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Dr. Benajir Wolf, Dipl.-Sportlehrerin, Dipl.-Motologin, Körperpsychotherapeutin (DGK/EABP), Heilpraktikerin für Psychotherapie, ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im M.A.-Studiengang Motologie an der Philipps-Universität Marburg und leitet den Studienschwerpunkt Körperpsychotherapie.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

ISBN 978-3-497-02802-3 (Print)

ISBN 978-3-497-61068-6 (PDF-E-Book)

ISBN 978-3-497-61220-8 (EPUB)

© 2019 by Ernst Reinhardt, GmbH & Co KG, Verlag, München

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Ernst Reinhardt Verlag, Kemnatenstr. 46, D-80639 München

Net: www.reinhardt-verlag.de E-Mail: info@reinhardt-verlag.de

Inhalt

Einleitung

Teil I:   Verortung, Entstehung und Grundlagen der sinnverstehenden Psychomotoriktherapie

1          Von der funktionalen zur sinnverstehenden Perspektive

2          Motologische Konzepte für die Arbeit mit Erwachsenen

3          Entwicklungsförderung oder Psychotherapie?

4          Psychoanalytisches Krankheits- und Behandlungskonzept

4.1  Krankheitskonzept

4.2  Behandlungskonzept

4.3  Abänderung der psychoanalytischen Methode

5          Körperpsychotherapie

Teil II:  Konzept und Methode der sinnverstehenden Psychomotoriktherapie

6          Verstehen und Nicht-Verstehen

7          Menschen- und Körperbild

8          Persönliche Grundhaltung

9          Therapeutische Haltung

9.1  Wesen und Funktion

9.2  Haltungsänderung

9.3  Haltungsverlust

10      Körperbedeutungen und ihre Arbeitsweisen

11      Sinnverstehende Haltung und Methode

11.1   Reinszenierung

11.2   Gleichschwebende Aufmerksamkeit und freie Assoziation

11.3   Deutung

11.4   Abstinenz und Agieren

11.5   Ziele und Grenzen der sinnverstehenden Methode

12     Therapeutisches Handeln

12.1   Themenzentriertes Arbeiten

12.2   Spiel und Kreativität

12.3   Symbolisierung und Ausdruck über Gestaltung und Darstellung

12.4   Schattenarbeit

12.5   Kontakt und Berührung

13      Therapeutische Beziehung

14      Setting

15      Patienten

15.1   Junges Erwachsenenalter

15.2   Mittleres Erwachsenenalter

15.3   Hohes Erwachsenenalter und Lebensende

Fazit und Ausblick

Literatur

Sachregister

Einleitung

Mit der sinnverstehenden Psychomotoriktherapie (PMT) liegt erstmals eine psychotherapeutisch fundierte, bedeutungsgenerierende Methode für die Arbeit mit Erwachsenen in Psychomotorik und Motologie vor. Ihre durchgängig verstehende Haltung ist gekennzeichnet durch das Bemühen um Sinnfindung auf einer Bedeutungsebene unterhalb des Sichtbaren. Diese Haltung findet sich sowohl im Verstehenden Ansatz (Seewald 2007) als auch in der Psychoanalyse und ihrer Suche nach dem Sinn der Symptome (Freud 1916/17a).

Für die therapeutische Praxis bedeutet sie eine Abkehr von funktional-übenden und kompetenzfördernden Arbeitsweisen, da die Bedeutungsebene einer psychischen Erkrankung im Unbewussten liegt. Dessen Welt funktioniert nicht linear-kausal. Sie lebt vielmehr von verschlüsselten Bildern und komplexen Dynamiken und benötigt daher eine eigene Arbeitsweise. Sinnverstehendes Arbeiten fordert von der Therapeutin, ihr eigenes Unbewusstes bereitzustellen und sich „mit Leib und Seele“ einzulassen. Ihre Berufspraxis erhält dadurch Intensität und Tiefe, die entstehende Komplexität ist jedoch auch eine Herausforderung. Viele Therapeutinnen handeln aus ihrer Intuition heraus bereits richtig. Spätestens bei Phänomenen wie dem Nicht-Verstehen, negativen Übertragungsdynamiken, Haltungsverlust, Unsicherheit über die Interventionswahl oder auch wenn das eigene Handeln vor anderen begründet werden muss, wird ein konzeptionell fundierter Handlungsrahmen benötigt. Diesen möchte das vorliegende Buch in seinen zwei Teilen bieten:

Teil 1 erörtert die Grundgedanken der sinnverstehenden PMT anhand ihrer Entstehung aus Konzepten zweier Fachdiskurse: In Psychomotorik und Motologie erweitert sie die sinnverstehende Perspektive (Kap. 1) durch eine Verortung im psychotherapeutischen Paradigma (Kap. 3). Damit unterscheidet sie sich von bisherigen Konzepten für die Arbeit mit Erwachsenen (Kap. 2) und schlägt eine Brücke zum Krankheits- und Behandlungskonzept der Psychoanalyse (Kap. 4) und zu den analytischen Verfahren der Körperpsychotherapie (Kap. 5).

Teil 2 stellt Konzept und Methode der sinnverstehenden PMT vor. Entlang Abb. 3 werden alle Komponenten, die zum Verstehensprozess beitragen, beschrieben und mit Fallbeispielen veranschaulicht. Anhand dieser Ausführungen lassen sich zentrale Fragen für die therapeutische Praxis beantworten:

  Wie verläuft ein Verstehensprozess und wie geht die Therapeutin mit dem Nicht-Verstehen um?

  Was macht die sinnverstehende Haltung im Gegensatz zu funktional-übenden oder kompetenzfördernden Haltungen aus?

  Wie tragen Haltungsänderung und -verlust zum Verstehen bei?

  Welches Vorgehen kennzeichnet die sinnverstehende Methode?

  Welche praktischen Angebote und Interventionen generieren Verstehen und welche verhindern es?

  Wie gestaltet sich die therapeutische Beziehung in einem sinnverstehenden Raum?

  Welche Themen und Störungsbilder tauchen in den verschiedenen Phasen eines Erwachsenenlebens auf und wie können sie sinnverstehend therapiert werden?

Das vorliegende Buch richtet sich an bereits praktizierende Therapeutinnen, sowie Psychomotorikerinnen und Motologinnen in Ausbildung und Studium. Geschrieben wurde es aber letztlich für unsere Patienten. Viele werden durch ihre psychische Erkrankung aus dem alltäglichen Leben und auch ihren Beziehungen geworfen. In ihrem Erleben befinden sie sich alleine in einer desorientierenden, verunsichernden Parallelwelt. Eine Therapeutin, die sich darum bemüht zu verstehen, was in dieser Parallelwelt passiert und warum, betritt den Erlebensraum des Patienten. Sie steht ihm wortwörtlich bei, muss sich dafür aber ebenfalls der Orientierungslosigkeit aussetzen. Gelingt der gemeinsame Verstehensprozess, dann heilt er nicht nur, er erweitert die alltägliche Introspektion und Selbstreflexivität des Patienten. Auf diese Weise wirkt eine sinnverstehende Psychotherapie als aufmerksamer innerer Dialog ein Leben lang weiter.

Zur Gender-Schreibweise:

In Psychomotorik und Psychotherapie sind überwiegend Frauen tätig, weshalb ich die Begriffe Therapeutin, Psychomotorikerin, Psychoanalytikerin usw. für Behandelnde beiden Geschlechts gewählt habe. Um die Verwendung von Artikeln und Pronomen (sie/ihre, er/sein) und damit das Textverständnis zu erleichtern, verwende ich für Patienten beiden Geschlechts die männliche Form. Fallbeispiele bilden eine Ausnahme.

Teil I:

Verortung, Entstehung und Grundlagen der sinnverstehenden Psychomotoriktherapie

Die sinnverstehende Psychomotoriktherapie (PMT) ist ein psychotherapeutisches Konzept für die Arbeit mit Erwachsenen. Sie gestaltet sich als dialogischer Prozess mit dem Körper. Dieser wird als Träger von unbewussten Bedeutungen gesehen, welche den Sinn einer psychischen Erkrankung enthalten. Ein Prozess von Erleben, Wahrnehmen und Deuten soll die Sinnfindung ermöglichen. Ein zentraler Aspekt der so entstehenden Inszenierungen ist die Beziehungsdynamik von Therapeutin und Patient.

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Abb. 1: Verortung der sinnverstehenden Psychomotoriktherapie

Die sinnverstehende Psychomotoriktherapie liegt in der Schnittmenge zwischen Psychomotorik/Motologie und Körperpsychotherapie (Abb.1). Sie bildet eine Brücke zwischen den im Verstehenden Ansatz (Seewald 2007) angelegten psychoanalytischen Bezügen und der psychoanalytisch orientierten Körperpsychotherapie.

Der Begriff Psychomotorik wird mit unterschiedlichen Bedeutungen verwendet (Kuhlenkamp 2017). In diesem Kontext beschreibt er eine Vielfalt an körper- und bewegungsorientiertes Konzepten, welche pädagogisch, entwicklungsfördernd oder therapeutisch in verschiedenen Altersgruppen und Settings Anwendung finden.

Psychomotoriktherapie ist dementsprechend die Bezeichnung für ein therapeutisch ausgerichtetes Konzept der Psychomotorik. In der Schweiz findet die Psychomotoriktherapie als pädagogisch-therapeutische Methode vorrangig bei Kindern und auch im schulischen Kontext Anwendung. In Frankreich wird sie als psychoanalytisch ausgerichtete Therapiemethode (Aucouturier/Esser 2006) ebenfalls mit Kindern praktiziert. Das vorliegende Konzept einer Psychomotoriktherapie ist für die psychotherapeutische Arbeit mit Erwachsenen konzipiert.

Die Motologie wird häufig zusammen mit der Psychomotorik in der Betitelung des gemeinsamen Fachdiskurses genannt. Sie ging 1983 als Wissenschaft und Studiengang aus der Psychomotorik hervor. Ihre Fachsystematik wurde 2010 um die Körperpsychotherapie erweitert. Damit stellt die Motologie eine wichtige konzeptionelle Quelle der vorliegenden Methode dar. Auch sie hat unter dem Begriff Mototherapie Konzepte für Erwachsene (Kap. 2) entwickelt. Dass die Namenswahl der vorliegenden Methode trotzdem auf Psychomotoriktherapie und nicht Mototherapie fiel, hat zwei Gründe:

1.  Der Begriff Mototherapie wird vorrangig mit funktional-rehabilitativen Praktiken assoziiert (Hölter 1993a, b, Kiphard 1993, Schilling 1993, Kesper/Hottinger 2015). Obwohl es den Versuch einer Erweiterung um eine verstehende Perspektive gibt (Beckmann-Neuhaus 2015), ist der Begriff besetzt und auch irreführend, weil die wichtige Bezeichnung „Psyche“ fehlt.

2.  Der Begriff Psychomotorik hat sich – im Gegensatz zu Motologie – auf internationaler Ebene durchgesetzt (Kuhlenkamp 2017) und dient damit als Dach für einen breiter angelegten Fachdiskurs.

ZUSAMMENFASSUNG

Die sinnverstehende PMT stellt eine Neuerung im Fachdiskurs dar, da sie sich im psychotherapeutischen Paradigma (Kap. 3) verortet und sich bewusst von funktionalen und kompetenztheoretischen Zugängen der Psychomotorik (Kap. 1) abgrenzt. Ihr Konzept speist sich ausschließlich aus sinnverstehenden Perspektiven (Kap. 1), wie sie im Verstehenden Ansatz (Kap. 1), in der psychoanalytischen Krankheits- und Behandlungslehre (Kap. 4) und in den analytischen Körperpsychotherapieverfahren (Kap. 5) zu finden sind.

Die folgenden Ausführungen skizzieren Entstehungsprozess und Grundgedanken der sinnverstehenden PMT.

1   Von der funktionalen zur sinnverstehenden Perspektive

Die vom Gründervater der Psychomotorik Ernst (Johnny) Kiphard entwickelte Psychomotorische Übungsbehandlung (Kiphard 1989) wurde in den 1960er-Jahren als Therapiemethode in der Kinder- und Jugendpsychiatrie eingesetzt. Sie sollte Entwicklungsverzögerungen und Störungen im psychomotorischen Leistungs- und Verhaltensbereich behandeln. Ziel war die Normalisierung motorischer Prozesse. Das kindliche Verhalten wurde aus einer funktional-physiologischen Perspektive (Kuhlenkamp 2017) betrachtet. Doch auch im Rahmen dieser funktionalen Methode tauchten über Bewegung, Handlung und Beziehungsdynamiken die zugrundeliegenden psychischen Themen auf. Die Schwierigkeiten, die entstanden und den Förder- bzw. Therapieplan durcheinanderbrachten, wurden in der Psychomotorik lange als methodische Fehler betrachtet. So wurde „die Chance des Dialogs mit dem Fremden, dem Gestörten“ (Eckert 2004, 59) zunächst versäumt und der Wirksamkeit dieses Vorgehens waren Grenzen gesetzt.

Mit der Gründung der Motologie fand eine erste wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Wechselwirkung zwischen Bewegung und Psyche statt. Als erstes Erklärungs- und Behandlungskonzept entstand der kompetenztheoretische Ansatz (Schilling 1993, Fischer 2009). Er geht davon aus, dass unzureichend ausgebildete Wahrnehmungs- und Bewegungsmuster ursächlich für motorische und psychosoziale Probleme von Kindern sind. Über motorische Aufgaben soll eine Änderung von Verhaltens- und Erlebensmustern erreicht werden. Sinn und Funktion des abweichenden Verhaltens oder Symptoms bleiben jedoch weiterhin unverstanden. Der Versuch, die funktional-physiologische Perspektive durch eine ganzheitliche Betrachtung des Menschen zu ersetzen, gelang deshalb nur ansatzweise und löste die sogenannte Ganzheitskontroverse aus:

„Die um wissenschaftliche Reputation bemühte Motologie folgte hier offensichtlich in erster Linie dem positivistischen Erkenntnisideal. Dem stand allerdings der motologische Anspruch im Wege, eine über eine rein physiotherapeutische Intention hinausreichende ganzheitliche, persönlichkeitsstabilisierende Wirksamkeit erreichen zu wollen, für die doch eigentlich das Verstehen der subjektiv-bewegten Bedeutungssphäre […] unerlässlich wäre. […] Damit hatte sich die Motologie von Anfang an ein kaum zu überwindendes Problem aufgeladen.“ (Mattner 2004, 20)

In den 1980er-Jahren setzte deshalb im Fachdiskurs eine intensive Diskussion über den Sinn der Bewegung ein. Ziel war es, „den funktionalistischen Strömungen in der Psychomotorik etwas entgegen zu setzen“ (Eckert 2004, 7).

Der daraus hervorgegangene Verstehende Ansatz (Seewald 2007) ermöglichte erstmals die Thematisierung von Bedeutungsebenen, indem er zu einer sinnverstehenden Perspektive (Kuhlenkamp 2017) wechselte. Die Einbeziehung psychoanalytischer Konzepte (Entwicklungstheorien von Freud und Erikson, Bildverstehen, freischwebende Aufmerksamkeit, Übertragungs- und Gegenübertragungsdynamiken) ermöglichte Antworten auf die Frage nach der Bedeutung psychomotorischer Prozesse. Plötzlich stellten sich das Spiel eines Kindes und die Handlungen eines Erwachsenen anders und vielschichtiger dar. Der Blick auf die Klienten war jenseits von Körper und Verhalten gewandert. Die so eingeleitete konzeptionelle Erweiterung der Psychomotorik war mehr als eine Weiterentwicklung bestehender Ansätze. Der Verstehende Ansatz ist ein Gegenentwurf zu den erklärenden Ansätzen (Kuhlenkamp 2017) und ihren zielgerichteten Übungen:

„Ich will nicht eine bestimmte Fertigkeit vermitteln, ein Defizit ausgleichen, ein von mir als sinnvoll erachtetes Ziel erreichen oder eine Funktion (wieder-)herstellen.“ (Seewald 2007, 98)

Diese Abkehr wurde vorrangig mit dem Kind im Blick vollzogen, sie war aber für die Arbeit mit Erwachsenen ebenso dringlich. Die Grenzen funktionaler und kompetenzfördernder Vorgehensweisen zeigen sich nämlich in allen Erwachsenenbereichen der Psychomotorik: in Gesundheitsförderung, Pädagogik und Therapie.

2   Motologische Konzepte für die Arbeit mit Erwachsenen

Die drei bis dato entwickelten Konzepte für die Arbeit mit Erwachsenen (Hölter, Haas, Eisenburger) sind als kompetenz- und entwicklungsfördernde Methoden konzipiert. Im Grenzgebiet zwischen Sport- und Bewegungstherapie, Pädagogik und Gesundheitsförderung sind sie im Rahmen ihrer Zielsetzung wirkungsvoll. Tiefer liegende Bedeutungen von Bewegung, Handlung und Beziehungsgestaltung bleiben zwangsläufig unverstanden. Dieses Defizit wird besonders bei der Behandlung psychischer Erkrankungen sichtbar, d. h. im klinisch-therapeutischen Setting. Wird der Sinn der Symptome und die Dynamik der therapeutischen Beziehung nicht verstanden, ist die therapeutische Wirksamkeit stark eingeschränkt.

Das Konzept einer Mototherapie mit Erwachsenen im Sinne von „Sport, Spiel und Bewegung“ (Hölter 1993a) thematisiert zwar psychoanalytische Konzepte und therapeutische Beziehungsdynamiken, es wurde in der Praxis jedoch in eine unorthodoxe Form der Sporttherapie umgesetzt (Hölter 1993b). Das Konzept wurde inzwischen von einer Bewegungstherapie ohne psychotherapeutischen Anspruch abgelöst (Hölter 2011).

Sporttherapien und funktionale Bewegungstherapien

Sporttherapien und funktionale Bewegungstherapien verfolgen das Ziel, den Patienten auf mehreren Ebenen z. B. zu aktivieren. Sie fragen nicht nach dem Sinn der Bewegungsunlust. Wenn der Unlust mehr als Gewohnheit oder mangelnde Bewegungserfahrung zugrunde liegen, ist diese Frage jedoch wichtig. Bei einem depressiven Patienten bestünde die Aufgabe darin, die Antriebslosigkeit körperlich zu explorieren und zu bearbeiten: Welchen Sinn hat die unbewusste Immobilisierung? Welche Bewegung, welcher Affekt, welche Schlüsselszenen sollen „eingefroren“ gehalten werden?

Der Entwurf einer angewandten Motologie des Erwachsenenalters zielt auf eine Behandlung psychischer Erkrankungen im Sinne „korrigierender Erfahrungen“ (Haas 1999, 22). Das Konzept fokussiert das Kontrollgrundbedürfnis und stellt eine einzelne Kompetenz – die Kontrolle – in den Vordergrund. Kontrollrelevante Erfahrungen sollen eine Kontrollmeinung aufbauen, basierend auf Konzepten der Handlungs- und Lerntheorie.

Kommentar zum Konzept von Haas

Diese Form der Erwachsenenarbeit gibt das Problem (mangelnde Kontrollüberzeugung) und das Ziel (Verbesserung von Selbstwert und Selbstwirksamkeit) bereits vor. Sie kann z. B. Klienten in der Gesundheitsförderung, für die das Thema Kontrolle nicht mit tiefer Bedeutung besetzt ist, zur Selbstreflexion anregen und bestärkend wirken. Aus psychotherapeutischer Sicht hat das Thema Kontrolle jedoch so viele Facetten, dass ein individueller Explorationsprozess unumgänglich ist:

–   Was bedeuten Kontrolle, Kontrollverlust und Kontrollzwang für den Patienten?

–   Wie ist die Überzeugung, dass er keine Kontrolle über sein Leben hat, überhaupt entstanden?

–   Wie geht der Patient bei zunehmendem Kontrollgewinn mit der gewonnenen Macht und damit auch Entscheidungsverantwortung um?

–   Was ist mit Patienten, die immer alles kontrollieren wollen? Die unter einer Zwangsstörung leiden und ihren Kontrolldrang nicht als Kompetenz, sondern als Fluch erleben? Welche Ängste werden hier bezwungen?

–   Und wo bleibt die Lust am Kontrollverlust?

Die Motogeragogik wurde für Menschen im hohen Lebensalter entwickelt, mit besonderem Blick auf Senioren in Pflegeeinrichtungen und Demenzpatienten. Sie versteht sich als ganzheitliches Konzept zur Persönlichkeitsförderung (Eisenburger 2013). Ihr Ziel ist der Erhalt und/oder die Wiederherstellung von Kompetenzen auf verschiedenen Ebenen. So möchte sie zu Identitätsbildung und Wohlbefinden beitragen. Amara Eckert skizzierte für die Motogeragogik inzwischen eine sinnverstehende Perspektive (Eckert 2012).

Sinnverstehen in der Demenztherapie

Eine sinnverstehende Psychomotoriktherapie mit dementiell Erkrankten ist – besonders im frühen Stadium der Demenz – möglich und auch wichtig. Der drohende Identitätsverlust und die begleitende Angst beeinflussen auch Beziehungserleben und -gestaltung. Die Reflexion der therapeutischen Beziehung kann nicht nur Verstehen in das Erleben des Patienten, sondern auch in die oft intensiven Beziehungsdynamiken mit Pflegepersonal und Angehörigen bringen. Ziel der Therapie wäre die Bearbeitung psychisch belastender Konflikte, die mit einer Demenz einhergehen. Ein verstehender Zugang könnte auch die Frage nach dem Sinn des Vergessens thematisieren. Diese Annahme einer „Weisheit in der Desorientierung“ (Feil/de Klerk-Rubin 2017) stammt von Naomi Feil.

Die Limitationen dieser drei bestehenden Ansätze in der Behandlung psychischer Erkrankungen liegen nur zum Teil in ihrer kompetenztheoretischen Ausrichtung begründet. Das Kernproblem scheint im Versuch der deutschen Psychomotorik zu liegen, das psychotherapeutische Paradigma zu vermeiden, selbst wenn ein psychotherapeutischer Auftrag vorliegt. Die Notwendigkeit einer „verstehenden Psychotherapie“ (Wolf 2010c, 226) im Fachdiskurs von Psychomotorik und Motologie wurde von mir wiederholt dargelegt (Wolf 2006, 2010a, b, c, 2017).

Beckmann-Neuhaus skizzierte 2015 eine methodenübergreifende Form der Mototherapie für Erwachsene „als eine psychotherapeutisch orientierte Bewegungstherapie, die als schulenübergreifender Ansatz sowohl verhaltens- und erlebnismodifizierende als auch themen- und problemorientierte Ausrichtungen umfasst“ (Beckmann-Neuhaus 2015, 194). Auch ihr Entwurf betont die Notwendigkeit einer Verortung im psychotherapeutischen Paradigma. Aufgrund der von ihr vorgenommenen Mischung von behavioristischen und psychoanalytischen Konzepten lässt sich jedoch keine stringent sinnverstehende Methode ableiten.

ZUSAMMENFASSUNG

Im Fachdiskurs der Motologie wurden vor der sinnverstehenden PMT drei Konzepte für die Arbeit mit Erwachsenen entwickelt (Hölter, Haas, Eisenburger). Sie arbeiten kompetenztheoretisch und verstehen sich als entwicklungsfördernde Methoden im Grenzbereich zwischen Therapie, Pädagogik und Gesundheitsförderung. In der Therapie psychischer Erkrankungen sind der Wirksamkeit dieser Konzepte Grenzen gesetzt, weshalb erste Entwürfe einer psychotherapeutischen Ausrichtung (Wolf, Beckmann-Neuhaus) entstanden.

3   Entwicklungsförderung oder Psychotherapie?

In der Psychomotorik existieren vier Paradigmen, welche Ausrichtung und Handlungsauftrag der jeweiligen Praxis begründen: Entwicklungsförderung, Therapie, Pädagogik/Bildung und Gesundheitsförderung (Seewald 2006).

Die Psychomotorik wurde ursprünglich als therapeutische Methode im Grenzbereich zwischen Körpertherapie und Psychotherapie entwickelt. Inzwischen wird sie in Kliniken als adjuvantes Verfahren der Psychotherapie eingesetzt. Die Entwicklungsförderung galt jedoch immer als Hauptleitgedanke der Psychomotorik (Fischer 1996). In der therapeutischen Arbeit mit Kindern ist dieser konzeptionelle Widerspruch durch die enge Verzahnung von Entwicklungsauffälligkeiten und psychischen Symptomen weniger offenkundig als in der Psychotherapie Erwachsener. Für Letztere ist die Entwicklungsbiographie nur insofern bedeutsam, als ihre Analyse (nicht ihre Förderung) zur Bedeutungsfindung der Symptomatik beitragen kann. Entwicklungsfortschritte sind zwar häufig ein Begleitphänomen des Heilungsprozesses, Entwicklungsrückschritte gehören jedoch ebenso dazu. Seewald (2006) nennt dies die mangelnde institutionelle Passung des entwicklungsfördernden Paradigmas. Dieser konzeptionelle Konflikt muss von Psychomotorikerinnen in Kliniken täglich neu gelöst werden. Sie müssen auf irgendeine Krankheits- und Behandlungslehre (psychoanalytisch, tiefenpsychologisch, behavioristisch oder systemisch) zurückgreifen und sie eklektisch mit ihrem Psychomotorikkonzept kombinieren. Diese „Grenzgängerschaft“ (Seewald 2006, 283) der Psychomotorik am Übergang zum therapeutischen Paradigma hat die volle Entfaltung ihres therapeutischen Potentials bis heute verhindert.

Der Verstehende Ansatz legte (unintentional) den Grundstein für ein psychotherapeutisches Konzept. Ein analysierender Blick erfasst zwangsläufig neben biographischen auch symptomatische Verkörperungen des Unbewussten. Damit führt der Verstehensprozess unweigerlich ins Paradigma der Psychotherapie: Die Psychomotorikerin muss den Sinn des Symptoms zusammen mit dem Patienten entschlüsseln können und über Interventionen verfügen, um zu therapieren. Diese Forderung nach psychotherapeutischen Kompetenzen in der Psychomotorik besteht schon lange. Das Credo der Psychomotorik „Schuster bleib bei deinem Leisten“ (Kiphard 1991, 34) trägt in der Praxis nicht, wie Aucouturier/Esser (2006) und Eckert (2004) an Fallbespielen mit Kindern verdeutlicht haben. In jeder Form der Körperarbeit zeigen sich tiefere Ebenen, ob dies intendiert ist oder nicht. Dabei gilt: Je mehr sich die Psychomotorikerin von einer direktiven zu einer aufdeckenden, themenzentrierten und damit entfaltenden Arbeitsweise bewegt, desto mehr Raum hat das verkörperte Unbewusste zum (Re)inszenieren. Die Idee, dass das, was sich in diesen Inszenierungen zeigt, „an ausgebildete Therapeuten“ (Seewald 2007, 35) weiter delegiert werden könne, ignoriert zum einen die zentrale Bedeutung der therapeutischen Beziehung. Patienten öffnen ihre Themen nicht in einen luftleeren Raum hinein. Sie zeigen vielmehr der anwesenden Therapeutin im Bewegungstherapieraum eine Botschaft des Unbewussten, in Erwartung einer therapeutischen Bearbeitung.

Zum anderen wird so das Potential der Körperarbeit – deren Wirksamkeit die Psychomotorik ja gerade betont – unterschätzt. Im verbalen Austausch hat der Patient eine wesentlich größere Kontrolle über das, was er zeigen will und was nicht. Botschaften des Unbewussten äußern sich in der Verbaltherapie in Assoziationen, Versprechern oder Inkongruenzen zwischen Erzählung und Gestik/Mimik. Die Arbeit mit dem Körper dahingegen ist eine direkte Arbeit an der verkörperten Biographie. Türen, die dort mit einer vermeintlich harmlosen Spürübung geöffnet werden, können vom Patienten nicht unbedingt zugehalten oder wieder geschlossen und später mit einem „richtigen“ Therapeuten bearbeitet werden. Eine Therapeutin sollte also das, was sich durch ihre Körperarbeit bewegt, auffangen und bearbeiten können. Dazu werden Theorien benötigt, welche die Psychodynamik der Erkrankung und das Geschehen verständlich machen (Krankheitslehre), sowie Handwerkszeug, um angestoßene Prozesse adäquat begleiten zu können (Behandlungslehre).

Diese Erkenntnis, die über die praktische Anwendung des Verstehenden Ansatzes gewonnen wurde, führte dazu, dass 2010 die Körperpsychotherapie (KPT) in die Fachsystematik und Lehre der Motologie aufgenommen wurde. Besonders die psychoanalytisch arbeitenden KPT-Verfahren, deren Kernanliegen das Sinnverstehen ist, weisen große Überschneidungen mit der sinnverstehenden Perspektive auf.

ZUSAMMENFASSUNG

Das entwicklungsfördernde Paradigma der Psychomotorik hat sich für die psychotherapeutische Arbeit mit Erwachsenen als unpassend herausgestellt. Mit dem Verstehenden Ansatz wurde der Grundstein für eine sinnverstehende Psychotherapie gelegt. Bisher fehlte jedoch eine konzeptionell verankerte Krankheits- und Behandlungslehre. Diese muss die Psychodynamik einer Erkrankung erkennen, die zentrale Bedeutung der therapeutischen Beziehung berücksichtigen und bedeutungsgenerierende Interventionen für die Körperarbeit bereitstellen. Entsprechende Bezugstheorien und Methoden finden sich in der psychoanalytischen Tradition.

4   Psychoanalytisches Krankheits- und Behandlungskonzept

Die Psychoanalytische Psychotherapie (Psychoanalyse) ist die älteste von drei großen, wissenschaftlich anerkannten und kassenzugelassenen Psychotherapieschulen. Die beiden anderen sind die Tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie (TP) und die Verhaltenstherapie (VT).

DEFINITION

Der von Freud geprägte Begriff der Tiefenpsychologie als „Wissenschaft von den unbewussten seelischen Vorgängen“ (Freud 1926, 300) wurde später für eine modifizierte Anwendungsform der Psychoanalyse verwendet: die Tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie. Im Unterschied zur Psychoanalytischen Psychotherapie entstand sie nicht über eine fachwissenschaftliche Konzeptentwicklung, sondern aufgrund von berufspolitischen Aspekten. Als „Psychotherapie fürs Volk“ (Kumbier 2008, 243) ist sie insgesamt pragmatischer angelegt und bezieht auch nicht-psychoanalytische Interventionen ein. Die Verhaltenstherapie als dritte große Schule entstand als Gegenentwurf zu Freuds tiefenpsychologischem Konzept. Basierend auf der Theorie, dass psychische Erkrankungen erlernte Verhaltensweisen darstellen, fokussiert die VT auf Verhaltensmodifikation. Sie fragt nicht nach dem tieferen Sinn einer Symptomatik, sondern arbeitet funktional-direktiv.

Die Psychoanalyse wurde von Sigmund Freud (1856–1939) in einem Prozess entwickelt, welcher mit der Beobachtung und Behandlung von Patienten begann, sich in einer fachwissenschaftlichen Diskussion fortsetzte und in einem Krankheits- und Behandlungskonzept mündete.

Die erste Veröffentlichung dieser Konzeptentwicklung waren die „Studien über Hysterie“ von Josef Breuer und Sigmund Freud (Breuer/Freud 1895). Damit legten sie den Grundstein für eine sinnverstehende Sicht auf psychische Erkrankungen. Die berühmteste Protagonistin ihrer Studien war Anna O., bürgerlich Bertha Pappenheimer. Im Zuge ihrer Behandlung hatte Breuer das Katharsisprinzip entdeckt, welches die Grundlage für die Redekur bildete. Mit dem Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten (Freud 1914) symptomatisch manifestierter, psychischer Konflikte war Heilung möglich. Freud verfolgte diesen Ansatz konsequent weiter und kehrte den funktionalen Methoden der damaligen Psychiatrie (Wechselbäder, Elektroschocks, Hysterektomie u.v.m.) den Rücken. Er nahm stattdessen eine beobachtende Arbeitshaltung ein: Das Symptom sollte seine Geschichte erzählen. Die Behandlungserfolge gaben ihm Recht und mit seiner Forderung, man möge sich dem Ungelösten „vom Seelenende“ (Freud 1897, 194) der Welt her nähern, stellte er geltende Wertigkeiten auf den Kopf. Nicht das Sichtbare und Logische, sondern das Unbewusste, Triebe und Emotionen waren die „Herren im Haus“. Was folgte, war die Entwicklung mehrerer Modelle, welche die Psychodynamik (die Wirkprinzipien innerseelischer Kräfte) und die Entstehung psychischer Erkrankungen erklären.

Die der psychoanalytischen Krankheits- und Behandlungslehre zugrundeliegenden Modelle dienen auch der sinnverstehenden PMT als Grundlage. Da sie bereits andernorts ausführlich publiziert sind, werden sie hier nur in dem Umfang vorgestellt, der für das weitere Verständnis notwendig ist.

4.1   Krankheitskonzept