Die Autorin

Evelyn Kühne – Foto © privat

Evelyn Kühne wurde 1970 in Radebeul geboren. Schon immer galt ihre ganze Leidenschaft den Büchern. Beruflich ging sie jedoch erst einmal andere Wege und arbeitete unter anderem als Verkäuferin. Viele Jahre später, nachdem sie eine Krebserkrankung überstanden hatte, traute sie sich erstmals mit ihren eigenen Geschichten an die Öffentlichkeit. Für sie war das Schreiben auch ein Stück Krankheitsbewältigung. Seitdem veröffentlichte sie mehrere Romane sowie das Kinderbuch "Die kühne Marie", welches sie zugunsten krebskranker Kinder schrieb. Sie lebt heute mit Mann und Tieren in der Nähe von Meißen und schreibt am liebsten Krimis und Liebesromane über starke Frauen.

Das Buch

Sonne, Meer und Rügen

Die 43-jährige Marie ist alleinerziehende Mutter von drei Kindern und schlägt sich mehr schlecht als recht durchs Leben. Mit ihren Töpferarbeiten und einem Nebenjob schafft sie es kaum, die Miete für ihre kleine Wohnung zu verdienen. Trotzdem findet sie die Zeit, sich um ihre kranke Nachbarin Ruth zu kümmern. Doch als ihr Wohnhaus plötzlich verkauft wird, drohen Sanierungen und eine saftige Mieterhöhung. Zum Glück hat Ruth eine Idee: Sie besitzt ein Haus auf Rügen und lädt Marie ein, zusammen mit ihr und den Kindern dort einzuziehen. Als Marie jedoch sieht, in welch schlechtem Zustand das Haus ist, will sie am liebsten wieder umkehren. Wäre da nicht der sympathische Tischler Christian, der ihr hilft, das Haus zu renovieren. Auch Maries Leben könnte einen neuen Anstrich gebrauchen. Doch sie ist sich nicht sicher, ob sie dieser Aufgabe schon gewachsen ist …

Evelyn Kühne

Inselküsse

Ein Ostseeroman

Forever by Ullstein
forever.ullstein.de

Originalausgabe bei Forever
Forever ist ein Verlag
der Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin
Juni 2019 (1)

© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2019
Umschlaggestaltung:
zero-media.net, München
Titelabbildung: © FinePic®
Autorenfoto: © privat
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ISBN 978-3-95818-372-8

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Widmung

Zur Erinnerung an wundervolle Kindheitstage auf Rügen

1. Kapitel


Mit kreisenden Bewegungen massierte Marie das duftende Shampoo in ihre Kopfhaut. Dann suchte sie nach dem Wasserhahn und drehte. Ein dünnes Rinnsal ergoss sich, welches nach kurzer Zeit verebbte. Stöhnend tastete sie erneut nach dem Regler, drehte ihn zu und wieder auf und schielte mit einem Auge erwartungsvoll zum Duschkopf empor. Wie zum Hohn landete ein einzelner Tropfen auf ihrer Nase – das war’s.

In Windeseile schob sie den Duschvorhang beiseite und stürzte zum Waschbecken. Auch dort kam nur ein spärlicher Strahl, der nach Sekunden versiegte. »Oh nein, bitte nicht schon wieder, und vor allem, bitte nicht heute«, murmelte sie flehend vor sich hin. Marie ergriff ihr Badetuch vom Wannenrand und huschte mit einshampooniertem Kopf Richtung Flur. Ihre nackten nassen Füße hinterließen feuchte Spuren auf den Dielen. Die Wohnung lag in morgendlicher Stille. Um diese Zeit schliefen ihre Kinder noch friedlich in den Betten. Leise knarrten die alten Holzbretter unter ihren Füßen und sie ließ fürsorglich diejenigen aus, die besonders laut waren.

Als Erstes schlich Marie in die Küche. Sonnenschein fiel durchs Fenster und ließ Staubkringel darin tanzen. Die Tür zum Balkon war nur angelehnt und fröhliches Vogelgezwitscher drang herein. Bestimmt tobten die Amseln wieder durch den alten Kastanienbaum, der direkt vor ihrem Fenster wuchs und sich jedes Jahr ein kleines Stück mehr in die Höhe reckte.

Kein Mensch würde darauf kommen, dass sie mitten in Berlin wohnte. Ihr kleines Reich war eine Oase der Ruhe, der Hinterhof glich einer anderen Welt. Kater Felix lag in seinem Kuschelbett an der Heizung, reckte den Bauch nach oben und würdigte sie nur eines knappen Blickes aus schmalen Augen. Gleich darauf erfüllten erneut rhythmische Schnarchgeräusche den Raum.

Suchend sah Marie sich um. Ihr Blick fiel auf den Wasserhahn über der Spüle. Einen weiteren Versuch sparte sie sich. Sie wusste genau, es würde sowieso kein Wasser kommen. Der Topf auf dem Herd war leer, genauso wie die Gießkanne neben ihren Kräutertöpfen auf der Fensterbank. Gestern Abend hatte sie die letzten Tröpfchen über ihre Petersilie geschüttet und natürlich wie immer vergessen, die Kanne erneut aufzufüllen. Aber da war noch der Selterskasten, der vor dem Fenster stand. Sie ging hinüber und beugte sich hinab. Doch jede Flasche, die sie herauszog, war leer. Sie sah nur eine Lücke, irgendwo in der Wohnung musste es also eine weitere Flasche geben, und die galt es zu finden. Hier in der Küche war sie schon mal nicht, denn sowohl der große Esstisch als auch die zusammengewürfelten Arbeitsplatten der Schränke waren leer. Marie passierte erneut den langen Flur und öffnete vorsichtig die Tür zu Karos Zimmer. Bunte Vorhänge bauschten sich in einer ersten Morgenbrise und ließen einzelne Sonnenstrahlen durchschimmern.

Karo, die eigentlich Karoline hieß, war ihr ältestes Kind, gerade vierzehn geworden, und befand sich mitten in der schlimmsten Phase der Pubertät. Momentan lag sie jedoch friedlich wie ein Baby in ihrem Bett. So ohne Schminke und mit leicht geöffnetem Mund, wirkte sie immer noch wie das kleine Mädchen mit den rutschenden Strumpfhosen und den blonden Zöpfen, das so gerne Bilder für seine Mama gemalt hatte. Einzig das Handy, welches ihre Tochter krampfhaft umklammerte, und die Stöpsel in den Ohren störten das Bild.

Marie löste ihren Blick von Karo und begab sich auf die Suche. Auf dem Schreibtisch vor dem Fenster wurde sie schließlich fündig. Sie erspähte zu ihrer Erleichterung eine fast volle Flasche Wasser, die zwischen Schulbüchern, leeren CD-Hüllen und anderem Kram herumstand. So lautlos, wie sie gekommen war, huschte sie wieder nach draußen.

Im Badezimmer versuchte Marie, mit der vorhandenen Wassermenge den Schaum aus ihren Haaren zu bekommen, was nicht gerade einfach war. Zum Glück trug sie seit einigen Jahren einen Kurzhaarschnitt. Nach der Geburt ihrer Zwillinge hatte sie sich nicht nur von deren Vater Sebastian getrennt, sondern auch von ihrer langen Mähne. In diesem Moment war Marie unglaublich dankbar dafür. Dennoch sahen ihre Haare anschließend alles andere als frisch gewaschen aus und klebten strähnig zusammen. Und das ausgerechnet heute, an diesem für sie so wichtigen Tag. Sie seufzte und versuchte, mit Fingern und Gel eine einigermaßen ansprechende Frisur zu zaubern.

Denn heute galt es, heute würde sich vielleicht ihre Zukunft entscheiden. Marie war selbstständige Töpferin, eine brotlose Kunst, wie ihr Vater immer sagte. Aber sie liebte ihre Arbeit und konnte sich keine andere vorstellen. Gut, an ein paar Abenden in der Woche jobbte sie in der Kneipe ihres Kumpels Jo, damit zusätzlich ein paar Euros in die Kasse kamen. Doch Marie war mit Leib und Seele Töpferin. Diese Arbeit aufzugeben kam für sie nicht infrage. Noch nicht, denn ihre Geschäfte liefen zugegebenermaßen ziemlich mies. Sorgenvoll machte sie an jedem Monatsende ihre Abrechnung und klappte dann resigniert die Bücher zu. Wenn nicht bald etwas geschah, musste sie eine Entscheidung treffen.

Und aus diesem Grund hatte ihre beste Freundin Rike sie vor einiger Zeit zu einem Handwerkermarkt, der während eines Dorffests stattfand, mitgeschleppt. Rike hatte ihre gefilzten Sachen und Marie ihre Töpferarbeiten präsentiert. »Du musst deine Keramik bekannter machen. Sie ist wunderschön, aber wenn du immer nur deine eingefahrenen Wege abläufst, wird nie jemand Neues auf deine Kunstwerke aufmerksam werden.« Seit Jahren stand Marie an den gleichen Tagen des Jahres auf den gleichen Märkten. Das hatte sich so eingebürgert. Denn anstatt sich um neue Standtermine zu kümmern, saß sie am liebsten an der Töpferscheibe in ihrer Werkstatt und ließ ihrer Kreativität freien Lauf. Im Internet zu recherchieren oder mühevoll neue Leute anzuschreiben, empfand sie als total lästig, obwohl sie wusste, dass diese Arbeit nun einmal dazugehörte.

Der Dorfmarkt war alles andere als gut besucht gewesen. Nur wenige Besucher waren bei ihr stehen geblieben, die meisten schlenderten achtlos vorbei. Das versetzte Marie jedes Mal einen heftigen Stich. Genau gegenüber hatte sich eine Imbissbude befunden, an der Bratwürste verkauft wurden. Die Schlange dort war lang und länger geworden. »In meinem nächsten Leben mache ich in Fressereien«, hatte Marie mit einem Seufzen zu ihrer Freundin gemeint.

»Ärgere dich nicht, das ist nun mal so«, hatte Rike in ihrer unerschütterlich positiven Art erwidert. »Das wird schon noch, warte nur ab.«

Kurz vor Feierabend war doch noch eine junge Frau an den Stand gekommen, die Maries Arbeiten sehr genau betrachtet hatte. Sie war schick angezogen gewesen, mit einem Kostüm, hohen Schuhen und sorgfältig hochgesteckten blonden Haaren. Irgendwie hatte sie gar nicht auf diesen Markt gepasst, auf dem die meisten Besucher recht alternativ gekleidet gewesen waren. Immer wieder hatte die Frau ihre Blicke über die Auslage schweifen lassen. Besonders die getöpferten Seifenschalen und Zahnputzbecher schienen bei ihr Gefallen gefunden zu haben.

»Sehr schön, diese Farben sind einfach eine Wucht. Genau so etwas habe ich gesucht. Wissen Sie, wir betreiben eine kleine Hotelkette.« Sie hatte einen Becher in die Hand genommen und ihn betrachtet. »Na ja, Hotelkette, das klingt immer so großspurig, aber es sind tatsächlich inzwischen vier Häuser, und weitere sollen dazukommen. Bei uns ist alles bio, das Essen, die Ausstattung der Räume und so weiter. Und was würde da besser hineinpassen, als selbst getöpferte Keramik in den Badezimmern, statt irgendwelcher Plastikbecher? Und wer weiß, wenn uns Ihre Produkte gefallen, vielleicht lassen wir sogar unser ganzes Geschirr bei Ihnen produzieren. Na, was sagen Sie?« Erwartungsvoll lächelnd hatte die Frau Marie angesehen. Sie hatte ausgesprochen sympathisch gewirkt, mit zahlreichen kleinen Lachfältchen um ihre braunen Augen.

Marie hatte es kurzfristig die Sprache verschlagen. Erst ein kräftiger Rempler von Rike hatte sie wieder in die Gegenwart geholt. »Das klingt fantastisch. Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll.« Marie hatte sich die Worte förmlich abringen müssen. Die Sache hatte einfach zu gut geklungen, um wirklich wahr zu sein.

»Wissen Sie was, Sie geben mir Ihre Nummer, wir vereinbaren einen Termin und Sie kommen mit Ihren Arbeiten einfach mal bei uns vorbei«, hatte die Frau fröhlich zu ihr gesagt. »Ich führe die Hotels zusammen mit meinem Vater, und er hat immer das letzte Wort. Also muss er sich Ihre Arbeiten ebenfalls ansehen. Aber meist kann ich ihn überzeugen. Na, was sagen Sie, hätten Sie Lust?«

Ob Marie Lust hatte, war gar keine Frage, ihr Herz hatte voller Aufregung geklopft. Und so hatte sie zugesagt und zum Schluss erfahren, dass die nette Frau Susanne von Greifenberg hieß. Rike war vor Freude vollkommen außer sich gewesen und beide Frauen mussten ihre kleinen Begeisterungskreischer unterdrücken, bis die Hotelbesitzerin außer Hörweite war.

Heute nun war der wichtige Termin, dem Marie so entgegengefiebert hatte, in den sie all ihre Hoffnung setzte. Und ausgerechnet dieser Tag hatte suboptimal begonnen.

Kritisch betrachtete Marie ihre Frisur im Spiegel. Irgendwie hatte sie doch noch ein einigermaßen zufriedenstellendes Ergebnis hinbekommen. Die dunklen Haare, in die ihre Friseuse vor Kurzem kleine rötliche Strähnen gezaubert hatte, glänzten frisch gestylt. Ihr Blick streifte das Make-up, welches ihr eine Bekannte zu ihrem letzten Geburtstag geschenkt hatte. Doch Maries Haut sah immer noch glatt und ebenmäßig aus. Zwar waren ihre Wangen wie eigentlich immer etwas gerötet, aber das gehörte von Kindheit an zu ihr. Schon immer hatte sie rote Bäckchen gehabt, die sich bei Aufregung im Farbton noch vertieften. Aber Marie liebte ihr natürliches Aussehen und fühlte sich geschminkt seltsam verkleidet. Also legte sie schnell nur noch ein wenig Wimperntusche auf und suchte verzweifelt ihren Lipgloss in der Kosmetiktasche. »Karo, wenn ich dich erwische«, stöhnte sie und huschte abermals ins Zimmer ihrer Tochter. Dort wurde sie sogleich auf deren Schminktisch fündig. Ihre Tochter hatte mittlerweile die Rückenlage verlassen und kuschelte sich bäuchlings auf das Bett. Wie ein blonder Vorhang flossen Karos Haare zu Boden und ließen sie wie eine schlafende Elfe wirken. Doch heute musste Marie sich losreißen.

Schnell noch im Bad den Gloss aufgetragen und einen letzten Kontrollblick in den Spiegel geworfen. Sie war mit sich zufrieden. Ihre braunen Augen leuchteten voller Vorfreude. Ein zarter Kranz von Lachfältchen schimmerte an ihren Schläfen und ließ sie wie eine Frau in den besten Jahren wirken, deren Schönheit sich gerade so richtig entfaltete. Das hatte zumindest ihre Freundin Rike vor Kurzem zu ihr gesagt, und in diesem Moment musste Marie ihr innerlich zustimmen.

Ihr Outfit für den heutigen Tag hing schon bereit, und so schlüpfte sie in eine dunkelblaue Hose und eine weiße Bluse. Das sah leger und trotzdem irgendwie geschäftsmäßig aus. Dann schaute Marie auf die Uhr, schon gleich halb sieben. Es wurde Zeit, die Kinder zu wecken.

Das Zimmer der neunjährigen Zwillinge Til und Ole lag in fast vollständiger Dunkelheit. Marie musste aufpassen, nicht über irgendwelche herumliegenden Legobauteile, Schultaschen oder Fußballschuhe zu stürzen. Vorsichtig tastete sie sich zum Fenster vor und öffnete den Vorhang ein winziges Stück. Brummender Protest aus Richtung Bett war die einzige Reaktion. Schnarchgeräusche ertönten aus der oberen Etage des Doppelstockbettes, ein nackter Fuß hing heraus. Die Wand hinter Tils Bett war mit unzähligen Fußballplakaten zugepflastert. Die Bettwäsche zierte das Logo eines großen bayrischen Vereins. Ganz anders als bei Ole, der im unteren Bett schlief. Neben ihm lag ein Buch, seine Taschenlampe brannte immer noch. Ganz offensichtlich hatte er wieder heimlich in der Nacht gelesen.

So ähnlich sich Maries Söhne sahen, so unterschiedlich waren sie. Til, der Unruhige, der einfach nicht still sitzen konnte und immer Bewegung brauchte. Der am liebsten an jedem Tag der Woche Fußball spielen würde und der Hausaufgaben für unnötig hielt. Und Ole, der Ruhige, der gerne las und am liebsten Geige gelernt hätte, wenn Marie die Kosten für den Unterricht hätte aufbringen können. Stattdessen verbrachte er die Nachmittage in der Bibliothek und tauchte dort in andere Welten ab. Oder nervte seine Umgebung mit Fragen zu allen möglichen und unmöglichen Themen. Doch wenn es darauf ankam, hielten die beiden Brüder zusammen wie Pech und Schwefel, da passte kein Blatt Papier zwischen sie. Marie zog behutsam die Decken weg und kitzelte ihre Söhne am Bauch, doch aus beiden Etagen schallten ihr nur grunzende Geräusche entgegen. »Los, aufstehen, die Schule wartet«, sagte sie deswegen energisch.

Bei Karo erging es ihr nicht anders. Ihre Tochter stöhnte und drehte sich Richtung Wand.

»Komm schon, Karo, es ist schon nach halb sieben«, flüsterte Marie ihrem Kind ins Ohr.

Erneut stöhnte ihre Tochter leise vor sich hin. Doch urplötzlich drehte sie sich um, richtete sich auf und sah ihre Mutter entsetzt an. »Was, schon halb sieben? Du solltest mich doch eher wecken! Ich muss noch Haare machen und so.« Hektisch hüpfte Karo durchs Zimmer und sah ihre Mutter anklagend an.

Verdammt, dachte Marie. Das hatte sie ganz vergessen. Da waren dieser Schüleraustausch im nächsten Jahr und die Fotos, die dafür geschossen werden sollten. Noch gestern Abend hatte Karo sie erinnert, sie unbedingt um halb sechs zu wecken. Alle Mädchen in der Klasse wollten sich natürlich von ihrer besten Seite zeigen. Aber da war ihr heutiger Termin, und sie hatte einfach nicht mehr daran gedacht.

Marie berührte ihre Tochter sanft am Arm. »Du siehst doch gut aus, mit deinen blonden Haaren. Schön wie immer.« Besänftigend lächelte sie ihr zu.

»Das würdest du auch sagen, wenn ich aussähe wie ein Grufti, du bist schließlich meine Mutter«, zischte Karo ihr zu und raffte nervös irgendwelche Sachen zusammen. Dann raste sie auf den Flur. Marie folgte ihr und fing sie erst direkt vor der Badezimmertür ab.

»Du kannst dir trotzdem nicht die Haare waschen«, sagte sie und seufzte bereits innerlich. Marie wusste, was gleich passieren würde.

Karo drehte sich um und strich eine blonde Strähne aus ihrem Gesicht. »Und warum nicht? Wenn ich mich beeile, schaffe ich das locker bis um sieben. Vielleicht komme ich ein bisschen zu spät, aber das ist heute egal«, sagte sie genervt.

»Es geht nicht, weil … Wir haben mal wieder kein Wasser.« Nun war es heraus.

Fassungslos sah Karo sie an und ließ ihre Sachen mitten im Flur fallen. »Na prima, und alles nur wegen dieser Scheißwohnung. Ständig ist hier was kaputt, immer ist irgendwas in dieser steinalten Hütte. Warum können wir nicht in einer normalen Wohnung leben, so wie die anderen aus meiner Klasse?« Marie seufzte und versuchte, ihr Kind zu beruhigen, doch Karo schlug ihre Hand weg. »Alle haben ein Haus, nur wir natürlich nicht. Wäre ich nur zu Dad gezogen. Dort hätte ich sogar zwei Zimmer und ein Badezimmer ganz für mich allein«, schrie sie ihr ins Gesicht. In diesem Augenblick sah sie ihrem Vater so unendlich ähnlich, dass es Marie in der Brust schmerzte. »Dad würde alles für mich machen, sogar die Möbel haben wir schon zusammen ausgesucht.« In Karos Augen schossen Tränen der Wut und sie lief zurück in ihr Zimmer. Kurz bevor sie den Raum erreichte, drehte sie sich um und sah ihre Mutter an. »Kannst du mich wenigstens jetzt noch zu Dad fahren?«

Marie schüttelte den Kopf und bemühte sich, nicht die Fassung zu verlieren. »Ich hab’ doch heute Morgen diesen wichtigen Termin. Karo, das schaffe ich nicht«, sagte sie flehend. »Sonst komme ich zu spät. Mach dir doch einfach einen Zopf und gut.«

»Einen Zopf, einen Zopf.« Karo lachte hysterisch. »Klar, immer geht es nur um dich. Alles dreht sich um diese blöde Töpferei, bei der eh nie was rauskommt. Aber das kapierst du ja einfach nicht. Andere Mütter suchen sich einen normalen Job, aber du … Was aus mir wird, ist dir doch scheißegal.« Mit einem lauten Knall fiel Karos Tür zu.

Marie stand im Flur und kämpfte mit den Tränen. Diese Art Unterhaltung führten sie mindestens zweimal die Woche. Alles hatte sie versucht. Sie war Karo mit Strenge und Verständnis begegnet, doch diese schaltete einfach auf stur und trieb sie regelmäßig in den Wahnsinn. Vor allem die Drohungen, zu ihrem Vater zu ziehen, setzten Marie zu. Maik, Karos Vater, war ihre erste große Liebe gewesen. Davor hatte sie nur kleinere Liebeleien gehabt, mit denen es nie ganz ernst wurde. Aber Maik war anders gewesen, er eroberte ihr Herz im Sturm. Alle Warnungen von Freunden und Familie hatte sie in den Wind geschlagen. Sie liebte diesen Typen einfach und hatte über seine Fehler großzügig hinweggeschaut. Er sah gut aus, mit seinen dunklen Haaren und dem smarten Blick. So war Marie zunächst entgangen, dass er eigentlich nur ein Sprücheklopfer und Blender war. Er liebte es, irgendwelche Pläne zu schmieden, aber setzte sie nur äußerst selten in die Tat um. Maik war unzuverlässig und unehrlich, ein Tagträumer und Spinner. Das wurde Marie erst bewusst, als es schon fast zu spät war. Sie erwischte ihn nämlich zusammen mit einer ihrer damals besten Freundinnen in der gemeinsamen Wohnung im Bett. Natürlich hatte er auch dafür eine durchaus plausible Erklärung, die sie sich zum Glück aber nicht mehr anhörte. Viel zu lange hatte sie seinen Versprechungen und Schwüren vertraut, nun war endgültig Schluss.

Erst dann zeigte Maik sein wahres Gesicht. Nach ihrer Trennung rannte Marie regelmäßig ihrem Unterhalt hinterher. Er versprach großzügig, Karo am Wochenende abzuholen, machte mit dem Kind schon Pläne und kam dann nicht. Oder er überschüttete ihre Tochter mit abnorm teuren Geschenken und versuchte damit, sie ihr zu entfremden. Vor einigen Jahren hatte er geheiratet, eine Frau, die einiges an Geld in die Ehe brachte. Endlich verkehrte er in den Kreisen, die er für angemessen hielt. Es wurde ein prächtiges Haus gebaut und vor zwei Jahren war er zum zweiten Mal Vater geworden. Karo verdrehte er mit einer kleinen Einliegerwohnung den Kopf, die regelmäßig für Streit sorgte. Denn noch immer kam er seinen finanziellen Verpflichtungen nicht nach. Maik fuhr mit seinem nagelneuen Sportwagen vor, machte auf dicke Hose und wurde beim Thema Geld kleinlaut.

All das wusste Karo nicht. Marie war verzweifelt darum bemüht, diese Probleme von ihr fernzuhalten. Warum, wusste sie manchmal eigentlich selbst nicht so genau. Aus diesem Grund vergötterte Karo ihren Vater und stellte ihn auf ein Podest. So auch heute wieder.

Marie vernahm hinter sich ein Geräusch und sah Ole, der die ganze Szene mitbekommen hatte, in der Tür seines Zimmers stehen. »Sei nicht traurig, Mam, die kriegt sich schon wieder ein.« Er umschlang sie mit beiden Armen ganz fest und drückte seinen Kopf an ihre Brust. Marie spürte, wie sich eine Träne löste und langsam nach unten rann. Ihr Sohn, der oft als Vermittler agierte und seine Schwester manchmal besser erreichte als sie selbst. Ole der Tröster, der es nicht ertragen konnte, wenn in der Familie schlechte Stimmung herrschte. Eine kleine Weile standen sie so und sie genoss die kindliche Umarmung. Schließlich schob Marie Ole von sich, rang sich ein Lächeln ab und gab ihm einen Kuss auf die Stirn. »Schon gut, und nun schnell, zieh dich an, sonst kommen wir alle noch zu spät.«

Seufzend verschwand sie in der Küche und verpackte die geschmierten Schnitten in Plastikdosen. Die Zwillinge verschlangen inzwischen hinter ihr am großen Familientisch Kakao und Müsli, doch Karo ließ sich nicht blicken. Marie wusste, sie würde eine ganze Weile schmollen, doch heute hatte sie einfach nicht den Nerv, auf Karos Rumgezicke einzugehen.

Eine Viertelstunde später herrschte Stille. Alle drei Kinder waren zur Tür hinaus verschwunden. Karo natürlich, ohne ein Wort zu sagen, und mit beleidigter Miene. Selbst die geschmierten Brote hatte sie verschmäht und auf dem Tisch liegen lassen.

Marie schnappte sich ihre Tasche und sah ein letztes Mal in den Spiegel. Der Streit hatte ihr zugesetzt und die heute Morgen noch so entspannte Miene war verschwunden. Egal, was gerade gewesen war, nun musste sie sich beweisen und unbedingt die Nerven behalten. Sie zog die Wohnungstür hinter sich zu und wollte gerade die Treppe hinablaufen, als eine dünne Stimme nach ihr rief – auch das noch.

Ihre Nachbarin Ruth Lachmann stand in einem rosafarbenen Morgenrock in der Tür und sah sie neugierig an. Als Marie in dieses Haus gezogen war, hatte Frau Lachmann schon hier gewohnt. Damals noch mit ihrem Mann, aber der war vor einigen Jahren gestorben. Seitdem lebte sie allein und hatte keine Kinder. Sie war achtundsiebzig, der Körper wurde allmählich älter und schwächer. Fast nie kam sie jemand besuchen, und irgendwann hatte Marie angefangen, sich aus Mitleid ein wenig um sie zu kümmern. Sie kaufte für die alte Dame ein oder erledigte die Säuberung des Treppenhauses gleich mit. Nach und nach hatte sich zwischen den beiden ungleichen Frauen eine Art Freundschaft entwickelt. Oft tranken sie zusammen einen Kaffee und Marie musste selbst gebackenen Kuchen probieren. Ein paarmal hatte sie mit Ruth sogar über Karo und ihren Vater gesprochen, und die alte Frau hatte ihr nachdenklich zugehört. Mit Ratschlägen hielt sie sich stets zurück und wackelte manchmal nur bedenklich mit dem Kopf.

In den letzten Tagen schien es Ruth schlechter zu gehen. Vorgestern war sogar der Notarzt da gewesen. Marie hatte sich durchgesetzt und ihn gerufen. Er hatte den Verdacht Schlaganfall zum Glück nicht bestätigt. Seine Miene sprach jedoch Bände und allen war wohl bewusst, dass Ruths Tage gezählt waren. »Tja, wissen Sie, wenn der Lebensmut schwindet, da kann man nichts machen. Irgendwann ist es eben vorbei«, hatte er leise zu ihr gesagt.

Und nun stand Ruth auf dem Absatz und sah sie neugierig an. »Ist alles gut, Marie? Ich habe euch streiten gehört, es ging wohl um das Wasser, oder besser gesagt, um das nicht vorhandene Wasser.«

»Ja, richtig, Karo beruhigt sich schon wieder. Aber sei mir nicht böse, heute ist doch mein Termin.« Erneut schaute Marie auf ihre Uhr.

Die alte Frau nickte eifrig. Einer der Lockenwickler, die sie in ihr schlohweißes Haar gedreht hatte, wippte bedenklich auf und ab. »Ich weiß schon, wollte dir nur alles Gute wünschen und die Daumen drücken.« Ruth reckte beide Daumen ermutigend in die Luft. »Wird schon werden, wirst sehen. Ich hab’ heute ein sehr gutes Gefühl.«

Marie winkte ihr lachend zu und rannte dann die Treppe hinab. Laut knarrten die wurmstichigen Bretter unter ihren Füßen. Unten im Hausflur, direkt vor den Briefkästen, begannen Handwerker Zementsäcke aufzustapeln und sahen sie unfreundlich an. Vorsichtig, um sich nicht schmutzig zu machen, quetschte sie sich an ihnen vorbei.

Das Haus, in dem sie wohnte, war vor einigen Monaten verkauft worden. Diese Tatsache glich an sich schon einem Wunder, denn das Gebäude war in einem katastrophalen Zustand. Die Lage war nicht schlecht, in einer ruhigen Gegend von Berlin. Ringsumher gab es viel Grün, deswegen zog es die Menschen hierher. Aber angefangen bei einem kaputten Dach bis zur bröckelnden Fassade und einer gewissen Nässe in den Erdgeschosswohnungen, die langsam nach oben kroch, war an der alten Bude fast alles marode. Doch anscheinend hatte sich nun endlich ein neuer Besitzer gefunden. Die anfängliche Freude schlug bei den verbliebenen Bewohnern schnell in pure Angst um. Denn der neue Besitzer hatte nur ein Ziel – er wollte sie alle aus ihren Wohnungen vertreiben und diese teuer weiterverkaufen. Dabei ging er ziemlich kreativ vor und ließ keine Möglichkeit aus, die Mieter zu vergraulen. Es fielen öfter Wasser oder Strom aus. Vor einer Woche war allen Mietern das Benutzen ihrer Toiletten untersagt worden. Sie sollten für ungewisse Zeit auf ein Toi-Toi-Klo im Hof gehen. Das Problem hatte sich dann zwar wieder erledigt, aber es würde nicht lange dauern, bis die nächste Katastrophe käme. Mittlerweile suchten bereits erste Mieter das Weite. Eigentlich wohnte nur noch ein einzelner stiller Herr im Erdgeschoss, Ruth und Marie in der ersten Etage und über ihnen befand sich eine Studenten-WG, die die ganzen Vorkommnisse eher mit Humor nahm.

Der Humor war Marie inzwischen abhandengekommen, dafür wurden die Sorgen immer größer. Sie liebte ihre Wohnung, und vor allem war sie bezahlbar. Dass die Miete erschwinglich war, lag am schlechten Zustand des Hauses und den alten Verträgen. Alles hatte sie zusammen mit Freunden selbst gemacht. Ein zauberhaftes Bad eingebaut, überall die alten Dielen abgeschliffen und einen prächtigen Boden zum Vorschein gebracht, Wände eingerissen und eine gemütliche Wohnküche geschaffen. Karo hatte ein kleines Zimmer und die Zwillinge ihr eigenes. Dafür schlief Marie in einer winzigen Kammer, aber das war ihr wurscht. Die Wohnung war einfach perfekt. Zudem lag sie nahe bei ihrer Töpferwerkstatt, die sich im Hinterhof eines Kulturzentrums befand. Bei jedem Blick in den Anzeigenteil der Berliner Zeitung verschlug es ihr schier die Sprache. Wohnraum war knapp, alle Welt wollte in die Hauptstadt, wie sollte sie da eine neue Wohnung für sich und ihre Kinder finden?

Doch in diesem Augenblick schüttelte Marie, so gut es ging, ihre Sorgen ab und stieg in den alten Passat, der draußen unter einer Kastanie stand. Gestern Abend hatte sie ihre Musterstücke bereits ins Auto gebracht und war nun bereit für die heutige Präsentation.

Doch zunächst musste sie sich durch den morgendlichen Berliner Verkehr quälen und tuckerte, nervös auf die Uhr blickend, hinter einem Müllwagen her. Endlich bog dieser in eine schmale Straße ab und sie hatte freie Fahrt, wenigstens bis zur nächsten roten Ampel. Überall sah sie Menschenmassen, die zur Arbeit oder zur S-Bahn strebten. Lärm und Abgase lagen in der Luft. Doch dann veränderte sich die Gegend allmählich. Die großen Mietskasernen wichen erst flacheren Wohnblocks und dann schmucken Einfamilienhäusern, bis sie endlich die ersten Felder vor den Toren der Stadt erreichte. Über bewaldete, schattige Alleen brauste Marie hinaus aufs Land, Richtung Gutshotel Lindenhof. Sie kurbelte ihr Fenster nach unten und sog die frische Morgenluft tief ein. Landluft, die liebte sie über alles, und musste dabei an die wenigen Besuche bei ihrer Großmutter denken, die in der Uckermark gewohnt hatte. Dort hatte es auch immer so gerochen, nach frischem Heu, nach alten Bäumen und nach zarten Blumen, die am Wegesrand wuchsen. Der Himmel war viel blauer gewesen und Abenteuer schienen hinter jedem Busch zu lauern.

Marie war spät dran, stellte sie nach einer Weile unruhig fest. Noch immer war laut ihrem Handy eine Viertelstunde zu fahren und ihr Termin sollte jetzt in diesem Augenblick beginnen. Auch das noch. Konnte es einen schlechteren Einstieg geben, als zu spät zu kommen?

Da endlich tauchte am Straßenrand der entscheidende Wegweiser zum Gutshotel auf. In Höchstgeschwindigkeit brauste sie über die sandige Auffahrt und zog dabei eine Staubwolke hinter sich her. Vermutlich würden jetzt alle schon sehen, dass jemand auf das Haus zugerollt kam.

Das Hotel lag auf einer kleinen Anhöhe und war von einem Park umgeben. Direkt vor dem Eingang zierte ein üppig blühendes Rosenbeet den Platz, in dessen Mitte ein Springbrunnen plätscherte. Seitlich vor einem ehemaligen Wirtschaftsgebäude lagen die Parkplätze. In aller Eile quetschte Marie sich in eine Lücke, zerrte ihre Klappkiste aus dem Kofferraum und lief auf den Eingang zu.

Wie von Zauberhand öffnete sich die Tür. Susanne von Greifenberg stand vor ihr und sah Marie lächelnd an. Keuchend stellte diese die Kiste ab und gab der jungen Frau die Hand. »Entschuldigung, ich bin eigentlich immer pünktlich. Aber heute ging einfach alles schief.«

Die Hotelbesitzerin winkte lachend ab. »Solche Tage kenne ich zur Genüge. Alles gut, mein Vater hat bis zu diesem Moment telefoniert und die Verspätung vermutlich nicht mal bemerkt.« Sie trug heute eine moderne Jeans und flache Schuhe, die Haare waren zu einem Pferdeschwanz gebunden.

So schnell wie möglich folgte Marie der Frau durch eine wahrhaft beeindruckende Halle. Sie kam sich vor, als wäre sie in einer anderen Zeit gelandet. Eine breite hölzerne Treppe führte in den ersten Stock, um den sich rundherum eine Galerie wand. Direkt über ihr an der Decke prangte ein riesiger Kronleuchter, dicke Teppiche bedeckten den Boden. Die Wände schmückten alte Bilder, vor denen vereinzelt zierliche Tischchen mit wunderbaren Blumensträußen standen. Das Haus wirkte in keiner Weise wie ein Hotel, sondern eher wie der Privathaushalt der Familie. Aber dieser Eindruck war vermutlich genau so gewollt. Wer hier abstieg, hatte ganz sicher keine finanziellen Sorgen.

Dann standen sie vor einer breiten zweiflügeligen Tür und Marie betete, dass der Chef des Hauses ähnlich gelassen wie seine Tochter war. Sie hatte jedoch kein Glück. Eduard von Greifenberg empfing sie mit den Worten: »Sie sind zu spät, und zwar fast zwanzig Minuten. Wenn es schon so losgeht, sinkt meine Lust, mich mit Ihnen zu unterhalten, augenblicklich in den Keller.«

Eduard von Greifenberg war etwa siebzig Jahre alt. Er trug einen dunklen Anzug, hatte grau melierte Haare und eine randlose Brille saß auf seiner Nasenspitze. Der Hotelbesitzer thronte hinter einem riesigen Schreibtisch, der vor einem Fenster stand, welches den Blick auf den großzügigen Park hinter dem Haus freigab. Dunkle Möbel füllten den Raum und vermittelten ein Gefühl von Schwere. Es gab mehrere Bücherregale und genau über Marie schwebte ein ebenso prachtvoller Kronleuchter wie in der Diele. Greifenbergs Augen musterten sie prüfend von oben bis unten und wanderten dann weiter zu seiner Tochter.

»Vater, da waren eine Baustelle und später eine Umleitung, du weißt doch, wie es manchmal ist.« Krampfhaft versuchte Susanne zu vermitteln. Dass sie sich so für Marie ins Zeug legte, machte Susanne noch sympathischer.

»Nein, das weiß ich nicht, denn dann fährt man eben eher los«, meinte er unwirsch und nahm einen Schluck Kaffee. Dann seufzte er. »Na ja, wenn Sie schon mal da sind, können Sie uns Ihr Zeug ja auch zeigen.«

Marie hatte noch kein Wort gesagt und war von der Betitelung ihrer Keramik als Zeug alles andere als begeistert. Dennoch schluckte sie eventuelle Widerworte tapfer hinunter. Es ging schließlich um etwas. Der morgendliche Streit mit ihrer Tochter fiel ihr wieder ein. Wenn es mit diesem Auftrag klappen würde, wäre das wie ein Lottogewinn, und endlich würde sie einmal Glück haben. Aufmunternd zwinkerte ihr Susanne von der Seite zu.

Behutsam stellte sie die Klappkiste auf den Schreibtisch und begann dann, ihre Muster auszupacken. In den letzten Tagen hatte Marie die Homepage der Gutshotels ausführlich studiert und dabei war ihr aufgefallen, dass es insgesamt vier Häuser gab, von denen zwei an der Ostsee lagen und zwei nördlich von Berlin. Eine gewisse maritime Ausstattung spielte bei den Ostseehotels, aber auch in den anderen Häusern, eine große Rolle. Und genau diese hatte Marie aufgegriffen. Langsam füllte sich der Tisch mit Seifenschalen und Zahnputzbechern in verschiedenen Blautönen. Sie hatte Muschelornamente, Segelboote und Fische als Dekor gewählt und manchmal Wellenmuster eingearbeitet. Ein paar der Stücke waren auch neutral gehalten und wurden von zarten Gräsern geziert.

Susanne nahm die Muster begeistert in die Hand und begann, erste Arrangements zusammenzustellen. Ihr Vater betrachtete alles ebenso gründlich, sagte jedoch vorerst kein Wort. Seine Miene war undurchschaubar, keine Tendenz darin erkennbar.

»Also ich finde es zauberhaft, die Meeresmotive sind Ihnen wirklich gut gelungen«, sagte die junge Frau nach einer Weile. »Es wären Einzelstücke, die uns zu etwas Besonderem machen. Vater, was sagst du?«

Greifenberg nahm einen der Zahnputzbecher in die Hand und drehte ihn hin und her. »Als ob ein simples Glas nicht reicht«, grummelte er in seinen Bart. Deine Mutter und ich haben die ganzen Jahre Gläser oder Plastikbecher verwendet und es hat sich niemand beschwert. Die Gäste sind immer wiedergekommen.«

»Aber zum Schluss sind die Zahlen in den Keller gerutscht und wir haben lange überlegt, woran das wohl lag«, erwiderte Susanne eindringlich und beugte sich zu dem älteren Mann. »Es war unsere gemeinsame Entscheidung, die Häuser neu auszurichten. Der Erfolg gibt uns recht, die Zahlen steigen an, die Auslastung ist gut, Bio ist im Trend und wir sind der Vorreiter an vielen Standorten. Jetzt müssen wir das Konzept auch durchziehen bis zum Schluss. Und diese Keramik ist ein weiterer Schritt. Stell dir doch mal vor, wir könnten unser neues Haus auf Rügen genau so ausstatten, von Anfang an. Das wäre doch toll!«

Im Raum herrschte Schweigen und Marie trat vorsichtig von einem Fuß auf den anderen. Immer noch drehte Eduard von Greifenberg den Becher in seiner Hand. Sinnierend starrte er vor sich hin und nickte schließlich vorsichtig. »Ja, vielleicht hast du recht. Hauptsache, hier bleibt alles, wie es ist. In unserem Stammhaus wird nichts verändert, nur über meine Leiche.« Er holte tief Luft und musterte versonnen ein Foto, welches auf seinem Schreibtisch stand. Dann brummte er ein wenig versöhnlicher: »Mach du den Rest mit ihr, aber erst mal nur für das Gutshotel Eichenpark. Dort wird getestet, und dann sehen wir weiter.«

Zu Marie sagte er kein Wort. Er behandelte sie, als wäre sie Luft. Ihr Stolz wurde heute wirklich auf eine harte Probe gestellt.

Der alte Mann griff neben seinen Körper, und zu ihrer Verwunderung sah Marie, dass er in einem Rollstuhl saß. Greifenberg fuhr ein Stück rückwärts, umrundete dann den Schreibtisch und rollte auf eine seitliche Tür zu. Kurz bevor er diese erreichte, öffnete sie sich von selbst und er verschwand in der Diele.

Augenblicklich fühlte Marie sich besser. Die unangenehme Atmosphäre war verschwunden, sofort atmete sie leichter. Susanne von Greifenberg schien es genauso zu gehen, denn sie zeigte mit dem Kopf auf einen seitlich stehenden Tisch. »Wollen wir uns setzen? Und darf ich Ihnen was anbieten, Kaffee, Tee oder ein Wasser?«

»Ein Kaffee wäre wunderbar«, meinte Marie, während die Frau bereits zwei Tassen füllte.

»Sie müssen meinen Vater entschuldigen, er ist ein schwer kranker Mann. Es ist für ihn nicht leicht, so viel Verantwortung abgeben zu müssen. Er hat dieses Haus hier zusammen mit meiner Mutter durch schwierigste Zeiten geführt. Der Lindenhof war alles, was unserer Familie noch geblieben war. Erst nach und nach haben wir bestimmte Objekte zurückerworben oder neue gekauft. Meine Mutter ist vor sechs Jahren plötzlich gestorben, das war für uns alle ein schwerer Schlag, natürlich besonders für ihn«, sagte sie mit ernster Miene. »Dazu kamen gewisse wirtschaftliche Probleme. Die Auslastung stimmte einfach nicht mehr, deswegen der neue Weg Richtung Bio. Die Menschen mögen das, man muss es nur konsequent durchziehen. Mit diesen Veränderungen hat mein Vater große Probleme. Bio ist ihm so fremd wie … wie …« Sie schien nach dem passenden Vergleich zu suchen und verstummte dann.

Marie nickte verständnisvoll und nippte an ihrem Kaffee. »Das kann ich mir gut vorstellen, das ist wirklich keine leichte Situation.« Das Getränk war gut, stark und aromatisch, genau so, wie sie es mochte.

Susanne lehnte sich entspannt im Sessel zurück, schlug die Beine übereinander und strich sich gedankenverloren eine blonde Haarsträhne aus dem Gesicht. Ein Hosenbein ihrer hellen Jeans rutschte ein Stück nach oben und gab den Blick auf schlanke, wohlgeformte Beine frei. Überhaupt war sie eine sehr attraktive Frau, die vielleicht nur ein paar Jährchen jünger war als Marie mit ihren dreiundvierzig Jahren.

»Mein Vater sprach ja schon von unserem neuen Hotel, dem Gutshaus Eichenpark auf Rügen. Es ist ein Landhaus, liegt etwas abseits im Inneren der Insel, genauer bei Langenow, aber das wird Ihnen nichts sagen.« Marie schüttelte verneinend den Kopf. Susanne fuhr fort. »Das Haus war früher im Besitz meiner Familie. Dann stand es lange leer, verfiel oder wurde für andere Zwecke genutzt. Aber nun haben wir es zurückerhalten und sind, was die Modernisierung betrifft, in den letzten Zügen. Neueröffnung sollte eigentlich im Frühjahr sein, aber manchmal kommt es eben anders«, sagte Susanne seufzend. »Alte Häuser – da erlebt man immer wieder böse Überraschungen. Es ist eine gute Idee, dort mit Ihren Keramiken zu starten. Es gibt insgesamt zwanzig Zimmer, also ist der Auftrag zunächst überschaubar. Dennoch würde ich gerne einige zusätzliche Dinge bei Ihnen ordern, wie zum Beispiel Vasen für die Eingangshalle. Und keine Angst, das Haus ist ganz anders als dieses hier.« Sie sah sich um, als sähe sie den Raum zum ersten Mal, und schauderte. »Viel moderner und leichter, nicht so bedrückend und schwer. Ich habe viele eigene Ideen mit einfließen lassen. Wäre das für Sie machbar? Ich meine, haben Sie überhaupt freie Kapazitäten?«

Ja, ich habe mehr freie Kapazitäten als alles andere, hätte Marie am liebsten geschrien, doch sie versuchte ihre Freude zu unterdrücken. Ihr Herz klopfte im Galopp. Das war endlich die Chance, auf die sie immer gewartet hatte. Der fragende Blick von Susanne ruhte auf ihr. »Das lässt sich machen«, meinte sie nach einem kleinen Moment. Das klang zu kühl, also schickte sie noch ein »Das lässt sich sogar sehr gut machen, und ich freue mich riesig auf diesen Auftrag« hinterher.

»Also sind wir uns einig?«, fragte Susanne lächelnd und reichte ihr die Hand.

»Ich glaube schon.« Marie lachte zurück und besiegelte damit ihren Auftrag.