Joachim Fest

Ich nicht

Erinnerungen an eine Kindheit und Jugend

Inhaltsverzeichnis

Widmung

Vorwort

1. KAPITEL Wie alles zusammenkam

2. KAPITEL Die Welt zerbricht

3. KAPITEL Auch wenn alle mitmachen …

4. KAPITEL Nur kein genre sentimental!

5. KAPITEL Abschiede

6. KAPITEL Fremde Welten

7. KAPITEL Freunde und Feinde

8. KAPITEL Vom Soldatenleben und vom Sterben

9. KAPITEL Die Flucht

10. KAPITEL Noch nicht zu Hause

11. KAPITEL Rückblick und wenige Vorgriffe

NACHBEMERKUNG

 

MEINEN ELTERN

Der Verfasser mit seinem Vater Anfang 1941

VORWORT

Erinnerungen beginnt man meist zu schreiben, wenn einem aufgeht, daß der größte Teil des Lebens gelebt und das Vorgehabte mehr oder minder gut zu Ende gebracht ist. Unwillkürlich faßt man die zurückgelegte Strecke ins Auge: Man erschrickt, wie vieles ins Dunkel gesunken oder als tote Zeitmasse im Vergangenen verschwunden ist. Das Wichtigere möchte man festhalten oder, während es schon ins Vergessen übergeht, in die Erinnerung retten.

Zugleich begegnet man den Mühen, die das Heraufrufen des Gewesenen macht. Was sagte mein Vater, als meine Mutter ihm seine pessimistischen Stimmungen vorwarf, als sie ihn zu einer gewissen Nachgiebigkeit gegenüber den Machthabern überreden wollte? Wie hieß der Deutschlehrer des Leibniz-Gymnasiums, der meinen Weggang vor der Klasse bedauerte? Wie klangen die Bemerkungen, mit denen Dr. Meyer mich bei meinem letzten Besuch zur Tür geleitete – düster oder bloß resigniert-ironisch? Erlebnisse, Worte, Namen: alles verloren oder im Abgang befindlich. Nur manche Gesichter noch gewärtig, mit denen sich, sofern man lange genug herumfragte, eine Äußerung, ein Bild oder eine Situation verknüpfte. Anderes wiederum gab die familiäre Überlieferung her. Aber nicht selten riß der Faden einfach ab. Das hatte auch damit zu tun, daß während der Aussiedlung der Familie aus Karlshorst sämtliche Erinnerungsstücke, Aufzeichnungen und Briefe verlorengegangen sind. Ebenso die Familienfotos; die Bilder in diesem Buch sind uns überwiegend nach dem Krieg von Freunden zurückgegeben worden, die sie sich irgendwann erbeten hatten und ihre Habe durch das Drunter und Drüber der Zeiten retten konnten.

Ich hätte die frühesten Erinnerungen nicht schreiben können, wenn mir nicht Anfang der fünfziger Jahre vom Rundfunk der Auftrag erteilt worden wäre, eine Darstellung der jüngsten deutschen Geschichte zu verfassen. Ich ergänzte das zu jener Zeit noch keineswegs reichhaltige historische Buchwissen, wo immer möglich, durch Gespräche mit Zeitzeugen, von Johann Baptist Gradl über Heinrich Krone bis zu Ernst Niekisch. Am häufigsten freilich, und auch am ausgiebigsten, zog ich meinen Vater zu Rate, der als politisch engagierter Bürger die Kämpfe und Leiden der Zeit mehr als aus dem bloßen Augenschein erlebt hatte. Natürlich erweiterten sich diese Gespräche bald ins Persönliche und machten familiäre Bedrängnisse offenbar, die ich erlebt und zugleich kaum wahrgenommen hatte.

Im allgemeinen notierte ich die Äußerungen meines Vaters nur in Stichworten, und das hat mir manche Schwierigkeit bereitet. Denn sofern ich die Hintergründe einer Bemerkung nach fast fünfzig Jahren nicht wiederherstellen konnte, mußten sie umrißhaft bleiben und häufig weggelassen werden. Manche seiner Stellungnahmen hielten meinen inzwischen erworbenen Kenntnissen nicht stand. Doch statt sie zu korrigieren, habe ich sie in der ursprünglichen Fassung wiedergegeben, weil sie mir als Meinung eines Miterlebenden mitsamt den unvermeidlichen Blickverengungen wichtig erschienen: sie spiegeln stellenweise nicht die heute erlangte historische Sicht, sondern die Wahrnehmungen, Kümmernisse und fehlgeschlagenen Hoffnungen eines Zeitgenossen.

Aus Gründen der besseren Lesbarkeit habe ich mir überdies die Freiheit genommen, manche der Kurznotizen, die auf meinen Zetteln festgehalten waren, in direkter Rede wiederzugeben. Dem Historiker wäre ein solches Verfahren strikt untersagt. Doch dem Verfasser von Erinnerungen mag das erlaubt sein. Unnötig zu sagen bleibt, daß die dialogischen Erweiterungen sich nicht nur an den Inhalt, sondern womöglich auch an den Ton des Gesagten halten. Wo einzelne Bemerkungen in Anführungszeichen gesetzt sind, geben sie eine Äußerung, dem Gedächtnis entsprechend, wortgetreu wieder.

Meine Wahrnehmungen erheben, wie im Falle biographischer Aufzeichnungen immer, keineswegs den Anspruch unwiderlegbarer Gültigkeit. Was ich über die Freunde meiner Eltern, über Lehrer und Vorgesetzte äußere, gibt nur meine eigene Sicht wieder. Ich stelle die Hausdorf und Wittenbrink, die Gans, Kiefer, Donner und andere lediglich dar, wie ich sie in der Erinnerung habe. Das mag nicht in jedem Wesenszug treffend oder gar gerecht sein. Doch leitete mich kein Vorurteil.

Mit den Jahren, von denen auf den folgenden Seiten die Rede ist, habe ich mich analytisch auch in mehreren historischen Darstellungen befaßt. Aus diesem Grunde konnte ich mir in dem vorliegenden Buch abstrakt ergründende Überlegungen weitgehend ersparen. Sie bleiben dem Leser überlassen. Jedenfalls habe ich keine Geschichte der Hitlerzeit, sondern nur deren Widerspiegelung in einer familiären Umgebung verfaßt. Vorherrschend ist daher das Erlebte, häufig Beiläufige, mitunter lediglich Anekdotische, das zum Leben gehört. Als ich zu Beginn der vierziger Jahre als Halbwüchsiger das Grimassieren eines nervös kranken Freundes meiner Eltern beschrieb, mahnte mich mein Vater: «Sieh nicht so genau hin!» Meine Erwiderung war, daß ich meine Augen weder schließen könne noch wolle. Das ist mir, angesichts der insgesamt wohlwollenden Umgebung, in der ich aufwuchs, niemals schwergefallen oder übel vermerkt worden. Für dieses Buch war es sogar notwendig. Weit größer war die Versuchung, die Grimassen der Jugendjahre zu verdrängen oder gar in verklärtem Licht zu sehen.

Ich habe für das Zustandekommen dieses Buches manchen Dank zu leisten: an die vielen hilfreichen Auskunftgeber hier und da. Genannt seien aus längeren Namensfolgen lediglich Frau Ursel Hanschmann, Irmgard Sandmayr und der Freund Christian Herrendoerfer; die Mitgefangenen Wolfgang Münkel und Klaus Jürgen Meise, der schon geraume Zeit vor mir dem Gefangenenlager erfolgreich entkam. Ein besonderer Dank gebührt der Lektorin Barbara Hoffmeister für ihre zahlreichen wichtigen Hinweise. Zu nennen sind zum Beschluß die vielen Freunde aus Jugendtagen, die mir mit Abläufen, Daten und Namen geholfen haben.

 

Kronberg, im Mai 2006

Der Verfasser

1. KAPITEL

Wie alles zusammenkam

Die Aufgabe, die ich mir gestellt habe, lautet Erinnerung. Die Mehrzahl der Erlebnisse und Erfahrungen meines Daseins sind, wie bei jedem, ins Vergessen zurückgefallen. Denn das Gedächtnis ist unausgesetzt dabei, das eine auszusondern, anderes an dessen Stelle zu rücken oder durch neue Einsichten zu überlagern. Der Prozeß hat kein Ende; blicke ich die lange Strecke zurück, drängt eine Flut von Bildern heran, alle wirr und zufällig. Im Augenblick des Geschehens verband sich kein Gedanke damit, und erst nach Jahren gelangte ich dazu, die verborgenen Wasserzeichen in den Lebenspapieren zu entdecken und womöglich zu lesen.

Aber selbst dann noch schieben die Bilder sich, zumal für die frühen Jahre, nach vorn: das Haus mit dem wildnishaften, später vom Ordnungssinn der Eltern zu unserem Kummer entfernten Gestrüpp an den Seiten; das Krebsefangen in der Havel; das geliebte Kindermädchen Franziska, das eines Tages in seine Lausitzer Heimat zurückmußte; die Lastwagen, die mit einer knallenden Fahne durch die Straßen jagten und von grölenden Uniformleuten besetzt waren; die Ausflüge nach Sanssouci oder Gransee, wo mein Vater uns von einer preußischen Königin erzählte, bis es uns zu langweilen begann. Unvergessen alles. Und wer von uns Kindern zehn Jahre alt war, wurde jeweils an einem Sonntag im Sommer, wenn die Musikkapelle spielte und vor dem «Kaiserpavillon» die meist zweirädrigen Adelsgespanne herumstanden, zur Rennbahn mitgenommen. Sie war, wie Karlshorst im ganzen, aus dem abgelegenen Treskowschen Vorwerk von meinem Großvater weiterentwickelt worden und später zum Ruf der größten Hindernisbahn des Landes gelangt. Wie gestern sehe ich das Defilee der riesigen Pferde mit den kleinen, seidenbunten Männern im Jockeydreß sowie die feierlich stolzierenden Herren im mausgrauen Cut mit Schleifen am Hals und gewölbten Steifbrüsten. Die Damen hingegen blieben meist unter sich und betrachteten einander lauernd im Schatten rädergroßer Hüte: ob irgendeine Rivalin zu entdecken und mit einer vernichtenden Bemerkung zu erledigen sei.

Es war eine fremdartige, vornehme Welt, die mein Großvater nach Karlshorst gebracht hat. Er stammte aus der angesehenen Aachener Tuchhändlerfamilie Straeter, die am Niederrhein verbreitet und so wohlhabend war, daß sie sich alle zwei Jahre einen Zug für eine Pilgerfahrt nach Rom mieten konnte und vom Papst zur Privataudienz empfangen wurde. Die Umstände hatten ihn frühzeitig mit dem Hochadel in Verbindung gebracht, mit Anfang Zwanzig war er bereits «Reisemarschall» des Herzogs von Sagan und ging wenig später als «Fürst Fürstenbergischer Inspektor» nach Donaueschingen. Seine frühen Jahre verbrachte er vornehmlich auf den Adelssitzen Frankreichs, und auf Schloß Valençay, dem einstigen Besitz Talleyrands, hatte er meine Großmutter kennengelernt, die aus einer Donaueschinger Familie stammte und bei den Fürstenbergs als Hofdame tätig war. Es war eine große Liebe; sie hielt bis in das Philemon-und-Baucis-Alter, ehe der Krieg alles zersprengte. Lange Zeit noch wurde in der Familie vorwiegend Französisch gesprochen, und französisch war auch die Küche des Hauses mit Zwiebelsuppe, Entenpastete und Crème caramel. In der Bibliothek des Großvaters standen in ehrfurchtgebietenden Lederausgaben die meisten Klassiker des Nachbarlandes. Ich habe ihn manchmal im Auf und Ab vor seinem Schreibtisch Racine deklamieren gehört, doch seine Lieblingsautoren waren Balzac und Flaubert.

Nach Berlin war der Großvater gelangt, als 1890 der aufsehenerregende Mord des Ehepaars Heinze an einem vermögenden Hausbesitzer, nach einer anderen Version allerdings an einem Fräulein von der Inneren Mission oder, nach der wahrscheinlichsten Überlieferung, an einer Prostituierten verübt worden war. Da die Heinzes, deren Untat von meinem Großvater und vielen anderen oft mit den Morden Jack the Rippers verglichen wurde, im anschließenden Prozeß aussagten, sie hätten den Mord vor allem begangen, um auf die schreiende Wohnungsnot in Berlin aufmerksam zu machen, hatten sich zwei und später drei Gruppen wohlhabender Familien zu philanthropischen Siedlungsgesellschaften zusammengetan, die größte auf Anregung des Kammerpräsidenten Dr. Otto Hentig und unter der Federführung des Fürsten Karl Egon zu Fürstenberg. Ihr gehörten die Treskows an, die seit 1816 im nahen Friedrichsfelde residierten, sowie August von Dönhoff, die Lehndorffs und ähnlich angesehene Familien. Auch der weithin bekannte Architekt Oscar Gregorovius zählte in der Gründungszeit dazu, desgleichen etwas später der berühmte Baumeister Peter Behrens.

Mein Großvater hat den Heinzes die Berufung auf das Elend der Slums oder die Hinterhofschrecken im Wedding nie abgenommen. Denn er glaubte, daß das barmherzige Motiv erlogen war, weil seine Lebenskenntnis ihm sagte, daß die Robin Hoods dieser Welt durchweg der Literatur, fast niemals der Wirklichkeit entstammen. Infolgedessen war er bemüht, alles über Gotthilf Heinze, den er öfters «Gotthilf den Schlitzer» nannte, zu erfahren, und forschte sogar nach Hintermännern, Geheimbünden sowie vor allem nach jener wüsten, womöglich rothaarigen Schönheit, von der in manchen, wenn auch windigen Quellen die Rede war: dem «Engel aus dem Gully», wie er sie einmal, Jahre später, mir gegenüber genannt hat. Nie ist mir ganz klargeworden, ob sie das prostituierte Opfer oder eine Komplizin der Mörder gewesen war. Er glaube an die Komplizin, sagte mein Großvater und knurrte: «Bezeichnend! Die Ehefrau zieht er in den Mord hinein, die Geliebte bleibt im Hintergrund und hält sich fürs Vergnügen bereit.»

Im Mai 1895 unterzeichnete der zuständige Landrat den sogenannten Siedlungskonsens über das 600 000 Quadratmeter große Vorwerk Carlshorst, und unmittelbar darauf setzte eine Art Wettlauf um möglichst ansehnliche Parzellenstücke ein. Die philanthropische Gesellschaft des Fürsten zu Fürstenberg erwies sich als allen Konkurrenten überlegen und berief meinen damals siebenundzwanzig Jahre alten Großvater zum Geschäftsführer. Seine Aufgabe bestand darin, das erworbene Gelände in Zusammenarbeit mit Oscar Gregorovius und den Behörden als Vorort herzurichten, die Straßenverläufe festzulegen, die Grundstücke zu parzellieren und zu erschwinglichen Preisen zu verkaufen. Mit jedem Zuwachs kam ein neues Viertel hinzu: Es gab die Adelsstraßen, das Rheinische, das Sagen- sowie das Wagnerquartier und so Schritt für Schritt weiter.

Mein Großvater bewältigte seine Aufgabe mit großem Geschick, erkannte aber frühzeitig, daß der Ort über die beschaulichen Wohnverhältnisse hinaus, die Karlshorst bis in meine Jugendjahre besaß, einige Anziehungspunkte aufweisen müsse. So kamen ein Krankenhaus, eine protestantische sowie eine katholische Kirche und ein kleiner Park mit einem Seestück dazu, der über einem ehemals sumpfigen Gelände angelegt wurde und bald Spaziergänger von weit her anlockte. Auch die Treskowsche Rennstrecke wurde mit Umsicht zum Zentrum eines gesellschaftlichen Ereignisses ausgebaut. In späteren Jahren und eigentlich schon nach der Zeit meines Großvaters gelangte sogar eine Militärschule nach Karlshorst. Am Ende zählte das «Kümmernest», wie er gern sagte, oder die «öde Sandheide», wie es in einem amtlichen Papier hieß, die bei seiner Ankunft aus acht Häusern oder eigentlich Höfen mit nicht einmal einhundert Ansässigen bestanden hatte, weit über 30 000 Bewohner.

In den Jahren, in denen ich ihn bewußt wahrnahm, war der Großvater ein verschlossener, gebieterisch strenger Mann, der während der vielköpfigen Familientreffen das mitunter ausbrechende Durcheinandergerede mit einem trockenen Einwurf ins Nüchterne zurückholte. Auf der Straße sah man ihn meist im Gehrock mit Stock und Melone, was ihm schon zu jener Zeit die altmodische Aura gab, die er gern und mit störrischem Vorsatz herauskehrte. Anders als meine drei jüngeren Geschwister, die ihm nach Möglichkeit aus dem Weg gingen, suchten mein älterer Bruder Wolfgang und ich das Gespräch mit ihm, wie einsilbig es oftmals auch verlief. Denn er war ein aufmerksamer Zuhörer, der stets die weiterführenden Fragen zu stellen wußte. Eine meiner Schwestern hatte später an ihm auszusetzen, er habe ein allzu mürrisches Gesicht und «scheußlich tief herabgezogene Mundwinkel». Aber selbst sein Schweigen, fanden Wolfgang und ich, hatte Gewicht. Sein Taschentuch war immer mit ein paar Tropfen Eau de Cologne besprüht. Die Vorübergehenden grüßten ihn respektvoll und zogen mit einer tiefen, fast bis zum Knie reichenden Geste den Hut, was uns nicht selten zum Lachen brachte. Die Älteren erinnerten sich noch, daß Karlshorst zu einem Teil sein Werk war.

Die Frau an seiner Seite, meine Großmutter, war von einer zierlichen Ergebenheit und wußte mit jedem ihrer Enkelkinder auf andere, der kleinen Person angemessene Weise zu reden. Ihr Leben war nicht immer einfach verlaufen, und obwohl die vielen Kümmernisse ihre Miene gezeichnet hatten, ließ sie sich keine Unzufriedenheit anmerken; statt dessen war sie heiter und von praktischem Sinn. Sie habe Freude daran, sich nützlich zu machen, dieses Empfinden entschädige sie für alle Lasten, hörte ich sie so oder ähnlich häufig sagen. Der Ehe entstammten fünf Töchter; zu beider nie verwundenem Schmerz besaßen sie keinen Sohn. Zwei der Töchter waren in einen kirchlichen Orden eingetreten, die eine, um in einer Mission in Afrika zu arbeiten, die andere wurde, unter dem schönen Namen S. Alcantara, von ihren Oberen einem Kloster in Meran zugewiesen. Hochgewachsen, besaß sie eine Gestalt von äbtissinnenhafter Würde, wirkte dabei aber seltsam zerbrechlich. Sie hatte es «auf der Brust» und zog sich in den «kalten Klostergewölben», wie meine Mutter gelegentlich klagte, mit noch nicht dreißig Jahren eine Lungenentzündung zu, an der sie bald verstarb.

Die jüngste Tochter erkrankte 1917, mit vierzehn Jahren, während der Kriegszeit an einer Diphtherie, die zu einer entsetzlichen Verkrüppelung mit vollkommener Körpersteife führte. Die Großeltern gaben ein Vermögen bei angesehenen Fachärzten aus und suchten selbst Quacksalber für die Genesung ihrer Tochter auf, ohne je Abhilfe zu erlangen. Den lieben langen Tag lag «Tante Agnes» auf der Chaiselongue im Eßzimmer, und da sie den Kopf nicht bewegen konnte, sah sie bei jedem Eintreten aus weit zur Seite aufgerissenen Augen, über denen ein Widerschein verlorener Lebensmühe lag, reglos zur Tür hinüber. An den Abenden mußte sie von meinem Großvater, der dabei, wie ich einmal beobachtete, allen Altherrenstolz ablegte, in ihren Schlafraum hinübergetragen werden. Sprach man sie andeutungsweise auf ihr Leiden an, erwiderte sie nur: «Bitte! Ich komme zurecht!»

Die Elegante unter den Töchtern meines Großvaters war Dorothea, die wir «Tante Dolly» nannten. Sie war eine auffallende Erscheinung von schlanker Figur und wie meine Mutter in einem schlesischen Internat für höhere Töchter erzogen worden. Ihre Garderobe verriet eine Vorliebe für großflächige, bis nahe vor die Grenze des guten Geschmacks reichende Farbmuster. Sie trat zumeist mit den neuesten Hutmodellen und einem Fuchs um die Schultern auf, dessen versilberte Krallen in der Sonne blinkten. Um den Hals trug sie diskreten Goldschmuck, kannte sich im gebildeten Konversationston aus und mahnte uns häufig, nicht zu «berlinern». Mein Vater meinte, sie habe sich im kleinstädtischen Internat von Liebenthal den Sinn für die große Welt erworben, während meine Mutter Poesie und Verstand von dort zurückgebracht habe.

In der Tat galt meine Mutter, die Elisabeth hieß und von der Familie «Tetta» genannt wurde, als die Strenge unter den Schwestern. Im Widerspruch zu ihrem Auftreten aber, das selbstbewußt und nicht ohne Stolz war, besaß sie eine liebenswürdige Seite und wußte ihrem Umgang eine gewinnende Wärme zu geben. Wie mehrbödig ihr Charakter war, wurde auch daran offenbar, daß sie alle «sanfte Musik» liebte, und dem entsprachen ihre lyrischen Vorlieben. Vor allem Eichendorff und Mörike hatten es ihr angetan, dazu Heinrich Heine, nur ließ sie beim Hersagen von dessen Gedichten gern die letzten zwei Zeilen weg: «Der steht nicht zu seinen Gefühlen», meinte sie, «der schämt sich dafür. Wenn ihr älter seid und die nötige Begabung habt», wandte sie sich an meine beiden Brüder und mich, «müßt ihr zu Heines Gedichten neue Schlüsse verfassen. Dann werde ich ihn endlich ganz und gar lieben können.»

Emma Straeter, die Großmutter, aufgenommen während ihrer Jahre in Valençay

Etwas war an dem im ganzen ungerechten Urteil meines Vaters über Dolly zutreffend. Sie suchte den Auftritt. Meine Mutter setzte sich, sobald ihre herumlärmenden Kinder aus dem Haus waren, ans Klavier, improvisierte ein wenig herum und leitete dann zu ihren Lieblingsstücken über: Beethovens «Für Elise», die eine oder andere Mozart-Variation und viele Czerny-Etüden. Am Ende sang sie mit angenehmer Stimme ein paar Lieder von Schubert oder Schumann und am liebsten einige Stücke von Carl Loewe wie das über den «Herrn Heinrich am Vogelherd» oder «Die Uhr». «Warum tust du das?» fragte Tante Dolly verwundert. «Wer hat was davon? Veranstalte doch Hauskonzerte mit Gästen!» Aber dafür war «Tetta», meine Mutter, nicht zu gewinnen.

In jungen Jahren war meine Mutter durch irgendwelche elterlichen Verbindungen mehrfach zu einem der Bälle im kaiserlichen Marstall eingeladen gewesen und schwärmte bis in ihre hohen Tage von den befrackten, mit farbigen Schulterbändern ausstaffierten Kavalieren, die ihr reihum den Hof gemacht oder, verbesserte sie sich einmal, «die Cour geschnitten» hatten. Auch von breiten Ordensbrüsten war die Rede und wie man es anstellte, ein Monokel bei einem derben Scherz oder in gespielter Überraschung, vielsagend und doch jedem Eingeweihten aufschlußgebend, aus dem Auge fallen zu lassen. Und dann die Leutnants, die, wie sie ihren Gedanken nachhängend sagte, «nun mal schneidig waren – ich weiß, wieviel törichtes Rosarot aus einem Mädchenkopf ihr darin seht». Sie wußte nicht mehr, ob das Personal, das überall beflissen herumstand und die suchenden Blicke auffing, Escarpins mit Schnallen trug. «Aber die Bediensteten hatten eine unnachahmliche Art, ins Leere zu sehen, wenn mir einer der Kavaliere aus dem Mantel half. Schön, glanzvoll und oberflächlich, wie manche Barockmusik», meinte sie, nun ihrerseits mit einem Blick ins Leere, «aber vorbei, vorbei!» Doch sie weine der Zeit nicht nach; denn wer weine schon um ein zu Ende gegangenes Märchen?

Für Tante Dolly hingegen, die so gern von den «höheren Dingen» sprach und sie um ihrer Unnachahmlichkeit willen liebte, wurden das Theater und mehr noch die Musik erst im gesellschaftlichen Rahmen bedeutsam und zu Herzen gehend. Sie lebte auf beim Geraune im allmählich sich füllenden Parkett sowie beim Stimmen der Instrumente, doch genoß sie auch das Flanieren auf den Wandelgängen und vor allem wohl die soignierten Herren, die ihr mit einer leichten Körperneigung scheue oder manchmal unverfrorene Blicke zuwarfen. Darauf kam sie bisweilen mit mädchenhaftem Kichern zurück, obwohl sie schon an die dreißig Jahre alt war. Damals begann ich zu ahnen, daß es zwischen Männern und Frauen rätselhafte Einverständnisse gab, denen man später auf die Spur kommen mußte.

Alle Welt fragte sich, warum Tante Dolly, der von einem bestimmten Typ erfahrener oder, wie meine Mutter zu sagen liebte, «fatal herumgekommener» Herren überall der Hof gemacht wurde, nie einen Mann fand. Die spät ermittelte Antwort lautete, daß sie seit Jahren einer großen, sie um allen Verstand bringenden Liebe zu einem verheirateten Marineoffizier aus Kiel buchstäblich verfallen war. Sie führte um ihn ein unendliches Verstellungstheater auf. Nur meine Eltern wußten andeutungsweise davon, und wir waren nach ein paar Hinweisen, die sie uns zusteckten, gehalten, niemals auch nur ein Sterbenswort darüber zu verlieren. Als Dolly mich einmal in den Gloria-Palast am Bahnhof Karlshorst mitnahm, wo wir einen Liebesfilm mit tragischem Ausgang sahen, schneuzte sie zunächst verstohlen in ihr Taschentuch und weinte dann während der gesamten Vorstellung still, mit immer wieder tiefen Atemzügen vor sich hin. Am Ausgang bat sie mich mit angestrengt lächelndem, aber tränenzerstörtem Gesicht, sie allein zu lassen, ich würde auch ohne sie den Weg nach Hause finden.

Ein paar Tage später tauchte sie zu ungewohnter Stunde in der Hentigstraße auf und redete verlegen herum. Bei meinem Hinzukommen zog sie mich in den Salon und entschuldigte sich für ihre «Entgleisung». Als ich abwehrte, entgegnete sie, auch in ihrem Alter müsse man Fassung bewahren und, wichtiger noch, Manieren haben. «Meine Heulerei war nicht manierlich.» – «Die stolze Tante Dolly!» dachte ich. Aus jedem ihrer Worte meinte ich mit meinen vierzehn Jahren herauszuhören, wie sehr sie meine Mutter beneidete. Die war Ende 1919 als Assistentin in das Bankhaus Bleichröder eingetreten und jeden Tag in die Innenstadt gefahren. Dort hatte sie Menschen kennengelernt, auch Erfahrungen gesammelt und war sogar eine Karrierestufe weitergekommen.

Tante Dolly dagegen hatte ihrem Ehrgeiz von frühauf Grenzen gezogen und war Bibliothekarin geworden, weil sie dem Werben jenes unseligen Marineoffiziers erlegen war, mit dem sie sich eine gemeinsame Zukunft versprach. «Tetta» wiederum war eine untheatralische Natur, sie brauchte in ihrer Zurückhaltung weder die emotionalen noch die gesellschaftlichen Auftritte. Sie sei keine Diva, hörte ich sie einmal zu einem der Freunde meines Vaters sagen, der ihr vorhielt, zu wenig von ihren Gefühlen herzumachen, und eine Zeitlang wurde die Äußerung zu einem geflügelten Wort: «Mama ist keine Diva!» Kaum zwei Jahre nach ihrem Eintritt in das Bankhaus hatte sie meinen Vater kennengelernt, sich, wie sie gern erzählte, «mädchenhaft in ihn verguckt», dann «ein bißchen in ihn verliebt», anschließend sogar «groß in ihn verliebt» und ihn bald darauf geheiratet. Alles «ganz überraschungslos», alles ganz «normal», meinte Tante Dolly manchmal, und vielleicht sogar etwas langweilig; aber wie viel glückversprechender als ihr eigenes Dasein.

Auf der väterlichen Seite waren die Verhältnisse ungleich ferner und komplexer. Soweit die Daten sich verfolgen lassen, das heißt bis ins 17. Jahrhundert, stammten die Vorfahren aus dem Marktflecken Liebenau in der Neumark; die nach den Zerstörungen des Dreißigjährigen Krieges 1654 neu angelegten Kirchenbücher nennen in den siebziger Jahren erstmals ihren Namen. Sie hatten sich meist als Handwerker oder Gewerbetreibende und in einem Zweig der Familie auch als Brauereibesitzer ihren Lebensunterhalt verdient. Viele von ihnen waren die Generationen hindurch als «Ratsbeflissene», Kirchenvorsteher oder «Dorfschulzen» tätig gewesen. Auch die in der Familie geläufigen Vornamen deuten auf höhere Ansprüche hin. In jeder Geschlechterfolge gab es eine Rosina, viele der weiblichen Vorfahren hießen Cäcilia oder Justina, und mein Großvater trug die nach barocker Tradition latinisierten Vornamen Robertus Tiburtius. Er war ein lebenslustiger, ausgelassener Mann, der, wie es einmal hieß, jeden «Tanzboden in Unruhe versetzte». Als jung Verehelichter war er, getrieben von zeitgenössischem Siedlerehrgeiz, in die Provinz Posen gezogen und hatte dort eine größere Landwirtschaft erworben. Schon im Jahr nach seiner Ankunft war er, obwohl erst Mitte Zwanzig, Bürgermeister geworden und bei Deutschen wie bei Polen gleichermaßen angesehen. Indessen kam seine Frau mit den polnischen Verhältnissen nicht zurecht, und folglich zog die Familie um 1895 mit ihren inzwischen sieben Kindern nach Liebenau zurück. Dort erwarb mein Großvater in der Nähe des Dorfes eine Getreidemühle.

Er starb, noch ehe wir ihn annähernd kannten, Anfang der dreißiger Jahre, und deshalb bleibt die Erinnerung an ihn eine unentwirrbare Mischung aus Erzähltem und Erlebtem. Sooft wir ihn zu Gesicht bekamen, lief er wie ein Schatten durch die Räume, stumm und geisterhaft auf seinen Gehstock gestützt, unsere Streitereien mit einem im Vorübergehen beiläufig dahingesprochenen «Na, na!» bedenkend. Zu einer Äußerung ließ er sich nur bewegen, wenn mein Vater ihn bat, eines der Märchen aus der Sammlung der Brüder Grimm, die er in Kindertagen gelernt hatte, wortgetreu vorzutragen oder am Sonntagabend das Evangelium aus der Morgenmesse aufzusagen. Dann schloß er kurz die Augen und begann: «Zu der Zeit, da wieder viel Volk da war und sie nichts zu essen hatten …» Als wir zur Beerdigung in Liebenau eintrafen, lag er im Hof seines Hauses aufgebahrt, ein uralter, im Tod zusammengeschrumpfter, fremd und brüchig wirkender Mann.

Der Sarg war für die Aussegnung noch einmal geöffnet worden, und die tiefgekrümmte, auf einen Stock gestützte Großmutter machte sich in einer letzten dienstbaren Geste an einigen überhängenden Zipfeln und Stoffenden zu schaffen. Wir Kinder sahen von dem Toten, der mit leicht geöffnetem Mund in den spitzenbesetzten Leichentüchern versank, nur die obere knochige Gesichtspartie. Nach dem feierlichen Räuspern in der Runde, das solchen Ritualen vorangeht, sprach der Priester die Exequien und lief die Trauergemeinde mit seinem Weihwassergerät ab, während unbeteiligt hantierende Bauernburschen den Sarg schlossen und durch die Hoftür auf die Straße zu dem wartenden Pferdefahrzeug schafften. Fast fünfzig Jahre später erinnerte sich mein jüngerer Bruder Winfried, daß ihn weit mehr als die vor sich hin weinende Großmutter oder die im Halbkreis um den Sarg und die Blumenberge versammelte psalmodierende Verwandtschaft eine Fliege gefangennahm, die auf dem wächsernen Gesicht des Toten hin und her eilte und mehrfach in der dunklen Mundhöhle verschwand. Auch mir war die Beobachtung unvergeßlich geblieben.

Der Großvater war ein nüchterner, im Leben bewährter Mann gewesen, wie mir später des öfteren erzählt wurde, eine unter seinesgleichen hochgeachtete Person, von der in den Ratsversammlungen häufig das endgültige Wort erwartet und auch gesprochen wurde. Mein Vater liebte es, eine Geschichte aus seinen Jugendjahren zu erzählen, die den rauhen Wirklichkeitssinn des Großvaters veranschaulichte. Sie hätten, fünf oder sechs der schließlich elf Kinder, zusammen mit dem Großvater um den Küchentisch gesessen, als einer der Brüder die Frage aufwarf, was jeder von ihnen mit dem riesigen Geldbetrag anfangen wolle, der ihnen durch Gott, Engelsmacht oder Zufall demnächst in den Schoß fallen werde. «Das große Los!» rief er. «Es wird uns beschert! Es wird Geld regnen! Denkt an meine Worte!» Der zwölfjährige Franz erklärte der fassungslosen Runde auch gleich, was er mit dem Geld vorhabe: In die Stadt werde er gehen und sich im Gasthof von Linkes Kurt, umgeben von schönen Frauen, die besten Weine und Liköre leisten; der ältere August bekannte, er werde der lustigen Maria Zietsch aus dem Nachbarort das teuerste Kleid kaufen und dann hoffentlich wagen, sie erstmals anzusprechen; Cäcilie meinte, sie werde sich eine Schneiderei mit modernen Maschinen anschaffen und mindestens fünf Nähmädchen einstellen. Und so einer nach dem anderen, bis der schmächtige, immer etwas verhungert wirkende Roni sich meldete: «Und ich werde mir», erklärte er unter vielfachem Schlucken, «für das ganze Geld Schlackwurst kaufen, siebzig Schlackwürste oder sogar hundert, solange das Geld reicht. Den lieben Tag lang, einen Monat, ach was, ein ganzes Jahr sogar, werd ich Schlackwurst in mich reinstopfen. Eine nach der anderen!»

Das war wie eine Parole. Alle sprangen auf und stimmten begeistert zu: Schlackwurst – ja! Das sei kolossal! Immerzu Schlaraffenland! riefen sie durcheinander. Bis der Großvater, der die ganze Zeit geschwiegen hatte, zum Kachelofen hinüberging, seinen Stock von der Kante nahm und das Geschrei mit einem gewaltigen Hieb auf den Tisch zum Verstummen brachte. Ohne die anwesende Tochter zu beachten, schrie er die übermütige Bande an: «Werdet ihr verdammten Bengels mal Brot zur Wurst essen! Man ißt die Wurst nicht ohne Brot!»

Die Deutung der Geschichte gewann mein Vater aus seinen eigenen Erfahrungen. Man dürfe Träume haben, Luftschlösser bauen – alles erlaubt! Aber man müsse immer auf dem Boden bleiben! Als hochbegabter Schüler hatte er mit fünfzehn Jahren «etwas mit Religion oder Mathematik» studieren wollen. Danach schwankte er lange, ob er seiner Naturliebe folgen und Fischer oder Förster werden solle. Als er sich schließlich auf Drängen seines Vaters zum Lehrberuf entschloß, meinte der etwas ältere Nachbarssohn, es sei doch ewig schade, daß ein Junge mit seiner praktischen Begabung einen typischen «Faulenzerberuf» wähle. Angesichts seiner Befähigungen wurden ihm beim Eintritt in die höhere Schule zwei Klassen und später, beim Abschluß, die mündlichen Prüfungen erlassen; nach einigen Lehramtsstationen erlitt er gleich zu Beginn des Ersten Weltkriegs in Frankreich eine mittelschwere Verwundung, kehrte in den Lehrberuf zurück und fand sich alsbald in Berlin wieder. Politisch von frühauf engagiert, hatte er 1919 in den südlichen Bezirken der Hauptstadt mehrere Ortsverbände der katholischen Zentrumspartei gegründet und war hier, wie später in der militanten Organisation zum Schutz der Republik, dem «Reichsbanner», in führende Positionen gelangt.

Er war ein hochgewachsener Mann mit starkem Ausdruck, und das «Fotografiergesicht», wie Wolfgang, mein älterer Bruder, und ich spotteten, das er auf den meisten Bildern zeigt, verrät nur Strenge und Entschiedenheit, läßt aber nichts von dem heiteren Wesen und sogar der Vergnügtheit ahnen, die aus der Übereinstimmung mit sich selbst kommt. Einer seiner Freunde sagte einmal, er sei die seltene Mischung von Energie, Selbstbewußtsein und Heiterkeit. Sein scharfsinniger Witz konnte bis zur Ausgelassenheit reichen. Jugendfreunde, die ich im Rückblick nach dem Eindruck fragte, den sie von ihm bewahrt hatten, sagten mir oft, sie seien als Kind mit kaum einem Erwachsenen so gern zusammengewesen wie mit ihm, weil er so verrückte Geschichten erzählen und alberne Lieder vortragen konnte. Fast alle sprachen, in diesen oder ähnlichen Begriffen, von seinen unterhaltsamen Eigenschaften und seiner Lust am Schabernack. Freilich litt er manchmal unter seinem zornigen Temperament, und das mag den Grund gehabt haben, daß seine Gutgelauntheit nicht allein aus der inneren Ausgeglichenheit kam, sondern auch etwas mit der Gewißheit zu tun hatte, mit allen Schicksalsnöten fertig zu werden.

Zu sagen ist auch, daß mein Vater ohne jeden sozialen Dünkel war und mit der Bäckermamsell so unbefangen plaudern wie mit dem Ministerialbeamten ernste Staatsdinge bereden konnte, daß er mit dem Universitätslehrer so aufgeräumt umging wie mit den Kindern an unseren Geburtstagen. Er sang gern und hatte vom «Prinzen Eugen» bis zum vergessenen, nur in der akademischen Festouvertüre von Johannes Brahms melodisch überlebenden «Ich hab’ mich ergeben …» ungezählte Lieder im Kopf. Zum Ende einer Gesangsrunde präsentierte er mit Vorliebe Kurfürstendamm-Chansons, die etwa, wie ich mich erinnern kann, die Behauptung unvergeßlich machten, daß «mein Papagei keine harten Eier frißt», ein andermal die Frage stellten, was, um Himmels willen, der Mayer am Himalaya treibe oder, noch ein andermal, eine Freundin namens Titine besangen, von der ihr Liebhaber, wohl nicht zuletzt des Reimes wegen, kühn behauptete, daß sie in seinem «Lebenskuchen» nichts Geringeres als die «Rosine» sei. Er lachte gern und konnte einen Tisch abendelang mit geistvollen oder, wenn es sein sollte, auch schlichten Anekdoten erheitern.

Herkunft, Lebensweg und Überzeugungsstärke hatten meinem Vater vier Bestimmungen vermacht, von denen keine zu den anderen zu passen schien und jede gegenüber den drei übrigen ihre Unduldsamkeiten ausgebildet hatte. In seinem Falle jedoch wurden alle Widersprüche durch die Kraft der Persönlichkeit zusammengehalten, und jede einzelne dieser Denklinien hat einen Teil zu seiner Unnachgiebigkeit gegenüber dem NS-Regime beigetragen. Trotz der Unzulänglichkeiten der Gründung von Weimar, die ihm deutlich vor Augen standen, war er ein überzeugter Republikaner. Die Nöte des Augenblicks dürften niemals das Prinzip in Frage stellen, hörten wir ihn verschiedentlich sagen, und jedes von uns Geschwistern hat später seine Empörung erlebt, als nach dem Ende der Hitlerdiktatur das weitverbreitete Rechtfertigungsargument auftauchte, man habe 1932/​33 nur die Wahl zwischen NSDAP oder KPD gehabt und sich mit Hitler für das geringere Übel entschieden. Hätte man sich nicht klüger und vor allem verantwortungsbewußter für die Republik entscheiden können, widersprach er dann, ob nun für die SPD, das Zentrum oder für die Liberalen? In Wirklichkeit habe es damals allen, die später von einer Situation ohne Ausweg sprachen, an Verstand und an Staatstreue gefehlt. Außerdem an kämpferischer Entschiedenheit. Denn mein Vater war in seinem Republikanismus immer militant gewesen; er wollte sich gegen die Sturmtrupps der SA nicht nur mit Worten, sondern auch mit der Faust zur Wehr setzen. Nach den Wahlgewinnen der NSDAP vom 14. September 1930 hat er deshalb mit seinem Freund Hubertus zu Löwenstein über die Bildung einer republikanischen Jugendbewegung beraten, aus der kurz darauf, in sichtlich staatssymbolischer Namengebung, der «Vortrupp Schwarz-Rot-Gold» hervorgegangen ist.

Daneben war er ein überzeugter Preuße, wenn auch ohne viele Worte darüber zu machen. Die zahlreichen Altpreußen, die es zumindest in den einstigen Herrschaftsländern der Friedrichs und der Wilhelms gab, waren überwiegend königlich gesinnt und taten sich schwer mit der Republik. «Doch ich bin kein Stockpreuße», höhnte mein Vater, «und nicht sentimental genug, um dem ‹Ausreißer› Wilhelm Zwo nachzutrauern.» Der Begriff, den er vom Preußischen habe, sagte er gelegentlich, sei von ziemlich unzeitgemäßer Art. Neben dem bekannten Pflichtenkatalog gehöre die freiwillige Anspruchsbeschränkung dazu, der Verzicht auf Wehleidigkeit und die Fähigkeit zur Lebensbewältigung durch eine «Prise» Ironie. «Vergeßt mir bloß die Ironie nicht!» ermahnte er uns des öfteren. «Sie ist das Eintrittsbillett ins Menschliche. Nach außen zeigt man den Ernst, den die Lage verlangt, doch im Innern schnippt man den Verdruß mit dem Finger weg.»

Zwar war er kritisch genug zu wissen, daß Preußen mit seinem vielgepriesenen Ethos für nichts als sich selbst stand, daß es ohne menschheitliche Idee war. Nicht selten belustigte er sich über die verschiedentlich angestellten Versuche, ihm eine «Seele» oder gar eine «Mission» zu geben. Als zivilisierende Mächte ließ er nur das antike Griechenland und Rom gelten. Was hätten denn, fragte er einmal bei Tisch, Spanien, England oder Frankreich der Welt außer dem kleinen Offiziersstöckchen, dem Fünfuhrtee, dem Inka-Gold und ein paar schönen Phrasen gegeben? Alles in allem sei es bei jeder dieser Weltmächte um Ausbeutung mit ein bißchen humaner Dekoration gegangen, da sei ihm der ungeschönte Überlebenswille, der Preußens ganze Staatsidee war, immer noch lieber. Sie raubten auch, aber sie logen wenigstens nicht. «Einen Knicks für Preußen», schloß er bei Gelegenheit und mit einem Lachen; es stehe, aufs Ganze gesehen, in der Welt gar nicht so schlecht da.

Als ich ihn Jahre später noch einmal auf seine Vorliebe für ironische Pointen ansprach, erwiderte er, Ironie mache fast alles im Leben erträglicher, sogar die im Grunde «erkältende Staatsluft» in Preußen. Unvergeßlich blieb uns Geschwistern, wie der Zug auf der jährlichen Fahrt zu den Verwandten in der Neumark an einem kleinen, vom Horizont fast verschluckten Dorf vorüberkam und mein Vater uns ans Abteilfenster rief: «Was ihr dahinten seht», bemerkte er, «ist die Silhouette von Kunersdorf, wo Friedrich der Große die schrecklichste Niederlage des gesamten Siebenjährigen Krieges erlitt. Die Preußen», fuhr er fort, «zu denen ich in diesem Ausnahmefall nicht zähle, behaupten immer, daß nach jedem Kunersdorf ein Leuthen kommt, mit Triumph, Fanfarenton und dem Choral ‹Nun danket alle Gott›!» Das klinge erhebend und erfülle das Stockpreußenherz mit Stolz. «Leider», setzte mein Vater nach einer wohlbedachten Pause hinzu, «stimmt die schöne Geschichte nicht. Denn die Schlacht von Leuthen fand 1757 statt, während Friedrich die fürchterliche Niederlage von Kunersdorf, deren desaströse Folgen nur durch den Thronwechsel in Rußland vermieden wurden, erst zwei Jahre später ereilte. Aber», schloß er dann, «ein wenig Mogelei muß schon dabeisein, wenn die Preußen dem Mirakel des Hauses Brandenburg immer noch ein weiteres hinzuerfinden.»

Vertrugen sich Preußentum und Republikanismus bereits nur unter Schwierigkeiten, wurde der Widerspruch noch durch den strengen Katholizismus meines Vaters verschärft. Er war ein frommer Mann, der dem «Herrgott», wie er in diesem Zusammenhang meist sagte, für jede seiner privaten oder politischen Entscheidungen Rechenschaft schuldete. Schon aufgrund seiner zahlreichen Ämter pflegte er enge Beziehungen zu den Bistumsoberen und traf mehrfach mit dem Nuntius Kardinal Pacelli zusammen. Dem Zentrumskanzler Brüning hielt er zugute, typologisch wie politisch die Versöhnung von Preußentum und Katholizismus zu betreiben; wäre ihm das gelungen, hat er im Rückblick gemeint, wäre vieles anders gekommen. Er war befreundet mit dem Dompropst Lichtenberg, der in frühen Jahren als Kuratus in Karlshorst gelebt hatte und 1941 wegen seines Protests gegen die Euthanasie und seiner öffentlich veranstalteten Gebete für die verfolgten Juden in ein Konzentrationslager geschafft worden war, bevor er zwei Jahre später während eines Häftlingstransports nach Dachau auf ungeklärte Weise umkam. Ohne seine sonstige Gelassenheit, mitunter sogar wie erfaßt von der Wagenburg-Mentalität der Diasporakatholiken, vertrat mein Vater das katholische Interesse. Bezeichnenderweise hat er, der fast alle menschlichen Schwächen hinnahm, niemals die schmähliche Rolle verwunden, zu der sich die Führungsfiguren seiner Partei, Franz von Papen und der Prälat Ludwig Kaas, aus Ehrgeiz und Opportunismus im Verlauf der sogenannten Machtergreifung überreden ließen.

Und schließlich war er ein bekennender Bildungsbürger, die folgenden Seiten werden manchen Beleg dafür beibringen. Zwar stand der Begriff zu jener Zeit noch nicht in dem Verruf, der ihm inzwischen anhaftet. Aber ein altmodisches Wesen meinte das Wort damals schon. Nach den Nazijahren ist das Bildungsbürgertum zu einer der hauptschuldigen Gesellschaftsmächte für den Aufstieg Hitlers gemacht worden; dem genaueren Blick allerdings spiegelt die Anklage lediglich das Ressentiment verwöhnter Kinder, die darauf aus waren, sich moralisch über ihre Eltern zu erheben und alle Bildung als unnütze Anstrengung zu verleumden. Die Sozialwissenschaft hat unterdessen herausgefunden, daß nicht einmal ein Prozent der Bevölkerung dem Bildungsbürgertum zuzurechnen war. Doch bei der ersten, noch halbwegs freien Wahl vom 5. März 1933 wurde die Hitlerpartei von weit über vierzig Prozent der Stimmberechtigten gewählt.

Die deckenhohen Bücherwände spiegelten erkennbar die Interessen meines Vaters. Nur über dem Schreibtisch gab es eine Lücke, in der neben einigen Familienfotos und dem Schattenriß Goethes mit dem erhobenen Zeigefinger vor dem jungen Fritz von Stein ein Stich nach Raffaels «Schule von Athen» hing: mit Pythagoras und Sokrates, Platon und Aristoteles, der eine auf den Himmel, der andere auf die Erde deutend, wie mein Vater fast jedem Gast zu unserer Belustigung erläuterte, und am rechten Bildrand hatte sich Raffael selbst porträtiert, wie uns ebenso regelmäßig hergesagt wurde. Vor dem Görresgemälde auf der Gegenseite, über dem auf einem Wandpodest eine Dante-Bronze stand, pflegte mein Vater zu versichern, wie Görres habe er sein Leben lang sein wollen: aufsässig in den frühen Jahren, antreibend während der Mitte des Lebens und bewahrend ab vierzig. Dabei müsse aber auch die Zeit mitmachen. Bei ihm habe sie sich allzuoft quergestellt.

«Doch noch ehe die Verfassung verabschiedet war, dunkelte der Himmel ein», wie er sagte. Der erste schockartige Stoß kam durch den Friedensvertrag von Versailles, und es waren nicht so sehr die drakonischen Bedingungen, die schwer wogen. Größere Empörung lösten die «demütigenden Umstände» aus, die der deutschen Delegation zugemutet wurden, von dem Dienstboteneingang, durch den sie das Verhandlungsgebäude betreten mußte, bis hin zu den schwer Gesichtsverletzten, die in einem Akt berechnender Kränkung am Zugang zum Sitzungsraum postiert waren. Diese und ähnliche Inszenierungen sollten den mit dem «widerwärtigen Hochmut des schlechten Siegers» formulierten Artikel 231 des Versailler Vertrags rechtfertigen, meinte er: die Behauptung, daß Deutschland die Alleinschuld am Krieg trage. In Wahrheit belegten die Mächte mit alledem nur, daß «sie ihrem Sieg nicht gewachsen» waren. Die Republik komme «mit einer Narrenkappe» aus Versailles zurück, lautete ein alsbald geflügeltes, mit Hohn und Erbitterung verbreitetes Wort.

«Es gab noch einmal eine große Stunde», fuhr er, wann immer die Rede darauf kam, in seinen Erinnerungen fort. Das sei beim Ausbruch des Kapp-Putsches im März 1920 gewesen, und damals sei der jungen Republik sogar ein Sieg beschert gewesen. Der Staatsstreich der alten «Schnauzbärte» sei nicht nur am Generalstreik der Arbeiter, sondern auch am mehr oder minder geschlossenen Widerstand der breiten Menge gescheitert. Da sei der Republik der lange vermißte Gründungsakt doch noch gelungen, habe er in seinen Reden wieder und wieder erklärt, und die Zuhörer hätten sich dabei manchmal sogar beifallklatschend von den Stühlen erhoben. Aber die Republik habe nichts mit dem Geschenk anzufangen gewußt. Immerhin hätten er und seine Freunde in den Festsälen und größeren Kneipen von Neukölln, Kreuzberg und Charlottenburg den Sieg gefeiert. Endlich, hätten sie alle geglaubt, sei ihre Sache gesichert. Die Bewährungsprobe schien bestanden.

Er nahm alles ungemein ernst. Nachdem er sich über die junge Frau, ihre Familie und deren Lebensumstände vergewissert hatte, begann er eines Tages, sich eine ohne alles Stottern ablaufende Wendigkeit in der französischen Konversation anzueignen, und bevorzugte eine Zeitlang unterhaltende Literatur mit ausgedehnten Dialogpartien: Er habe sich auf diese Weise, behauptete mein Vater später im Scherz, auf das herkömmliche «Schwiegereltern-Mißtrauen» vorbereitet. Denn nicht auszuschließen schien ihm, daß die strengen Straeters ihn in Verlegenheit versetzten, indem sie wie unabsichtlich plötzlich ins Französische hinüberwechselten und sich erst nach längerem Reden für den kleinen Mißgriff entschuldigten. Dem habe er sich nicht aussetzen wollen, fügte er lachend hinzu.

Eines Tages sagte sich mein Vater überraschend bei den Straeters an. Anders als er erwartet hatte, war der Salon mit hellen Möbeln eingerichtet. Dekoriert mit Blumenvasen und bunten Porzellanfiguren von Liebespaaren, Harlekins und Schäferinnen, schien die Einrichtung in ihrer Leichtigkeit kaum zum strengen Bild meines Großvaters zu passen. Zwar war der Besuch, wie mein Vater fand, voller Verlegenheitsfallen, dennoch verlief die Begegnung einfacher als befürchtet. Die künftigen Schwiegereltern besaßen französische Courtoisie, und da sie sich ausrechnen konnten, warum der junge Mann bei ihnen vorsprach, boten sie ihm zunächst einen leichten Likör an und halfen ihm auf alle denkbare Weise, die Lage zu bestehen. Als er sich, unvermittelt und plötzlich ins Förmliche wechselnd, aus seinem Sessel erhob, baten sie ihn, Platz zu behalten. Der Gast indessen erwiderte, was er vorzubringen habe, sage er besser im Stehen, während sie gut daran täten, um ihres Wohlbefindens willen sitzen zu bleiben. Die Stimmung lockerte sich daraufhin, so daß mein Vater alle Steifheit abtun und die Worte, mit denen er um die Hand der Tochter Elisabeth bat, ohne Umstände loswerden konnte.