Cover

Barbara Rendtorff, Claudia Mahs, Anne-Dorothee Warmuth (Hg.)

Geschlechterverwirrungen

Was wir wissen, was wir glauben und was nicht stimmt

Campus Verlag

Frankfurt/New York

Über das Buch

In Geschlechterfragen kann jede*r mitreden – und ist dabei oft von Irrtümern und Vorurteilen geleitet. 32 Autorinnen und Autoren befassen sich in diesem Band mit unserem Wissen, Glauben und Nichtwissen zu Geschlecht und »Gender«. Die Beiträge, die von historischen über philosophische und körperbezogene bis zu politischen Themen reichen, wollen sachkundig informieren, seriös aufklären – und auch ein wenig verwirren, indem sie ihren Gegenstand von unterschiedlichen Seiten betrachten und dabei zeigen, was wir nicht wissen.

Vita

Barbara Rendtorff ist Seniorprofessorin am Institut für Allgemeine Erziehungswissenschaft der Goethe Universität Frankfurt am Main. Claudia Mahs, Dr. phil., ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Erziehungswissenschaft an der Universität Paderborn und Geschäftsführerin des Zentrums für Geschlechterstudien/Gender Studies. Anne-Dorothee Warmuth ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Erziehungswissenschaft und dem Zentrum für Geschlechterstudien/Gender Studies an der Universität Paderborn.

Inhalt

Vorwort

Geschlecht, Kultur, Religion

Barbara Rendtorff: Was ist eigentlich so ›besonders‹ an Geschlecht und Geschlechtlichkeit?

Der Leib und das Sexuelle

Geschlecht und Gesellschaft

Das Besondere

Literatur

Edgar Forster: Männlichkeit denken

Welches Wissen über Männlichkeit?

Männlichkeit und Reproduktion

Fazit

Literatur

Beate Rössler: Gleichheit, Gerechtigkeit, Differenz: Warum sollte Ungleiches gleichwertig sein?

Gleichheit vs. Differenz

Privat und öffentlich

Literatur

Cornelia Helfferich: Patriarchat, Alter und Geschlecht

Literatur

Heidemarie Winkel: Religiöse Symbolisierung und kulturelle Codierung von Geschlecht

Kulturelle Geschlechtercodes und religiöse Codierung

Religiöse Geschlechterverhältnisse in Bewegung

Abschluss

Literatur

Helga Kuhlmann: Gott, Gottesbildlichkeit und Geschlecht. Eine christliche Perspektive

Männlichkeit Gottes?

Bilderverbot, Gottesbildlichkeit und Geschlecht

Weiblichkeit und Männlichkeit in der trinitarischen Gottesvorstellung

Plurale Geschlechtlichkeit in personalen Gottesmetaphern

Literatur

Elisa Klapheck: Die richtende Gewalt ist weiblich. Liebe und Kraft in der Kabbala

Chessed und Gewura – Liebe und Kraft

Literatur

Bettina Dennerlein: Paradoxien eines befreiten Begriffs der Frauenbefreiung. Die »neue Araberin« und der Islam

Literatur

Arrangements der Geschlechter

Brigitte Röder: Beutejäger und Nesthüterin – trügerische Orientierung an einem steinzeitlichen Traumpaar

Klare Verhältnisse in der Urzeit?

Die Steinzeit: Sehnsuchtsort versus historische Epoche

Der Jäger und die Sammlerin: ein bürgerliches Ehepaar

Archäologische Geschlechterforschung: Überraschungen garantiert

Was können wir aus der Urgeschichte tatsächlich lernen?

Literatur

Margret Karsch: Was ist Feminismus?

Literatur

Damaris Nübling: ÜberEmpfindlichkeiten? Die Geschlechter in der Sprache

Genus verweist sehr wohl auf Geschlecht, und dies äußerst verlässlich und komplex

Lächerliche Sprachgebilde?

Immer wiederkehrend: das Raucherinnenabteil und die Salzstreuerin

Haben wir keine größeren Probleme?

Literatur

Anne-Dorothee Warmuth: Hat die Zeit ein Geschlecht?

Literatur

Mechthild Bereswill: Konkurrierende Männlichkeitsversionen und soziale Ungleichheiten

Literatur

Sebastian Winter: Die Beharrlichkeit des männlichen Habitus

Literatur

Sarah Speck: Paradoxien der Modernisierung

Literatur

Friederike Kuster: Leben wir schon im Post-Patriarchat?

Literatur

Körper, Leib und Sexuelles

Ilka Quindeau: Männlich, weiblich, divers?

Literatur

Volkmar Sigusch: Neosexuelle Revolution

Literatur

Charlotte Busch: Erziehung zum Geschlecht

Von rätselhaften Botschaften zum Triebschicksal

Literatur

Paula-Irene Villa: Bodies matter. Zur Materialität und Relevanz von (Geschlechts-)Körpern

Literatur

Sigrid Schmitz: Wie sozial sind die Gene? Potenziale und Grenzen der Epigenetik für die Genderfrage

Epigenetik für die Genderforschung?

Verantwortungen

Mütterliche Verantwortung

Biologisierung des Sozialen

Epigenetische Potenziale und Grenzen für den Geschlechterdiskurs

Literatur

Kerstin Palm: Gibt es geschlechtsspezifische kognitive Fähigkeiten?

Eine Antwortsuche für die Bereiche Sprachbegabung und mathematische Begabung

Mathematische Begabung

Sprachbegabung

Zwischenfazit

Mögliche biologische Ursachen

Mögliche sozialpsychologische Ursachen

Fazit

Literatur

Gabriele Mentges: Sichtbar werden: Geschlechterstrategien in der Mode

Longue durée – die Dauer modischer Geschlechtersymbolik

Mode im globalen Kontext

Forschungsstand

Literatur

Gesellschaft und Politik

Ute Frevert: Die Macht der Scham

Opfer/Täter

Machtverhältnisse

Das Schweigen der Opfer

Demütigung als Autonomieverlust

MeToo – Leistungen und Versäumnisse

Mike Laufenberg: Was ist queer?

Gesellschaftspolitischer Hintergrund

Queer als Gesellschaftskritik

Queer als Ehe- und Familienkritik

Der queere Horizont

Literatur

Barbara Rendtorff: Frauen-Bewegungen

Literatur

Annette Henninger: Arbeit und Einkommen

Gender Pay Gap

Gender Time Gap

Gender Pension Gap

Fazit: Zurück in die Zukunft – oder großer Sprung nach vorn?

Literatur

Imke Schmincke: Unerklärliche Erregungen – Antifeminismus

Literatur

Meike S. Baader: Wie kommt die Geschlechterforschung an die Hochschulen und was soll sie dort?

Literatur

Catrin Dingler: Who cares? Autonomie und Achtsamkeit

Literatur

Laura Klein: Elternschaft zwischen Recht und Realitäten

Begriffliches

Rechtlicher Rahmen der assistierten Reproduktion

Eltern-Kind-Zuordnung in Zeiten der Reproduktionsmedizin

Verfassungsrechtliche Vorgaben

Elternschaft nach heterologer Befruchtung: die Rechtsposition des Samenspenders

Gleichgeschlechtliche Elternschaft

Mehrelternschaft

Elternschaft nach Leihmutterschaft im Ausland

Ausblick

Literatur

Friederike Kuster: Bringen die Reproduktionstechnologien die Familie zum Verschwinden?

Literatur

Anhang

Über die Autor*innen

Vorwort

Was wir ›wissen‹ – das ist manches Mal eher ein Glauben-zu-wissen, ein Dafürhalten, ein Das-weiß-man-doch, das weiß doch jeder ! Und dann verwechseln wir Glauben und Wissen, ohne es zu merken, und ›wissen‹ zuletzt etwas, was gar nicht ›stimmt‹ – wissen also etwas, was man eigentlich gar nicht wissen kann, eben weil es nicht stimmt. Gerade in Bezug auf Geschlechterfragen meinen die meisten Leute, sich auszukennen – betrifft es doch alle auf irgendeine Weise. Und wer glaubt, etwas zu wissen, prüft es auch eher nicht nach.

Diese Erfahrung hat uns zu dem vorliegenden Buch motiviert. Die 32 Texte, die hier versammelt sind, befassen sich mit Fragen und Themen, bei denen das, was wir wissen, was wir glauben und was wir nicht wissen, häufig durcheinander gerät und sich vermischt. Die Beiträge, die von historischen über philosophische, von körperbezogenen bis zu politischen Themen reichen, wollen sachkundig informieren, seriös aufklären – und auch selber ein wenig verwirren, indem sie ihren Gegenstand von unterschiedlichen Seiten betrachten und entfalten und immer wieder zeigen, was wir nicht wissen.

Wir wünschen unseren Leser*innen eine vergnügliche, interessante und durchaus auch lehrreiche Lektüre!

Die Herausgeberinnen

Geschlecht, Kultur, Religion

Was ist eigentlich so ›besonders‹ an Geschlecht und Geschlechtlichkeit?

Barbara Rendtorff

Das Besondere an Geschlecht, um das gleich vorwegzunehmen, ist die verwirrende Verquickung einer existenziellen Dimension mit einem riesigen Überbau von Zuschreibungen, Ausgestaltungen von ›männlich‹ und ›weiblich‹, die historisch veränderlich sind, den Individuen aber gleichwohl als authentisch, naturwüchsig und normal erscheinen.

Verwirrend ist diese Verquickung, weil sie den Einzelnen die Herausbildung einer eigenen Geschlechtlichkeit erschwert, und weil sie ein spezielles ›logisches‹ Problem aufwirft: Auf der existenziellen Ebene sind bekanntlich zwei unterschiedliche Elemente notwendig, um Leben hervorzubringen – Samen und Eizelle, ein männliches und ein weibliches. Sonst gäbe es uns alle nicht. Dies scheint nun insgesamt eine zweigeschlechtlich geordnete Struktur nahezulegen, den Kurzschluss: Was an dieser Stelle stimmt, müsse auch für alles andere gelten. Aber dieser Schluss, so naheliegend er erscheinen mag, ist keineswegs zwingend – und das zu durchdenken, ist deutlich schwieriger als ein schlichtes Eins-zu-Eins von Natur und Kultur anzunehmen.

Nicht zuletzt deshalb neigen viele dazu, sich den jeweiligen Erklärungen anzuschließen, die ihnen in ihrer Zeit und Umgebung als naheliegend und plausibel angeboten werden – und deshalb finden sich eben auch historisch höchst unterschiedliche ›plausible Erklärungen‹, die verdeutlichen, wie widersprüchlich, sogar antagonistisch hier argumentiert wird, und doch jeweils im Duktus einer ›Wahrheit‹. Hierzu einige Schlaglichter.

Der Leib und das Sexuelle

Die existenzielle Dimension der menschlichen Natur, die Geburtigkeit, hat als Kehrseite natürlich auch die Sterblichkeit – Menschen müssen sterben, weil sie geboren wurden, sonst wären sie wie die Götter unendlich. Auch die Endlichkeit ist also im Bedeutungshorizont des Sexuellen enthalten, ebenso wie das Unplanbare, Unvernünftige der erotischen Anziehung und das auflösende, entgrenzende Moment im sexuellen Genießen. Dies scheint mir ein Grund dafür zu sein, warum Geschlechtlichkeit in unserer Gesellschaft so dramatisiert und kontrolliert wird – ist sie doch ein lebendiger Einspruch gegen Abgegrenztheit, Steuerbarkeit, Plan- und Beherrschbarkeit und damit eine Quelle ständiger Beunruhigung: Je unsicherer das Gefüge einer Gesellschaft, desto rigider kontrolliert sie den Bereich des Sexuellen.

Auch die routinemäßige Verknüpfung von Sexualität und Begehren mit einem andersgeschlechtlichen Anderen ist als Konvention Teil dieser gesellschaftlichen Ordnungsbemühungen. Wenngleich manche alten Mythen eine naturgemäße heterosexuelle Anziehung behaupten, so gilt dies doch nur für den Gattungserhalt, die Fortpflanzung, nicht für das sexuelle Genießen. Und da die meisten sexuell aktiven Erwachsenen häufiger Sex haben als sie Kinder zeugen oder empfangen, ergibt sich daraus auch kein Widerspruch – selbst wenn man der Vorstellung anhängt, dass es eine lebenslange Entscheidung für nur eine Sorte von sexuellen Begehrensobjekten gäbe, was ja bekanntlich nicht der Fall ist.

Die Entgrenzung, die Auflösung im und am Anderen im sexuellen Akt ist also vielfältig gestaltbar, ist Teil der jeweils eigenen Leiberfahrung – eben deshalb nennt Freud den Orgasmus ein ›ozeanisches Gefühl‹ und einen kleinen Tod – ist aber auch mitbestimmt und begrenzt durch das kulturelle Denkgefüge, in das die Einzelnen hineingeboren wurden, individuell und überindividuell zugleich, und durch den existenziellen Bezug auch überzeitlich.

Von den Philosophen, die sich mit dieser Dimension des Sexuellen befasst haben, hat Jean-François Lyotard dies besonders pointiert formuliert, wenn er die Geschlechterdifferenz als das ›Paradigma für das unvollkommene Sein des Geistes‹ bezeichnet. Ganz im Gegensatz zu den scheinbaren Wahrheiten über männlich und weiblich mache Geschlecht das »Prinzip des Einsseins« zunichte (Lyotard 1988: 829) – und weil die existenzielle Dimension immer darin mitschwingt, und weil das sexuelle Genießen jene ›dramatische‹ Seite hat, haftet der Geschlechtlichkeit immer auch etwas zutiefst Beunruhigendes an. Gerade weil es hier um starke Empfindungen und aufgeladene Bedeutungen geht, ruft gewissermaßen der sexuelle Körper selbst dazu auf, Geschlecht und Geschlechtlichkeit mit Erklärungen und Ordnungen zu beruhigen – ohne allerdings selbst schon irgendeine Struktur zu setzen. Und dies ist das Einfallstor für alle möglichen gesellschaftlichen Akteure, diese Ordnungen im eigenen Interesse zu gestalten.

Geschlecht und Gesellschaft

Die Weltgeschichte ist deshalb voll mit unterschiedlichsten Mustern, um das Sexuelle zu charakterisieren und zu regulieren – von der gesellschaftlich legitimierten Päderastie im antiken Griechenland bis zu Gesellschaften, die heterosexuelle Aktivitäten mit Familiengründung verbinden (vorher ist erlaubt, was hinterher versagt wird; oder gerade umgekehrt) oder die Erwachsenen danach unterscheiden, ob sie Nachwuchs hervorgebracht haben oder nicht usw. Und irgendwann hat sich zumindest im europäischen Raum die Vorstellung durchgesetzt, dass die weibliche Sexualität irgendwie wilder, anstößiger, unmäßiger, schwerer zu kontrollieren und mithin gefährlicher sei als die männliche – sei es, weil die Erregung weniger leicht von außen zu erkennen ist und scheinbar weniger anfällig gegen Störungen der Tumeszenz (dem Auf- und Abschwellen), oder sei es, auf einer ganz anderen Ebene, um in patriarchalen Gesellschaften die leibliche Vaterschaft kontrollieren zu können, was entscheidend dazu beigetragen hat, die Frauen den Männern zu unterstellen. Jedenfalls wurden Kontrolle und Tabuisierung der weiblichen Sexualität zur fixen Idee, es etablierte sich eine enge Verknüpfung von Öffentlichkeit, Sittsamkeit und Weiblichkeit – mit dem Ergebnis, dass das öffentliche Auftreten, die öffentliche Rede von Frauen wie eine prostituierende sexuelle Handlung, Zurschaustellung des sexuellen Körpers erschien. Wir finden dieses Muster im Ersten Gesang der Odyssee, wenn der noch jugendliche Telemachos seiner Mutter Penelope den Mund verbietet (›Die Rede gebührt den Männern‹) und sie des Raumes verweist (›Mein ist die Herrschaft im Hause‹) oder in Paulus’ Korintherbrief (›Das Weib schweige in der Gemeinde‹) über das prüde misogyne 19. Jahrhundert bis in unsere Zeit (sehr klug beschrieben von Mary Beard 2017).

Jede gesellschaftliche Ordnung hat die Aufgabe, gesellschaftliche Konventionen und Machtgefüge zu plausibilisieren (unabhängig davon, ob sie tatsächlich plausibel sind), abzusichern und dabei auch die jeweiligen Interessen der beteiligten Akteure zu verschleiern – und die Dimension des Geschlechtlichen eignet sich offenbar besonders gut dazu, sie als Instrument zur Stabilisierung der gesellschaftlichen Ordnung in Dienst zu nehmen. Dabei sind die Charakterisierungen des ›Weiblichen‹ über die Zeit hinweg ganz unterschiedlich (Charakterisierungen des ›Männlichen‹ finden sich selten, weil es ja als das Allgemein-Menschliche den Maßstab bildete, während das Weibliche als Abweichung von diesem Modell erschien) – und ob die Argumentation jeweils logisch und schlüssig ist, scheint nicht einmal sonderlich relevant zu sein. Teilweise wird alles aus der Gebärfähigkeit abgeleitet, die infolge der medizinischen Möglichkeiten und unter großen argumentativen Verrenkungen im 19. Jahrhundert zum prominentesten Aufhänger wurde für eine den Tieren nachempfundene Auffassung der Frau »als einem vom Mann radikal unterschiedenen Wesen, mit Leib und Seele dem einzig und allein weiblichen Zyklus verfallen, der so schreckerregend wie bezwingend war« (Laqueur 1992: 246). Teilweise wird aus den körperlichen Gegebenheiten, vor allem der Menstruation der Gebärmutter, darauf geschlossen, dass diese so viel Energie verschlingen, dass die geistige Entwicklung von Frauen quasi unterentwickelt bleibe; oder es wird schlicht damit argumentiert, dass Frauen im Durchschnitt kleiner und schwächer seien als Männer. Dass der Ausschluss von Frauen aus Politik und Staat mit deren körperlicher Schwäche begründet wurde, darüber haben sich schon die Aktivistinnen der Ersten Frauenbewegung im 19. Jahrhundert lustig gemacht – dann hätte doch jeder erstbeste Lastenträger ›den großen Friedrich vom Throne jagen‹ können. Und auch von den längeren Beinen des Mannes statt auf seine bessere Eignung als Briefträger auf seine größere Fähigkeit zum Erlernen des Lateinischen zu schließen, sei wohl mehr kühn als logisch gedacht. Wenn die zweigeschlechtliche hierarchische Ordnung der Gesellschaft die Aufgabe hat, das Sexuelle selbst zu sortieren und zu ordnen (und dadurch zu zähmen), wäre im Übrigen die Einführung einer dritten Kategorie (für die sich unglücklicherweise der Ausdruck ›drittes Geschlecht‹ bereits etabliert hat) ein Danaergeschenk, kontraproduktiv im Sinne einer Ausdifferenzierung von Geschlechtlichkeit, weil sie ihrerseits eine starre Zuordnung verlangt.

Das Besondere

Kehren wir zur Ausgangsfrage zurück: Was ist also nun das ›Besondere‹ an Geschlecht?

Das Besondere ist jedenfalls nicht, dass wir es mit zwei unterschiedlichen ›Geschlechtern‹ zu tun hätten, die durch die Geschlechtlichkeit hervorgebracht würden – das ist im Gegenteil das größte Missverständnis. Geschlecht ist ja etwas, das alle haben, wie auch immer, mit allen Beunruhigungen, mit den je begrenzten Möglichkeiten (nie alles auf einmal zu haben und zu sein) – Verliebtsein, Lust und Genießen sind nur schwer vernünftig beeinflussbar und auch die Frage, ob man sich überhaupt am Kinderkriegen beteiligen will oder kann, steht nur begrenzt in unserer Verfügung. Das Besondere ist eben gerade die Spannung zwischen einer geforderten Zweigeschlechtlichkeit in Bezug auf Geburtigkeit und der absoluten Offenheit und Ungebundenheit des (sexuellen) Begehrens. Dass wir aus dem unterschiedlichen Beitrag zur Fortpflanzung gleich ein ganzes Sinn- und Bedeutungsgebäude ableiten, ist unserer Denkgewohnheit geschuldet, und der Tatsache, dass diesem Unterschied auf anderen Ebenen eine so zentrale Rolle zugeschrieben wurde. Das Kinderkriegen und -aufziehen lässt sich durch staatliche Maßnahmen ordnen, Geschlechtlichkeit, Lust und Genießen jedoch nicht. Die sind widersetzlich und lassen sich definitiv in kein kapitalistisches Kalkül einfügen. Um die gesellschaftliche und politische Unterordnung der Frauen zu begründen, musste ihnen deshalb ihre Geschlechtlichkeit, das heißt ein eigenes sexuelles Begehren abgesprochen werden. Eben weil das Sexuelle etwas so Entgrenzendes, Auflösendes an sich hat, verweist es zugleich mit dem Genießen auch auf dessen Flüchtigkeit, auf Endlichkeit, etwas Unhintergehbares – und diese Mischung birgt eine enorme Provokation für alle gesellschaftlichen Regelwerke und Ordnungsbemühungen; eine Dynamik, die in verschiedenen Zeiten unterschiedlich beantwortet wurde. Gerade wenn diese Regelwerke den Schein ›geordneter Natürlichkeit‹ erwecken wollen, liegt es in der Natur von Geschlecht, sich dem zu widersetzen.

Ob durch angstvoll-dramatisierende politische Aufwallungen (wie ›Demo für Alle‹) oder die Sehnsucht nach einem (klein-)bürgerlichen Gartenzwerggarten: Immer geht es um Beruhigung durch Ordnung – was würde wohl passieren, wenn das Sexuelle nicht gezügelt würde? Die Literatur der letzten zweihundert Jahre ist voll von Bedrohungsszenarien, die sich das ausmalen. Sie heften sich meistens an die Gefahr, die von der ungezügelten Sexualität der Frauen ausgeht, die den sittlichen Bestand der ganzen Gesellschaft gefährden würde – nachzulesen von Rousseau über die Philosophen des 19. Jahrhunderts bis zur AfD. Aber vielleicht ging es ja gar nicht um die Frauen, oder um sie nur sofern sie die unbezähmbare Seite des Sexuellen repräsentieren sollten – während die Männer ihre Sexualität ordentlich aufteilen sollten, in eine domestizierte im bürgerlichen Heim und gelegentliche Fluchten ins Bordell. Ob allerdings die beruhigend gemeinte Behauptung, dass Frauen ohnehin gar keine sexuellen Gefühle hätten, von den jeweiligen Zeitgenossinnen geglaubt wurde, darf bezweifelt werden – denn »wo die Natur selbst ein furioso anstimmt, nützt es nichts ihr ein piano vorzuschreiben«, wusste schon Hedwig Dohm (1902/1976: 139).

Insofern hatten die Hippies recht mit ihrem ›Make love not war‹: Zur Kriegführung eignet sich das Sexuelle jedenfalls nicht – außer in pervertierter Form, wenn es in sein Gegenteil verkehrt wird: in Macht und Gewalt.

Literatur

Beard, Mary (2017), »The Public Voice of Women«, in: Dies.: Women & Power. A Manifesto, London, S. 1–45. Deutsch: Frauen und Macht. Ein Manifest, Frankfurt/M.

Dohm, Hedwig (1902/1976), Die Antifeministen. Ein Buch der Verteidigung, Berlin; neu herausgegeben von Arno Widmann, Frankfurt/M.

Laqueur, Thomas (1992), Auf den Leib geschrieben. Die Inszenierung der Geschlechter von der Antike bis Freud, Frankfurt/M.

Lyotard, Jean-François (1988), »Ob man ohne Körper denken kann«, in: Hans Ulrich Gumbrecht/K. Ludwig Pfeiffer (Hg.), Materialität der Kommunikation, Frankfurt/M., S. 813–829.

Männlichkeit denken

Edgar Forster

Die Geschlechterfrage sei von überragender Bedeutung, räsoniert Colin Crouch in einem Interview über die Zukunft der europäischen Politik und insbesondere der Sozialdemokratie (Bernet 2017). Das sozialdemokratische Bündnis aus älteren, männlichen Arbeitern aus der Industrie und einer jüngeren, gesellschaftsliberalen, eher weiblichen Wählerschaft aus der Mittelschicht drohe zu zerfallen, denn hinter der »Unzufriedenheit vieler älterer, männlicher Wähler steckt der Unmut über den Aufstieg der Frauen« (ebd.). Zu unterschiedlich seien ihre Interessen und das widerspiegle sich in der sozialdemokratischen Politik. Ihr Kampf gegen Ungleichheit setze nicht mehr bei Einkommens- und Klassenfragen an, sondern bei Fragen des Geschlechts und des Rassismus.

Interessanter als Crouchs Diagnose über den Zustand der Sozialdemokratie sind seine (stereotypen) Vorstellungen über das Geschlechterverhältnis in unserer Gesellschaft. Männer und Frauen seien durch Konkurrenz aneinandergebunden und in einem Nullsummenspiel gefangen. Was eine Gruppe gewinnt, verliert die andere. Weiblicher Erfolg ist männliche Krise. Schließlich: Wer über Geschlechter redet, spricht über Identität. Zur Debatte stehen ›Mannsein‹, ›neue‹ Männer und Väterlichkeit oder aber queere (Nicht-)Identitäten, aber nur selten Fragen der Ökonomie und Arbeit. Soweit Crouch. Er befindet sich damit in guter Gesellschaft der öffentlichen Meinung, die manchmal auch die wissenschaftliche ist.

Welches Wissen über Männlichkeit?

Kritische Männerforschung schlägt einen anderen Weg ein. Sie sagt nicht, Männer und Frauen sind durch ein Konkurrenzverhältnis aneinandergebunden oder es gibt eine Krise der männlichen Identität, sondern fragt: Warum problematisieren Männer ihre Beziehungen zu Frauen und anderen Männern als Konkurrenzverhältnisse? Warum wird in Medien von einer Krise der Männlichkeit gesprochen und weshalb beschreiben Männer ihre eigene Situation auf diese Weise? Kritische Männerforschung interessiert sich dafür, welches Wissen in einer Gesellschaft über Männer und Frauen produziert wird und auf welchen (unausgesprochenen) Annahmen diese Wissensproduktion beruht. Mit dieser Aufgabenstellung sind zwei Einsichten verbunden: Gesellschaftliches Wissen legitimiert bestehende Verhältnisse und lässt sie als ›normal‹ und ›natürlich‹ erscheinen, aber zugleich kann die Kritik an solchen Wissensbeständen zu gesellschaftlichen Veränderungen beitragen.

Männerforschung steht nicht als neutrale Beobachterin außerhalb der gesellschaftlichen Ordnung, sondern sie ist in die Gesellschaft und Organisation des Geschlechterverhältnisses verwickelt und anerkennt, dass ihre Forschungen nicht nur eine wissenschaftliche, sondern auch eine politische und narrative Dimension haben. Sie beschreibt männliche Praktiken und Beziehungen in Geschlechterarrangements und interessiert sich für die Art und Weise, wie Männer und Jungen Überzeugungen und Erfahrungen über das eigene und das andere Geschlecht (re)produzieren, wie sie mit dem Brüchigwerden ihres eigenen Wissens umgehen und mit der Unsicherheit, dass Geschlecht möglicherweise nicht die stabile Kategorie ist, mit der man lange vertraut war. Aber wenn Männerforschung beginnt, die Kategorien zu dekonstruieren, die das eigene Forschungsfeld definieren und ihm Stabilität verleihen, dann wird deutlich, dass die wissenschaftliche Dimension nicht ausreicht, um die komplexen Prozesse der Wissensproduktion zu erklären.

Hinzu kommt eine politische Dimension. Männerforschung ist nicht im Labor entstanden, sondern Teil einer komplexen Geschichte. Ohne die Transformation des modernen Geschlechterverhältnisses (und ungeachtet des Umstands, dass seine Modernisierung oft rhetorisch ist und Beharrungskräfte stärker als erwartet sind) gäbe es keine kritische Männerforschung ‒ und vor allem gäbe es sie nicht ohne feministische Bewegungen. Aber Männerforschung entwickelt sich auch in wissenschaftlichen Kulturen. Sie markiert ihre Besitzansprüche innerhalb der Gender Studies und gegenüber feministischer Theorie und Praxis.

Beide Dimensionen sind mit einer narrativen Dimension verknüpft: Humanwissenschaften sind in Erzählungen eingebettet. Sie machen Forschungsresultate lesbar und die Entwicklung der Wissenschaft verstehbar. Crouch legt seiner Diagnose des Geschlechterverhältnisses eine politische Geschichte über die Entwicklung der Demokratie zugrunde. Feministische Theorien leben vom Narrativ der Kämpfe und emanzipatorischer Bewegungen. Frühe Männerbewegungen haben solche Narrative übernommen, aber heute ist davon nicht mehr viel zu bemerken. Die Verbindung mit politischen Bewegungen ist schwach und am ehesten dort ausgeprägt, wo es um allyship mit feministischer und queerer Politik geht. Stärker sind auch in der Forschung (und nicht nur in der medialen Öffentlichkeit) Narrative, die um Begriffe wie Krise und Identität organisiert sind.

Männlichkeit und Reproduktion

Wie könnte man Männlichkeit denken, wenn man diesen wissenschaftlichen, politischen und narrativen Rahmen berücksichtigt? Ich möchte dafür exemplarisch an einen kleinen Ausschnitt aus der Männerforschung von Raewyn Connell anknüpfen. Sie ist eine der bekanntesten Männerforscherinnen weltweit und ihr Buch Masculinities gilt als Standardwerk in der Männerforschung. In der deutschen Übersetzung (und mittlerweile vierten Auflage) wurde daraus der Titel Der gemachte Mann. Konstruktion und Krise von Männlichkeiten. Im Unterschied zu Konzepten wie »Patriarchatsdividende« oder »hegemoniale Männlichkeit« hat Connells Definition von Männlichkeit wenig Aufmerksamkeit erfahren. Sie fasst Männlichkeit als eine Praxis, durch die eine Position im Geschlechterverhältnis eingenommen wird. Männlichkeit und Geschlecht werden gemeinsam definiert. Und hier geht es nicht in erster Linie um Identität und Krise, sondern um etwas Grundlegenderes: um Reproduktion. Ich möchte einen längeren Abschnitt zitieren, denn er zeigt die Komplexität der Materie, die wir meinen, wenn wir über Geschlecht sprechen.

»Das Geschlecht ist eine Art und Weise, in der soziale Praxis geordnet ist. In Geschlechterprozessen wird der alltägliche Lebensvollzug organisiert in Relation zu einem Reproduktionsbereich (reproductive arena), der durch körperliche Strukturen und menschliche Reproduktionsprozesse definiert ist. Dieser Bereich beinhaltet sowohl sexuelle Erregung und Geschlechtsverkehr als auch das Gebären und Aufziehen von Kindern, die körperlichen Geschlechtsunterschiede und -gemeinsamkeiten. Ich nenne das ›Reproduktionsbereich‹ statt ›biologische Grundlage‹, um zu betonen, dass wir es hier mit einem historischen, den Körper einbeziehenden Prozess zu tun haben, nicht mit einem starren Gefüge biologischer Determinanten. Geschlechtlichkeit als soziale Praxis bezieht sich ständig auf den Körper und auf das, was Körper machen, reduziert sich allerdings auch nicht auf den Körper. Eigentlich verdreht der Reduktionismus die wirkliche Situation vollständig. Das Geschlecht existiert genau in dem Ausmaß, in dem die Biologie das Soziale nicht determiniert. Es markiert einen dieser Übergangspunkte, an denen der historische Prozess die biologische Evolution als Entwicklungsmodus ablöst.« (Connell 2015: 124)

Meine Interpretation soll zeigen, dass Männlichkeit stärker als dies bisher wahrgenommen wird, mit Reproduktion (und weniger mit Identität) verknüpft ist. Die erste Einsicht lautet: Geschlecht existiert nicht für sich. Weder lässt sich Geschlecht auf körperliche Merkmale reduzieren noch auf bestimmte gesellschaftlich zugeschriebene Eigenschaften, die Männer zu Männern und Frauen zu Frauen machen. Geschlecht ist ein ordnendes Prinzip, weil das Zusammenleben der Menschen nicht determiniert ist (ansonsten wäre ein solches Prinzip überflüssig). Entscheidend ist nun, dass Geschlecht nicht irgendein Ordnungsprinzip ist, sondern ein spezifisches, das sich von anderen Ordnungsprinzipien unterscheidet. Connell bestimmt Geschlecht als Prinzip »in Relation zu einem Reproduktionsbereich«. All die Tätigkeiten der Fortpflanzung, der Sicherung des Überlebens und des Zusammenlebens, der Ernährung, des Aufziehens, der Gesundheit, des Sterbens usw. sind durch das Prinzip Geschlecht strukturiert. Weder geht es dabei nur um »biologische Grundlagen« noch um einen abgetrennten gesellschaftlichen Bereich, sondern um eine Dimension der gesamten sozialen Praxis. Bei Silvia Federici (2019: 226) umfasst Reproduktion zum einen die materiellen Lebensgrundlagen im Verhältnis zur Natur, zum anderen das kollektive Gedächtnis des Wissens, aber auch der Wünsche und Ängste, die Anlass geben, sich politisch zu engagieren und die Gesellschaft und sich selbst zu verändern. Geschlecht ist nichts anderes als die Art und Weise, wie eine Gesellschaft ihre Reproduktion regelt. Männliche und weibliche Positionen, Zweigeschlechtlichkeit, Heterosexualität sind historisch wandelbare Erscheinungsformen dieser Organisation. Sie stabilisieren die Reproduktionsverhältnisse einer Gesellschaft, aber es handelt sich um Prinzipien, die umkämpft und veränderbar sind.

Wenn man Geschlecht und damit Männlichkeit auf diese Weise zum Gegenstand der Forschung macht, dann helfen alte Debatten darüber, ob Geschlecht biologisch oder sozial konstruiert ist, nicht weiter. Von größerem Interesse ist, nach welchen geschlechtlichen Prinzipien eine Gesellschaft organisiert ist, wie sich dies im Alltag zeigt und wie eine soziale Praxis imstande ist, diese Prinzipien zu verändern. Ein Beispiel dafür sind Silvia Federicis Untersuchungen über den Haushalt. Er könnte das Zentrum des kollektiven Lebens bilden, »in dem sich zahlreiche Menschen und Kooperationsformen treffen, das Schutz bietet, ohne zu isolieren und zu fixieren, das den Austausch und die Zirkulation gemeinschaftlichen Eigentums erlaubt und das dabei vor allem auch als Grundlage für kollektive Reproduktionsformen fungiert« (Federici 2015: 103). Der Haushalt ist eine Lebensform und ein Modell für eine andere Organisation der Reproduktion. Er stellt die Trennung von öffentlich und privat in Frage, »männlich« und »weiblich« verändern ihre strukturierende Funktion, und der Dualismus von Mensch und Natur wird problematisiert. Daraus resultieren Fragen nach Subsistenz, commoning sowie nach neuen Formen des Wissens und Begehrens.

Fazit

Ich plädiere dafür, die Reproduktion in das Zentrum einer Theorie der Männlichkeit zu stellen. Das heißt wissenschaftlich, dass man von Fragen der Identität und ihrer Krise zu den Grundlagen sozialer Verhältnisse übergehen müsste, also zur Analyse von langsamen, kontinuierlichen Prozessen der Reproduktion des Lebens. Politisch fokussiert eine solche Forschung auf jene gesellschaftlichen Werte, die in der westlichen Moderne ausgeblendet oder in die Produktionssphäre integriert werden. In der für kapitalistische Gesellschaften bedeutsamen Spaltung von Produktion und Reproduktion und ihren social imaginaries wie Fortschritt oder Entwicklung manifestiert sich Geschlecht als komplexes, heteronormatives Herrschaftsverhältnis zwischen zwei Geschlechtern. Mit dem Thema Reproduktion lässt sich hingegen an feministische Bewegungen anschließen, die den Haushalt als einen politischen Ort zurückerobern. Dadurch verändert sich auch die narrative Dimension. Es geht nicht in erster Linie um die Umdeutung von Reproduktion in Sorge, sondern um die Wiedererlangung der Souveränität über die Grundlagen des Lebens.

Literatur

Bernet, Christoph (2017), Gespräch mit dem Soziologen Colin Crouch über Trump und die Postdemokratie, letzter Zugriff: 25.3.2019, https://www.wat​son.ch/!684369464

Connell, Raewyn (2015), Der gemachte Mann. Konstruktion und Krise von Männlichkeiten (4. Aufl.), Wiesbaden.

Federici, Silvia (2015), Aufstand aus der Küche. Reproduktionsarbeit im globalen Kapitalismus und die unvollendete feministische Revolution, Münster.

Federici, Silvia (2019), Re-enchanting the world. Feminism and the politics of the commons, Oakland.

Gleichheit, Gerechtigkeit, Differenz: Warum sollte Ungleiches gleichwertig sein?

Beate Rössler

Ausgangspunkt feministischer Theorien der Gerechtigkeit ist die Frage nach dem Verhältnis der Geschlechter und die Kritik geschlechtshierarchischer Strukturen, gesellschaftlicher Diskriminierung und Marginalisierungen von Frauen. Grundlegend ist folglich ein Interesse daran, zu analysieren und zu konzeptualisieren, welche Relevanz der Unterschied der Geschlechter in gerechten Gesellschaften noch haben kann und sollte. Trotz dieses einheitlichen Kennzeichens sind feministische Theorien der Gerechtigkeit vielfältig wie feministische Theorien generell: Es gibt nicht eine feministische Gerechtigkeitstheorie, sondern je unterschiedliche Positionen, Traditionen, politische Ideale. Diese verschiedenen Perspektiven will ich anhand zweier Problemfelder beschreiben, nämlich dem von Gleichheit vs. Differenz und dem der Unterscheidung zwischen dem privaten und dem öffentlichen Bereich.

Gleichheit vs. Differenz

Zentraler Aspekt in der Diskussion feministischer Gerechtigkeitstheorien ist die Frage, ob Nicht-Diskriminierung von Frauen einfachhin die ›Gleichheit‹ der Geschlechter bedeutet, respektive was denn eine solche ›Gleichheit‹ impliziere: Welche Gleichheit ist möglich, welche Differenz ist nötig? Besonders in den ersten Jahren feministischer Theoriebildung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde die Debatte um Gleichheit vs. Differenz erbittert geführt.1

In einer ersten Runde des Streits lassen sich die beiden Positionen noch vergleichsweise schematisch beschreiben: Kultivierung, Zelebrierung weiblicher Eigenschaften und ›weiblicher Differenz‹ auf der einen Seite, Orientierung an Gleichheit (mit den Männern) auf der anderen Seite, wie etwa im Hinblick auf die gleiche Verteilung von Erwerbsarbeit, einhergehend allerdings mit einer grundsätzlichen Kritik an der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung (beispielhaft etwa Moller Okin 1989). Demgegenüber beharrten die Positionen der Differenz auf der Unterschiedlichkeit der Geschlechter und damit auch auf der Unterschiedlichkeit ihrer gesellschaftlichen Rollen und klagten deren gesellschaftliche Gleichbewertung – also eine besondere Aufwertung der Familie und der im traditionellen Privatbereich verrichteten Arbeiten – ein (beispielhaft etwa Elshtain 1981). Deshalb wurde der Position der Differenz generell ein Essentialismus vorgeworfen, der die sogenannten weiblichen Eigenschaften oder das ›weibliche Denken‹ verabsolutiere und ontologisch verfestige, während umgekehrt der Position der Gleichheit die Orientierung an einem nur scheinbar humanistischen, eigentlich jedoch ›männlichen‹ Gleichheitsideal zum Vorwurf gemacht wurde (Bock/James 1992; Hackett/Haslanger 2006).

In einer zweiten Runde der Auseinandersetzungen steht im Vordergrund: Die Schematisierung von ›weiblicher Differenz‹ und ›männlich orientierter Gleichheit‹ führe in eine theoretische Sackgasse. Die erste Form einer differenzierten Kritik am Begriff der Gleichheit findet sich prominent bei MacKinnon (1989): Mit der Orientierung an der »Gleichheit« der Geschlechter seien die tatsächlichen Macht- und Dominanzstrukturen, die in einer patriarchalen Gesellschaft herrschen, nicht zu analysieren. Der Begriff der Gleichheit setze nämlich notwendigerweise die Situation und Bedürfnisse ›des Mannes‹ als die Norm, gegenüber der die Situation und Bedürfnisse von Frauen immer als ›anders‹, und damit als unterlegen begriffen werden. Stattdessen müsse es darum gehen, die Idee liberaler Gleichheit und Neutralität des liberalen Staates von Grund auf zu kritisieren, ebenso wie den Begriff von Gerechtigkeit, der jenen Ideen zugrunde liege: allerdings gerade ohne damit einer Essentialisierung und Ontologisierung weiblicher Eigenschaften das Wort zu reden. Deshalb müsse die Analyse von Macht- und Dominanzstrukturen im Zentrum feministischer Theoriebildung stehen.

Die zweite Form der differenzierteren Kritik am Gleichheitsbegriff hat einen anderen Ausgangspunkt. Sie behauptet, dass das alte Schema von Gleichheit und Differenz nicht ausschließlich in Begriffen von Macht und Dominanz analysiert werden könne, da so eine grundsätzliche Kritik an einem ›männlichen‹ Begriff von Gleichheit nur durch die Viktimisierung von Frauen zu leisten sei (dies der Vorwurf gegen MacKinnon). Jenes Schema könne aber durch die rechtliche und soziale Anerkennung von Differenzen in der Lebenssituation von Frauen überschritten werden, da das männliche Paradigma unterlaufen werde, wenn Frauen darauf insistieren, dass sie gegebenenfalls anderer Rechte bedürfen, um gleiche Freiheiten zu erringen (das betrifft den Schwangerschaftsabbruch ebenso wie Quotenregelungen im Erwerbsarbeitsbereich, das Scheidungsrecht oder die Forderung nach Kindertagesstätten). Damit wird die Idee liberaler Gleichheit nicht tout court in Frage gestellt, sondern benutzt, um ›gleiche‹, als vergleichbare Rechte und Freiheiten auch für Frauen zu sichern. Dreh- und Angelpunkt ist dann die Frage, in welcher Weise Diskriminierungen von Frauen rechtlich und sozial beseitigt, differente Lebenssituationen ›anerkannt‹ werden können, ohne diese Diskriminierungen und differenten Verhältnisse festzuschreiben.

In den letzten Jahren kann man nun eine weitere Runde der Debatte um Gleichheit vs. Differenz ausmachen, die zugleich eine thematische Verschiebung bedeutet: Hier steht zum einen im Vordergrund, wie mit den nicht bestreitbaren Differenzen zwischen Frauen angemessen umzugehen, wer also eigentlich mit ›den Frauen‹ gemeint sei. Unterschiedliche Lebenskontexte von Frauen, damit verbundene unterschiedliche Interessen, unterschiedliche ethnische Herkunft, sexuelle Orientierung, all diese Differenzen zwischen Frauen rückten zunehmend in den Vordergrund und führten zu einer Modifizierung und noch stärkeren Pluralisierung feministischer Theorien, auch feministischer Theorien der Gerechtigkeit (Young 1990; Hackett/Haslanger 2006).

Zum anderen liegt ein Grund für eine Verschiebung der Kontroverse in der zunehmenden Kritik an der Dichotomie zwischen sex und gender, zwischen biologischem und kulturellem oder sozialem Geschlecht. Konnte diese Unterscheidung zunächst als ein emanzipativer Schritt begriffen werden, weil sie gerade die Unabhängigkeit kulturell geformter sogenannter weiblicher Eigenschaften vom biologisch-anatomischen Geschlecht beweisen sollte, so wurde zunehmend deutlich, dass das Festhalten an der biologischen Zweigeschlechtlichkeit immer noch mit kulturell codierten Hierarchisierungen, wie denen der normalisierenden Heterosexualität, einherging (Butler 1991; Mikkola 2012). Die Frage danach, wie soziale und andere Differenzen zwischen Frauen anerkannt werden können, ohne zugleich sanktioniert zu werden, muss folglich sensibel bleiben für diese heterogenen Formen struktureller Diskriminierungen. Diese Fragen sind auch in den gegenwärtigen Debatten noch umstritten. Einer der zentralen Streitpunkte ist dabei die Bedeutung und Rolle der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung.

Privat und öffentlich

Auch deshalb sind die Analyse und Kritik der Unterscheidung zwischen ›privat‹ und ›öffentlich‹ zentral für eine feministische Theorie der Gerechtigkeit: Die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung gehört zu den fundamentalen Hindernissen sozialer Gerechtigkeit. Mittlerweile klassisch geworden ist Carole Pateman’s Überzeugung, »the dichotomy between the private and the public […] is, ultimately, what the feminist movement is about« (Pateman 1989: 118).

Literatur

Bock, Gisela/James, Susan (Hg.) (1992), Beyond Equality and Difference. Citizenship, Feminist Politics, Female Subjectivity, London.

Butler, Judith (1991), Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt/M.

Hackett, Elisabeth/Haslanger, Sally (2006), Theorizing Feminisms. A Reader, Oxford.

MacKinnon, Catharine (1989), Towards a Feminist Theory of the State, Cambridge, MA.

Mikkola, Mari (2012), »Feminist Perspectives on Sex and Gender«, in: Stanford Encyclopedia of Philosophy (2008/2017), letzter Zugriff: 20.08.2019, https://plato.stanford.edu/entries/feminism-gender/

Moller Okin, Susan (1989), Justice, Gender and the Family, New York.

Pateman, Carole (1989), »Feminist Critiques of the Public/Private Dichotomy«, in: Dies., The Disorder of Women. Democracy, Feminism and Political Theory, Cambridge.

Rössler, Beate (2015), »Feministische Gerechtigkeit«, in: Anna Goppel/Corinna Mieth/Christian Neuhäuser (Hg.), Handbuch Gerechtigkeit, Stuttgart.

Rössler, Beate (2001), Der Wert des Privaten, Frankfurt/M.

Young, Iris M. (1990), Justice and the Politics of Difference, Princeton, NJ.