde – und Straßenbarrikaden: Panzerwagen voller grimmiger Soldaten mit Sturmgewehren, nervös

In den mexikanischen Drogengangs spiegeln sich mexikanische Politik, mexikanische Bundesstaaten, mexikanische Geographie und mexikanische Lebensart: el mundo México. Ihre vielfältigen Erscheinungsformen und Schattierungen lassen sich nicht auf einen Nenner bringen. Gewalt herrscht nicht nur im Kampf der Regierung gegen die Kartelle, sondern auch in den Fehden der Kartelle untereinander, die durch die ideologischen Brüche in ein und derselben Gang noch verkompliziert werden – ideologisch im gröbsten und brutalsten Sinn, wenn zum Beispiel die einen für Enthauptungen sind, die anderen lieber Gedärme herausschneiden, Gliedmaßen amputieren, Ermordete an Laternenpfählen aufhängen, Migranten versklaven oder nach neuer Praxis Leichen auf den Straßen der Städte verteilen, so geschehen, als im September 2011 Joaquín Guzmáns Schläger fünfunddreißig blutige Leichen – darunter zwölf Frauen – auf dem Boulevard Ávila Camacho in der Nähe einer Shoppingmall im gepflegten Teil der Hafenstadt Veracruz von einem Laster warfen, um ihren Gegnern klarzumachen, wer der Boss ist. Sobald die Kontrolle durch ein einziges Kartell fehlte, gab es nur mehr konkurrierende Gangs und mehr Gewalt als jemals vorher.

Verstümmelungen sind Botschaften. Eine abgeschnittene Zunge weist auf einen Schwätzer hin, und weil dedo im Slang auch für Ausspionieren stehen kann, fehlt den Leichen von Spionen ein Finger. Es geht noch weiter. Ein Forensiker führt in Ed Vulliamys Amexica, einem ausführlichen Buch über die Kartelle, aus: »Abgetrennte Arme bedeuten, dass einer etwas von seiner Lieferung für sich abgezweigt hat, abgetrennte Beine heißen, dass er das Kartell verlassen wollte.« Enthauptungen sind eine unzweideutige »Machtbehauptung, eine Warnung an alle, so etwa wie die öffentlichen Hinrichtungen früherer Zeiten«.

Und warum gibt es diesen blutigen Wettkampf der Kartelle? Weil eine erfolgreiche mexikanische Drogengang einen jährlichen Profit einstreichen kann, der in die Milliarden geht. Die besonders geschäftstüchtigen Kartelle stecken ihr Geld in ihre Geschäftsaustattung.

Zwei ehemalige Verbündete aus der Zeta-Gruppe hatten sich abgespalten und rivalisierten inzwischen; die Vieja Escuela Zeta führte gegen die Cartel-del-Noreste-Fraktion einen Krieg um die Hauptrouten für Menschen- und Drogenschmuggel. Die Zetas hatten nicht nur besonders perfide Mordmethoden, sondern waren überregional aktiv: Das ist in Mexiko unüblich bei den Gangs, die normalerweise in ihren Heimatregionen oder nur auf speziellen Routen und plazas Ärger machen. Eine Plaza ist im Narco-Slang ein wertvoller Handelsplatz. Nuevo Laredo und Tijuana sind besonders begehrt, daher das Chaos dort. Die Zetas, hieß es, waren überall, selbst in Sinaloa, wo sie Krieg gegen das nach der Verhaftung von El Chapo führerlose und zersplitterte Sinaloa-Kartell führten. In Amexica zitiert Vulliamy einen Geschäftsmann aus McAllen: »Los Zetas und die Kartelle unterwandern gerade die USA. Sie sind schon in Houston, sie sind in New York City und in allen Indianerreservaten.«

Eine Gräueltat der Zetas, von der ich vorher nicht gewusst hatte, wurde im Jahr 2010 in der Kleinstadt San Fernando südlich von Reynosa verübt. Eine herumziehende Bande von Zetas hielt zwei Busse mit Migranten an – Männer, Frauen und Kinder aus Zentral- und Südamerika auf der Flucht vor der Gewalt in ihren Heimatländern. Die Zetas verlangten Geld. Die Migranten hatten keins. Die Zetas verlangten, dass die Migranten für sie als Killer, Agenten oder

Die blutigen Einzelheiten dieses Massakers wurden bei der Verhaftung eines der Täter bekannt: Édgar Huerta Montiel, ein desertierter Soldat, Spitzname »El Wache« oder auch Fettarsch. Er gestand, elf der Migranten selber umgebracht zu haben, da er (angeblich) glaubte, sie arbeiteten für eine verfeindete Gang. Im Jahr darauf fand die Polizei in der Nähe derselben Stadt 47 Massengräber mit 193 verscharrten Leichen von Migranten und anderen Reisenden aus gekaperten Bussen, die in dieser nur achtzig Meilen von der Grenze der USA entfernten Gegend des Staates Tamaulipas unterwegs gewesen waren.

Auf der Suche nach Geld, Dienstboten und Frauen, die sie über die Grenze schmuggeln können, kidnappen die Zetas und andere Gangs immer wieder Busse und Lastwagen und entführen die Passagiere – Migranten, Arbeiter, Pendler und Reisende. Die Entführungsmethode der Kartelle nennt sich levantón, Einbringung. Angezogen von den niedrigen Löhnen in Reynosa (ein übliches Anfangsgehalt liegt bei zehn Dollar am Tag) haben sich hier Hunderte von US-amerikanischen und europäischen Unternehmen angesiedelt; Hunderttausende Beschäftigte leben in den colonias, den Arbeitersiedlungen rings um die Stadt.

»Es gab hier mal einen Gringo, der war Vorstand in einer Fabrik«, erzählte mir ein Mann im nur eine Viertelstunde von Reynosa entfernten McAllen, »der ist jeden Morgen mit Anzug und Krawatte in einem fetten SUV über die Grenze zur Arbeit gefahren. Eines Tages haben sie ihn in einem levantón erwischt, und die Firma musste ein dickes Lösegeld zahlen. Jetzt haben sie ihren Fuhrpark ausgetauscht. Heutzutage fahren die Manager in alten Klamotten mit verbeulten Pick-ups rüber.«

Der Mann, ein mexikanischer Einwanderer aus Monterrey, der jetzt dicht an der Grenze zu Mexiko lebte, war seit über zwanzig Jahren nicht mehr hinübergefahren.

Dies war aber viel später auf meiner Reise.

El Chapos Sinaloa-Kartell spaltete sich erneut mit der Gründung des Cartel de Jalisco Nueva Generación durch eine Bande seiner Scharfschützen, die besonders dadurch auffiel, dass sie als erste Granatwerfer einsetzte, um Militärhubschrauber abzuschießen. Dieses Kartell, angeführt von einem Psychopathen, dem ehemaligen Avocadobauern und Polizisten Nemesio Oseguera Cervantes alias »El Mencho«, war eine besonders gefürchtete Verbrecherbande. El Menchos Ehrgeiz, den Drogenhandel am Sinaloa-Kartell vorbei an sich zu reißen, ergab eine drastisch erhöhte Mordrate. Allein in Tijuana erreichten die registrierten Tötungsdelikte im Jahr 2017 die vorher nicht dagewesene Anzahl von 1781. Die meisten davon waren Morde an Mitgliedern des Kartells von Tijuana, einer kleineren, mit dem Sinaloa-Kartell verbündeten Formation von Drogen- und Menschenhändlern, die versuchten, ihr Revier gegen das Jalisco-Nueva-Generación-Kartell zu verteidigen. Ein unmissverständlicher Drohbrief, eine sogenannte narcomensaje, steckte an den durchsiebten Leichen eines Mannes und einer Frau, die im Januar 2018 in einem Stadtviertel von Tijuana aufgefunden worden waren. Er lautete: »Willkommen im Jahr 2018. Die plaza gehört nicht den Sinaloas. Sie gehört der Nueva Generación.« Im Jahr darauf stieg die Zahl der von den Kartellen in Tijuana verübten Morde auf zweitausend an.

Noch eine Gräueltat: Im März 2018 reisten drei Studenten der Filmschule von Guadalajara für ein Filmprojekt nach Tonalá in Jalisco. Das malerische Tonalá ist berühmt für seine Keramik, seine bunten Läden und seine Kirchen im Kolonialstil. Aus Sparsamkeitsgründen übernachteten die Studenten bei einer ihrer Großmütter. Bei der Motivsuche in der Stadt wurden sie für Mitglieder der rivalisierenden Nueva Plaza Bande gehalten, entführt, gefoltert und schließlich getötet. Ihre Leichen übergab man dem ziemlich populären

Im mexikanischen Bandenkrieg waren Enthauptungen und Verstümmelungen relativ neu. »Die Machete ist das überzeugendste Argument«, schreibt Charles Macomb Flandrau schon 1908 in Viva Mexico!. Die Kartelle hatten bisher gezielt platzierte Kugeln vorgezogen: Ein »Gnaden«-Schuss in den Hinterkopf hieß, dass das Opfer ein Verräter war, ein Schuss durch die Schläfe kennzeichnete es als Mitglied einer rivalisierenden Bande. Aber seit Anfang 2000 fanden sich am Straßenrand immer wieder kopflose Leichen. Köpfe wurden an Straßenkreuzungen und gelegentlich auf Autodächern zur Schau gestellt. Diese Schlächterei folgte vermutlich einer Taktik der Elitekommandos der Streitkräfte Guatemalas, der »Kaibiles«.

Später, hinter der Grenze in Matamoros am Rio Grande, sollte mir jemand die Abhärtungsmethoden der Kaibiles beschreiben: Die Rekruten werden aufgefordert, sich Hundewelpen zuzulegen und sie aufzuziehen. In einem bestimmten Stadium des Trainings müssen die Soldaten dann die Hunde töten und essen. Nach allem, was ich über sie erfuhr, verdienen die »Kaibiles« die Klassifizierung als »Spitzenprädator«: die fürchterliche, herrschende Spezies an der Spitze der Nahrungskette (Tiger, Grizzlybär, Löwe), die keine natürlichen Feinde kennt. Nachdem Angehörige der Kaibiles sich als Söldner zu den Kartellen geschlagen hatten, kam es zu den ersten Enthauptungen; im Jahr 2006 trat eine Gang die Türen einer Bar in Michoacán ein und warf fünf Menschenköpfe auf die Tanzfläche. Nach Expertenmeinung gehören Enthauptungen heute zu »den Grundbegriffen im Gewaltlexikon« der mexikanischen Kartelle.

Die Leichen wurden nicht mehr in Massengräbern versteckt,

Manche Mordtaten zeugen von einer geradezu unvorstellbaren Perfidie. In seinem Buch Sterben in Mexiko: Berichte aus dem Inneren des Drogenkriegs20102010