Klaus Reichert

Erinnerungen und Briefe
Paul Celan

Suhrkamp

Erinnerungen

      Für Bruno Ganz

Vorbemerkung

»Sprich auch du«

Diese Erinnerungen an Paul Celan sind wohl die letzten, die noch geschrieben werden konnten: die noch ausstanden. Alle früheren sind über Jahre und Jahrzehnte hin erschienen. Überlebende Freunde, die sich noch äußern könnten, gibt es nicht mehr. Bernhard Böschenstein ist als letzter, am 18. Januar 2019, gestorben.

Wie authentisch können Erinnerungen an einen Menschen sein, der vor fünfzig Jahren starb und den ich in den letzten zwölf Jahren seines Lebens kannte? Ich kann mich auf keine eigenen Aufzeichnungen stützen, habe kein Tagebuch geführt. Wohl aber habe ich immer wieder Freunden von meinen Begegnungen mit Paul Celan erzählt oder sie mit einstigen Weggefährten Celans ausgetauscht. Er ist mir immer gegenwärtig geblieben.

Es ist bekannt, daß selbst bei einem sehr guten Gedächtnis im Lauf der Jahre sich manches verschiebt, mit anderem überlagert oder falsch zusammensetzt. Aber zumindest die Datierungen ließen sich mit Hilfe unseres in Marbach liegenden Briefwechsels sowie der unschätzbaren Zeittafel von Bertrand Badiou genau angeben. Ich habe mich bemüht, das Erinnerte, das persönlich Erlebte, von dem zu trennen, was durch die Veröffentlichung der vielen Briefeditionen ans Licht kam. Manchmal stieß ich allerdings in einem Brief anderer auf etwas, das ich vergessen oder verdrängt hatte, und habe es in einer Fußnote angefügt.

Es schien mir nötig, auch den zeithistorischen und persönlichen Hintergrund darzustellen, vor dem unsere Begegnungen stattfanden, etwa die sich zunehmend politisierende Literatur und Gesellschaft in den sechziger Jahren. Da hatte Celan keine Aussicht, seinem Rang entsprechend wahrgenommen zu werden. Zu den ganz wenigen, die sich für ihn einsetzten, gehörten Peter Szondi, Bernhard Böschenstein, Beda Allemann, Theodor W. Adorno und Siegfried Unseld. Die literarische Öffentlichkeit nahm von ihm wenig Notiz, sieht man ab von der schändlichen Goll-Affäre, die ihn zerstörte.

Ich bin 1955, mit 17, in einem Prospekt zur Ankündigung einer neuen Zeitschrift, Texte und Zeichen, auf Gedichte Celans gestoßen, die mich sofort in ihren Bann zogen. So ist es geblieben von Band zu Band, auch wenn ich viele der späteren Gedichte nicht ›verstand‹. Zugleich hatte ich aber noch ganz anders geartete literarische Interessen, zum Beispiel an den Dichtern der Wiener Gruppe oder an den neueren amerikanischen Dichtern, die ich auch übersetzte. Im Suhrkamp Verlag bereitete ich die deutsche Joyce-Ausgabe vor, im Insel Verlag betreute ich die neue Reihe sammlung insel. Aber über das, was mich beschäftigte, woran ich arbeitete, konnte ich mit Celan nicht sprechen, weil ich merkte, daß es ihn nicht interessierte, wenn ich einmal davon zu sprechen anfing. Er erwartete, daß man ganz für ihn da war, ihm zuhörte, seinen Gedanken folgte, Anteil nahm an dem, was ihn irritierte.

Ich habe versucht, den Menschen Paul Celan, so wie ich ihn in Erinnerung habe, zu beschreiben. Dafür sind Interpretationen seiner Gedichte nicht der Ort. Nur wenn mir Hinweise zu einzelnen Gedichten noch im Kopf sind, die andere nicht kennen können, teile ich sie mit, möglichst im erinnerten Wortlaut.

Eigens gelesen für dieses Buch habe ich vor allem die Briefwechsel und verschiedene Erinnerungsschriften. Celans Tagebücher waren mir leider nicht zugänglich.

Im Sommer 2019

Ein Haus in Paris

Am Karfreitag, dem 4. April 1958, nachmittags gegen vier Uhr, klingelte ein noch nicht Zwanzigjähriger an der Wohnungstür von Paul Celan, Rue de Longchamp 78 im 16. Arrondissement. Er hatte dem bewunderten Dichter einen langen, umständlichen Brief (1)[1]  geschrieben und sich vorgestellt; er sei dann und dann in Paris und wolle ihn besuchen. Jetzt steht er vor der Tür im fünften Stock. Als Paul Celan die Tür öffnet, stammelt er einen französischen Satz, wird aber gleich unterbrochen: »Sie sind …«, nennt meinen Namen, sieht mich aus dunklen Augen prüfend, ein wenig ironisch, aber freundlich an und bittet mich herein.

Ich merke, daß ich ungelegen komme. Es ist Besuch aus Deutschland da. Im Hintergrund läuft eine Platte. Ich höre kurz hin und sage vorlaut: »Ah, die Triosonate aus dem Musikalischen Opfer. Die Geigenstimme habe ich gespielt.« Und Celan zu seinen Gästen: »Er hat die Musik gleich erkannt.« Er läßt sich nicht anmerken, daß ich ein Eindringling in einen Freundeskreis bin. Die Freunde sind Hanna und Hermann Lenz, die über Ostern aus Stuttgart herübergekommen sind. Den Schriftsteller Hermann Lenz kenne ich noch nicht. Er hört den Gesprächen schweigend zu und wird mir beim Abschied in mein Autogrammbüchlein schreiben: »Beiseite gesprochen«. Als wir uns Jahre später nach einer Lesung des inzwischen berühmt Gewordenen wiedersehen und ich ihn frage, ob er sich an unsere Begegnung in Paris erinnere, sagt er: »Ich habe Ihnen damals in Ihr Büchlein geschrieben ›Beiseite gesprochen‹.«

Paul Celan ist ein schlanker, schöner, noch jugendlicher Mann, dessen Gesicht mich an das des jungen Kafka erinnert. Wenn er spricht, sehe ich, daß seine Schneidezähne etwas auseinanderstehen. Seine Stimme ist hell und hat eine leicht singende Melodie mit manchmal mir unbekannter Aussprache. Er sagt »Ding-ge«, »Schlang-ge«, das Idiom seiner österreichisch-rumänischen Herkunft. Beim Sprechen geht er Gauloises rauchend im Zimmer hin und her, und ich sehe, daß überall Aschenbecher stehen mit manchmal noch glimmenden Zigaretten, die er vergessen hatte auszudrücken, als er sich eine neue anzündete. Während er spricht, schweift mein Blick zu einem wandhohen Bücherregal, in dem ich einige Heidegger-Bände aus dem Neske-Verlag bemerke; sie sind an ihren pastelligen orange- und rosafarbenen Schutzumschlägen leicht zu erkennen.

Paul Celan fragt nicht, warum ich mich für seine Gedichte interessiere, er fragt allgemeiner, welche Lyrik mir etwas bedeute. So komme ich ins Erzählen, spreche von meiner Liebe zu Alkaios und Sappho, den Chorliedern der Antigone, Homer, die ich in der Schule gelesen hatte, rede mich ins Feuer über Ezra Pound und Gottfried Benn, die nicht in der Schule vorkamen. Von Ezra Pound nenne ich das ABC des Lesens als Schule des Dichtens und den ersten Gesang der Cantos in ihrem Bezug zur Odyssee. Von Benn erwähne ich den Marburger Vortrag über Probleme der Lyrik, aus dem ich gelernt hätte, daß Gedichte ›gemacht‹ seien, artistische Gebilde, daß man sparsam sein solle mit Adjektiven und Farbvokabeln. Ich erzählte auch, daß ich vor einem Jahr, als Primaner, Benns Witwe in Berlin, Bozener Straße 20, besucht hatte, weil ich das Ambiente sehen wollte, in dem der Verehrte dichtete, die dunkle Parterrewohnung, den trostlosen Hinterhof, daß Ilse Benn mich fragte, welche Gedichte ich besonders liebe, die sie mir dann mit leiser, versonnener Stimme vorsprach.

Alles, was ich sagte, trug ich mit der unerschütterlichen Selbstgewißheit der Jugend vor, ihrem Stolz, nicht um Eindruck zu machen, eher um meine Visitenkarte abzugeben – es ist kein Unwissender, der Sie hier besucht. Paul Celan hörte aufmerksam, aber schweigend zu; auch seinem Gesicht konnte ich keinen Kommentar ablesen. Als er dann sprach – und er sprach lange und leise –, nahm er keinen direkten Bezug auf das Gesagte, aber ich spürte, daß seine Sätze von ganz woanders herkamen. Woher, verstand ich noch nicht. Erst zwei Jahre später, nachdem ich die Bremer Rede, Sprachgitter und den Meridian gelesen hatte, begriff ich, was ich in meiner Naivität dahergeplappert hatte. Von einem Propagandisten Mussolinis und einem Anhänger der Rassentheorie gelernt zu haben war Celan gegenüber gewiß eine Taktlosigkeit, ein Affront aus Unwissenheit. Aber er ließ sich nichts anmerken, widersprach nicht, blieb freundlich und liebenswürdig. Als ich ihn bat, mir etwas in Mohn und Gedächtnis und in mein Autogrammbüchlein zu schreiben, hob er den Arm und rief seiner Frau, seiner zarten, scheuen Frau, die sich ihren Gästen gewidmet hatte, zu: »Mon stylo!« Ins Büchlein schrieb er: »Im Sinne einer radikalen Entmythologisierung. Nix Styx!« (2) Und in den Gedichtband: »Klaus Reichert, / an einem runden Tisch / in Paris / Paul Celan / April 1958«. (3) Dabei wies er mit der Hand auf den Tisch und sagte: »Dies ist ein runder Tisch.« Dieser Satz kam mir später oft in den Sinn, wenn er sagte, seine Gedichte seien »ganz und gar nicht hermetisch«, nicht in einer übertragenen Bedeutung zu lesen, sie seien »konkret« und hätten – auch wenn er es so nicht ausdrückte – immer ein ›fundamentum in re‹: »Dies ist ein runder Tisch.«

Beim Abschied sagte er noch: »Sie interessieren sich ja für Lyrik. Hier in Paris lebt ein junger deutscher Dichter, den Sie noch nicht kennen dürften, er heißt Günter Grass –« Ich unterbrach ihn: »O doch, letztes Jahr erschien sein Gedichtband Die Vorzüge der Windhühner, den kenne ich ‌…« »– besuchen Sie ihn, er ist mein Freund, und sagen Sie, ich hätte Sie geschickt. Hier ist seine Adresse.«

Erst als ich wieder auf der Straße war, merkte ich, daß meine Uhr stehengeblieben war. Ich hatte manchmal darauf geschaut und muß gedacht haben, es ist ja gar nicht spät. So blieb ich sogar noch zum Abendessen, zu dem Gisèle Celan-Lestrange mich freundlich einlud. In diesem Stehenbleiben der Uhr, während ich Celans Worten lauschte, habe ich später ein Zeichen gesehen.

Es ist mir unverständlich, warum ich mich für die erfüllten Stunden erst am 8. Dezember bedankte. (4)

Fünfziger Jahre

Mich haben von früh an Verse gebannt: Kinderreime, Weihnachts- und Volkslieder, später der nicht auszuschöpfende Schatz des protestantischen Kirchenliedes. Namen wie Luther, Paul Gerhardt, Tersteegen, Christian Knorr von Rosenroth merkte ich mir. Was mich daran faszinierte, war nicht so sehr die Eingängigkeit – die auch –, es war vor allem die Gewalt der gebundenen Sprache, die sich über die Regeln der Grammatik hinwegsetzte, es waren die vielen Wörter, die ich nicht verstand. Das waren Springquellen für die Phantasie, waren Produktivkräfte, Um- und Abwege.

Für den Gymnasiasten begann 1949 der Ernst des Lebens mit Latein und Griechisch, der erhellt wurde durch Schwabs Sagen des Klassischen Altertums. Dann, in der Schule, begann bald die Plackerei mit Homer, aber die archaische Wucht seines Erzählens ging mir erst in den Übersetzungen von Voß und Thassilo von Scheffer auf. (Erst ein Jahrzehnt später, ausgelöst durch die minutiöse Lektüre des Ulysses, sah ich, was für ein großer, im modernen Sinn bewußt arbeitender Künstler [artifex] der Schöpfer der Odyssee gewesen war.) Das Pflänzchen Poesie hegte ich daneben weiter. Ich versuchte es mit dem wieder zu Ehren gekommenen Josef Weinheber, von dessen Vergangenheit ich nichts wußte (»Glocken und Zyanen, / Thymian und Mohn, / Ach, ein schwaches Ahnen / Hat das Herz davon«), versuchte es mit Hans Carossa, mit dem Rilke der Neuen Gedichte, mit George. Sie reizten mich nicht lange. Anders ging es mir mit dem jungen Hofmannsthal, mit Georg Heym, Franz Werfel, so verschieden sie auch waren, und vor allem mit Georg Trakl. Bei ihnen spürte ich wieder das Geheimnis, etwas, das über mein Verstehen hinausging, wie ich es aus der Kindheit kannte. Zugleich war in Trakls Versen eine sanfte Melancholie, eine Einsamkeit, die den Gefühlen des Pubertierenden vertraut waren.

Aber es war Gottfried Benn, der mich mit dem »scharfen Pfeil des Unendlichen« (Baudelaire, bei Hofmannsthal gelesen, bei Celan später wiedergefunden) traf. Hier herrschte ein anderer Ton als in aller Lyrik, die mich bisher berührt hatte: klar, illusionslos, Wörter verwendend, die lyrisch tabu waren, ganz gegenwärtig und dabei die Griechen im Kopf behielten, die Götter statt Gott, was mir die frommen Flausen austrieb. Sein Marburger Vortrag über Probleme der Lyrik galt mir als das letzte Wort zum Thema. Gedichte waren machbar, eine Sache des Trainings wie die Kunststücke der Artisten in der Zirkuskuppel, was allerdings die Gefahr des Absturzes mit sich brachte. Der Titel Statische Gedichte weckte noch eine andere Vorstellung: die der Statue, die, von ihrem Schöpfer abgelöst, einsam im Raum steht, ein Mal des »sich umgrenzenden Ichs«.

Der erste lebende Dichter, den ich kennenlernte, war Günter Eich. Ich kannte seine geradezu magischen Hörspiele, die regelmäßig im Südwestfunk und im Hessischen Rundfunk gesendet wurden, konnte antiquarisch seine Abgelegenen Gehöfte (1948) kaufen mit den nüchtern, gar nicht ›poetisch‹ protokollierenden Gedichten aus der Kriegsgefangenschaft, darunter das für eine ganze Generation stehende Gedicht »Inventur«. Mit seinem neuen Band Botschaften des Regens (1955) hatte er zu einer freien Versform gefunden, von der ich naiv meinte, so könnte ich es auch versuchen. Bevor Eich zu einer Lesung in meine Heimatstadt Gießen kam, war ich so unverfroren oder tapfer, ihm meine Gedichte zur Beurteilung nach Lenggries zu schicken. Der scheue, stille Günter Eich nahm sich tatsächlich vor der Lesung eine Stunde Zeit, die Gedichte mit mir durchzusprechen. Es blieb nichts von ihnen übrig. Am Ende sagte er: »Sie merken, wie schwierig es ist, Gedichte zu schreiben«, empfahl mir aber eine gerade erschienene Auswahl der Gedichte und Essays von Ezra Pound mit den Worten: »Der wird Ihnen liegen. Bei ihm können Sie viel über das Handwerk des Dichtens (condensare) lernen.« Das war im Herbst 1956.

Ich habe vorgegriffen. 1955 fiel mir der Prospekt eines Verlages in die Hände, den ich nicht kannte, Luchterhand, der eine neue Zeitschrift ankündigte: Texte und Zeichen, herausgegeben von Alfred Andersch. Darin stieß ich auf zwei Autoren, deren Namen ich schon gehört, von denen ich aber noch nichts gelesen hatte: Arno Schmidt und Paul Celan. Von Schmidt stand ein Auszug aus Seelandschaft mit Pocahontas im Prospekt, von Celan war eine Handvoll Gedichte abgedruckt. Ich sparte lange, bis ich das für mich viel zu teure Heft kaufen konnte, und las und las. Mit Schmidts Erzählung kam ich nach Anfangsschwierigkeiten einigermaßen zurecht und erfreute mich an der frechen, auch typo- und orthographischen Originalität dieses Schreibens. Von den fünf Gedichten Celans verstand ich erst einmal nichts, merkte aber, daß hier eine Sprache gefunden war, die an nichts anknüpfte, was ich kannte, die wie aus einer anderen Welt kam, obwohl sie deutsch war.

Schon die Titel waren eigentümlich – »Zwiegestalt«, »Inselhin«, »Mit zeitroten Lippen« –, dann die Bilder, die nichts Wiedererkennbares vorstellten, auch keine Metaphern in dem Sinn waren, den ich gelernt hatte, und die doch eine blitzartige Evidenz erzeugten; dann der Gebrauch der Präpositionen und Vorsilben, um dem Stammwort eine neue, eine andere Richtung zu geben. In »Argumentum e silentio«, dem später René Char gewidmeten Gedicht, stieß ich auf das Wort »erschweigen«. Ich wußte, daß der Titel ein römischer Rechtsterminus ist, der bedeutet, daß man durch Schweigen einer Sache, einem Casus, zustimmt. Aber »erschweigen«? Konnte es das Gegenwort zu »verschweigen« sein? Sich an etwas »heranschweigen« (müssen), weil es so schlimm, so unsagbar ist, daß es eben verschwiegen (oder verdrängt) wurde? Die Implikationen waren deutlich. Die vielen Schichten des so nie Gelesenen wurden aber zusammengehalten durch die zwingende Rhythmik und Melodik, die hämmernden Daktylen dieser Verse. Es ging ein Sog von ihnen aus. Und ich wußte, daß es dieser Dichter war, den ich verstehen wollte. Es würde viele Mäander geben, das wußte ich auch, ich würde Pound, Benn, Eich und alle die anderen nicht ›verraten‹, aber ich würde an ihn gebannt bleiben wie die Motte ans Licht. Das ist der Hintergrund für den überlangen Brief, mit dem ich mich mit dem Selbstbewußtsein eines noch nicht Zwanzigjährigen bei Paul Celan eingeführt hatte.

Universität Marburg 1958/59

Gotisch, Althochdeutsch, Altenglisch, etwas Sanskrit, Phonetik, englische Idiomatik, Shakespeare, drei Mittelaltervorlesungen, Romantik, sog. deutsches Gegenwartsdrama mit Georg Kaiser, Franz Werfel, Ernst Barlach, in näselndem Schwäbisch doziert. Zum Vergnügen eine Vergil-Vorlesung von Carl Becker, einem Reinhardt-Schüler, eine Proust-Vorlesung bei einem Französischlektor, Anfangsgründe des Chinesischen und das Malen der Ideogramme beim großen Alfred Hoffmann.

Ein Augenöffner war die Vorlesung des Philosophen Klaus Reich über die Sophistikoi Elenchoi des Aristoteles. Er demonstrierte an der Tafel, warum die und die Textstelle falsch überliefert (ein Hörfehler?) sein müsse. Ein Jota zuviel oder zuwenig, ein irriger spiritus asper. Minutiae, aber doch ein Unterschied ums Ganze. Unter den Hörern meldete sich oft ein schmaler alter Herr, der Neukantianer Julius Ebbinghaus, Reichs Vorgänger, und begann: »Herr Kollege, das glaube ich Ihnen nicht ‌…«, und so entspann sich ein langer Disput über das Für und Wider. Das war für mich ein Propädeutikum der Philosophie, ein Hinundherwenden der Wörter und Zeichen, um eine Grundlage zu schaffen, von der aus überhaupt erst sinnvoll zu sprechen wäre. Aber es blieb die Frage, ob nicht alle Überlieferungsschichten ins Verstehen eines Textes einbezogen werden müßten. Später, nach Erscheinen der kritischen Ausgaben der Gedichte Celans, stellte sich mir die Frage, ob nicht die Phasen der Entstehung Aufschluß gäben über das am Ende »enthülste«, komprimierte, fertige Gedicht. Aber die Quellen gab es damals noch nicht.

Das wichtigste Ereignis in meinem ersten Marburger Semester war ein Film. In einem Studentenkino wurde Nacht und Nebel von Alain Resnais gezeigt. Ein Student sagte zur Einführung, der Film hätte bei den Filmfestspielen in Cannes vorgeführt werden sollen, aber die Bundesregierung habe interveniert: Der Film könne dem Ansehen der noch jungen Bundesrepublik schaden, die doch ›alles‹ getan hätte ‌… und so weiter. Er kam denn auch nicht in den offiziellen Verleih, denn die Bilder waren zu schrecklich, das heißt, ›den Deutschen nicht zumutbar‹. Den Text hatte Jean Cayrol, ein Überlebender von Mauthausen, geschrieben, der ihn als »Kommentar« verstand zu den von Resnais montierten Bildern. Die deutsche Übersetzung stammte von Paul Celan. Cayrols Prosa hatte er zu Versen angeordnet. So entstand eine Spannung zwischen den Dokumenten des Grauens, die ich in diesem Film zum erstenmal sah, und den nüchtern konstatierenden Versstücken, Atemeinheiten, die sich zu einem großen Poem zusammenfügten. Mich erinnerte das Verfahren der registrierenden Reihung an Schönbergs spätes Stück Ein Überlebender von Warschau. Jahre später, 1983, entnahm ich der Gesamtausgabe der Übertragungen, daß Celan seine frühe Übersetzung nicht lange vor seinem Tod noch einmal durchgesehen und korrigiert hatte. Wie ihn diese erneute Begegnung mit dem Unfaßbaren verstört haben muß, wagt man sich nicht vorzustellen.

Im März 1959 erschien Sprachgitter bei S. Fischer, Celans neuem Verlag. Daneben lag in der Buchhandlung ein dünnes Heftchen, das sein früherer Verlag herausgegeben hatte und das seine Dankesrede für den Bremer Literaturpreis enthielt. Die Rede, so kurz sie ist, benennt die Richtpunkte – ›Windstriche‹ – seines Schreibens. Der furiose Einsatz mit Wörtern gleicher Herkunft – »Denken, Danken, gedenken, eingedenk sein, Andenken, Andacht« – macht hellhörig für das in einem Wort Mitgedachte, Mitgemeinte Andere, Nahe oder Ferne. So scheint in Celans Denken das Eingedenksein mitgemeint. Es war bewegend zu lesen, daß er als das einzige Unverlorene die Sprache nennt, »ja, trotz allem«. Er vermied, sie »die deutsche Sprache« zu nennen, aber er sagte, daß sie, die Sprache, »hindurchgehen [mußte] durch die tausend Finsternisse todbringender Rede«. Das hieß, daß seine Sprache nicht anknüpfen konnte an die Großen seiner Jugend – Hofmannsthal, Trakl, George, Rilke –, daß vielmehr bei jedem Wort mitzuhorchen ist auf das, was mit ihm seitdem geschehen war. Auch der dialogische Charakter der – seiner – Gedichte kommt zur Sprache: »Sie halten auf etwas zu.« Sie können »eine Flaschenpost sein«. Und dann: die Sprache seiner Ansprache: »Infinite riches in a little room.«

Sprachgitter war ganz anders als die früheren Gedichtbücher. Auch schon eine »Atemwende«. Es war eine andere Sprache, nicht mehr eine durch- und heraushörbar vertraute wie trotz allem Neuen bei Eich und Bachmann. Vielleicht sollte man (ich) durch die abgelagerten Schichten des Deutschen hindurchgegangen sein, um des Unvertrauten der eigenen Sprache gewärtig zu werden. Wieviel Vergessenes ist in ihr aufgehoben? Es gab Gedichte, die sich bis zu einem gewissen Grad ›öffnen‹ ließen. »Tenebrae« zum Beispiel mit der Vergegenwärtigung der Karfreitags- und Osterliturgien, mit der Zwiesprache mit Gott wie im Hiob der Bibel und im Roman von Joseph Roth. Oder »EIN HOLZSTERN, blau, / aus kleinen Rauten gebaut. Heute, von / der jüngsten unserer Hände.« Das konnte nur von Eric gesagt sein, der jetzt vier Jahre alt sein mußte und der bei meinem Besuch in Paris zwischen den Zimmern und Sprachen hin und her gelaufen war. Oder »Matière de Bretagne«, in dem der arturische Sagenkreis eine Anknüpfung zu bieten schien, die sich aber erst einmal als loser Faden erwies. Bei den meisten Gedichten fehlte die Möglichkeit, sie in meinen Verstehenshorizont zu übertragen. Sie waren wie Wassertropfen, die erst unter dem Mikroskop zeigten, was alles in ihnen wimmelte. Schon die Anfangsverse des Eingangsgedichts – »Stimmen, ins Grün / der Wasserfläche geritzt« – waren ›immun‹. Stimmritze? Glottis? Kaum. Die Verse hatten eine eigene Evidenz, jenseits des Darstell- oder ins Verstehen Übersetzbaren, waren ein herrliches Bild, das die Frage nach der Bedeutung wie ein Sakrileg erscheinen ließ. Die größte Herausforderung war »Engführung«, das lange Schlußgedicht, das ich mir und anderen immer wieder vorlas, um übers Ohr das Übereinander der Stimmen herauszuhören. Die Fugentechnik der Engführung war eine mögliche Herangehensweise: das ›Thema‹ ist noch nicht fertig, da wird es schon überlagert vom Selben, das das Selbe nicht ist wie die Überschichtungen der Erinnerung. So las ich und verlas mich, setzte mich den Gedichten von Sprachgitter aus, fasziniert, zugleich ahnend und ahnungslos.

Damals schrieb ich Paul Celan einen weiteren Brief, um ihn zu Lesungen nach Marburg und Gießen einzuladen. (5) Wir hatten in Paris darüber gesprochen. Und er antwortete am 27. März 1959 (6), wofür ich mich erst im August bedankte. (7)

Es muß im Sommersemester 1959 gewesen sein, daß ich einen Vortrag von Rolf Schroers hörte, dessen Name als Schriftsteller mir vage bekannt war, von dem ich aber nichts gelesen hatte. Er sprach über die atomare Bedrohung im Kalten Krieg. Vor zwei Jahren hatten Göttinger Professoren, Physiker und Philosophen, ein Manifest gegen die atomare Aufrüstung der Bundeswehr verfaßt und waren dafür von Adenauer als für solche Fragen nicht zuständig abgekanzelt worden. Das hatte mich empört. Also ging ich zum Vortrag von Schroers, ging hinterher zu ihm, stellte ihm ein paar Fragen, und er lud mich zu einem Glas Wein ein. Er gehörte einem ›Komitee gegen Atomrüstung‹ an und saß in einem Ausschuß ›Kampf dem Atomtod‹. Schroers war ein äußerst beredter Mann, bestens informiert, engagiert, aber kein ›Linker‹, weil er das atomare Drohpotential des Ostens genauso kritisierte wie das des Westens. Er öffnete mir die Augen für vieles, was in Westdeutschland schieflief, sprach von den alten Nazis in der Justiz und vom sich wieder offen zeigenden Antisemitismus. Er war ein freundlicher, zugewandter Mensch, uneitel, klar, ein Aufklärer, der andere Menschen erreichen wollte, sonst hätte er mich, den jungen Anonymus, nicht zum Wein eingeladen. Als er von Antisemitismus sprach, erwähnte ich Resnais' Film Nacht und Nebel. Es war er, Schroers, der mit ein paar wenigen Gleichgesinnten öffentlich gegen den ›Wunsch‹ oder die ›Empfehlung‹ der Bundesregierung, den Film in Cannes nicht zu zeigen, protestiert hatte. Über den Film kamen wir auf Paul Celan zu sprechen. Er war erstaunt, daß ich diesen scheuen Menschen kannte, und erzählte von der Verleumdungskampagne, die gegen ihn im Gange sei und ihn nervlich zerrütte. Auf der anderen Seite hätten seine Verteidiger es schwer, es ihm recht zu machen. Das war das erste Mal, daß ich von der ›Goll-Affäre‹ hörte. Von Celan kamen wir auf ein anderes Opfer der Nazi-Jahre zu sprechen, auf Wolfgang Hildesheimer, den ich wenige Wochen zuvor bei einer Lesung in Gießen kennengelernt hatte. Gerade das Exil in England und Palästina habe ihn immun gemacht gegen die Verseuchung der deutschen Sprache, die bei manchen unserer Gegenwartsautoren sich doch noch zeige. Von Kahlschlag könne keine Rede sein. Das, was Schroers damals zu mir sagte, hat er in einem Brief an Celan genauer formuliert, als ich es erinnere: »Ich selbst habe bei Wolfgang Hildesheimer ein Verhältnis zur deutschen Sprache konstatiert und auch beschrieben, wobei ich – freilich mit positivem Akzent – ausführte, er bediene sich des Deutschen wie einer exzellent beherrschten Fremdsprache, frei von den gerade unter Hitler darin aufgestauten Ressentiments und Mißklängen, frei auch von Muff.«[2]  Der Satz steht im Zusammenhang der Celan empörenden Sprachgitter-Rezension von Günter Blöcker, gegen die zu protestieren er von seinen Freunden erwartete. Celan schreibt in seiner Antwort auf Schroers: »Dass Du aus diesem Anlass auf Hildesheimer und dessen Deutsch zu sprechen kommst, ist – Du weißt, dass ich Hildesheimer nicht sonderlich schätze – mehr als peinlich.« Der Jude Celan mochte den Juden Hildesheimer nicht. Der Jude Groß und der Jude Klein.

Aus diesem heißen Sommer 1959 taucht ein anderes Bild in der Erinnerung auf. Der Blick aus dem Fenster meines Zimmers am Marburger Barfüßertor ging hinunter auf den Bergweg mit den Verbindungshäusern, aus deren wegen der Hitze aufgerissenen Fenstern die Lieder der Korporierten vom Vaterland und von alter Burschenherrlichkeit heraufgrölten. Schon wieder?