Die unbeugsame Kriegerin

Nachdem der Bogenschütze mit seinem Wolf und den fünf Gefährten eine Weile in die neu eingeschlagene Richtung sich fortbewegt hat, lässt der Magier sein Pferd halten. Er schickt den Wolf auf Kundschaft, während er selbst mit den Gefährten sich im Schutz einer der hier zahlreich gedeihenden Buschgruppen, niederlässt.


„Seht ihr, dass trotz absoluter Windstille, sich in einigen Buschgruppen die Zweige in den Büschen bewegen?“


„Du hast gute Augen“, flüstert He überrascht, „und du scheinst einen ausgeprägten Sinn für unscheinbar und unbedeutend wirkende Ereignisse zu haben.“


„Du übertreibst, He. Es ist mein Freund Wu, der die scheinbar unbedeutenden Ereignisse in der Steppe wahrnimmt und ihnen ihre angemessene Bedeutung zuordnet. Ich achte nur darauf, was mein Freund Wu mir auf seine Art mitteilt.“


„Aber wie kann denn ein Mensch mit einem Tier sprechen – das werde ich nie begreifen!“


„Ist dir noch niemals aufgefallen, He, dass Menschen, die sich lange kennen, sich ohne ein Wort zu wechseln miteinander verständigen können? Ein Blick, eine Geste, etwas Mimik reicht aus, um in einem Augenblick zu wissen, was der andere denkt und tun wird. Ich bin mit meinem Wolf so gut befreundet, dass ich sogar unterschiedliche Ausdrücke seines Gesichtes erkennen und deuten kann. Stellung und Bewegung seines Schwanzes sind allein schon wie eine eigene Sprache. Auf diese Weise redet Wu mit seinem ganzen Körper. Es ist die Sprache der Wölfe. Die musst du begreifen, die musst du nachfühlen können, um zu verstehen, was der Wolf dir mitteilt.“


„Glaubst du, dass die Wölfe sich untereinander etwas mitteilen können, wenn sie durch die Steppe spazieren?“


„Wenn du schon einmal Wölfe bei der Jagd beobachtet hast, dann hast du bestimmt auch gesehen, wie jedem Wolf der Gruppe genau seine Aufgabe für die Jagd zugeordnet ist. Könnten sie sich nicht auf irgendeine Art verständigen, dann könnten sie nicht so genau aufeinander abgestimmt als Gruppe so erfolgreich jagen …“

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Die Abendsonne lässt den Himmel über der Steppe in blutigem Rot erstrahlen. Auf dem abwärts führenden Teil ihrer Himmelsbahn steht sie noch zwei Handbreiten über dem Horizont, als der scheinbar ruhige und friedliche Abend in der Steppe sich mit dem Lärm des Krieges füllt. Aus zwei gegenüberliegenden Buschgruppen steigen Schwärme von Pfeilen auf, gleich eisernen Vögeln, die in spitzen Schnäbeln den Tod durch die Luft tragen.


„Es tut sich was“, flüstert der Sohn des Mokk angespannt. „Möchte wissen, wer da mit wem aneinander geraten ist.“


„Es sind Darr wie wir“, antwortet ihm Garg, der die Krieger, die in diesem Augenblick die Deckung bietenden Büsche verlassen, in denen sie bis eben versteckt waren, sofort erkennt. „Es sind Wölfe. Der raubgierigste und aggressivste Stamm aller Darrstämme.“


„Was denn, noch raubgieriger und mordlustiger als die Darr im Kriegslager? Ich dachte, ihr wärt alle gleich und gegenseitig nicht zu überbieten“, wundert sich der Magier. Doch es bleibt ihm nicht viel Zeit, sich zu wundern. Fast gleichzeitig mit den Wölfen hat der Gegner in der gegenüberliegenden Buschgruppe sein Versteck verlassen und eilt den heranstürmenden feindlichen Darr entgegen.


„Das sind ja Mädchen, die da aus den Büschen brechen“, ruft He überrascht. „Na, das wird kein langer Kampf werden. Unsere Brüder von den Wölfen werden die Mädchen überwältigen und dann als Beute mit sich in ihr Lager führen.“


„Nein, He, das glaube ich nicht“, antwortet ihr der Bogenschütze, der seinen Bogen schussbereit hält. „Die Mädchen sind schlauer, als ihre Feinde. Eine von ihnen ist in den Büschen zurückgeblieben und muss eine ganz ausgezeichnete Bogenschützin sein. Ich sehe schon fünf tote Wölfe auf dem Boden liegen – getötet von den Pfeilen der versteckten, treffsicheren Bogenschützin – falls es überhaupt ein Mädchen ist.“


„Jetzt treffen die feindlichen Kriegerinnen auf unsere Darr, Huang. Warum zeigt sich der unbekannte Bogenschütze nicht?“


„Der unbekannte Bogenschütze unterstützt seine Kriegerinnen aus dem Versteck heraus“, antwortet ihr Garg. „Die Mädchen kämpfen überraschend gut, aber sie scheinen noch unerfahren im Kampf zu sein. Der versteckte Bogenschütze ist jedenfalls der Anführer dieser Kriegerinnen – und er korrigiert die Fehler seiner Kriegerinnen, die sie sonst mit ihrem Leben bezahlen müssten, mit perfekten Bogenschüssen.“


„Du hast recht, Garg“, flüstert He aufgeregt. „Aber auch unsere Brüder von den Wölfen haben das erkannt. Sie gehen jetzt so dicht an die Kriegerinnen heran, dass der versteckte Bogenschütze riskiert, seine eigenen Kriegerinnen mit dem Pfeil zu treffen, weil die Darr jetzt kein freistehendes und auch kein stillstehendes Ziel mehr bieten. Sie achten darauf, dass immer wenigstens eine der Kriegerinnen sich zwischen ihnen und dem verstecktem Bogenschützen befindet.


„Was meinst du Magier, was wird der geheimnisvolle Bogenschütze jetzt tun?“, beginnt nun auch Garg zu rätseln.


„Seine Kriegerinnen, Garg“, antwortet der Bogenschütze ruhig, „sind in der Unterzahl.

Zwei der Kriegerinnen sind schon gefallen. Der Anführer wird dem Kampf jetzt eine überraschende Wende geben. Das ist sicher.“


„Worin soll diese Wende bestehen, Magier. Egal ob der Anführer der Mädchen selbst ein Mädchen ist oder ein Mann. Nur ein Magier wie du könnte den Kampf zu seinen Gunsten gegen die Darr entscheiden.“


„Aber der Anführer hat sich bis jetzt als kluger Feldherr seiner kleinen Armee erwiesen. Glaubst du, er hätte einen Kampf begonnen, wenn er nicht sicher wäre, ihn auch gewinnen zu können?“


Schweigend und angespannt vor Neugierde, beobachten der Bogenschütze und seine Gefährten den weiteren Verlauf des Kampfes. Die zahlenmäßige Überlegenheit der Wölfe macht sich auf dem Kampfplatz noch nicht bemerkbar. Die Kriegerinnen erweisen sich als ausgezeichnete Schwertkämpferinnen, die im Kampf Schwert gegen Kampflanze mühelos mit ihren Gegnern mithalten und wären sie nicht in Unterzahl, sie hätten ihre Gegner vielleicht schon besiegt.


„Garg“, flüstert He, „die Kriegerinnen haben schnell gelernt. Sie machen kaum noch Fehler und sie behalten die Übersicht. Trotz der wütenden Angriffe unserer zahlenmäßig überlegenen Brüder, finden sie immer wieder Gelegenheit, sich gegenseitig zu helfen. Ich glaube fast, sie brauchen die Hilfe ihres Anführers gar nicht mehr.“


„Ja, He, die größere Kraft der Wölfe könnte der zähen Ausdauer der Kriegerinnen am Ende unterliegen. Die Kampflanze ist deutlich schwerer zu führen als ein Schwert, zumal ich die Kriegerinnen mit ihren Schwertern schon manche Kampflanze entzweischlagen gesehen habe. Das wird jedenfalls ein langer, höchst spannender Kampf, den wir noch sehen werden. Was meinst du, Sohn des Mokk?“


„Ich habe selbst schon einen Kampf mit der Kampflanze gegen eine Schwertkämpferin verloren. Glaube mir, es ist kein Vergnügen, gegen eine gute Schwertkämpferin mit der Kampflanze zu kämpfen – und zu verlieren. Die Mädchen, die wir dort kämpfen sehen, sind mindestens so gut, wie die Kriegerin Chin, gegen die ich im Kampf unterlegen bin.

Die Kriegerinnen, die wir dort gegen unsere Brüder vom Stamm der Wölfe kämpfen sehen sind noch unerfahren, darum haben sie den Kampf auch noch nicht gewonnen.“


Während die Gefährten noch hin und her überlegen, wie lang der Kampf noch anhalten wird und wer am Ende als Sieger den Kampfplatz verlassen wird, beginnen die Rätsel sich von selbst zu lösen, als der bis dahin in den Büschen versteckte Bogenschütze die Stätte heftiger Kämpfe Krieger gegen Kriegerin betritt.


„Huang, die sieht aus, als wäre sie von deinem Volk – wie kommt die hierher?“


„Ja, He, sie ist vom Volk des Kaisers. Sie geht so selbstbewusst über den Kampfplatz, als wäre sie die Kaiserin und sieh nur, wie schnell und elegant sie das Schwert führt. Sie allein wird den Kampf in Kürze entscheiden. Die anderen Mädchen sehen aus, als wären sie von den Gor. Eines der Mädchen sieht äußerlich meiner Mo Xi sehr ähnlich.“


„Ja, es sind Gormädchen. Daran gibt es keinen Zweifel. Aber es gab noch niemals bei den Gor Kriegerinnen – und hier sind gleich doppelt so viele, wie ich an zwei Händen Finger habe. Und ich muss zugeben, sie kämpfen nicht nur besser, als jede Kriegerin der Darr – sie kämpfen besser, als mancher unserer männlichen Krieger. Verstehst du das alles noch, Huang?“


„Die Gor sind vermutlich schon längst mit dem Kaiser verbündet. Der Kaiser wird den Gor erfahrene Krieger und Kriegerinnen geschickt haben, damit sie die erfolgreichen Kampftechniken und Kriegsstrategien der kaiserlichen Armee kennen lernen und übernehmen.“


„Dann werden die Gor in nicht allzu ferner Zukunft zu einem ernstzunehmenden Feind werden“, überlegt die Kriegerin mit sich selbst flüsternd.


„Sieh nur, Garg“, raunt der Bogenschütze, „wie die Anführerin schnell und tödlich in den Reihen der Wölfe wütet. Keiner eurer Wölfe kann ihr mit der Kampflanze lange standhalten. Noch vor Sonnenuntergang werden alle Wölfe tot in der Steppe liegen – und alles ohne Magie. Sie wusste, wie wir vorhin schon vermutet haben, sehr genau, dass sie den Kampf, auf den sie sich eingelassen hat, gewinnt.“

Als die Sonne zur Hälfte hinter dem Horizont versunken ist, ist der Kampf entschieden. Die Darr liegen erschlagen auf dem Steppenboden, der durstig das Blut von Freund und Feind aufnimmt. Während der Bogenschütze und seine Gefährten in ihrem Versteck noch in der Sprachlosigkeit verharren, wie sie manchmal durch Ereignisse ausgelöst wird, die der gesunde Menschenverstand schlicht für unmöglich erachtet, nehmen die Ereignisse dieses Tages noch einmal eine unerwartete Wendung.


„Die kriegerische Leistung aller Schwertkämpferinnen ist absolut bewundernswert“, murmelt Garg vor sich hin, „aber was die fremde Schwertkämpferin gezeigt hat an Körperbeherrschung, Kampfkraft und geistiger Überlegenheit, ist für meinen Verstand schlicht unbegreiflich. Was meinst du, Magier, kämpfen in der kaiserlichen Armee alle Krieger so, wie die Anführerin der Kriegerinnen der Gor?“


„Ich habe bis jetzt geglaubt, Garg, dass es nur einen einzigen Krieger in der Welt gibt, der so kämpft, wie es mein Vater, Huang der Krieger tut. Ich bin genauso überrascht, wie du es bist, über das, was wir gerade gesehen haben. Dieser Kriegerin des Kaisers möchte ich im Kampf nicht gegenüberstehen. Wir werden uns im Schutz der bald einsetzenden Dunkelheit vorsichtig aus unserem Versteck herausbewegen und unbemerkt von den Kriegerinnen von hier verschwinden, um …“


Der Bogenschütze kommt nicht mehr dazu, seinen Satz zu Ende zu sprechen. Eines der Lastpferde scheut vor dem Wolf, der unruhig hin und her läuft. Es wiehert vor Schreck so laut, dass es bis zum Lagerplatz der Kriegerinnen hinüberschallt.

Das Wiehern des Pferdes klingt den Gefährten noch in den Ohren, als die Kriegerinnen auch schon auf ihre Pferde springen, ausschwärmen und von beiden Seiten in großem Bogen das Versteck des Bogenschützen und seiner Gefährten umrunden.


„Die sind schneller dabei uns anzugreifen, als wir uns zur Verteidigung organisieren können“, brummt Garg missmutig und greift nach seinem Bogen. „Gleich werden sie in Schussweite sein und dann werden ihre Pfeile wie ein heftiger Regensturm auf uns niederprasseln.“


„Lass deine Pfeile im Köcher, Garg. Ich will doch sehen, ob meine Überredungskunst mit dem Bogen die Kriegerinnen ebenso beeindruckt, wie uns die Schießkunst der Anführerin fasziniert hat. Ich werde sie mit meinem Bogen daran hindern, uns so nahe zu kommen, dass sie uns mit ihren Bögen erreichen können.“


Der Bogenschütze tritt aus der ohnehin unsicheren Deckung der Buschgruppe heraus und die Reiterinnen setzen im gleichen Augenblick ihre Pferde zum Angriff in Bewegung und stürmen auf den Bogenschützen zu, der gelassen und doch mit so schnellen Bewegungen einen Pfeil nach dem anderen, den Kriegerinnen entgegenschickt und deren Sturmangriff damit sofort beendet. Von der Aufschlagswucht der Pfeile des Bogenschützen unerwartet schwer getroffen, fallen die Kriegerinnen von ihren Pferden zu Boden.


„Sie müssen gut gepanzert sein, die Mädchen, Bogenschütze“, ruft Garg überrascht, „sieh doch nur, die stehen einfach wieder auf, anstatt tot liegen zu bleiben.“


„Ich wollte auch nicht töten, Garg. Das war eine Warnung. Ich glaube, diese Kriegerinnen tragen fein geschmiedete Kettenhemden aus den großen Beständen der kaiserlichen Armee. Ich habe einige davon im Kampf mit der kaiserlichen Delegation erbeutet. Sie liegen auf einem der Pferde.“


„Ich habe mich schon gefragt, Magier, warum keines der Mädchen im Pfeilhagel wenigstens verletzt wurde, während die Krieger der Darr mehrere Tote durch den Hagel der feindlichen Pfeile zu beklagen hatten – jetzt weiß ich die Erklärung.“


„Sie greifen wieder an, Huang“, warnt He „die fühlen sich in ihren Kettenhemden recht sicher vor deinen Pfeilen.“


Wieder surrt ein Pfeil von der Sehne des Bogens. So heftig von der Spannkraft des Bogens getrieben, dass er das dünne Kettenhemd mit seiner schweren, scharf und spitz geschliffenen Spitze mühelos durchdringt. Wieder wird die Getroffene durch die Wucht des aufschlagenden Pfeils vom Pferd gerissen und stürzt zu Boden.


„Die steht nicht wieder auf – jedenfalls nicht aus eigener Kraft“, kommentiert der Bogenschütze trocken. „Und die auch nicht, und auch die dritte nicht – und jetzt hat die Anführerin endlich begriffen, dass ihre Mädchen mausetot sind. Sie scheint wütend zu sein.“


„Bogenschütze, sind die Kettenhemden der Feinde so schlecht – oder ist dein Bogen so außergewöhnlich gut?“, will Garg wissen. Doch der Bogenschütze achtet nicht auf das Geschwätz des Kriegers.


„Die haben noch längst nicht genug“, flüstert er leise. „Die kommen im vermeintlichen Schutz der Dunkelheit wieder. Sie werden jedenfalls hier sein, bevor der Mond aufgeht. Wir werden uns auf sie einstellen und ihnen vorher einen Besuch abstatten.“


„Magier“, spottet Garg, „mir ist nicht klar, was du vor hast. Dein Wolf aber, der hat sich bereits mutig außer Gefahr gebracht.“


„Du irrst dich, Garg. Er holt noch einige richtige Wölfe zu Hilfe. Ich bin sicher, dass die Kriegerinnen es verstehen, sich lautlos an uns heranzuschleichen. Uns können sie wohl täuschen, nicht aber die untrüglichen Sinnesorgane eines Wolfs. Sie werden euch in meiner Abwesenheit rechtzeitig das Herannahen der Feinde melden.“


Lange erst nach Einbruch der Dunkelheit kehrt Wu zurück. Für einen kurzen Augenblick sehen die in der Buschgruppe versteckten Gefährten des Bogenschützen das Hin- und Herhuschen vieler gespenstisch wirkender Schatten um die als Versteck dienende Buschgruppe herum, bevor jeder dieser Schatten mit der Dunkelheit zu Unsichtbarkeit verschmilzt.


„Magier, was waren das für Schatten?“, will Garg wissen. Doch die Frage des Kriegers findet nicht die Aufmerksamkeit des Bogenschützen, der damit beschäftigt ist, mit seinen Gedanken Ordnung in die Gruppe der Wölfe zu bringen, wobei Wu ihm unverzichtbare Dienste leistet.

Schließlich macht sich der Bogenschütze mit seinem Wolf auf den Weg, um den Lagerplatz der Kriegerinnen zu suchen, doch weder Wolf noch Mensch können auch nur den geringsten Hinweis auf den Verbleib der angriffslustigen Kriegerinnen ausfindig machen.


„Mein lieber Wu, wir haben jetzt die ganze Umgebung abgesucht. Nur in der Nähe unseres Verstecks sind wir noch nicht gewesen, weil dort deine Brüder auf der Lauer liegen. Sollten die Mädchen sich etwa in unmittelbarer Nähe zu unserem Lagerplatz aufhalten, ohne dass auch nur ein Wolf Witterung davon bekommen hätte? Wir kehren um und suchen die unmittelbare Umgebung unseres Verstecks ab.“


Noch ehe die beiden Freunde ihren Lagerplatz erreichen, hören sie Kampflärm aus dieser Richtung. Auf der Suche nach den Kriegerinnen, haben sich Bogenschütze und Wolf weit von ihrem Lagerplatz entfernt. So schnell sie auch laufen, um den Freunden zu Hilfe zu eilen, sie kommen zu spät, um noch entscheidend in die Kampfhandlungen einzugreifen. Als sie endlich ihren Lagerplatz erreichen, haben sich die Angreifer bereits zurückgezogen. Im Horizont beginnt die schmale Sichel des Mondes mit dem aufsteigenden Teil seiner Himmelsbahn und taucht den Ort um den Lagerplatz in gespenstisches Licht.

Hier und da liegen enthauptete Wolfsköpfe oder deren von Schwerthieben schwer gezeichneten Leiber auf dem Steppenboden verstreut herum und auch die Leichname zweier Kriegerinnen, die mit zerfetzten Kehlen regungslos auf dem Steppenboden liegen, sind grausiges Zeugnis für den hohen Blutzoll, den der Versuch, den Ring der verteidigenden Wölfe zu durchbrechen, gefordert hat.

Totenstille liegt wie eine schwere Decke über der Steppe, über dem Lagerplatz der Gefährten, über dem Versteck, das ihnen zunächst als sichere Bühne für ein einzigartiges Schauspiel der Kampfkunst gedient hat und schließlich zur tödlichen Falle geworden ist.


Furcht steigt im Bogenschützen auf, die Gefährten könnte alle um Leben gekommen sein.


„Wo seid ihr?“, ruft er mit zitternder Stimme und zu seiner großen Erleichterung hört er He sofort antworten:


„Wir sind hier, in unserem Versteck, das kein Versteck mehr ist.“


„Was ist passiert, He?“


„Was passiert ist? Nichts weiter, als dass wir im Pfeilhagel die Last- und die Reitpferde mitsamt deinen Beutewaffen verloren haben. Nur dein ‚Steppensturm’ hat sich standhaft geweigert, mit den anderen Pferden zu fliehen.“


„Garg ist tot – Wie konnte das passieren? Er war doch der stärkste von euch Kriegern.“


„Trotz der vehementen Angriffe durch die Wölfe, Magier, ist es einigen Kriegerinnen gelungen, den Verteidigungsring deiner vierbeinigen Freunde zu durchbrechen. Unter ihnen die Anführerin. Keinem Wolf, weder einzeln noch in der Gruppe, gelang es, diese Kriegerin aufhalten. Ihr Schwert schlug so schnell und unerbittlich tödlich auf jeden der Wölfe ein, der auf irgendeine Weise sich ihr in den Weg warf oder versuchte sie im Sprung mit den Fängen zu ergreifen. Schließlich stand die Anführerin allein vor meinem Bruder. Ich und meine Schwestern waren vollauf damit beschäftigt, die Feinde mit unseren Pfeilen halbwegs auf Distanz zu halten.

Zum Glück für uns, hatten wir aus Neugierde die Kettenhemden angezogen. Ein wunderbarer Schutz gegen jeden Pfeil, egal aus welcher Entfernung abgeschossen. Unsere Neugierde hat uns das Leben gerettet. Leider waren diese Kettenhemden für unseren Bruder und für Garg zu klein.“


„He, was passierte, als die Anführerin allein vor deinem Bruder stand?“


„Ihr Schwert rast mit einem hell klingenden Zischgeräusch, wie ich es noch niemals gehört habe durch die Luft und steht im Begriff auf meinen Bruder hinunterzufahren.

Dem tapferen Garg gelang es noch, seine Kampflanze zwischen Schwert und meinen Bruder zu bringen. Das Schwert der Anführerin durchtrennt das schwere Holz der Lanze und hat seine tödliche Wucht verbraucht. Der Mond ist inzwischen aufgegangen, so dass ich alles bis in die kleinsten Einzelheiten erkennen konnte. Die Kriegerin beugt sich vom Pferderücken zu Garg hinüber. Noch einmal kann Garg mit den zerschlagenen Teilen seiner Lanze die Wucht des zweiten Schwerthiebes auffangen. Das alles passiert viel, viel schneller als ich es denken, geschweige denn erzählen kann.“


„Erzähle weiter, He“, bittet der Bogenschütze mit sanfter Stimme.


„Beim vierten oder fünften Angriff hatte Garg von seiner Lanze nichts mehr in der Hand, als das kleine Stück, nicht länger als sein Unterarm. In diesem Augenblick befahl ich meinen Schwestern, ihre Pfeile auf die Anführerin zu richten. Ich befahl ihnen ins Gesicht der Anführerin zu zielen – aber es war zu spät und sie, die Anführerin, viel zu klug. Ho und Ha treffen nur den Kopfteil ihres Kettenhemdes, während die Anführerin mit dem letzten Hieb ihres Schwerts, von dessen Klinge das Mondlicht kurz in meine Augen blitzt, Gargs Kopf von seinem Leib trennt. Der Kopf, der – der fiel, also der fiel einfach so zu Boden, das Blut spritzt für einen Augenblick durch die Luft und dann fällt der enthauptete Leib auf seinen Kopf – und so liegen Leib und Kopf von Krieger Garg noch immer übereinander …“


„Ich – ich fühle mich mitschuldig an seinem Tod. Ich habe die raffinierte Anführerin unterschätzt.“


„Nein, Huang, dich trifft keine Mitschuld. Du bist nicht das Kindermädchen der Darr. Es war Gargs Aufgabe, den zukünftigen Kriegshäuptling der Darr, den Sohn des Mokk, mit seinem Leben zu beschützen – und das hat er ehrenvoll getan. Auch wir, mein Bruder und meine Schwestern – auch wir haben diese hinterhältigen Kriegerinnen völlig unterschätzt. Wir haben uns sicher und unangreifbar im Verteidigungsring deiner Freunde, der Wölfe gefühlt. Garg hat uns noch gewarnt, aber wir sind wohl doch, wie er meinte, noch zu jung und unerfahren als Krieger.“


„Wie soll es weitergehen, He, Ho, Ha und Sohn des Mokk. Ihr habt keine Pferde mehr.“


„Wenn du wirklich ein Magier bist“, erwidert der Sohn des Mokk, „dann hast du jetzt noch einmal die Gelegenheit, dich als ein solcher auszuzeichnen. Bring uns unsere Pferde zurück und befreie uns aus dieser peinlichen Hilflosigkeit. Wir sind ein Volk von Reitern, nicht von Steppenläufern, wie du es zu sein scheinst. Ohne unsere Pferde sind wir in der Steppe einfach – nichts.“


„Wäre ich ein Zauberer, dann könnte ich wohl die Pferde herbeizaubern – aber ich bin kein Zauberer. Ihr müsst laufen oder hier warten, bis ich mit den Pferden zurück bin.“


Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, macht sich der Bogenschütze mit seinem Freund Wu trotz der nächtlichen Dunkelheit an die Verfolgung der Kriegerinnen.

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Der Wolf erweist sich einmal mehr als sicherer Führer durch die Nacht. Unbeirrt folgt er der Spur der Feinde, von seinen unfehlbaren Instinkten und einem herausragenden Geruchssinn sicher geleitet.

Nachdem der Mond aus der Sicht des schnell durch die nächtliche, mondbeschienene Steppe reitenden Magiers etwa 6 Handbreiten auf seiner hohen Bahn zurückgelegt hat, signalisiert der vorauseilende Wu dem Freund die Nähe der Feinde. Der Magier erteilt dem Wolf den Befehl, vorsichtig das Lager der Feinde zu umschleichen.

Kein menschlicher Jäger könnte diesen Auftrag im Licht der durch den nächtlichen Himmel wandernden Mondsichel so unauffällig und effektiv erfüllen, wie der Wolf, dessen untrüglichen Sinnesorganen nicht die geringste Kleinigkeit entgeht. Für jedes menschliche Ohr unhörbar, für jedes menschliche Auge unsichtbar, nähert sich der Wolf dem Lager der Kriegerinnen so geschickt, dass nicht einmal die stets wachsamen Pferde Witterung von ihm aufnehmen können.


„Das machst du sehr gut, mein lieber Wu“, flüstert der Gedankenleser aus sicherer Entfernung in die Gedanken des Wolfs. Aus den Gedankenbildern seines vierbeinigen Kundschafters ermittelt er sehr schnell die genaue Anzahl der übrig gebliebenen Kriegerinnen, sieht seine erbeuteten Lastpferde und die in ihrer Nähe aufgestapelten, von ihm erbeuteten, Waffen.

Die Kriegerinnen sind sehr vorsichtig. Sie begnügen sich mit dem Licht, das die Mondsichel in dieser Nacht sparsam wie einen feinen Silberschleier in die nächtliche Steppe haucht. Nichts außer leisem Geflüster, das geschäftige Hin und Her der Kriegerinnen, die die unerwartete, reiche Beute taxieren und ein gelegentlicher, nur mühsam unterdrückter Ausdruck der Verwunderung über die Art der Beute weisen auf die Gegenwart der Kriegerinnen hin.


Längst ist der Bogenschütze von seinem Pferd gestiegen, das sich ruhig in einer kleinen Bodensenke niederlegt, während der Bogenschütze sorgfältig nach der für sein Vorhaben günstigsten Position sucht. Als er sich schließlich auf einer vorgestellten Linie mit dem Wolf und dem Mittelpunkt des Lagers der Kriegerinnen befindet, kniet er mit dem einen Bein auf den harten Boden, während der Fuß des anderen den festen Halt des Steppenbodens sucht. Durch die Augen des Wolfes sehend, entgeht dem Gedankenleser nicht die geringste Kleinigkeit im Lager der sich in Sicherheit wähnenden Kriegerinnen.


„Mein lieber Wu, schau nach der Anführerin!“, befiehlt er seinem Wolf in der bewährten Bildersprache, mit der der Gedankenleser mit seinem vierbeinigen Freund kommuniziert. Der Wolf, der regungslos in seinem Versteck liegt, lässt seine Blicke schweifen. Schnell hat er die Gesuchte mit seinen Blicken eingefangen und der Bogenschütze beginnt ruhig seinen Bogen zu spannen. Genau muss er zielen, denn neben der Anführerin steht mit dieser im Gespräch vertieft das Mädchen, das äußerlich so auffallend seiner Mo Xi gleicht.

Der Pfeil surrt durch die mondhelle Nacht seinem Ziel entgegen und ehe der Bogenschütze einen tiefen Atemzug tun kann, durchbohrt das scharfe, gespitzte Metall des Pfeils das Kettenhemd der Kriegerin, durchquert den Leib und durchdringt noch einmal das Kettenhemd an seinem Rückenteil mit halber Länge. Lautlos stürzt die Getroffene zu Boden.


„Da du meiner Mo Xi an äußerer Schönheit so ähnlich bist, will ich dich für heute verschonen. An deiner Stelle aber muss eine andere sterben“, flüstert der Bogenschütze vor sich hin, „und es soll euch auch nichts nützen, wie Heuschrecken auszuschwärmen.“


Schon schnurrt ein zweiter Pfeil durch den nächtlichen Silberschleier des Mondes und bohrt sich unerbittlich und todbringend in den Leib seines nächsten Opfers.


Hatte der Bogenschütze erwartet, dass die Kriegerinnen versuchen würden ihn einzukreisen, so sieht er sich jetzt getäuscht. Stattdessen ruft die klare, helle Stimme des Mädchens, das sein Leben der verblüffenden Ähnlichkeit mit Mo Xi verdankt, nach dem Bogenschützen:


„Fremder Bogenschütze, hörst du mich? Du hast Feng, unsere Anführerin, getötet und damit deinem Wunsch nach Rache Genüge getan.“


Der Bogenschütze denkt nicht im Geringsten daran zu antworten und damit seine Position zu verraten. Vielmehr legt er einen weiteren Pfeil auf die Sehne des Bogens, spannt den Bogen und schießt auf das Mädchen, das aus dem Umkreis des Lagers herausgetreten ist und im vollen Licht des Mondes gut sichtbar und leicht zu treffen ist. Wieder schnurrt der Pfeil durch die helle Nacht, als ob er es eilig hätte, sein Ziel zu erreichen. Die scharfe Spitze des Pfeils fährt mit einem leichten Ruck schneidend durch das Haar des Mädchens und trennt aus dem vollen Haarschopf eine kleine Strähne, die gemächlich zu Boden schwebt. Regungslos lässt die Kriegerin den Bogenschützen gewähren, der von Mut und Körperbeherrschung der Kriegerin so beeindruckt ist, dass er sich entschließt, dem Mädchen zu antworten:


„Sag mir deinen Namen, damit ich weiß, mit wem ich spreche.“

„Ro A’na Xi ist mein Name, fremder Bogenschütze, aber alle nennen mich nur ‚Ro’.“


„Also gut, Ro, ich werde der Magier genannt. Worüber willst du mit mir reden?“


„Nachdem du Feng getötet hast, bin ich die Anführerin ihrer Kriegerinnen. Ich will nicht länger gegen den Magier kämpfen. Lass uns Frieden schließen.“


Das Angebot der Kriegerin kommt überraschend und der Magier überlegt einen Augenblick, bevor er sich entschließt, auf das Angebot der Kriegerin einzugehen:


„Gebt zurück, was ihr uns während eures Überfalls geraubt habt – die Pferde, die Waffen, die Kettenhemden und die Vorräte an Nahrungsmitteln. Das sind meine Bedingungen.“


„Ich bin einverstanden, Magier. Meine Kriegerinnen werden sofort die Lastpferde beladen und sie mitsamt eurer Reittiere vor dem Lagerplatz abstellen. Und damit du siehst, dass wir nichts Arglistiges im Sinn haben, werden meine Kriegerinnen und ich uns vor dem Lagerplatz an einer freien, gut einsehbaren Stelle versammeln, um uns mit dir zu treffen. Mehr kann ich nicht tun, um dein Vertrauen zu gewinnen …“

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Wu‘s Auftrag


Als der Morgen mit seinem ersten Licht in die Dunkelheit der Steppe einbricht, hat Wu längst mit den Pack- und Reitpferden den Lagerplatz der Kriegerinnen verlassen. Er folgt dem Befehl seines Menschen und führt die Pferde durch die Steppe dem Lagerplatz der Freunde seines Menschen zu. Als der Rand der Sonnenscheibe sich eben über den Horizont erheben will, hat Wu sein Ziel erreicht, doch der Lagerplatz ist verlassen. Selbst der tote Garg, der mit seinem enthaupteten Leib auf seinem eigenen Kopf gelegen hatte, ist spurlos verschwunden. Nicht den geringsten Hinweis auf Gargs vergossenes Blut kann Wu an der Stelle erschnüffeln, an der Garg in der Nacht noch in seinem eigenen Blut gelegen hat. Es ist nicht die Aufgabe eines Wolfes, sich über solche Ungereimtheiten der Menschen den Kopf zu zerbrechen.

Sein Mensch, der ihn sonst immer in seinem Kopf begleitet, ist im Augenblick nicht da und so muss Wu selbst entscheiden, was jetzt zu tun ist. Das ist leicht. Er tut, was er als Wolf am besten kann – Fährten suchen und an ihnen entlang der Beute folgen …


Er wendet sich der umfangreichen Fährte zu, die von den anderen Mitgliedern des Menschenrudels sich leicht erkennbar in den Steppenboden eingeprägt hat. Dem aufmerksamen Wolf entgeht auch nicht die einzelne Fährte, die genauso riecht, wie die des Menschen, den alle „Garg“ nannten. Als von Instinkten geleitetes Raubtier stuft er die einzelne Spur als feindlich ein und er achtet sorgfältig darauf, keine Fährte des Feindes zu übersehen.

Steppenwind, das Pferd seines Menschen, führt die Pack- und Reittiere der anderen Menschen und er, Wu, er führt den Steppenwind …

Am Hofe des Kaisers


„Kaiserliche Hoheit, Peng der Zauberer ist soeben eingetroffen“, flüstert der Diener vor dem Kaiser mit gesenktem Haupt kniend. Streng verboten ist es jedem aus dem Volk, den Kaiser – den Sohn des Himmels und Stellvertreter der himmlischen Götter auf Erden – ins Angesicht oder gar in die Augen zu schauen.


„Dann schickt mir die Bogenschützen und lasst den Zauberer zu mir kommen, der mir mehr Zauderer als Zauberer zu sein scheint. Und meine Berater, diese faulen Hundesöhne, sollen anwesend sein! Und nun fort mit dir!“


Peng der Zauberer wird vor den Kaiser geführt, vor dem zu knien er sich beharrlich weigert. Eine Aura aus Stolz, Selbstvertrauen und Kraft umgibt den Zauberer mit einer körperlich empfindbaren Aufdringlichkeit, die auch beim Kaiser ihre Wirkung nicht gänzlich verfehlt.

Mit seiner Körpergröße überragt Peng's schlanke Gestalt die des kräftigen, untersetzten Kaisers um Haupteslänge. Das fast zwei Männerschritte lange, pechschwarze, volle Haar, wird kopfnah zusammengefasst durch eine eineinhalb Hände breite, massive goldene Spange, die das Haar des Zauberers zu einem bogenförmigen Anstieg zwingt, bevor es dem Erdbogen entgegenfallen kann.

Das Gesicht des Zauberers wird beherrscht von zwei Augen, die auf Klugheit, aber auch auf Erfahrung, Raffinesse und Schläue schließen lassen.


„Du misstraust mir noch immer, obwohl wir doch schon solange so erfolgreich zusammenarbeiten“, lächelt Peng verschmitzt und der Kaiser, der seinen Zauberer niemals aus den Augen lässt, solange der sich in seiner unmittelbaren Umgebung befindet, fragt sich einmal mehr, wie alt Peng wohl sein mag. Und einmal mehr muss er sich eingestehen, dass jede Schätzung unmöglich ist.


„Meine Grenzarmee im Westen, die die Steppenvölker unterwerfen soll, wird unruhig. Der Feind ist immer um drei Schritte voraus, schlau, schnell und immer tödlich. Meine Soldaten verlieren allmählich ihr Selbstvertrauen in der ständigen Auseinandersetzung mit Aufrührern aller Art, weil sie bei den ständigen Angriffen aus dem Hinterhalt immer das Nachsehen haben.

Dabei hat der Krieg so viel versprechend angefangen. Meine Soldaten haben in einem einzigen Sturmlauf alle Befestigungen eingenommen, alle Krieger der Feinde getötet oder versklavt. Wir haben schon mindestens einen wichtigen Verbündeten unter den einheimischen Stämmen der Steppe gefunden.

Jetzt erwächst mir unerwartet ein sich unbesiegbar gebender neuer Feind in einem einzigen Krieger, der durch Glück dem tödlichen Angriff auf sein Dorf entkommen ist. Dieser Krieger stellt aus dem Nichts eine Armee in die Steppe und fordert mich heraus.

Ich habe meinen Generälen befohlen, mir diesen Krieger, den Kommandanten einer Geisterarmee, tot oder lebendig vor die Füße zu legen. Ich habe ihnen mit Exekution gedroht – aber nichts kann die faulen Hunde dazu bringen, mir meinen Wunsch zu erfüllen. Außerdem kommt dieser Aufrührer meinen Exekutionen stets zuvor, indem er seine Krieger sich unter meine Krieger mischen lässt, die es immer auf meine hochrangigen Soldaten abgesehen haben. Kaum ist ein neuer Befehlshaber ernannt, ist er von den Aufrührern auch schon wieder ermordet …

Und du, Peng, du hast bis jetzt ebenfalls versagt. Hüte dich davor, für mich nicht mehr von Nutzen zu sein!“


„Du musst mir nicht drohen, kaiserliche Hoheit. Und ich muss mich auch nicht vor dir fürchten. Du kannst mich, den Zauberer, ebenso wenig besiegen, wie den, wie es scheint, sehr erzürnten Kommandanten, den du Huang den Krieger nennst. Hüte du dich selbst davor, für mich nutzlos zu werden. Wenn es dir nicht bald gelingt, den rebellierenden Krieger mit seiner Geisterarmee, wie du es genannt hast, zu bezwingen, dann wird er einen Flächenbrand entzünden, der alle Völker diesseits und jenseits deiner Grenzen erfassen wird. Niemand wird dich mehr für unbezwingbar halten und viele werden es dem aufsässigen Krieger gleichtun wollen.“


„Das alles weiß ich selbst, Peng. Sag mir, was du bis jetzt erreicht hast!“


„Es ist mir gelungen, mehrere Spione bei unseren Feinden einzuschleusen, kaiserliche Hoheit. Der Sohn des Kommandanten ist bereits von wenigstens zwei dieser Spione umgeben. Ich erhalte bereits wertvolle Informationen aus erster Hand. Und es wird nicht mehr lange dauern, dann kann ich dir jederzeit sagen, wo deine Soldaten Huang den Krieger in der Steppe finden können. Meine Spione nähern sich bereits dem Lager des Kommandanten der Aufrührer. Dann ist es soweit, dass deine Krieger auf deinen Befehl hin diesen Kommandanten angreifen und töten können.“


„Huang der Krieger ist kein Dummkopf. Er wird misstrauisch werden.“


„Nein, kaiserliche Hoheit. Meine Spione sind so gut getarnt, dass niemand misstrauisch werden wird. Außerdem werden zwei meiner Krieger vom Sohn des Kommandanten persönlich zum Lager der Aufrührer geführt. Und wenigstens einer dieser gut getarnten Spione ist dem Kommandanten bereits als vertrauenswürdiger Krieger bekannt.“


„Warum, im Namen der Götter – warum sollte der Sohn des aufrührerischen Kommandanten dies tun. Ist er ein Verräter?“


„Nein, kaiserliche Hoheit, er ist kein Verräter. Er weiß ja nichts von den Spionen, die er doch zum Teil sogar für seine Freunde hält.

Dieser Sohn des Kommandanten nennt sich übrigens Magier oder auch Bogenschütze. Er scheint mir der weitaus gefährlichere von zwei äußerst gefährlichen Kriegern zu sein.“


„Warum nennt er sich „Magier“. Das ist doch sehr ungewöhnlich für einen einfachen Bewohner der Steppe?“


„Ich habe so unglaubliche Dinge über den Sohn des dir verhassten Kommandanten erzählen gehört, kaiserliche Hoheit, dass ich nicht glauben kann, dass er nur ein einfacher Bewohner der Steppe ist. Es ist unmöglich, dass alles, was man sich bei den Steppenvölkern über den Magier erzählt die Wahrheit ist – und doch, selbst wenn nur ein geringer Teil des Erzählten der Wahrheit entspricht, dann spricht vieles dafür, dass dieser einfache Steppenbewohner nicht nur ein ungewöhnlicher Mensch und Magier ist. Es weist vieles darauf hin, dass er auch ein höchst gefährlicher Feind sein könnte.

Zumindest aber scheint er eine unglaubliche Begabung zu besitzen, Illusionen zu erzeugen, mit denen er jedermann nach Belieben täuschen kann.“

„Klingt fast so, Peng, als würde dir dieser Magier Konkurrenz machen!“


„Nein, kaiserliche Hoheit, diese Gefahr besteht in keiner Weise. Es gibt allerdings etwas, das mir große Sorge bereitet.“


„Was wäre das, was dem großen Peng Sorge bereiten könnte!“


„Kaiserliche Hoheit, die Krieger deiner Westarmee, die den Gelben Fluss, den Grenzfluss überschritten haben – haben die nicht von riesigen Dämonen in Form riesiger Spinnen berichtet?“


„Ja, Peng, ich erinnere mich daran. Denen hatte wohl die Sonne etwas zu lange auf den Kopf geschienen.“


„Vielleicht, kaiserliche Hoheit, vielleicht auch nicht. Ich sage dir, einige meiner Kundschafter und Spione haben mir dasselbe berichtet und ich habe daher einem von ihnen befohlen, mir den Kopf von einem dieser schwer besiegbaren Dämonen in meine Festung zu bringen, um ihn dir als Beweis vorzulegen.“


„Und?“, lacht der Kaiser, „haben deine Krieger dir besser gehorcht als meine es getan haben?“


„Dieser Auftrag, kaiserliche Hoheit, war nicht so schwer auszuführen, wie den Kommandanten Huang den Krieger zu fangen, um ihn seines Kopfes zu berauben. Deine Soldaten lassen willig ihr Leben für dich, wenn du es von ihnen forderst. Meine Krieger mussten nur einen der bereits erlegten Dämonen in der Steppe suchen und dem leblosen Körper den Kopf abschneiden. Das war kein gefährlicher Auftrag.“


„Und hast du den Kopf eines solchen Dämonen erhalten?“


„Ja, kaiserliche Hoheit. Er liegt in meiner Festung in meinem Wald.“


„Dann waren es keine Hirngespinste, was meine aus der Steppe heimkehrenden Krieger mir erzählt haben?“


„Auf keinen Fall, kaiserliche Hoheit – und da liegt der Grund meiner Besorgnis. Dem Magier ist es auf irgendeine vollkommen unbegreifliche Weise gelungen, in der Kürze eines Atemzuges jeden dieser Dämonen aus der Steppe in die Hölle zu verbannen.“


„Das ist alles so lächerlich, Peng, dass ich kein Wort davon glauben kann. Nein, Huang der Krieger ist es, der unser gefährlichster Feind ist – und den sollst du mit mir gemeinsam bekämpfen. Sein Sohn fällt uns dann von ganz allein in die Hände. Wenn wir ihn gefangen haben, dann soll er dir gehören.

Ich bin sicher, dass du den Monsterkopf des Dämonen genau untersucht hast. Hast du dabei neue Erkenntnisse gewonnen?“, spottet der Kaiser, „ist dieser Dämonenkopf vielleicht auch nur eine Illusion und alles ist am Ende nur eingebildet?“

„Du machst dich zu Unrecht über mich lustig, kaiserliche Hoheit, ich werde dir Beweise vorlegen.“


„Ich werde mir selbst Beweise vorlegen was deine Person betrifft, Zauberer. Ich bin neugierig zu erfahren, ob du nicht doch genauso sterblich bist, wie alle meine Untertanen auch.“


„Was hast du vor, kaiserliche Hoheit?“, fragt der Zauberer und in seinen Augen beginnt ein gefährliches Feuer aufzuglühen.


„Verteidige dich, wenn du kannst – der Rest ist meine Sache“, lächelt der Kaiser grimmig.


„Greift an!“, befiehlt er seinen Soldaten, die sofort die Pfeile an ihre Bögen legen, spannen und sofort zu schießen beginnen. Eine dichte Wolke heranfliegender Pfeile hüllt den Zauberer von allen Seiten ein. Gespannt verfolgt der Kaiser das Schauspiel der heranfliegenden Pfeile, deren schneller Flug drei Schritte vom Zauberer entfernt so abrupt endet, als wären sie auf ein unsichtbares, undurchdringliches Hindernis getroffen. So kräftig die Krieger auch ihre Bögen spannen, keiner der Pfeile vermag bis zum Zauberer vorzudringen.


„Greift ihn mit euren Schwertern an“, befiehlt der Kaiser und die Krieger gehorchen sofort. Von allen Seiten tragen die kaiserlichen Krieger den Angriff gegen den Zauberer vor – vergeblich.


„Kaiserliche Hoheit, wenn die ungestümen Angriffe deiner Krieger mich zu langweilen beginnen, dann werde ich sie bis auf den letzten Mann töten – und glaube mir, ich werde nicht so jämmerlich versagen wie deine Krieger.“


„Töte sie ruhig, Peng, ich habe genug gute Krieger. Aber ich weiß, was ich wissen wollte. Ich bin mir ziemlich sicher, dass du deine unsichtbare Zauberfestung, die du um dich errichtet hast, ebenso wenig von innen nach außen durchdringen kannst, wie meine Krieger sie nicht von außen nach innen durchdringen können.“


„Verlass dich nur nicht zu sehr auf deine Klugheit, kaiserliche Hoheit. Denn sieh und staune, wie ich in meiner unsichtbaren Zauberfestung sicher vor den Angriffen deiner Krieger deinen Palast verlasse. Weder du noch deine Krieger werden mich daran hindern können.“


Mit diesen Worten beendet der Zauberer von sich aus die kaiserliche Audienz und begeht damit einen ungeheuren Frevel gegen den Kaiser.

Der Kaiser und seine Krieger können es nicht verhindern. Wortlos sehen sie zu, wie der Zauberer in seiner unsichtbaren Festung sicher durch die festen Palastmauern schreitet, als wären diese nur ein dünnes Gespinst aus Spinnenweben.


„Dieser Zauberer“, wendet Shen-nun sich an seine vor ihm knienden beratenden Höflinge, „dieser Zauberer wagt es, mich herauszufordern. Forscht verstärkt nach den Geheimnissen des Zauberers. Vor allem möchte ich wissen, warum er sich so sehr für den Sohn des Kommandanten Huang des Kriegers interessiert, ich will endlich wissen, wie alt der Zauberer ist, wo er herkommt, warum er nicht zu altern scheint, obwohl er schon so viele Jahre in meinen Diensten steht. Ihr dürft jetzt sprechen.“


„Kaiserliche Hoheit, wir konnten einiges über den Zauberer herausfinden. Leider war es nicht würdig, vor der Klugheit des Sohnes des Himmels Beachtung zu finden.

Aber wenn es der kaiserlichen Hoheit gefällt, dann werde ich darüber berichten, was in langwieriger Arbeit an Informationen zusammengetragen wurde.“


„Dann rede, aber wenn du mich langweilst, dann wirst du noch vor Sonnenuntergang enthauptet.“


„Im fernen Westen, kaiserliche Hoheit, sehr weit jenseits der hohen Gebirge, liegt zwischen zwei Flüssen ein sehr altes und sehr mächtiges Königreich.

Die Könige und ihre Berater, die von außergewöhnlicher Weisheit und großer Klugheit sind, verstehen sich als Bewahrer eines Erbes, dass ihnen von ihren unbekannten Vorfahren vor so langer Zeit hinterlassen wurde, dass nur noch die Legenden von ihnen berichten können.

Niemand weiß heute mehr zu sagen, wer dieses Reich dort zwischen den zwei Flüssen gegründet hat, ob es Menschen von herausragender Klugheit oder Söhne der Götter waren, gezeugt von Göttern mit menschlichen Frauen …

Jedenfalls berichten die Legenden von Kriegern, die von überragender Körpergröße, gewaltiger Körperkraft und herausragender Klugheit waren. Krieger, die unbezwingbar waren – und doch plötzlich einfach verschwanden.

Zurück blieben nur die Menschen, die sich freiwillig der weisen Herrschaft dieser geheimnisvollen göttergleichen Krieger unterworfen hatten. Diese rätselhaften Krieger hinterließen ihrem Volk das Wissen über die Kriegskunst, hatten sie gelehrt, kunstvolle Dämme als Schutz gegen das Hochwasser der beiden Flüsse zu errichten.

Sie lehrten sie die Gesetze des Himmels und der im Himmel stehenden Gestirne, so dass sie voraussagen können, wann die Sterne in ihrem Himmel erscheinen und wann sie wieder unsichtbar werden. Sie können anhand dieser Sterne Trocken- und Regenzeiten voraussagen. Sie verfügen über einzigartige Kenntnisse der Metalle in der Erde, wie sie abgebaut und wie sie geschmolzen und zu Waffen oder Schmuck oder anderem verarbeitet werden. Die Menschen dieses heute vergessenen Volkes waren die Vorfahren der Einwohner des Königreiches von Akkad, das selbst schon unbenennbar viele Generationen älter ist, als das Reich unserer kaiserlichen Hoheit.“


„Aber mein Kaiserreich ist der Mittelpunkt der Welt, aller Ordnung und allen Wissens, du Dummkopf – wie kann das, was du mir erzählt hast, dann die Wahrheit sein? Und erzähle mir, was das alles mit dem Zauberer Peng zu tun hat.“


„In diesem Königreich, das sich Akkad nennt, ist der Zauberer Peng nicht unbekannt, kaiserliche Hoheit. Dies gilt auch für alle anderen Königreiche in dieser Gegend. Fast jeder der Einwohner kannte den Zauberer wenigstens vom Hörensagen, wie die im Auftrag des kaiserlichen Hofes von uns in diese Gegend der Welt geschickten Gesandten immer wieder betont haben.

Viele der edleren und älteren Akkader kannten den Zauberer sogar persönlich, bis er plötzlich von einem Tag auf den anderen verschwand und niemals wieder gesehen wurde.“


„Konntet ihr von den Akkadern erfahren, wo er sich befunden hat, bevor er die Königreiche im Land der zwei Ströme heimsuchte?“


„Nein, kaiserliche Hoheit, aber die Akkader sind sich ziemlich sicher, dass er auf einem riesigen Vogel aus der Welt der Götter, dem Himmel gekommen ist. Vor viele Jahren, so berichten die Legenden dieses Volks, hat er seinen riesigen Vogel bestiegen – und ist viel schneller, als der schnellste der uns bekannten natürlichen Vögel es je vermöchte, so hoch in den Himmel hinein geflogen, dass er sich schon nach der Zeit eines tiefen Atemzuges den Blicken der zufälligen Beobachter entzogen hatte.

Wir sind wegen des großen Wissens des Zauberers und wegen seiner Unbesiegbarkeit als Krieger der Auffassung, dass Peng der Zauberer einer dieser geheimnisvollen Krieger ist, von denen niemand weiß, ob sie nicht von einem Gott mit einer Menschenfrau gezeugt wurden.“


„Dieser Hundesohn scheint doch gefährlicher zu sein, als ich es für möglich gehalten hätte“, überlegt der Kaiser laut. „Obwohl er sehr mächtig zu sein scheint, ist er aber kein Zauberer. Fahrt fort, den Geheimnissen des Zauberers nachzuforschen!“


„Ja, kaiserliche Hoheit, bei Tag und bei Nacht beobachten wir im Wald des Zauberers den Ort, wo Pengs unsichtbare Festung steht. Einmal wurde diese Festung sichtbar, allerdings nur für einen ganz kurzen Augenblick. Unsere Späher waren zu Tode erschrocken, als sie das riesige Ungeheuer mit seinen funkelnden Augen und dem Feuer speienden Nüstern erblickten. Mit seinen Feuerblitzen hätte es unsere Späher leicht vernichten können, tat es aber nicht.“


„Schickt dem Peng ein paar Sklavinnen und haltet ihn bei Laune. Ich brauche ihn noch. Nehmt euch in Acht vor diesem Zauberer.“

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Der Magier ist allerdings vollauf damit beschäftigt, die verbliebenen Kriegerinnen im Auge zu behalten. Ro hat Wort gehalten. Die gesamte Anzahl der Kriegerinnen, so wie er sie durch die Augen seines Wolfs gesehen und gezählt hat, sind an einer übersichtlichen Stelle vor ihrem Lagerplatz versammelt und warten gespannt auf den Magier, der sich der Gruppe der Kriegerinnen vorsichtig nähert.


„Du bist sehr mutig, Magier“, empfängt Ro den Bogenschützen, der höflich antwortet:


„Nicht mutiger, als du es bist, Ro. Ich bewundere deine Selbstbeherrschung, die dich nicht im Geringsten zusammenzucken ließ, als mein Pfeil dir im Vorbeiflug eine Strähne aus dem Haar herausgeschnitten hat.“


„Es war längst schon mein Wunsch, den Bogenschützen kennen zu lernen, der durch Mut und kriegerische Geschicklichkeit es bei uns, den Gor zu höchstem Ansehen gebracht hat.“


„Und ich bin gespannt darauf zu erfahren, was die Ursache deiner großen äußerlichen Ähnlichkeit mit Mo Xi ist, die du sicherlich kennst. Du bist ja selbst ein Mädchen der Gor. Außerdem würde ich gern wissen, woher du weißt, mit wem du es im Augenblick zu tun hast. Habe ich mich dir schon einmal vorgestellt?“


„Nein, das hast du nicht, Magier und Bogenschütze“, lacht Ro und ihre weißen Zähne reflektieren matt das Licht des untergehenden Monds. „Doch glaube mir, Magier, auch wenn du niemanden in der Steppe siehst – die Steppe hat überall versteckte Augen und Ohren und nicht nur die Späher der Darr sind ständig in der Steppe unterwegs“


„Und deine Ähnlichkeit mit Mo Xi?“


„Mo Xi und ich, wir haben die gleiche Mutter, aber verschiedene Väter. Doch frag nicht weiter nach der Vergangenheit, Magier – ich habe übrigens gehört, das du und Mo Xi in einer ganz besonderen Beziehung steht. Ist es wahr, das ihr – hm – einander sehr zugetan seid?“


„Ich – ich – also ich …“


„Ich habe schon verstanden, Magier. Wann hast du sie zuletzt gesehen?“


„Schon lange nicht mehr. Ich habe sie wegen einer längeren – ja – wegen einer längeren Abwesenheit von der Steppe, meinem Vater anvertraut.“


„Ist es wahr, Magier, was die Menschen in der Steppe von dir erzählen?“


„Wahrscheinlich nicht. Was erzählt man sich denn so?“


„Dass du mit den Wölfen und den Raubvögeln der Steppe sprichst?“