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Über das Buch

Die Welt ist in Gefahr: Der grausame Rächer bedroht die Menschheit und nur einer hat die Fähigkeit, ihn aufzuhalten – Corvin West. Doch er ist gefährlich. Tödlich.

Unkontrollierbar. Deshalb wurde er verbannt und weggesperrt. Aber jetzt – sechs Jahre später – brauchen sie ihn, um den Rächer zur Strecke zu bringen.

Ausgerechnet die 18-jährige Jill ist auserwählt, Corvin dazu zu überreden. Denn als Neutralisatorin ist sie die Einzige, die Corvin bändigen kann. Sie kann Superkräfte dämpfen, sogar ausschalten. Und nun sollen Jill und Corvin gemeinsam Jagd auf den Rächer machen.

Es gibt bloß ein Problem: Corvin hat Jills Vater umgebracht. Wie kann sie nur gemeinsam mit ihrem Erzfeind die Welt retten?

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Inhalt

Über das Buch

AUFTAKT

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

AUSKLANG

BESETZUNG

SETTING

NACHWORT UND DANK

Über die Autorin

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AUFTAKT

Als sie kamen, regnete es Sterne.

Als sie uns verließen, lag die Welt in Asche.

Sie nannten sich die Lichtvollen.

Wir nannten sie Warriors of Light.

Was nicht passend ist, wird passend gemacht,

so ist die Menschheit.

Sie kämpften für den Frieden in einer Welt,

die dafür nicht bereit war.

Wir nahmen dankbar an, was sie uns schenkten,

ohne zu hinterfragen.

Wer würde das nicht?

Dann der Untergang – Time of Doom.

Fünf Jahre dauerte ihr Sterben,

fünf Jahre, in denen sich die Warriors

bis zum bitteren Ende bekriegten.

Bis heute weiß man nicht, was sie dazu brachte,

einander auszurotten.

Sie waren das Licht.

Und hinterließen uns die Dunkelheit.

Doch die Menschheit ist nicht dumm, sie sorgt vor.

Aus ihrem Glanz erschuf man neues Licht.

Die Nachfahren der Warriors, ihre Erben.

Eine Generation von Helden,

dazu bestimmt, unsere Welt zu beschützen:

die Rookie Heroes.

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1

Wenn meine Hoffnung eine Farbe hätte, wäre sie schwarz. Ihr Name? Corvin West.

Das Rasseln der Ketten im Laderaum zerrt an meinen Nerven. Direktor Patten hat sie mir kurz vor der Abfahrt gezeigt und gefragt, ob ich sie im Falle eines Problems für ausreichend halte. Sie sind aus einer speziellen Hartmetalllegierung hergestellt, die selbst abnormer Gewalteinwirkung standhält. Überhaupt entspricht das gesamte Equipment, das in den gepanzerten Transporter eingebaut worden ist, den höchsten Sicherheitsstandards.

Die Antwort ist mir angesichts der Liege mit den ledergepolsterten Arm-, Hals- und Beinmanschetten in der Kehle stecken geblieben. Ein normaler Mensch kann sich mit Sicherheit nicht daraus befreien. Corvin schon. Aber das werde ich Patten nicht auf die Nase binden. Wer weiß, was ihm sonst noch einfällt.

Es wird keine Probleme geben, es darf nicht. Corvin ist einer von uns, daran wird sich nie etwas ändern, auch wenn er Unverzeihliches getan hat. Und heute soll ich ihn nach Hause holen. Ein Zuhause, das es nicht mehr gibt.

Unser kleiner Konvoi besteht aus drei Fahrzeugen: dem Transporter, in dem Patten und ich sitzen, und zwei weiteren mit insgesamt zwanzig bewaffneten Agenten der Rookie-Heroes-Division an Bord, kurz die Division genannt. Als Sonderabteilung des FBI befasst sie sich mit sämtlichen Angelegenheiten, die Superhelden betreffen. Angeführt wird die Division seit ihrer Neuorganisation vor fünf Jahren von Direktor Tom Patten – meinem Chef.

Weit über der erlaubten Höchstgeschwindigkeit rasen wir durch Baine City. Die Straßen wirken verwaist – und das bei einer Einwohnerzahl von fünf Millionen. Als wir abbiegen, erkenne ich den Grund: Auf unserer Strecke wurden eigens Straßensperren errichtet. Man möchte wohl kein Risiko eingehen.

Wir durchqueren eine der Trümmerzonen. Ein Dutzend Viertel sind der Zerstörungswelle des Doom in den Jahren 2048 bis 2053 zum Opfer gefallen. Tausende Obdachlose hausen in den Ruinen, und niemand weiß mit diesem sozialen Desaster umzugehen. Die Stadtverwaltung kann den Wiederaufbau nicht finanzieren. Zum Zug kommen deshalb Investoren wie die Duncan-Group, die seit Jahren ein innovatives Neubauprojekt vorantreibt, auf das wir nun zuhalten: Greentown.

Im Gegensatz zu den Straßenschluchten der Innenstadt wirkt hier alles grün, luftig, leicht. Die Wolkenkratzer bilden eine Skyline der besonderen Art: Gebäude, die sich autark versorgen, Strom erzeugen, Trinkwasser aufbereiten und in den vertikal angelegten Gärten Obst, Gemüse und Getreide für die Bewohner produzieren. Es gibt genügend Arbeitsplätze, außerdem Freizeit- und Sportanlagen, Schwimmteiche auf den Dächern, Kinos und Entertainmentcenter. Es gibt nichts, was es nicht gibt. Theoretisch müsste man seine vier Wände niemals wieder verlassen. Ich weiß nicht, welche Menschen hier leben. Ob sie wissen, was sich auf den Straßen Baine Citys abspielt? Ob sie vom Rächer wissen?

Je näher wir unserem Ziel rücken, umso nervöser werde ich. In wenigen Stunden wird Corvin frei sein, mehr noch, wenn alles wie geplant läuft, wird er wie ich für die Division arbeiten. Gemeinsam werden wir den Rächer aufspüren und dingfest machen. Und vielleicht, auch das ist Teil meiner Hoffnung, könnte das ein Neuanfang für die Rookie Heroes werden. Ich wünsche es mir so sehr. Dafür würde ich sogar in Kauf nehmen, dass ich dem Mörder meines Vaters täglich in die Augen blicken muss.

Wir passieren die Liphton Bridge mit ihren gewaltigen Pfeilern, die in zwei Etagen für Autoverkehr und Hochgeschwindigkeitsbahn den Hornay River überspannt. Trotz ihres stolzen Alters hat sie dem Doom und insbesondere dem Kampf zwischen North King und The Ax standgehalten, und ist heute eines der bekanntesten Wahrzeichen Baine Citys.

Zwanzig Minuten später erreichen wir die Randbezirke. Nach einer Kurve kann ich die Mauer sehen, die das Jonathan-Ruther-Hochsicherheitsgefängnis für Männer umgibt. Der Gebäudekomplex liegt in direkter Nachbarschaft zu einem Friedhof, einem Schrottplatz und einer Obstplantage. Vor Jahren versuchte man, das Gelände in Bauland umzuwidmen, aber die Anlieger liefen dagegen Sturm.

Als wir beim Gefängnis eintreffen, traue ich meinen Augen kaum. Wir werden von Zuschauermassen empfangen. Hinter einer Absperrung drängen sich Neugierige, schwenken Fahnen und Spruchbänder, manche sogar Blumen.

Mir entweicht ein Keuchen. »Was soll das denn?«

»PR«, erwidert Patten seelenruhig. »Sind alle engagiert.«

Jetzt sehe ich, dass auch die Presse da ist, Fernsehen, Radio und Internet, ich zähle Dutzende Sender, deren Kameras auf uns gerichtet sind. Sie alle werden dokumentieren, wie wir Corvin West aus der Verbannung holen, zu der er vor sechs Jahren verurteilt wurde.

»Das Medienspektakel kostet uns ein Vermögen«, fährt Patten fort, »aber das Letzte, was wir brauchen, sind Negativschlagzeilen.«

»Sie haben vielleicht Nerven. Was, wenn …?«

Er dreht sich zu mir um, seine leuchtend blauen Augen scheinen mich zu durchdringen. »Wenn, was? Sie sind mit von der Partie, um jedwedes Wenn zu verhindern, Jillian.«

Schon klar. Ich kenne meine Aufgabe. Ich kann bloß nicht damit umgehen. Seit die Division beschlossen hat, Corvin aus dem Gefängnis zu holen, grüble ich darüber nach, wie ich mich ihm gegenüber verhalten soll. Ich versuche mir einzureden, dass unsere Zusammenarbeit funktionieren wird. Dass ich darüber hinwegsehen kann, was vorgefallen ist, dass es nicht mehr wichtig ist, weil sich die Vergangenheit eben nicht ändern lässt. Aber kann man sein Herz belügen? Wie soll das gehen, wenn man genau das Gegenteil empfindet?

Gemeinsam mit Corvin wirst du den Rächer schnappen, rufe ich mir in Erinnerung. Ganz Baine City verlässt sich auf uns, auf die Rookie Heroes. Das ist das Einzige, was zählt, und dafür werde ich meine Bedenken ausklammern. Fangen wir eben ganz neu an, so schwer kann das nicht sein.

Noch vor dem Gittertor, das in die Gefängnismauer eingelassen ist, lässt Patten den Fahrer anhalten.

»Warum fahren wir nicht hinein?«

Patten deutet aus dem Fenster. »Darum. Die Leute warten auf die versprochene Show. Enttäuschen Sie sie nicht.«

Also steigen wir aus, um den Rest des Weges zu Fuß zurückzulegen, während der Konvoi uns in geringem Abstand folgt. Zehn Agenten nehmen hinter uns als Geleitschutz Formation an, neun von ihnen werfen mir anzügliche Blicke zu. Die Sache mit den Pfiffen und den blöden Sprüchen haben wir gleich zu Beginn erledigt, jetzt halten sie den Mund. Und starren.

Grund genug gibt es: Mein Superheldenkostüm, ein anthrazitgrauer Catsuit mit weißen Blitzen und dem goldenen Abzeichen der Rookie Heroes über der linken Brust, der eigens für die Operation Windstille angefertigt wurde, ist hauteng. Das elastische Gewebe überlässt absolut nichts der Fantasie. Es lenkt den Blick des Betrachters zuerst in meinen verboten tiefen Ausschnitt, danach zwangsläufig auf meine Beine in den kniehohen roten Schnürstiefeln. Ich habe mehrmals gegen dieses sexistische Outfit protestiert, aber Direktor Patten fand meine Einwände irrelevant.

»Sie sind unser Aushängeschild, Jillian. Sie müssen sich Ihrem Image entsprechend präsentieren.«

»Welches Image?« Ich bin keine Superheldin, ich bin ein gescheitertes Experiment. Das sind wir Rookies alle.

»Nun ja …«

»Sie wissen so gut wie ich, dass uns das niemand abkauft.«

Schweigen auf beiden Seiten. Mir war klar, dass ich auf verlorenem Posten stand. »Bekomme ich wenigstens ein Cape?«

»Ein Cape! Keine schlechte Idee.«

Ich hätte wissen müssen, dass er meinen Scherz für bare Münze nimmt.

Das rote Cape entpuppt sich als meine Rettung, ich schlinge den seidigen Stoff fest um mich. Allerdings bleibt mir dadurch keine Hand frei, um mein Haar zu bändigen, das mir der Wind ins Gesicht peitscht. Ich hatte es wie üblich zu einem Zopf binden wollen, aber der Visagist meinte, es sehe erotischer aus, wenn ich es offen lasse.

»Erotisch. Genau das, was mir bei meinem Look noch gefehlt hat.« Sinnlos, mit ihm zu diskutieren. Sein verständnisloser Gesichtsausdruck zeigte, dass er mit meinem Sarkasmus nichts anfangen konnte.

An meinem Gürtel stecken zwei großkalibrige Waffen. Sie sind schwer und viel protziger als nötig, aber sie machen echt was her. Mal davon abgesehen habe ich nicht vor, sie zu ziehen. Auf wen sollte ich auch schießen? Auf Corvin vielleicht? Auf die Zuschauer? Die Presseleute?

»Winken Sie gefälligst«, zischt mir Patten zu.

Notgedrungen muss ich das Cape loslassen. Die Menge jubelt, als ich nach allen Seiten grüße, und skandiert meinen Namen. Den Namen, der mit dem Ende der Rookies gestorben ist, und demgemäß ich mich nun zur Schau stelle, als wäre das alles nicht bloß eine einzige Farce. Blumen kommen angeflogen, Stofftiere, Süßigkeiten, und wir müssen warten, bis sich die erste Euphorie legt.

Ich winke und winke, während sich mein Cape hinter mir bauscht und meine Haare flattern. Ich bin das, was die Leute sehen wollen. Oder nein: Genau genommen bezahlt man sie ja dafür, dass sie mich sehen wollen. Für die Sache, spreche ich mir gedanklich vor. Der Satz ist zu meinem Mantra geworden, daran kann ich mich, muss ich mich klammern, wenn ich das hier durchstehen will.

Auf einmal ertönt ein Schrei. Patten versteift sich, als sich ein Mann an der Absperrung vorbeizwängt. Ein Agent hält ihn auf. Sekunden vergehen, in denen die beiden miteinander ringen, in denen keiner von uns begreift, was los ist. Den kleinen Jungen, der herbeisaust, nehme ich nur aus den Augenwinkeln wahr. Schon hängt er an meinem Bein, und ich breite instinktiv die Arme über ihn.

»Halt! Es ist nur ein Junge!«, rufe ich.

Mit großen, hoffnungsvollen Augen streckt er mir einen Strauß Wiesenblumen entgegen. Sie lassen die Köpfe hängen, sind halb verwelkt und die Stängel zerquetscht, weil er sie in seinen kleinen Fingern viel zu fest gehalten hat.

»Bist du Prospera

Ich weiß sofort, was er will. Bedauerlicherweise kann ich ihm nicht helfen. »Nein, leider nicht.«

»Die sind für meine Mom. Wir wollen nachher zum Friedhof fahren, sie besuchen. Kannst du sie heil machen?«

Es scheint, als hätte er mich nicht verstanden. »Ich bin nicht Prospera, tut mir wirklich leid.«

Seine Unterlippe beginnt zu zittern. »Wer bist du dann?«

»Hast du die Leute nicht gehört?«

Er schüttelt den Kopf.

»Silence. Ich bin Silence.«

»Oh. Aha. Und was für eine Superkraft hast du?«

»Ich habe … Also ich kann … eigentlich …« Ich bringe das Eingeständnis nicht über die Lippen. Was ich kann? Quasi nichts. Erklär das mal einem kleinen Jungen, der an Superkräfte glaubt.

In meinem Kopf ziehen seine Worte glühende Bahnen: Die sind für meine Mom. Ich hatte nie eine. Ich habe als Embryo nie die Körperwärme einer Mutter um mich gespürt, ihre Bewegungen, die Vibrationen ihres Lachens. Ich bin nicht auf natürlichem Weg geboren worden, habe nie einen ersten verzweifelten Schrei ausgestoßen.

Wir Rookies wurden im Labor gezeugt, unter kontrollierten Bedingungen gezüchtet, künstliche Eizellen, die mit ebenso künstlichen Samenzellen befruchtet wurden. Es gab Tausende von uns, doch nur ein Bruchteil durfte sich in Form von Ektogenese weiterentwickeln. Und nur sieben überlebten letztendlich.

Heute bin ich achtzehn und ein Werkzeug der Division.

Die Hand des Jungen sinkt herab. Er sieht so verloren aus, wie ich mich fühle.

»Heben Sie ihn hoch«, raunt Patten an meinem Ohr.

»Wie bitte?«

»Los doch, machen Sie schon.« Er nickt zu den Kameras hinüber und ich verstehe.

»Ich kann machen, dass du nicht mehr traurig bist«, sage ich zu dem Jungen. Was gelogen ist. Irgendwie.

»Wirklich? Wie geht das?«

»Komm her, ich zeige es dir.«

Ich nehme den Jungen wie geheißen auf meine Arme. Sein Herzschlag pocht an meinen Rippen, und als er sich an mich kuschelt, sich Haut an Haut legt, steigt Stille in mir auf, erfüllt mich ganz und gar und strömt auf ihn über. Leise rede ich auf ihn ein, flüstere Worte ohne Bedeutung, einfach, weil es mir ein tiefes Bedürfnis ist. Sein Kopf sinkt an meine Schulter. Er ächzt, als der Kummer ihn verlässt. Und schläft ein.

Die Leute ringsherum sind still geworden, nur ein leises kollektives Seufzen erhebt sich. Die Kameras fangen es ein, der Wind trägt es voran, bis der Moment zerbricht.

»Wir müssen weiter.« Patten winkt den Mann herbei, der von zwei Sicherheitskräften festgehalten wird, den Vater, wie mir jetzt klar wird. Ich bette den Jungen in seine Arme.

»Danke«, sagt er. »Ich danke Ihnen so sehr, Silence.«

»Alles Gute.«

Das ist es, was ich kann. Andere beruhigen. Und plötzlich empfinde ich das als positiv. Ich habe Glück in die Augen eines Vaters gestreut.

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In Begleitung dreier Wärter und der Agenten eilen wir durch die Gänge. Das Hochsicherheitsgefängnis ist ein verwinkelter Kasten aus Stahlbeton. Sektion C liegt tief unter der Erde. Hier sitzen Schwerverbrecher in Einzelhaft ein, die von den anderen Insassen abgesondert werden müssen. Mörder, Vergewaltiger, Terroristen, Auftragskiller. Die Aufrührer, die Gewaltbereiten. Und Corvin.

Seine Zelle liegt in einem eigenen Trakt und ist nicht nur doppelt und dreifach gesichert, sondern bestimmt zehnfach. Ich war schon einmal hier, kurz nachdem er hier eingesperrt worden ist, aber ich habe jede Erinnerung daran aus meinem Gedächtnis gestrichen.

Meine Nervosität erreicht ihren Höhepunkt, meine Handflächen sind feucht. Ich verfluche den menschlichen Anteil meiner DNA und balle energisch die Fäuste. Gleich werde ich Corvin gegenüberstehen. Es wird alles klappen wie vorgesehen, es muss. Für die Sache, Jill!

Wir passieren mehrere elektronisch gesteuerte Sicherheitsgitter, dann eine Tür, die anmutet wie die eines Tresorraums, und bleiben vor einer Glaswand stehen. Panzerglas, schuss- und schlagfest, zusätzlich durch Stahlgitter verstärkt. Corvin hat die Vorgängerverglasungen mehrmals zertrümmert, ich habe die Berichte in seiner Akte gelesen. Dass er seit vier Jahren keinen Ausbruchsversuch mehr unternommen hat, gibt mir Zuversicht. Und gleichermaßen zu denken. Ich mag mir gar nicht vorstellen, wie es sein muss, Tag und Nacht hier eingeschlossen zu sein. Welcher Mensch ist aus meinem besten Freund geworden? Aus dem Jungen, mit dem ich meine Kindheit verbracht habe? Wie wird er reagieren, wenn er mich sieht? Diejenige, der er das alles hier zu verdanken hat?

»Wo ist er?«

Patten starrt ebenso wie ich angestrengt durch die Scheibe. Dahinter eröffnet sich eine eigene Welt, Corvins Reich, sein Zuhause, und im ersten Moment bin ich sprachlos. Vor sechs Jahren gab es hier nichts als das Bett, auf dem sie ihn unter Drogen gesetzt angekettet hielten. Ein Bett und ewige Dunkelheit, unterbrochen nur von den Ärzten, die Infusionsbeutel austauschten, oder die Magensonde kontrollierten, mit der er künstlich ernährt wurde. Sie hatten Corvin zum Komapatienten gemacht, weil sie ihm anders nicht Herr wurden. In seiner Anfangszeit hat er sieben Wärter und einen Arzt krankenhausreif geschlagen, bis sie die Dosis nach und nach erhöhten. Sie hätten ihn genauso gut töten können.

Heute ist die Zelle wie ein Appartement ausgestattet, mit einem Sofa, Fernseher, Computerpad und Bücherregal, einem Tisch und Stühlen, einem Laufband, einer Schlafnische mit Vorhang, einem Kühlschrank und einer Nasszelle. Alles durch Tageslichtlampen erleuchtet. Das einzig Lebendige ist eine kränkliche Topfpflanze auf dem Tisch, Corvin selbst ist nirgends zu sehen.

»Der turnt wahrscheinlich wieder im Lichtschacht herum«, meint einer der drei Wärter und zeigt nach oben.

Jetzt erst sehe ich, dass die Zellenwand an der linken Seite bis in etwa drei Metern Höhe mit bunten Klettergriffen gespickt ist. In der Ecke erhebt sich ein Schacht, schwacher Lichtschein von oben deutet auf ein Fenster an der Decke hin. Soweit ich sehen kann, besteht die Mauer aus grob verputzten Betonquadern, kein Gedanke, daran hochzuklettern, jedenfalls nicht als Normalsterblicher.

Der Wärter betätigt eine Taste am Terminal vor der Zellentür und spricht in ein Mikrofon. »Corvin. Besuch für dich.« Und an uns gerichtet: »Viel Glück. Der kommt nur, wenn er Lust hat.«

»Das interessiert mich herzlich wenig«, erwidert Patten. »Können wir mit ihm reden?«

Der Wärter lacht. »Klar. Fragt sich nur, ob er antwortet. Hier draufdrücken und ins Mikro sprechen. Legen Sie los.«

Patten beugt sich über das Mikro. »Corvin? Corvin West? Hören Sie mich?«

Keine Antwort.

»Mein Name ist Direktor Tom Patten, ich bin der Leiter der Division. Ich bin hier mit Jillian Burton. Wir sind gekommen, um Sie aus dem Gefängnis zu holen.«

Noch immer keine Reaktion. Nichts deutet darauf hin, dass Corvin uns hört. Der Wärter hebt beide Hände im Sinne von: Habe ich es Ihnen nicht gesagt?

Patten seufzt. »Wäre es möglich, dass Sie sich zu uns gesellen, um über die Bedingungen zu sprechen?«

Keine gute Strategie. Sollte Corvin auch nur darüber nachgedacht haben, sich herunterzubequemen, so hat sich das hiermit erledigt. Das Wort Bedingungen klingt nicht danach, als könnten sich daraus Vorteile für ihn ergeben. Eher nach einer anderen Art von Haft.

Ein knappes Lachen hallt durch den Lautsprecher, unerwartet tief. Mehr passiert nicht.

Patten nickt. »Immerhin. Er hört zu. Was meinen Sie, Jillian? Wie soll ich weiter vorgehen?«

»Ich würde ihm erklären, worum es geht.«

»Das möchte ich lieber persönlich mit ihm besprechen.«

Ich blicke mich demonstrativ zu den Agenten um, die mit ihren Schnellschussgewehren in Bereitschaftsstellung sind, dann zu den beiden anderen Wärtern, die mit steinernen Gesichtern an der Tür warten. Ich frage mich, wie er sich das vorgestellt hat. Ein kleiner Plausch bei Kaffee und Kuchen in der Gefängniskantine?

Er verzieht die Mundwinkel, denkt kurz nach und schiebt mich schließlich resolut vors Mikrofon. »Am besten reden Sie mit ihm. Holen Sie ihn da runter.«

Na toll, mir bleibt auch nichts erspart. Ich hole tief Luft. »Corvin? Ich bin’s, Jill.«

Stille.

»Wir wollen mit dir sprechen. Kannst du bitte zu uns kommen?«

Nichts.

Mir schießt durch den Kopf, was ich im Rahmen meiner Ausbildung über Verhandlungstaktik gelernt habe. Die Körpersprache hat einen wichtigen Anteil daran, den Gesprächspartner auf emotionaler Ebene zu beeinflussen. Dazu müssten die Signale, die ich mittels Haltung, Blicken und Gesten aussende, aber auch bei Corvin ankommen.

Ein wenig mutlos rede ich weiter in den luftleeren Raum hinein. Erzähle von der Brisanz der Angelegenheit, und dass er eventuell helfen könnte. Dass er aus dem Gefängnis entlassen wird, falls er kooperiert. Dass wir allerdings nur persönlich mit ihm sprechen werden.

Meine Worte zerplatzen an der Glaswand. So werde ich Corvin niemals erreichen. Ich wende mich an den Wärter. »Kann ich zu ihm hinein?«

»Das würde ich Ihnen nicht raten. Wenn Sie ihn anstacheln, werden wir den Tag nicht überleben.«

»Ich habe nicht vor, ihn anzustacheln …«

»Sie ist Silence, eine Neutralisatorin«, wirft Patten ein. »Sie kann ihn beruhigen.«

Der Wärter mustert mich abschätzig. »Waren Sie das? Ihretwegen konnte man ihn gefangen nehmen?«

Ich atme scharf ein.

»Sie sind lebensmüde, Miss. Er ist ein schlafender Drache. Ein falsches Wort von Ihnen, und er spuckt Feuer. Er wird Sie umbringen. Wir können Ihnen nicht zu Hilfe kommen, ohne selbst Gefahr zu laufen, getötet zu werden.«

»Dann werden wir ihn eben ruhigstellen«, sagt Patten, noch während ich versuche, das Bild des Feuer spuckenden Jungen, mit dem mich mein Gehirn dankenswerterweise versorgt, abzuschütteln.

»Er wird mir nichts tun«, erkläre ich, nicht halb so sicher, wie ich vorgebe zu sein.

Der Wärter neigt zweifelnd den Kopf. »Hören Sie, wir haben eine stille Vereinbarung: Wir lassen ihn in Ruhe und er uns. Ist wie eine Wippe im Gleichgewicht. Wenn Sie also nicht riskieren wollen, das Gefängnis in Schutt und Asche zu legen …«

»Und wie wird er versorgt?«, fällt ihm Patten ins Wort.

»Durch das Ausgabesystem.« Der Wärter zeigt uns ein Förderband, das in die gläserne Zelle führt. »Zwei Kraftfelder. Computergesteuert. Das Essen wird von hier aus eingespeist und automatisch weiterbefördert. Er kann erst darauf zugreifen, wenn der Vorgang abgeschlossen ist.«

»Isst er denn regelmäßig?«

»Er frisst wie ein Scheunendrescher. Hat noch nie was übrig gelassen.«

»Könnte er es anderweitig entsorgen? Ins Klo spülen beispielsweise?«

Der Wärter sieht ihn verdutzt an. »Das könnten wir überprüfen. Die Abwässer werden routinemäßig kontrolliert.«

Na dann, Prost, Mahlzeit. Der arme Kerl, dem diese Aufgabe zufällt.

»Wann gibt es Mittagessen?«, fragt Patten.

»In einer guten halben Stunde.«

»Bringen Sie uns in die Küche.«

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2

Lange Zeit glaubte man, ein Fötus könne sich außerhalb des Mutterleibs nicht entwickeln. Dass es unmöglich wäre, die Bedingungen zu simulieren. Das hat sich als falsch erwiesen. Ob zu meinem Vorteil oder nicht, fällt mir schwer zu beurteilen. Ich wäre andernfalls nicht am Leben.

Wie alle Rookies reifte ich bis zu meiner Geburt im Jahr 2050 in einem aquariumähnlichen Ding heran, neun Monate lang versorgt durch Ernährungssonden, überwacht durch Steuerungskabel, beschallt von Stimmen und Klängen, geschaukelt von einer Maschine. Eine künstliche Gebärmutter, deren Bezeichnung Matrix 7.7 lautete. 7.7, weil ich die Siebte von sieben bin. Am Anfang hatten wir alle nur Nummern.

Corvins Zellen enthalten denselben Anteil außerirdischer DNA wie meine. Als Kinder waren wir einander sehr nah. Wir verstanden uns blind, lasen in den Augen des anderen die Reflexion der eigenen Gedanken. Bis dieser eine Tag alles verändert hat.

»Sir, wird er das nicht merken?« Mir ist nicht wohl bei dem Gedanken, Corvin zu sedieren, Patten jedoch hat keine Hemmungen. Das Beruhigungsmittel, das er in der Küche auspackt, wirkt unter anderem auf den Muskeltonus.

»Es ist geruchs- und geschmacksneutral.«

»Sie haben gar nicht erwartet, dass er auf unser Angebot eingeht, oder? Das war von Anfang an geplant.«

Patten schenkt mir ein nachsichtiges Lächeln. »Ich schätze Sie und Ihre Kräfte sehr, Jillian, aber Corvin West ist unberechenbar. So, das sollte reichen.« Er hat drei ganze Fläschchen unter die Suppe gemischt.

»Sie wissen aber schon, dass Medikamente auf seinen Körper anders wirken als auf normale Menschen?«

»Lassen Sie das mal meine Sorge sein, Jillian. Die Kunst ist es, das Mittel so zu dosieren, dass er sich nicht in die Hosen pisst und nur noch vor sich hin brabbelt. Die Berechnungen unserer Experten stimmen. Vertrauen Sie mir.«

Nie und nimmer.

Über die Kameras im Videoraum beobachten wir, wie Corvin dem Ausgabefach das Tablett mit seinem Mittagessen entnimmt und damit zum Tisch geht. Eine große schemenhafte Gestalt, geschmeidig wie ein Panther. Ich bekomme sein Gesicht nicht zu sehen. Wendet er es absichtlich ab?

Er sitzt mit dem Rücken zu uns und lässt es sich schmecken, bestimmt zwanzig Minuten lang. Anhand seiner Bewegungen können wir erkennen, dass er die Suppe löffelt, das Fleisch schneidet und die Gabel zum Mund führt. Dann steht er auf und stellt das Tablett mit dem leeren Geschirr zurück ins Fach, aus dem es vom Förderband abtransportiert wird. Wieder hält er den Kopf gesenkt.

Anschließend tritt er hinter den Vorhang seiner Schlafkoje, kommt in einem legeren Trainingsanzug wieder heraus, benutzt den Geräuschen zufolge Toilette und Wasserhahn und verschwindet so schnell in seinem Schacht, als hätte er Saugnäpfe an Händen und Füßen.

»Keine Anzeichen, dass er nicht gegessen oder etwas ins Klo gekippt hat«, berichtet der Wärter wenig später. »Alles sauber. Wollen Sie das wirklich tun, Miss?«

Nein. Ich möchte bitte nach Hause. Oder nach Demlock Park, per Zeitreise zurück zu den Tagen, in denen unsere Welt noch halbwegs heil war. »Wird schon gut gehen.«

Die Schleuse an der Panzerglastür verfügt ebenfalls über Kraftfelder, eines davor, eines danach. Ich muss alle Gegenstände ablegen, die Corvin zu einer Waffe umfunktionieren könnte, und fühle mich nackt, als ich sein Reich nur mit dem schicken Catsuit bekleidet betrete. Wenigstens das Cape hätten sie mir lassen können, erwürgen könnte er mich schließlich auch mit einem einzigen Handgriff.

In der Zelle halte ich kurz inne. Die Luft riecht überraschend angenehm und der Hauch eines Aftershaves berührt meine Sinne: Minze, Pfeffer, Zitrus. Meeresfrisch.

Ich komme mir wie ein Eindringling vor. Angst mischt sich in meine Nervosität, klamm und schwer und irrational. Ich reiße mich zusammen. Der Gedanke, Corvin würde mir etwas antun, ist doch einfach nur albern. Entschieden schiebe ich ihn beiseite. Trotz allem, was zwischen uns steht, waren wir einmal Freunde, das hat er mit Sicherheit nicht vergessen. Ich gebe Patten mein Okay und er erwidert es mit einem aufmunternden Lächeln.

Ich begebe mich zum Schacht, der gut und gern zwanzig Meter hoch ist. Mein Blick gleitet die Wand empor. Weiches bläuliches Licht fällt von oben herein. Ein Stück vom Himmel. Ich kann Corvin nicht entdecken, aber er verbirgt sich zweifelsfrei in den Schatten um das Fenster.

»Corvin? Ich möchte mit dir sprechen.«

Er gibt keine Antwort.

»Das ist doch lächerlich. Lass mich hier nicht so stehen! Bitte komm runter.«

»Verschwinde.«

Oh, das Monster spricht. Reizend. »Ich werde hier nicht weggehen, das kannst du vergessen.«

»Dann viel Vergnügen.«

»Du kannst nicht ewig dort oben bleiben. Irgendwann musst du ja auch schlafen, was trinken, austreten …« Verflixt noch mal, was quatsche ich da eigentlich für dummes Zeug? Sollte das Beruhigungsmittel nicht endlich wirken?

»Ich habe es hier sehr bequem, danke.«

Ich setze mich auf den Boden und lehne mich zwischen den bunten Griffen an die Mauer. Zeit, dass ich härtere Geschütze auffahre. »Schöne Grüße von Fawn. Und Morton. Sie freuen sich auf ein Wiedersehen.«

Lange bleibt es still. Dann: »Fawn. Geht es ihr gut?«

Gut, da sind also doch noch alte Bande. »Ja. Bis auf die üblichen Wehwehchen, du erinnerst dich? Ohne ihr Spray kann sie keinen Schritt aus dem Haus machen. Aber sie hat es gut getroffen. Sie lebt auf dem Land, ihre Eltern haben eine Farm, etwas Besseres hätte ihr nicht passieren können.«

Ich plappere munter vor mich hin, als säßen wir zwanglos bei einem Drink zusammen, um über alte Zeiten zu plaudern. Viel schlimmer noch als meine gespielte Fröhlichkeit ist, dass ich die Wahrheit absichtlich verbiege.

Fawns Adoptiveltern kümmern sich kaum um sie. Die Farm der Shermans ist eine Sojabohnenplantage, Hunderte Hektar Eintönigkeit, genmanipuliert und durch Chemikalien vergiftet. Fawn ist todunglücklich, das höre ich ihr an, wenn wir telefonieren. Besucht habe ich sie erst ein Mal. Das tote Grün hat mich schnell wieder das Weite suchen lassen.

»Morton meldet sich selten. Er hängt sich in sein Studium rein, Rechtswissenschaften. Immer auf Achse, der Gute, eine rotierende Klinge, du kennst ihn ja.«

»Ach ja, tue ich das?«

Das raue Flüstern direkt an meinem Ohr sorgt dafür, dass ich den Blick hochreiße. Ich begegne blaugrün gesprenkelten Augen, zwei blanken Kieseln, kalt, hart. Corvin hängt kopfüber an der Wand, Finger und Zehen um die Bouldergriffe gekrallt. Wie eine Spinne hat er sich angepirscht.

Mit einem eleganten Überschlag schwingt er sich herab und baut sich vor mir auf, die Arme verschränkt, der Blick finster. Alles an ihm drückt Abwehr aus. Mein Herz hämmert gegen meine Kehle, ich kann kaum atmen, während er mich taxiert. Ich stehe auf.

Sechs Jahre.

Sechs Jahre, und ich erkenne meinen besten Freund nicht wieder.

Ich studiere sein Gesicht, das wie gemeißelt wirkt, unnachgiebig. Versuche den Jungen darin zu finden, den ich in meinem Gedächtnis abgespeichert habe, und ja, auch in meinem Herzen, aber es ist nichts mehr von ihm übrig. Die Bartschatten lassen ihn älter wirken als achtzehn Jahre. Kinn und Wangenknochen sind markant und um seine fein geschwungenen Lippen liegt ein verächtlicher Zug. Eine dünne Narbe verläuft über seiner rechten Augenbraue, wodurch sie minimal höher sitzt als die andere und seinen arroganten Ausdruck noch verstärkt. Alles Weiche scheint verschwunden zu sein, als hätten Einsamkeit und Qual es aus ihm herausgefressen.

Ein unerklärliches Zittern überläuft mich, die Anspannung vielleicht oder der Schock zu sehen, was die Verbannung aus Corvin gemacht hat. Unweigerlich durchzucken mich Bilder, längst vergessene Eindrücke. In meiner Brust bricht etwas auf, ein alter Schmerz, den ich nur unter Mühe zurückdränge.

»Was willst du, Jill?«

»Mit dir reden.«

»Rede.«

»Nicht hier. Draußen.« Ich deute zur Schleuse, zu dieser Panzerglaswand, hinter der Patten wartet und uns beobachtet. »Direktor Patten möchte dir ein Angebot machen.«

Stille. In Corvins Augen nistet eine Kälte, die mich zutiefst erschreckt. Sosehr ich mich auch bemühe, ich kann nicht das kleinste bisschen Entgegenkommen entdecken. Nur finstere Abgründe. »War’s das? Mehr hast du mir nicht zu sagen?«

Ich versteife mich. Oh, ich hätte viel zu sagen, aber ob das der Sache dienlich wäre, bezweifle ich. Das muss warten. Ich halte es seit damals in mir vergraben, auf ein paar Stunden mehr kommt es nicht an. Für die Sache, für die Sache … »Nicht jetzt, Corvin.«

»Dann hau ab. Bestell deinem Direktor Patten, dass ich kein Interesse habe.«

»Du hast kein Interesse, frei zu sein?«

Unversehens packt er mich um die Mitte und mir entschlüpft ein Schrei. Ich registriere noch, dass Patten wild gestikuliert, dann klettert, nein, springt Corvin einarmig mit mir die Wand hinauf. Ein Alarm geht los, das Licht erlischt, die Zelle wird in oranges Flimmern getaucht.

»Corvin West«, ruft Patten durch den Lautsprecher, »machen Sie keine Dummheiten! Wenn Sie Jillian etwas antun, wird unser Angebot hinfällig!«

Das kümmert Corvin nicht. Wir lassen die Bouldergriffe hinter uns, nun findet er an winzigen Unebenheiten und Rissen im Gemäuer Halt. Rasch gewinnen wir an Höhe. Für Sekunden ist mein Hirn wie leer gefegt. Da sind die Bewegungen seines gestählten Körpers dicht an meinem, gewandt und sicher, sein Geruch, sein Atem, so ruhig wie bei einem Spaziergang entlang der Severin Bay. Dann endlich finde ich Zugang zu meinem Verstand.

»Spinnst du? Lass mich sofort runter!«

Der Schacht ist nun so eng, dass Corvin sich beiderseits mit den Füßen abstützen kann. Er hält inne.

»Wie Mylady befehlen.«

Sein Arm öffnet sich und ich sacke nach unten. Mein Sturz wird abrupt gebremst, Corvin fängt mich mit dem Fuß ab, gute fünfzehn Meter über dem Boden. Panisch kralle ich meine Hände um seinen Knöchel und verbiete mir jeden weiteren Blick nach unten. Aufgeregte Stimmen und Befehle dringen herauf.

Seelenruhig zieht mich Corvin hoch, schubst mich auf seinen Rücken. Und macht sich wieder daran, den Schacht zu erklimmen. Ich schlinge einen Arm um seine Kehle und boxe mit der freien Hand gegen seine Seite. Es fühlt sich an, als würde ich auf einen Autoreifen einschlagen. Corvin ist so alt wie ich, fast ein Mann, das wird mir in diesem Moment überdeutlich bewusst.

»Oh«, murmelt er. »Mir wird auf einmal schwindlig …«

Nein! Wenn ihn jetzt die Kräfte verlassen, werden wir beide abstürzen. »Bitte! Lass mich ja nicht fallen! Bring mich wieder runter, bevor …«

»Bevor was?« Er klingt bereits geschwächt, sein Körper verliert an Spannung. Wir rutschen ein klein wenig ab. »Alles dreht sich … ich weiß auch nicht …«

»Corvin! Du kannst dich nicht mehr lange halten! Klettere nach unten, schnell, bitte, oder wir knallen beide auf den Boden! Das Betäubungsmittel …«

Augenblicklich wird sein Griff wieder fest. »Wusste ich es doch!«

Wie bitte? Dann war das nur gespielt? Hat er die Suppe am Ende doch nicht gegessen?

»Keine Sorge«, flüstert er. »Wir werden nicht abstürzen. Wenn ihr mich unter Drogen setzen wollt, müsst ihr früher aufstehen.«

»Oh! Du … du dämlicher, verblödeter Rookiepupser!«

Er lacht leise, ein Laut, der tief in seinem Inneren vibriert und mir durch und durch geht. »Rookieotin.«

»Knallkopfrookie.«

Angesichts der Umstände ist es völlig verrückt, aber mit einem Mal sind wir wieder acht Jahre alt und bewerfen uns mit Schimpfwörtern, die zumindest damals eher liebevoll als böse gemeint waren. Ich sehe es wieder klar vor mir: Robyn läuft in BBs Lederjacke durch die verwinkelten Gänge von Demlock Park, gejagt von dem in Tränen aufgelösten Quinn, dem sie wieder mal die Kopfhörer geklaut hat. Fawn fesselt Corvin mit Clematisranken, die sie durch die Terrassentür hereinwachsen lässt, während ich ihn auf dem Teppich vor dem Kamin mit sanftem Händedruck festhalte. Morton übt sich im Werfen, mangels Messern mit Dartpfeilen, und hat sich Ella als Opfer ausgesucht, die sich vor dem Spiegel halb verrenkt, um ihre Flügel zur Gänze mit weißem Haarspray einzufärben … Bis BB einen der Pfeile mit bloßer Hand abfängt und uns anschreit: »Rookies! Benehmt euch gefälligst! In fünf Minuten ist Visite! Direktor Burton bringt jede Menge Leute mit! Die wollen die Helden von morgen sehen und keine Horde wild gewordener Affen!«

So war das damals. Wir hatten auch gute Zeiten.

Die Helligkeit rückt mit jedem zurückgelegten Meter näher und endlich erreichen wir das Ende des Schachts, ein vergittertes und vermutlich durch ein Kraftfeld gesichertes Fenster, hinter dem Schäfchenwolken in sattem Mittagsblau schwimmen. Corvins Tor zur Welt.

Er zieht mich an seine Brust, spannt seinen Körper zwischen den Schachtwänden ein und deutet auf einen Mauerabsatz unter dem Fenster, so schmal, als hätte er ihn mit den Fingernägeln in die Wand geschabt. »Welchen Platz darf ich dir anbieten? Hier auf meinem Schoß oder lieber auf dem Stuhl da drüben?«

Macht er Witze? Das Mäuerchen ist maximal für einen Rattenpopo geeignet. »Die Mauer«, stoße ich wider besseres Wissen hervor, weil ich seiner Nähe einfach nur entfliehen will. Ehe ich michs versehe, stemmt er mich hoch.

»Füße an die Wand«, rät er mir.

Ich stelle fest, dass man nicht so unbequem sitzt wie erwartet. Solange ich mich nicht bewege, fühle ich mich sogar einigermaßen sicher. Den Rücken an die Mauer gepresst, die Füße an die gegenüberliegende Wand gestemmt, kauert Corvin mir gegenüber. Sein dunkelblondes Haar ist ihm in die Stirn gefallen, gereizt streicht er es wieder zurück.

»Siehst du das, Jill?« Er deutet auf das Himmelsmosaik über uns. »Das ist meine Freiheit. Wie sieht deine aus?«

Was soll ich darauf antworten? Ich war von klein auf eingesperrt, in Demlock Park, im Haus meiner Adoptivmutter Kristen, sogar in meinem Körper. Jetzt, als Erwachsene, sollte ich endlich die Gelegenheit haben, über mein Leben zu bestimmen. Weit gefehlt. Ich lebe isoliert, jeder meiner Schritte wird überwacht, ich tue, was man mir aufträgt. Mein Zimmer ist der einzige Ort, an dem ich für mich sein kann. Oft genug starre ich aus dem Fenster, dankbar für die wenigen Stunden Eigenständigkeit. Womöglich bin ich ebenfalls eine Gefangene. Genauso wenig frei wie Corvin.

»Das muss nicht so weitergehen«, sage ich. »Wir holen dich hier raus. Die Verbannung wird aufgehoben, wenn du mit uns zusammenarbeitest. Wenn du dich nicht wieder so benimmst, dass … Wir müssen dir vertrauen können, Corvin.« Vielsagend schaue ich ihn an. Unser qualmendes Haus steht mir wieder vor Augen. Die Schuttberge. Das viele Blut. Und über allem thronend ein dunkler Gott: Corvin, an den sich niemand heranwagte, aus Angst, den Zwölfjährigen zu weiteren Gewalttaten zu provozieren.

»Wie soll ich mich nicht benehmen? Wie denn, Jill? Sprich es ruhig aus.«

Vollkommen durchgeknallt. Nicht zu bändigen. Untragbar. Mir bleiben die Worte im Hals stecken, bis nur noch eines mein Denken beherrscht: Mörder.

»So vielleicht?«

Unvermittelt donnert Corvins Faust dicht neben meinem Kopf in die Mauer. Es knirscht unheilvoll, Sprünge durchziehen die Wand, kleine Steine rieseln in die Tiefe. Ich starre auf die Verästelungen, die seinen Arm hinaufkriechen. Seine Hand ist bereits von der tintenartigen Schwärze überzogen, einer Art Titanhaut, die ihn schützt wie eine Rüstung, flexibel und fast unverwüstlich.

Schwarze Zungen lecken an seinem Hals, seine Augen beginnen weiß zu glühen. Er schlägt noch einmal zu und diesmal kann ich den Aufschrei nicht unterdrücken. Der Schacht erbebt, die Sprünge klaffen zu Rissen auf. Ein Mauerbrocken streift mich an der Schläfe.

»Oder so?« Corvin bringt mich mit einem Schubs aus dem Gleichgewicht, sodass ich vom Mauersims stürze.

In blinder Panik taste ich nach Halt und erwische im Fallen gerade noch sein Bein. Es ist dick wie ein Baumstamm, der Stoff seiner Trainingshose seidenglatt und darunter wächst seine zweite Haut. Ich kann spüren, wie sie sich ausbreitet, ihn umhüllt, die Kleidung fast zum Zerreißen dehnt. Ich kralle die Finger in seine Muskulatur, aber er spannt sie an und wieder ab, sodass meine Hände unweigerlich abrutschen.

»Corvin, bitte …«

»Angst, Jill?« Seine Stimme ist betont sanft, doch der Unterton beißend scharf, beinahe grausam. Ja, ich habe Angst, doch nicht vor dem Fall. Corvin ist jetzt zur Hälfte Dark Chaos. Seine Superheldengestalt ist dutzendfach stärker als seine menschliche. Er könnte mir mit zwei Fingern das Genick brechen. »Es sind dreiundzwanzig Meter bis zum Boden. Vermutlich wirst du überleben, wir sind nicht so leicht umzubringen, nicht wahr? Aber hübsch wehtun wird es allemal.«

Davon gehe ich aus.

Corvin streicht mit seinen schwarzen Fingerspitzen über meinen Handrücken. Dann sieht er mich an, sein Blick ein eiskaltes, grellweißes Feuer der Wut – und löst mit einem raschen Griff meine rechte Hand von seinem Bein.

Ich sacke nach unten. Hänge nur noch an einem Arm. »Corvin, warum tust du das? Ich bin nicht dein Feind. Wir sind Rookies! Wir halten zusammen.«

»Damit kommst du mir? Damit? Gerade du, Jill?«

»Ich hatte keine Wahl.«

»Du hast mich verraten«, sagt er leise, aber um nichts weniger kalt. Ein Echo schwingt in seiner Stimme mit. »Du hast mich ausgeliefert. Deinetwegen sitze ich seit sechs Jahren in dieser verfluchten Vitrine fest. Und du erzählst mir was von Zusammenhalt?«

Ich merke, dass ich am ganzen Körper zittere. Immer wieder stößt Corvin meine Hand weg, sobald ich versuche, mich an ihm festzuklammern. Meine Linke, an der mein gesamtes Körpergewicht hängt, erlahmt langsam, ich beginne abzurutschen.

»Bitte …«

»Bitte, was? Was, Jill, was? Was möchtest du mir sagen? An deiner Stelle würde ich mich beeilen.«

Der Schmerz in meiner Brust, dieses klaffende Loch, wird von Zorn erfüllt. »Du klagst mich an? Du bist keinen Deut besser! Du warst außer Kontrolle. Weißt du nicht mehr, wie du dich aufgeführt hast? Alle hatten Angst vor dir … Fawn, Ella, Morton, Robyn. Und … und du hast ihn … hast ihn einfach umgebracht. Du hast Aaron getötet, meinen Vater …«

Ich schluchze auf. Ich kann mich nicht länger halten.

Mein Blick huscht ein letztes Mal in Corvins Gesicht. Etwas Unbestimmtes zuckt in seinen weiß funkelnden Augen auf, ein Hauch Menschlichkeit, doch sein Mund verzieht sich zu einem unbarmherzigen Lächeln.

Dann falle ich.

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3

Ein Baby, das aus einer künstlichen Gebärmutter schlüpft wie ein Küken aus dem Ei, ist dennoch ein Baby mit all seinen Bedürfnissen, selbst wenn seine DNA nicht rein menschlich ist. Es braucht Körperkontakt, Interaktion und Geborgenheit. Das war den Verantwortlichen des Rookie-Heroes-Projekts bewusst und so entwickelten sie in Zusammenarbeit mit der Psychologin Kristen Burton ein Konzept außerfamiliärer Aufzucht. Es sah drei Nannys vor, die uns in den ersten Lebensjahren streng nach Arbeitsplan versorgten und neben Kristen unsere einzigen Bezugspersonen waren. An unserem dritten Geburtstag wurden sie entlassen und im Austausch trat BB in unser Leben, Dwight Callahan, der Big Boss, der unsere Ausbildung übernahm. Er war der Einzige, der zu jedem der Rookies eine Beziehung aufbauen konnte, wir liebten und hassten ihn gleichermaßen.

Warum mir das gerade jetzt einfällt, weiß ich nicht, aber die Bilder stürmen haltlos auf mich ein. Als die Flut verebbt und ich wieder zu mir komme, liege ich auf nacktem Beton, im Nacken und in den Schultern quälender Schmerz. Unwillkürlich tasten meine Finger nach der Stelle. Womöglich ein heftiger Bluterguss?

Die Erinnerung kehrt blitzartig zurück: Corvins Tintenklauen, die mich in letzter Sekunde von hinten packen, sich in meine Nackenmuskulatur bohren und mich vor dem Fall bewahren. Wie ein Kätzchen hänge ich im Griff von Dark Chaos, als er behände nach unten klettert und mich Patten, der mit seinen Männern die Zelle gestürmt hat, förmlich vor die Füße wirft. Sekunden des Verharrens, in denen Dark Chaos schwindet. Die Titanhaut bildet sich zurück, Muskeln schrumpfen, die eisige Glut in den Augen erlischt – und zum Vorschein kommt der Junge. Im Nu ist Corvin umzingelt, zehn Gewehre zielen auf seinen Kopf, und für einen Herzschlag fürchte ich, die Agenten werden abdrücken. Wir sind nicht so leicht umzubringen, das stimmt. Doch Schüsse aus dieser Distanz sind tödlich. Wir sind nicht unsterblich. »Nicht«, krächze ich, ehe sich mein Bewusstsein endgültig verabschiedet und mich Dunkelheit umschließt.

Jetzt kehre ich mit jedem Blinzeln mehr in die Realität zurück. Der Alarm ist verstummt, das Licht wieder an. Direktor Patten hilft mir beim Aufsetzen. Dankbar trinke ich das Glas Wasser, das er mir reicht. »Sie sind uns kurz weggetreten, Jillian. Bestimmt der Druck auf die Arteria carotis, Sie sind ganz blau am Hals. Geht’s wieder?«

Ich nicke. Alles bestens. Mein »Freund« hat sich letztlich dagegen entschieden, mich umzubringen. Er hat mich sicher heruntergebracht, zwar auf erniedrigende Art und Weise, aber warum unter diesen Umständen auf Kleinigkeiten herumreiten?

Corvin hasst mich – das muss ich mir nun endlich eingestehen, und obwohl ich umgekehrt mit ähnlichen Gefühlen kämpfe, tut es unerwartet weh. Es ziept und sticht tief in meinem Inneren. Zu akzeptieren, dass von unserer Freundschaft nichts geblieben ist als Hass, ist um so vieles schwerer, als es zu ignorieren, wie ich es all die Jahre praktiziert habe.

Vielleicht hätte ich mit Corvin reden, mir seine Version der Geschichte anhören sollen, als er Monate nach seiner Gefangennahme wieder ansprechbar war. Doch zum einen hätte ich mich dafür gegen Kristen auflehnen müssen, die mich schon damals von allem abgeschottet hielt. Zum anderen hätte ich es sowieso nicht über mich gebracht. In mir war alles voller Schmerz, der Anblick meines toten Vaters ein Bild, das ich nicht vergessen konnte. Ein Gespräch mit Corvin wäre zu einer einzigen Anschuldigung geworden, auf beiden Seiten vermutlich. Deshalb habe ich jeden Kontakt vermieden. Kein Besuch, kein Brief, keine Mail. Totale Funkstille – für mich der einzige Ausweg. Und jetzt … muss ich die Konsequenzen tragen.

»Warum zum Teufel haben Sie Ihre Kräfte nicht eingesetzt, Jillian?«, fragt Patten. »Es wäre ein Leichtes gewesen, ihn zu beeinflussen. Sie hatten doch intensiven Kontakt.«

Meine Wangen werden heiß. »Ich weiß auch nicht …«

Ich weiß es sehr wohl. Corvin hat das Spiel diktiert, lange bevor er zu Dark Chaos wurde, ich kam einfach nicht zum Zug. Ich war überfordert von seiner unerwarteten Präsenz. Obendrein hatte ich plötzlich Skrupel, seine Kräfte auszuschalten. Auf die gleiche Weise wie damals, verdammt. Neu anfangen? Von wegen!

Es hat sich alles bewahrheitet, wovor BB mich gewarnt hat.

»Du verurteilst ihn für den Mord an Aaron, Samtpfötchen, aber deine Gewissensbisse sind größer«, hat er gesagt. »Du wirst ihm gegenübertreten und in seinen Augen eine einzige Anklage lesen. Und demzufolge nicht agieren, sondern reagieren. Das wird in die Hose gehen, glaub mir.«

»Ich habe das alles längst überwunden. Du schätzt mich falsch ein, das hast du schon immer getan. Meine Superkraft mag unbedeutend sein, aber ich bin der einzige aktive Rookie, nicht wahr? Ich komme meiner Bestimmung nach, ich absolviere mein Training, ich arbeite mit der Division zusammen. Direktor Patten braucht mich …«

»Er benutzt dich. Das ist ein Unterschied.«

»Blödsinn! Ich kann den Rächer ausschalten, wenn ich erst in seine Nähe komme, niemand sonst ist dazu in der Lage, nur eine Neutralisatorin. Und genauso werde ich auch mit Corvin verfahren, ich werde das Chaos in seinem Inneren eindämmen

»Das denkst du.«

»Was weißt du schon! Du bist nur ein alter Mann, zusammen mit dem Experiment untergegangen. Sieh dich doch nur an! Hockst da in Unterwäsche und Pantoffeln in deinen virtuellen Holo-Welten, während draußen Tod und Verwüstung um sich greifen. Tut mir leid, aber ich kann da nicht länger zusehen. Mit Corvins Hilfe werden wir den Rächer fassen

Nun ja, der Weg zum Ziel verläuft selten geradlinig.

Ich zucke mit den Schultern, weil mich Patten immer noch forschend ansieht. Er seufzt. »Immerhin haben wir ihn so weit. Corvin ist bereit, sich unser Angebot anzuhören. Kommen Sie, Jillian, setzen Sie sich zu uns.«

Corvin würdigt mich keines Blickes, als wir ihm gegenüber am Tisch Platz nehmen. Man hat ihn in einen Spezialstuhl gesetzt, der im Boden verankert ist und in dem er sich kaum rühren kann. Hand- und Fußgelenke sind mit Manschetten fixiert, sogar sein Kopf. Er wirkt gelassen auf mich, aber das kann täuschen. Alles, was er tun muss, um sich zu befreien, ist, das dunkle Chaos in sich wachzurufen. Ob das Beruhigungsmittel, das sie ihm in Form einer Infusion in die Blutbahn jagen, einen Effekt hat, bleibt abzuwarten.

»Der Stuhl hat sich bewährt«, raunt mir Patten zu. »Er hat ein halbes Jahr darin zugebracht. Unzerstörbar, wurde mir versichert.«

Ich kann mir ein Kopfschütteln nicht verkneifen, spare mir aber die Frage, wie unsere künftige Zusammenarbeit aussehen soll. Werden Sie ihn im Spezialstuhl von Einsatz zu Einsatz karren?

Das hier geht in eine völlig falsche Richtung. Ich war so auf den Plan fixiert, dass ich nicht viel weiter gedacht habe. Habe ich wirklich erwartet, er würde uns mit offenen Armen empfangen? Wie naiv von mir zu glauben, wir könnten von vorn beginnen! In uns beiden brodelt so viel Unausgesprochenes, die Vergangenheit musste uns unweigerlich einholen.

Corvin hat mich mit seinem Zorn kalt erwischt. Jetzt, da sich mein Schock langsam legt, wird mir klar, dass ich mindestens so wütend bin wie er und nur zu überrumpelt war, ihm ordentlich Kontra zu geben. Ein zweites Mal wird mir das nicht passieren, diesmal werden wir die Fronten klären.

Die Wärter ziehen sich zurück, sechs Agenten bleiben zu Corvins Bewachung da, die Waffen auf ihn gerichtet. Patten schiebt die Topfpflanze, in deren Untiefen es verdächtig gluckert, beiseite, nicht ohne daran zu riechen. Er nickt mir zu und ich schnuppere ebenfalls. Suppe. Corvin grinst.

Patten erläutert den Grund unseres Kommens. »Wir wollen Ihre Unterstützung im Kampf gegen den Rächer, der …«

»Ich weiß, wer das ist.« Corvins Kopf zuckt minimal zum Fernseher hinüber und er verzieht unter der engen Stirnmanschette das Gesicht.

»Na schön. Dann wissen Sie also, was er anrichtet.«