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Egon Erwin Kisch

Geschichten aus sieben Ghettos

Egon Erwin Kisch

Geschichten aus sieben Ghettos

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2019
EV: Allert de Lange, Amsterdam, 1934 (216 S.)
1. Auflage, ISBN 978-3-962816-82-7

null-papier.de/670

null-papier.de/katalog

Inhaltsverzeichnis

Aus­wan­de­rer, der­zeit Ams­ter­dam

Schi­me Ko­si­ner (Un­hoscht) ver­kauft ein Grund­stück

Lo­bing, pen­sio­nier­ter Re­dak­teur

Ro­man­ze von den Bag­dad-Ju­den

Ex odio fi­dei …

Die Mes­se des Jack Oplat­ka

Dan­tons Tod und Pop­pers Nef­fe

Des Par­ch­kopfs Zäh­mung

Der Kab­ba­lis­ti­sche Erz­schelm

Der Tote Hund und der le­ben­de Jude

No­ti­zen aus dem Pa­ri­ser Ghet­to

Den Go­lem wie­der­zu­er­we­cken

Dan­ke

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Auswanderer, derzeit Amsterdam

Vom Gie­bel der An­to­ni­us­kerk1 streckt Chris­tus die Arme dem Volk auf dem Wa­ter­loo-Plein2 ent­ge­gen. Mei­ne Herr­schaf­ten, ruft er, kom­men Sie doch zu mir. Ich füh­re die glei­che Ware, die Sie bis­her von Mo­ses & Aaron be­zo­gen ha­ben, nur ist mein Haus ele­gan­ter als das Ihres jet­zi­gen Lie­fe­ran­ten.

Die bei­den Schwur­zeu­gen an sei­ner Sei­te sind über­le­bens­große, voll­bär­ti­ge, jü­disch aus­se­hen­de Pries­ter­ge­stal­ten und kön­nen durch­aus als Mo­ses und Aaron gel­ten, wenn sie viel­leicht auch Pe­trus und Pau­lus sind. Je­den­falls ste­hen sie da, lin­ker Hand, rech­ter Hand, und pro­tes­tie­ren durch kei­ne Ges­te ge­gen die in gol­de­ner An­ti­qua be­haup­te­te Iden­ti­tät der bei­den Re­li­gio­nen: »Qua fuit a sae­clis sub Si­gno Moy­sis et Aaro­nis, stat sal­va­to­ri re­no­vata il­lus­tri­or aedes.«3 Zu Fü­ßen die­ser Wer­bung mark­tet der Adres­sat, das Ams­ter­da­mer Ghet­to, je­doch nie­mand hat Ohren, zu hö­ren, was der Mann in stei­ner­ner Ge­duld re­det, nie­mand Au­gen, zu se­hen, was auf der Kir­che an­ge­schrie­ben ist.

Noch be­schwö­ren­der als der Christ stre­cken die jü­di­schen Bu­den­be­sit­zer ihre Arme aus, noch lob­prei­sen­der, noch be­teu­ern­der, und der Passant ist vollauf mit der Prü­fung der feil­ge­hal­te­nen Ware be­schäf­tigt; Miss­bil­li­gung mar­kie­rend, fragt er nach dem Preis des von ihm aus­ge­wähl­ten Stücks, feilscht, geht, kommt wie­der.

Ein Händ­ler, der He­rin­ge aus­wei­det und Pfef­fer­gur­ken schnei­det, tut so, als wäre er von ei­ner kauf­lüs­ter­nen Men­ge um­la­gert, die be­wun­dernd auf ihn weist, scheu sei­nen Na­men flüs­tert und de­rer er sich nun er­weh­ren muss. »Ja«, ruft er mit Sten­tor­stim­me,4 »ja, ich bin der Hei­mann, das weiß doch je­der! Hei­mann ist be­kennt! Ich bin ja so be­kennt.«

Nä­hen wirk­lich Käu­fer, und es gilt für Hei­mann zu han­deln, so über­nimmt es die Gat­tin, sei­nen Ruhm zu ver­kün­den. Sie trägt einen »Schei­tel« – Eu­phe­mis­mus für Perücke –, legt die Hän­de an den Mund und teilt der Welt mit, dass Hei­mann ja so be­kennt ist. »Al­les om een Dub­belt­je«,5 dröhnt ein Nach­bar-Sten­tor; er fal­tet mit weit aus­la­den­den, spitz­fing­ri­gen Be­we­gun­gen ein Pa­ket Brief­pa­pier und fügt einen Cray­on, eine gol­den schei­nen­de Uhr­ket­te und einen Bon­bon zu je­nem al­les, das für ein Dub­belt­je zu ha­ben ist. – »Nut­ti­ge Ka­do­ches« hörst du an­prei­sen, und das soll we­der ber­li­ne­risch noch jid­disch, son­dern hol­län­disch und fran­zö­sisch sein und be­deu­ten: nütz­li­che Ca­deaux.6

Um Ge­mü­se und Eier und Obst, um »Ko­scher Plan­ten-Mar­ga­ri­ne«, um Fisch und Ge­flü­gel und Fleisch, al­les »On­der Rab­bi­naal Toe­zicht«,7 krei­sen Han­del und Wan­del auf dem recht­wink­lig ge­knick­ten Wa­ter­loo-Plein; ros­ti­ge Ei­sen­be­stand­tei­le, fa­den­schei­ni­ge Klei­der, zer­bro­che­ne Mö­bel, ver­beul­tes Ge­schirr, Ver­ko­op van 2e Handsch Ge­reed­schap­pen en bruik­baa­re Ma­te­riaa­len8 – der Ab­fall der Nie­der­lan­de ist durch­aus markt­ba­res Gut.

So geht es von Mor­gen­däm­me­rung zu Abend­däm­merung, wo­chen­tags auf dem Wa­ter­loo-Plein, sonn­tags kir­mes­ar­tig auf der Oude Schans und in der Ui­len­burgstraat. Nur der Sab­bat gibt Ruhe. Am Frei­tagnach­mit­tag bricht Is­rael sei­ne Zel­te ab, die Pfos­ten, Pla­chen,9 Kis­ten und die un­ver­kauft ge­blie­be­ne Ware wer­den ent­we­der auf Hand­kar­ren fort­ge­schafft, wo­bei schwarz­lo­cki­ge, ma­ge­re Kna­ben die Wa­gen­hun­de sind, oder fah­ren auf dem Was­ser­weg von dan­nen. Zwa­nen­burg­wal, Wall der Schwa­nen­burg, so poe­tisch heißt der Kai, an dem Fracht­käh­ne voll mit al­ten Klei­dern und al­ter Wä­sche ver­täut lie­gen und Gon­deln mit Fahr­rad­t­ei­len (Ams­ter­dam ist die Stadt der Ju­den und der Rad­fah­rer und be­tei­lig­te sich den­noch nicht am Welt­krieg). Eine schau­keln­de Zil­le voll split­ter­nack­ter, de­fek­ter Schau­fens­ter­pup­pen er­weckt we­gen der un­züch­ti­gen Kon­stel­la­tio­nen der Fi­gu­ren das Hal­lo der Gaf­fer an den Grach­ten.

Wenn ein Händ­ler nur ein klei­nes Wa­ren­la­ger hat, ei­nes, des­sen Rest schnell ein­ge­packt und in ei­nem Kof­fer weg­trans­por­tiert wer­den kann, harrt er noch aus auf Wa­ter­loo. Jetzt, da die Kon­kur­renz ab­rollt oder ab­schwimmt, hofft er sein Ge­schäft zu ma­chen, Nach­bör­se, Schleu­der­prei­se, Aus­ver­kauf, Son­der­an­ge­bo­te, Re­stan­ten, Koopjes,10 Me­zi­jes.11 Hei­mann ist noch im­mer da, die Men­ge ist noch im­mer nicht da, de­ren An­sturm er schrei­end zu­rück­weist: »Ja, ja, Hei­mann ist be­kennt.«

Die drah­tum­frie­de­te Mit­te von Wa­ter­loo-Plein ist ein Ju­gend­spiel­platz, zur Markt­zeit und nach Markt­schluss spie­len hier Kin­der, wäh­rend ihre är­me­ren Al­ters­ge­nos­sen Kar­ren ab­schie­ben oder die weg­ge­wor­fe­nen Wa­ren­res­te, al­les, was auf dem Pflas­ter blieb, durch­wüh­len. Die zum Fina­le an­schwel­len­den Rufe Hei­manns, »Ich bin ja so be­kennt«, tö­nen her­über, aber es kann un­mög­lich sein Ei­gen­lob al­lein sein, was die­sen ins Markt­ge­trie­be ein­ge­bet­te­ten, ty­pi­schen Groß­stadt­spiel­platz mit Wel­len von Ge­stank er­füllt.

Für die kleins­ten Kin­der sind Sand­hü­gel zum Bud­deln da, für die grö­ße­ren Schau­keln, für die noch grö­ße­ren Turn­ge­rä­te. Die größ­ten kämp­fen ein Wett­spiel aus, in je einen Korb auf ho­her Stan­ge ist der Ball zu lan­den; in bei­den Mann­schaf­ten spie­len Bur­schen und Mäd­chen, kurz­berock­te Mäd­chen, das Tem­po ist flugs, die Ge­schick­lich­keit be­trächt­lich, und die Markt­gän­ger, be­packt mit Ein­käu­fen, blei­ben am Draht­netz ste­hen, vom Sport­fie­ber er­grif­fen.

Selbst wenn die Turm­uhr schlägt, blickt nie­mand auf, ge­schwei­ge denn zum Chris­tus, der un­er­müd­lich die Arme nach sol­chen aus­streckt, die wil­lens wä­ren, an­zu­er­ken­nen, dass sei­ne Kir­che nichts an­de­res ist als das, was jahr­hun­dert­lang un­ter dem Zei­chen von Mo­ses und Aaron stand und nun zu ei­nem herr­li­chen Bau schöp­fe­risch er­neu­ert ward.

Du lie­ber Gott, Be­keh­rungs­ver­su­che hat man bei den Ams­ter­da­mer Ju­den schon un­ter­nom­men, als sie noch kei­ne Ams­ter­da­mer Ju­den wa­ren. In Po­len und Russ­land kam man ih­nen mit ganz an­de­ren Mis­si­ons­me­tho­den, mit Plün­de­run­gen, Schän­dun­gen und Po­gro­men, in Spa­ni­en und Por­tu­gal mit Ker­ker­ver­lies und Fol­ter­bank und Flam­men­tod, und hat nichts, gar nichts aus­ge­rich­tet.

Die Ka­the­dra­le von To­le­do, wahr­lich ein ge­wal­ti­ger lo­cken­des, ein ge­wal­ti­ger ver­wir­ren­des und ge­wal­ti­ger ein­schüch­tern­des Bau­werk als die­se An­to­ni­us­kerk, steht seit­her in ei­ner ju­den­lee­ren Stra­ße; das hat sie nicht da­vor ge­schützt, heu­te »Cal­le Car­los Marx«12 zu hei­ßen, und die Stra­ßen­ta­fel mit die­sem Na­men ist just auf dem Palast des Tor­que­ma­da13 und sei­ner erz­bi­schöf­li­chen Nach­fol­ger be­fes­tigt. Die ala­bas­ter­ge­füt­ter­ten Sy­n­ago­gen von To­le­do wur­den zu ka­tho­li­schen Kir­chen, die ver­trie­be­nen In­ha­ber der Stamm­sit­ze aber bau­ten sich auf der an­de­ren Sei­te der eu­ro­päi­schen Land­kar­te neue Sy­n­ago­gen. Nicht weit vom Wa­ter­loo-Plein lie­gen ein­an­der zwei ge­gen­über. Die »Hoch­deut­sche Sy­n­ago­ge«, ge­grün­det von de­nen, die vor den Lands­knech­ten und Mar­o­deu­ren des Drei­ßig­jäh­ri­gen Krie­ges und vor der Sol­da­tes­ka Ch­mel­nitz­kis14 flüch­te­ten, und die Por­tu­gie­si­sche. Die Por­tu­gie­si­sche Sy­n­ago­ge gleicht nicht etwa der Pra­ger Alt­neu­schul, sie ist kei­nes­wegs ein ver­hut­zel­tes, sich ver­ste­cken wol­len­des Ver­samm­lungs­haus von Il­le­ga­len, sie ist ein Prunk­bau, eine Ka­the­dra­le auf jü­disch. Auf­ge­rich­tet ist sie mit­ten im Fluss, sie steht auf Pfäh­len oder gar, wie die Sage geht, auf Fäs­sern mit schie­rem Gold. Das Kir­chen­schiff reckt sich auf Säu­len aus rund­be­haue­nem Gra­nit him­mel­wärts, wie je­nes der ibe­ri­schen Kir­chen, in die man die Ju­den zur Be­keh­rungs­pre­digt oder zur Zwang­stau­fe schlepp­te.

Aus bra­si­lia­ni­schem Pa­li­san­der ist die Estra­de mit dem Al­tar ge­zim­mert. Sie, die »Tuba«, er­hebt sich in der Mit­te des Hau­ses, ihr und ein­an­der sind die kon­zen­tri­schen Ban­krei­hen zu­ge­wen­det, nicht al­le­samt ge­gen Os­ten wie in den Tem­peln des Abend­lands, wo die Be­ter nur den Rücken des Vor­be­ters se­hen. Hier kehrt man sich der Ost­wand erst dann zu, wenn aus der Bun­des­la­de eine Tho­ra­rol­le ge­ho­ben wird. Eine stammt aus dem ehe­ma­li­gen Hei­mat­land, die Flücht­lin­ge tru­gen sie über die Py­re­nä­en wie ein Fah­nen­tuch nach ver­lo­re­ner Schlacht.

Sechs­hun­dert­drei­zehn Ker­zen leuch­ten dem Got­tes­dienst, eine teu­re und un­mo­der­ne Be­leuch­tungs­art, ge­wiss, aber da lässt sich nichts än­dern, so war es in Gra­na­da, so war es in Lissa­bon, so muss es blei­ben. Weil es in Gra­na­da und Lissa­bon so war, geht der Rab­bi auch hier in Es­car­pins, sei­de­nen St­rümp­fen und Schnal­len­schu­hen, die Ge­mein­de­funk­tio­näre tra­gen den fla­chen har­ten Je­sui­ten­hut mit ge­schweif­ter Krem­pe und die Tem­pel­die­ner einen ful­mi­nan­ten Drei­spitz wie da­mals in Spa­ni­en die Guar­dia Rea­le15 und heu­te die Guar­dia Ci­vi­le.16 Der Chor­re­gens, den Ge­sang der Wai­sen­kna­ben di­ri­gie­rend, hat ein Samt­ba­rett auf­ge­setzt, als wäre er Scholar zu Sa­ra­gos­sa.

In por­tu­gie­si­scher Spra­che ste­hen auf ei­ner Mar­mor­ta­fel die Na­men der Ge­mein­de-Äl­tes­ten, un­ter de­ren Re­gie­rung die Sy­n­ago­ge er­baut wur­de: »Par­nas­si­mos Sen­ho­res Ys­hac Levy Xi­me­nes, Mos­seh Cu­ri­el, Abra­ham Jes­su­run d’Epi­no­za, Da­niel de Pin­to, Ys­rael Pa­rei­ra, Jo­seph de Az­vel­do, Za­ga­chi Ga­bay Abo­ab de Fonz­a­ra, Se­mu­el Vaz, Oso­rio da Vei­ga und Hen­ri­quez Cos­ti­no se estron est es­no­ga con­strui­da …«17 Die Be­ter be­grü­ßen ein­an­der mit »boa ent­ra­da do Sab­bat«,18 wel­che For­mel drü­ben bei den Hoch­deut­schen »Gut Schab­bes« lau­tet, und an­statt »boa se­ma­na«19 wünscht man auf der an­de­ren Sei­te der Stra­ße nur eine »Gut Woch«. Das Ge­bet für die Kö­ni­gin der Nie­der­lan­de wird por­tu­gie­sisch ge­spro­chen, und streng hält man dar­auf, be­stimm­te For­meln der Ge­mein­de­do­ku­men­te in der Spra­che de­rer ab­zu­fas­sen, von de­nen die Ah­nen ge­mar­tert und da­von­ge­jagt wur­den, man wahrt Tracht und Ge­ha­ben und Ge­bräu­che de­rer, die die Ju­den zu­nächst zu Spa­ni­en und dann in der ers­ten Emi­gra­ti­on, in Por­tu­gal, stei­ni­gen lie­ßen.

Dort im Sü­den wa­ren sie, weil sie vor der In­qui­si­ti­on dem Glau­ben öf­fent­lich ab­schwo­ren und ihm ins­ge­heim wei­ter an­hin­gen, als Ma­ra­nen, das heißt Schwei­ne­ker­le, be­schimpft wor­den. In der neu­en Hei­mat woll­ten sie nun dar­tun, dass kein Ca­bal­le­ro sie an Vor­nehm­heit über­tref­fe, kein Gran­de gran­dio­ser und mit mehr Gran­dez­za auf­tre­te als sie.

Die nie­der­län­di­schen Pro­vin­zen der spa­ni­schen Kro­ne, die pro­tes­tan­ti­schen Hol­län­der kämpf­ten den Kampf der Auf­leh­nung ge­gen die ka­tho­li­schen Usur­pa­to­ren, und die Op­fer von In­qui­si­ti­on und Un­duld­sam­keit konn­ten bei den Fein­den ih­rer Pei­ni­ger auf umso gast­li­che­re Auf­nah­me rech­nen, als sie aus dem Stief­mut­ter­lan­de nicht mit lee­ren Hän­den ka­men, son­dern au­ßer der mit­ge­brach­ten Tho­ra­rol­le auch den mit­ge­brach­ten Han­del mit der Le­van­te und Süd­ame­ri­ka ent­fal­te­ten. In der Kauf­manns­fes­te an der Ams­tel gab es kei­ne »Ju­de­ria«, kein mit Mau­ern oder Ket­ten ab­ge­schlos­se­nes Ju­den­vier­tel; je­der kre­dit­wür­di­ge Mann durf­te das glei­che Bür­ger­recht aus­üben und sei­ner Re­li­gi­on ob­lie­gen – so­fern es nicht die ka­tho­li­sche war. Nur ein ein­zi­ges Mal, es ge­sch­ah zu An­fang ih­res Auf­ent­halts, wur­den die, de­nen man in Ibe­ri­en vor­ge­wor­fen hat­te, un­ter dem An­schein ka­tho­li­scher Ge­bet­stun­den jü­di­sche Got­tes­diens­te ab­zu­hal­ten, in Ams­ter­dam bei ei­ner Glau­bens­übung über­fal­len: man hielt sie für eine ka­tho­li­sche.

Die jü­di­schen Ca­bal­le­ros stol­zier­ten in Ams­ter­dam ein­her, sie hat­ten Reich­tum und Ti­tel, auf ih­ren Grab­stei­nen und so­gar auf den Etu­is für ihre Ge­bet­män­tel prang­ten Wap­pen. In den Mu­se­ums­räu­men der Al­ten Stadt­waa­ge sieht man Be­schnei­dungs­mes­ser aus Achat mit Schei­den aus Rob­ben­le­der, Ge­würz­büch­sen aus El­fen­bein, Bra­ban­ter Spit­zen­hau­ben für die Ma­dri­nis, die Mut­ter der Braut, und für die Pa­dri­nis, die Mut­ter des Bräu­ti­gams, Per­len­sti­cke­rei­en, edel­stein­be­setz­te Tem­pel­ge­rä­te und gol­de­nes Os­ter­ge­schirr. Als wich­ti­ge, wohl­ha­ben­de und edle Ge­schlech­ter woll­ten die Emi­gran­ten gel­ten, und kein Ge­rin­ge­rer als Goe­the hat ih­nen be­stä­tigt, dass sie das sei­en, ob­gleich er die por­tu­gie­si­sche Ju­den­ge­mein­de nie ge­se­hen, viel­leicht nie von ihr ge­hört hat­te und nicht wuss­te, wem er das Gut­ach­ten aus­stell­te. In sei­nem Essay »Ja­cob van Ruys­dael als Dich­ter« be­schreibt Goe­the ein Land­schafts­bild; es stellt den Fried­hof der Ams­ter­da­mer por­tu­gie­si­schen Ju­den zu Ou­de­kerk dar, was Goe­the un­be­kannt war. »Be­deu­ten­de, wun­der­sa­me Grä­ber al­ler Art, durch ihre For­men teils an Sär­ge er­in­nernd, teils durch große auf­ge­rich­te­te Stein­plat­ten be­zeich­net, ge­ben Be­weis von der Wich­tig­keit des Kirch­spren­gels und was für ede­le und wohl­ha­ben­de Ge­schlech­ter an die­sem Orte ru­hen mö­gen.«

Die­ser Fried­hof ist noch da, und ob­wohl Stra­ßen­bahn Nr. 8 di­rekt hin­führt, ist er im­mer noch wildro­man­tisch, man kann wirk­lich sein ge­treu­es Ab­bild für dich­te­ri­sche Fan­ta­sie hal­ten. Un­ter den äl­tes­ten Ka­ta­fal­ken lie­gen Gran­den: Sa­mu­el Pala­che, Ge­sand­ter des Sul­tans Mu­lay Si­dan von Marok­ko, Mo­zes Je­hu­da Beo­ri, em­bai­xa­dor20 Mo­ham­meds IV. am Hofe Karls IX. von Schwe­den, Ma­nu­el Tei­xe­ra, Re­si­dent der Kö­ni­gin Chris­ti­ne von Schwe­den bei der Han­sa, die Grün­der der Dia­mant­schlei­fe­rei und be­rühm­te Ju­we­lie­re wie Ma­nu­el Baron Bel­mon­te, Cu­ri­el und Duar­te del Piaz, Kauf­leu­te, die zwi­schen Bra­si­li­en und den Nie­der­lan­den se­gel­ten, Brin­ger von Kaf­fee, Ta­bak, Oli­ven­öl. Auf den Grab­stei­nen liest man Na­men und In­si­gni­en von Ärz­ten, Schü­ler der mau­ri­schen Heil­kun­di­gen, Jo­seph Bue­no, der ans Ster­be­bett des Prin­zen Mau­rits ge­ru­fen wor­den war, sein Sohn, der Arzt Eph­raim, ge­nannt Bo­nus, Gó­mez de Sos­sa, Leib­arzt des Kar­di­nal-In­fan­ten Fer­di­nand, Statt­hal­ters in den Nie­der­lan­den; Ver­fas­ser von Rei­se­be­schrei­bun­gen, Über­set­zer von Lope de Vega und Cer­van­tes, Theo­lo­gen und Phi­lo­so­phen lie­gen hier be­stat­tet, dar­un­ter Doc­tor Se­mu­el da Sil­na, der mit sei­nem »Tra­ta­do da Im­mor­ta­li­da­de da alma«,21 er­schie­nen anno criaçao do mun­do 5383 (1623),22 die Ex­kom­mu­ni­ka­ti­on23 Uri­el da Co­stas24 ideo­lo­gisch vor­be­rei­te­te. Uri­el da Cos­ta er­trug nicht die Schmach des Bann­fluchs, er wi­der­rief, und sich die­ser Schwä­che schä­mend, ent­leib­te er sich. Spu­ren da­von, wie es die Emi­gran­ten den Mön­chen Spa­ni­ens an Got­tes­ge­lahrt­heit,25 Un­duld­sam­keit und Mys­tik gleich­tun woll­ten, fin­den wir in den al­ten Dru­cken der Ge­mein­de­bi­blio­thek, der Livra­ria Mon­te­zi­nos, ei­nes der nied­ri­gen Häu­ser, die die Sy­n­ago­ge wie ein Burg­wall um­ge­ben. Der Biblio­the­kar Don Sil­va Roza zeigt sei­ne Schät­ze nicht gern her, am we­nigs­ten gern die vom Ende des sieb­zehn­ten und vom Be­ginn des acht­zehn­ten Jahr­hun­derts, der Zeit des Sab­ba­tai Zewi,26 der sich den Mes­si­as nann­te. Kei­ne Ge­mein­de der Ju­den­heit schloss sich ihm mit solch be­din­gungs­lo­ser In­brunst an wie die spa­nio­li­sche zu Ams­ter­dam. Sie hoff­te, die­ser Gott wer­de sie nun in das Ge­lob­te Land zu­rück­füh­ren, auf dem glei­chen Weg, den sie ge­kom­men war: zu­nächst auf die Py­re­nä­en­halb­in­sel und dann – aber dar­auf leg­te sie er­sicht­lich kei­nen be­son­de­ren Wert – nach Je­ru­sa­lem. Auf je­ner ers­ten Etap­pe, in Ka­sti­li­en, Ara­go­ni­en oder Por­tu­gal, wür­den die Heim­keh­rer voll­be­rech­tig­te Gran­den sein mit dem De­gen an der Sei­te und dem Or­den vom Gol­de­nen Vlies an der Brust, hal­le­lu­ja!

Als un­s­tet, als un­bo­den­stän­dig, als ein No­ma­den­volk gel­ten die Ju­den. Und den­noch zog es sie jahr­hun­der­te­lang nach ei­ner sie nicht lie­ben­den Hei­mat, nach dem mäch­ti­gen Kö­nig­reich, dem gold­be­treß­ten Adel und dem präch­ti­gen Ze­re­mo­ni­ell, auch als dort von kö­nig­li­cher Macht und Adels­her­ren und Pracht längst nichts mehr üb­rig­ge­blie­ben war.

Die Ost­ju­den auf der an­de­ren Stra­ßen­sei­te ha­ben sol­che Sehn­süch­te frei­lich nie ge­hegt, die Rück­kehr zum Za­ren bot kei­ne Lo­ckung, sie blie­ben miss­trau­isch ge­gen den her­ge­lau­fe­nen Mes­si­as, leug­ne­ten sei­ne Be­ru­fung, schmäh­ten ihn. Über sol­che Got­tes­läs­te­rung ze­ter­ten die Se­phar­den, ga­ben sich noch fa­na­ti­scher an Sab­ba­tai Zewi hin; die Män­ner aus Pries­ter­ge­schlech­tern muss­ten zum Zei­chen, dass das Him­mel­reich auf Er­den ge­kom­men sei, an je­dem Sonn­abend die Ge­mein­de seg­nen (ge­schieht heu­te noch), und die al­ten Ge­bet­bü­cher, die uns Don Sil­va Roza un­wil­lig vor­legt, sind mit selt­sa­men, kup­fer­ge­sto­che­nen Ti­tel­blät­tern ge­schmückt: Sab­ba­tai Zewi thront über den Wol­ken, eine Kro­ne trägt er auf dem Haupt, Strah­len ge­hen von ihm aus, und Po­sau­ne­nen­gel ver­kün­den: »Du bist der Ewi­ge, un­ser Gott, Sab­ba­tai Zewi.«

»Ein Schwind­ler ist er«, schall­te es von der ge­gen­über­lie­gen­den Sei­te des Jo­nas-Da­niel-Mei­jer-Plat­zes zu­rück, »ein ge­mei­ner Be­trü­ger«; welch Bür­ger­krieg des Glau­bens durch­wü­te­te das Ghet­to von Ams­ter­dam.

Be­weist die Biblio­thek Mon­te­zi­nos das In­ter­es­se der Se­phar­den an Li­te­ra­tur, Wis­sen­schaft und Theo­lo­gie, be­weist der Bau der Sy­n­ago­ge ih­ren ar­chi­tek­to­ni­schen Ehr­geiz, der In­halt der Vi­tri­nen in der Al­ten Stadt­waa­ge ih­ren Sinn für Kunst­ge­wer­be und die Grab­mo­nu­men­te von Ou­de­kerk ihr Ver­hält­nis für Skulp­tur, so müs­sen wir, um ihre Be­zie­hung zu Ma­le­rei und Zei­chen­kunst ken­nen­zu­ler­nen, eine fünf­te Ört­lich­keit auf­su­chen, ein Ghet­to­haus mit­ten auf Jo­den­bree­straat. Das hat Rem­brandt van Rijn be­wohnt, von An­fang 1639 bis Ende 1657, bei­na­he als ein­zi­ger ger­ma­ni­scher Bür­ger un­ter ei­ner An­rai­ner­schaft von Mit­tel­meer­ju­den und Ost­ju­den. (Gen­au­so wie er hat sich lan­ge vor ihm und fern von ihm Gre­co27 im Kern der Ju­de­ria von To­le­do an­ge­sie­delt, um den be­weg­ten Ty­pen des Al­ten Te­sta­ments nahe zu sein, wenn­gleich sich die­se hin­ter dem Neu­en Te­sta­ment zu ver­schan­zen be­gan­nen.)

In dem Haus Rem­brandts wim­mel­te es von Ju­den, und noch heu­te wim­melt es von ih­nen, der große Haus­herr ist tot, aber sei­ne Mo­del­le le­ben. Die Re­geln der mo­sa­i­schen Re­li­gi­on un­ter­sa­gen es ih­ren An­hän­gern, sich ein Bild­nis zu ma­chen von dem, was in dem Him­mel oben und auf der Erde un­ten ist, und na­tür­lich auch, sich ein sol­ches Bild­nis ma­chen zu las­sen. Aber die See­le der Emi­gran­ten war von der schmach­vol­len Ver­trei­bung und von dem Wunsch er­füllt, das Bei­spiel ih­rer hoch­ge­bo­re­nen Pei­ni­ger nach­zuah­men. Von Veláz­quez und Gre­co hat­ten sich die spa­ni­schen No­ta­beln28 por­trä­tie­ren las­sen, die Da­von­ge­jag­ten lie­ßen sich von Rem­brandt ma­len, sie ka­men frei­lich sel­ten als Auf­trag­ge­ber, sie ga­ben nur gern sei­nem Wun­sche statt, ihm Mo­dell zu ste­hen.

So ent­stan­den die Bild­nis­se des Arz­tes Eph­raim Bo­nus, des Phi­lo­so­phen Men­as­se ben Is­rael,29 die Rab­bi­ner­por­träts, und vie­le hun­dert Ty­pen aus Rem­brandts Nach­bar­schaft fül­len sei­ne bib­li­schen Sti­che und Ge­mäl­de. Frau­en­ge­stal­ten sind dar­un­ter, auch sie er­hasch­te Por­träts von Jo­den­bree­straat und von Hout­gracht, wie der Wa­ter­loo-Plein vor der Schlacht bei Wa­ter­loo hieß. Nur die »Ju­den­braut« ist kei­ne Ju­den­braut, son­dern Rem­brandts rein­ras­sisch ari­sche Nich­te, und der Bräu­ti­gam ne­ben ihr ist kein jü­di­scher Bräu­ti­gam, son­dern des Meis­ters Sohn Ti­tus. Umso au­then­ti­scher jü­disch ist auf dem be­rühm­ten Stich »Sy­n­ago­ge« das han­dels­be­weg­te Trei­ben der hoch­be­mütz­ten und lang­be­bär­te­ten Ge­stal­ten vor den Tem­pel­stu­fen. Rem­brandts se­phar­di­sche und asch­ken­asi­sche Zeit­ge­nos­sen le­ben auf sei­nen Ge­mäl­den als Kö­nig Saul und des­sen Har­fe­nist Da­vid, als seg­nen­der Jaa­kob, als Ha­man und Esther, als der er­blin­de­te Be­lisar, als Abra­ham, der zur Op­fe­rung sei­nes Soh­nes an­setzt.

Un­ter Glas und Rah­men lie­gen im ver­wais­ten Ate­lier Rem­brandts die ein­zi­gen Bu­chil­lus­tra­tio­nen, die er ge­macht hat, Blät­ter zu ei­ner Pro­sa­dich­tung sei­nes Freun­des Men­as­se ben Is­rael, be­ti­telt »Pe­dro Pre­cio­so«. Ti­tel­held ist ein Stein, auf dem Ne­bu­kad­ne­zar stand und der iden­tisch ist mit dem Stein, den Da­vid auf Go­liath schleu­der­te, und mit dem Stein, auf dem Da­niel ruh­te, als er sei­ne Vi­si­on hat­te, und auch mit dem Stein, auf den sich die Him­mels­lei­ter Jaa­kobs stütz­te. Auf den Kör­per Ne­bu­kad­ne­zars ist eine Land­kar­te mit vier per­si­schen Pro­vin­zen ge­zeich­net, die nicht auf Rem­brandts Kup­fer­plat­te ent­stan­den war. Aus ir­gend­wel­chen när­risch-kab­ba­lis­ti­schen Grün­den hat der Au­tor und Dru­cker Men­as­se sie ein­ge­fügt, wor­auf Rem­brandt wü­tend ge­wor­den sein und alle Be­zie­hun­gen mit ihm ab­ge­bro­chen ha­ben soll.

Acht­zehn Jah­re wohn­te Rem­brandt in der Ju­den­gas­se. An dem Tag, an dem sei­ne Gläu­bi­ger das Haus zum Zweck der Zwangs­ver­stei­ge­rung amt­lich in­ven­ta­ri­sie­ren lie­ßen, am 27. Juni 1657, wur­de auch ein jü­di­scher Be­woh­ner des Ghet­tos aus der Ge­mein­schaft ver­trie­ben. Die­sen aber ver­trie­ben sei­ne Glau­bens­ge­nos­sen selbst.

Schwarzum­flor­te Ker­zen sta­ken in den zi­se­lier­ten Sil­ber­leuch­tern, in de­nen sich heu­te noch die Sab­bat­lich­ter in viel­fa­chen Re­fle­xen spie­geln, und das glei­che Wid­der­horn, das noch im­mer Be­ginn und Ende der ho­hen Fest­ta­ge ver­kün­det, dröhn­te die Begleit­mu­sik zu je­nem von Ver­bann­ten aus­ge­spro­che­nen Ur­teil der Ver­ban­nung: »Ver­flucht sei er zu al­len Stun­den des Ta­ges, und er sei ver­flucht zu al­len Stun­den der Nacht. Ver­flucht sei er, wenn er sich nie­der­legt zur Rast, und er sei ver­flucht, wenn er auf­steht zur Ar­beit. Ver­flucht sei er, wenn er aus­geht, und er sei ver­flucht, wenn er zu­rück­kehrt. Der Zorn und der Grimm des Herrn Ze­ba­oth wer­den ent­bren­nen ge­gen ihn, der Herr Ze­ba­oth wird sei­nen Na­men aus­lö­schen un­ter dem Him­mel für ewig und im­mer­dar.«

Der sol­cher­art Ver­ma­le­dei­te war Ba­ruch Spi­no­za, sein Name ist nicht aus­ge­löscht, wenn man auch sein Kon­ter­fei im Mo­sa­ik der mo­sa­i­schen Ge­stal­ten nicht zu ent­de­cken ver­mag, die Rem­brandt aus sei­ner Um­welt aus­ge­wählt und für ewig und im­mer­dar fest­ge­hal­ten hat. Rem­brandt und Spi­no­za be­sa­ßen ge­mein­sa­me Be­kann­te. Spi­noz­as Leh­rer war je­ner Men­as­se ben Is­rael, den Rem­brandt por­trä­tiert und des­sen Buch er il­lus­triert hat­te. Die Pro­tek­to­ren Rem­brandts und Spi­noz­as wa­ren Va­ter und Sohn Huy­gens.30 Con­stan­tin Huy­gens ent­deck­te Rem­brandts Ge­nie auf dem Schütt­bo­den ei­ner Müh­le am Rhein und ver­schaff­te dem Mül­lers­sohn Auf­trä­ge vom Prin­zen Mau­rits von Ora­ni­en;31 der Sohn die­ses Con­stan­tin Huy­gens, Chris­ti­an, gab Spi­no­za Ar­beit, er ließ bei ihm Lin­sen für die Mi­kro­sko­pe schlei­fen, durch die die For­scher je­ner Zeit die Na­tur zu be­äu­gen be­gan­nen, um die Über­ein­stim­mung mit ih­ren Theo­ri­en fest­zu­stel­len.

Nur we­ni­ge Schrit­te von­ein­an­der ent­fernt wohn­ten Rem­brandt und Spi­no­za. Sind die bei­den ein­an­der je be­geg­net? Nichts ist da­von über­lie­fert, nicht Rem­brandt hat ihn ver­ewigt, erst Goe­the, Marx und Les­sing kün­den die Glo­rie von Spi­noz­as Geist.

Die aber, die ihn aus­stie­ßen, sind so stolz auf ihn, wie sie stolz sind auf die, von de­nen sie aus­ge­sto­ßen wur­den. Stolz wie die Spa­nier hei­ra­ten sie nur un­ter­ein­an­der und schau­en hoch­mü­tig auf die mi­se­ra plebs32 hin­ab. Wohl wür­den sie nie­mals der Ein­la­dung Chris­ti von der An­to­ni­us­kerk Fol­ge leis­ten, aber noch we­ni­ger sich mit den Ost­ju­den auf der an­de­ren Sei­te des Jo­nas-Da­niel-Mei­jer-Plat­zes ge­mein ma­chen.

Sie sind in ih­rer Ur­vä­ter Zei­ten als Ver­tre­ter des her­auf­kom­men­den Han­dels­ka­pi­tals vom ei­fer­süch­ti­gen Feu­dala­del Spa­ni­ens ab­ge­schafft wor­den, wie an­dern­orts die ver­schul­de­te Schlach­ta Po­lens auf ihre Gläu­bi­ger den Zorn des aus­ge­beu­te­ten Volks lenk­te. Ob süd­län­di­sche Se­phar­dim oder nord­län­di­sche Asch­ken­asim, sie sind glei­cher­ma­ßen Op­fer ih­res Mer­kan­ti­lis­mus, Op­fer des Kon­kur­renz­neids. Den­noch ver­heh­len die Spa­nio­len ihre groß­bür­ger­li­che Ver­ach­tung für den Klein­bür­ger nicht, selbst wenn der ihr Glau­bens­ge­nos­se, ihr Lei­dens­ge­nos­se, ihr Exil­ge­nos­se ist. Flücht­lin­ge der spa­ni­schen In­qui­si­ti­on zu sein, dünkt ih­nen et­was Vor­neh­mes, wo­ge­gen sie in den Flücht­lin­gen der Po­gro­me, noch nach drei­hun­dert Jah­ren, einen Ar­me­leu­te­ge­ruch spü­ren.

So vie­le von ih­nen längst ver­armt sind, so­sehr die Ge­mein­de in Ver­mö­gens­schich­ten zer­fal­len ist, die mit­ein­an­der gar nicht ver­keh­ren, sie le­ben al­le­samt in der Ein­bil­dung wei­ter, »ede­len und wohl­ha­ben­den Ge­schlech­tern« an­zu­ge­hö­ren. Dia­man­ten­schlei­fer, auch ar­beits­lo­se, sit­zen un­ter den Tem­pel­leuch­tern und sind dar­auf be­dacht, es den an­de­ren »par­nas­si­mos se­nho­res« und den Ah­nen an Wür­de gleich­zu­tun; wer ih­nen sag­te, dass sie Ar­bei­ter sind, wür­de sie be­lei­di­gen, wer ih­nen von pro­le­ta­ri­scher Or­ga­ni­sa­ti­on zu spre­chen wag­te, ge­gen den wür­den sie ih­ren nicht vor­han­de­nen De­gen zücken. Sie und die stel­lungs­los ge­wor­de­nen An­ge­stell­ten des Kaf­fee-Ex­ports und des Ta­bak­ver­sands, die äl­te­ren we­nigs­tens, war­ten lie­ber auf einen neu­en Sab­ba­tai Zewi, der sie via Kaf­fee­bör­se und Ta­bak­bör­se in die schö­nen Tage von Aran­juez füh­ren wird.

Kein Se­phar­de von Ams­ter­dam, und wäre er noch so bet­tel­arm, wür­de auf dem Wo­chen­markt von Wa­ter­loo-Plein oder am Sonn­tags­markt von Oude Schans als Ver­käu­fer schau­ste­hen oder gar sei­nen Na­men preis­ge­ben, wie es der Asch­ken­ase tut, in­dem er aus­schreit: »Hei­mann ist be­kennt.«


  1. kerk: (nie­derl.) Kir­che.  <<<

  2. Plein: (nie­derl.) Platz.  <<<

  3. (lat.) Wo seit Jahr­hun­der­ten un­ter dem Zei­chen von Mo­ses und Aaron ein Tem­pel ge­stan­den hat, steht jetzt ein präch­ti­ge­res, für den Er­lö­ser wie­der­her­ge­stell­tes Got­tes­haus.  <<<

  4. Die Göt­tin Hera tritt wäh­rend des Kamp­fes zwi­schen Grie­chen und Tro­ja­nern in Ge­stalt des Sten­tor vor die Grie­chen und for­dert sie mit lau­ter Stim­me zum Kampf auf.  <<<

  5. Dub­belt­je: (nie­derl.) Zehn­cent­stück.  <<<

  6. Ca­deaux: (franz.) Ge­schen­ke.  <<<

  7. (nie­derl.) Un­ter Auf­sicht des Rab­bi­ners.  <<<

  8. (nie­derl.) Ver­kauf von Gerä­ten und brauch­ba­ren Ma­te­ria­li­en aus zwei­ter Hand.  <<<

  9. gro­bes Lei­nen­tuch  <<<

  10. Koopjes: (nie­derl.) Ge­le­gen­heits­käu­fe.  <<<

  11. Me­zi­jes: (jidd.) preis­wür­di­ge, preis­güns­ti­ge Ware.  <<<

  12. Cal­le: (span.) Stra­ße.  <<<

  13. To­mas de Tor­que­ma­da (1420-1498), ab 1483 Gro­ßin­qui­si­tor, Be­grün­der und Ober­haupt der spa­ni­schen In­qui­si­ti­on, ver­an­lass­te 1492 die Ver­trei­bung der Ju­den.  <<<

  14. Bog­dan Ch­mel­nitz­ki (1595-1657), ukrai­ni­scher Ko­sa­ken­haupt­mann.  <<<

  15. guar­dia real: (span.) kö­nig­li­che Gar­de.  <<<

  16. guar­dia ci­vil: (span.) Wa­che, Gen­dar­me­rie.  <<<

  17. (port.) Un­ter den eh­ren­wer­ten Her­ren … ist der Tem­pel er­rich­tet wor­den.  <<<

  18. (port.) Ei­nen gu­ten Sab­bat­be­ginn.  <<<

  19. (port.) Eine gute Wo­che.  <<<

  20. (port.) Bot­schaf­ter, Ge­sand­ter.  <<<

  21. (port.) Trak­tat von der Uns­terb­lich­keit der See­le.  <<<

  22. (port.) im Jah­re 5383 nach Er­schaf­fung der Welt.  <<<

  23. Ex­kom­mu­ni­ka­ti­on ist der zeit­lich be­grenz­te oder auch per­ma­nen­te Aus­schluss aus ei­ner re­li­gi­ösen Ge­mein­schaft oder von be­stimm­ten Ak­ti­vi­tä­ten in ei­ner re­li­gi­ösen Ge­mein­schaft.  <<<

  24. Uri­el Acosta, auch Ga­bri­el da Cos­ta (1590 bis 1640), jü­di­scher Re­li­gi­ons­phi­lo­soph.  <<<

  25. Theo­lo­gie  <<<

  26. Sab­ba­tai Zewi (1626-1676), jü­di­scher Kab­ba­list und mes­sia­ni­scher Schwär­mer, Be­grün­der der re­li­gi­ösen Be­we­gung des Sab­ba­ta­is­mus.  <<<

  27. EI Gre­co, ei­gent­lich Do­me­ni­co Theo­to­co­pu­li (1541 bis 1614), grie­chisch-spa­ni­scher Ma­ler, leb­te ab 1577 in To­le­do.  <<<

  28. An­ge­hö­ri­gen der so­zia­len Ober­schicht  <<<

  29. Men­as­se ben Is­rael (1604-1657), jü­di­scher Schrift­stel­ler und Phi­lo­soph.  <<<

  30. Con­stan­ti­jn Huy­gens (1596-1687), nie­der­län­di­scher Dich­ter.  <<<

  31. Mau­rits (1567-1625), Prinz von Ora­ni­en, ab 1585 Statt­hal­ter der Nie­der­lan­de.  <<<

  32. (lat) das arme Volk.  <<<

Schime Kosiner (Unhoscht) verkauft ein Grundstück

Von der Dumm­heit des Kauf­manns Schi­me Ko­si­ner in Un­hoscht sind noch heu­te vie­le Ge­schich­ten in Um­lauf, die alle mit der Phra­se be­gin­nen: »Wenn ein Jud blöd ist …«

Zu sei­nen Leb­zei­ten war im wei­ten Um­kreis sei­ne Dumm­heit noch po­pu­lä­rer, und Herr Gu­stav Dub, der rote Dub, rieb sich schon im Voraus die Hän­de, als er er­fuhr, dass das Ge­lei­se der pro­jek­tier­ten Prag-Busch­tiehr­a­der Ei­sen­bahn auch über das Grund­stück Schi­me Ko­si­ners in Un­hoscht ge­hen wer­de.

Ja, wer die glän­zen­den Be­zie­hun­gen des Herrn Gu­stav Dub, des ro­ten Dub, kann­te – und wer kann­te sie nicht! –, konn­te ver­mu­ten, er selbst habe die Ei­sen­bah­n­in­ge­nieu­re be­wo­gen, die Stre­cke dort­hin zu lei­ten. Eine sol­che Kom­bi­na­ti­on wäre je­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­