Vorwort

Der Online-Handel beginnt, den Kinderschuhen zu entwachsen und fächert sich konzeptionell immer weiter auf. Neben den geläufigen Shop- und Katalogmodellen sind in den vergangenen Jahren vermehrt neue Geschäftsmodelle für den E-Commerce entstanden.

Sie laufen in der Branche unter Schlagwörtern wie Live Shopping Events, Shoppingclubs, Crowdsourcing oder Social Shopping Anwendungen. Und sie bieten dem (Online-)Handel vollkommen neue Perspektiven, um nicht mehr nur schnell und günstig Produkte an den Mann/die Frau zu bringen, sondern die Kundschaft mit attraktiven Aktionen und Angeboten dauerhaft zu fesseln.

Obwohl diese Entwicklungen noch weitgehend am Anfang stehen, verdeutlichen wachstumsstarke Vertreter der neuen E-Commerce-Generation, wie Vente-Privee, Woot!, Etsy, Polyvore, Groupon oder Lockerz, schon sehr eindrucksvoll die Potenziale dieser Geschäftsmodelle.

Die neuen Händler begreifen das Internet ebenso wie das Social Web um Facebook oder das mobile Web weniger als zusätzliche Absatzkanäle für ihre Produkte sondern als neue Medien, die sich gekonnt für unterhaltsame Verkaufskonzepte und interaktivere Shoppingformate nutzen lassen.

Bei Exciting Commerce (www.excitingcommerce.de) begleiten wir diese Entwicklungen seit 2005 mit täglichen Blogbeiträgen unter dem Leitmotiv „The Exciting Future of E-Commerce“.

Seit Anfang 2009 widmet sich zudem die zweiwöchentliche Kolumne „E-Commerce für Fortgeschrittene“ in der Fachzeitschrift Internetworld Business den spannendsten Aspekten dieser Entwicklung.

Das vorliegende Buch vereint erstmals eine Auswahl der besten Internetworld-Kolumnen seit 2009 als „50 Denkanstöße für den Online-Handel von morgen“. Sämtliche Texte finden sich hier in der ungekürzten Originalfassung wieder.

Für uns waren die dynamischen, neuen Entwicklungen im E-Commerce-Markt 2010 der Anlass, die Exciting Future GmbH für E-Commerce zu gründen, eine Beratungs- und Beteiligungsgesellschaft, die sich auf neue Geschäftsmodelle und die damit entstehenden neuen E-Commerce-Segmente fokussiert.

Thematisch decken die „50 Denkanstöße“ das volle Exciting Commerce Spektrum ab und gehen auf neue Geschäftsmodelle ebenso ein wie auf die Entwicklung neuer E-Commerce-Märkte auf Basis neuer Technologien und sozialer Innovationen.

Wir wünschen allen Leserinnen und Lesern eine anregende Lektüre!



München, im Mai 2011

Jochen Krisch, Sascha R. Rowold

Die größten Regelbrecher

Wer sich immer nur einfach an die Regeln hält, der ist auch im ECommerce bestenfalls Mittelmaß. Wie gut es ist, die Regeln der Etablierten selbstbewusst einfach zu brechen, zeigt Vente-Privee. Mit angepeilten 600 Millionen Euro Umsatz für 2009 und 900 Mitarbeitern ist der Shoppingclub nicht nur einer der größten Regelverletzer, sondern auch einer der erfolgreichsten und profitabelsten Onlineshops auf der Welt.

Während die meisten Webhändler glauben, ohne Neukundenakquise über Google nicht überleben zu können und daher irrsinnige Summen in SEO/SEM-Maßnahmen stecken, lässt Vente-Privee Google links liegen und ist trotzdem mit täglich über einer Million Besuchern eine der trafficstärksten Shoppingseiten der Welt.

Während E-Commerce-Experten möglichst kurze Lieferzeiten als wichtiges Erfolgsmantra predigen, verzeichnet Vente-Privee trotz Lieferzeiten von über vier Wochen Wiederbestellraten, von denen andere Shops nur träumen können.

Seufzen andere Modeshops über horrende Retourenquoten, freut sich Vente-Privee über Rücksendequoten im niedrigen einstelligen Bereich - obwohl die Franzosen vor allem mit retourenanfälligen Modeartikeln handeln.

Wer also sagt, dass ohne Google nichts geht im E-Commerce, dass man schnell liefern und im Modebereich mit hohen Retourenquoten rechnen muss?

Vente-Privee ist erfolgreich, weil das Unternehmen anders handelt als die anderen und vom Einkauf bis zur Versandabwicklung sämtliche Prozesse konsequent darauf getrimmt hat.

Selbst die eigene Zielgruppe haben die Franzosen anders definiert als jeder andere Webshop: Dem eigenen Selbstverständnis nach ist Vente-Privee nämlich kein E-Commerce-Angebot, sondern ein Dienstleister für Marken und Brands: "Wir sind kein Club für die Kunden, sondern ein Club für die Marken", sagt Vente-Privee-Gründer Jacques-Antoine Granjon. "Wir schützen die Marken."

Und doch ist Vente-Privee auch das Shoppingerlebnis seiner Kunden heilig. Kaum eine E-Commerce-Plattform verwendet ähnlich viel Mühe und Engagement auf die Erstellung der einzelnen Unter- und Detailseiten wie das französische E-Com-merce-Vorzeigeunternehmen, das diese quasi täglich neu gestaltet.

Auch würde das Unternehmen niemals Cross-Selling-Aktionen fahren und seine Nutzer, wie Amazon, mit Empfehlungen quälen. Es würde seine Adressen nicht weitergeben und die eigene Seite auf gar keinen Fall über und über mit Werbung zupflastern.

Vente-Privee ist nicht das einzige E-Commerce-Unternehmen, das groß wird, weil es konsequent anders ist. Auf ihre Weise sind auch Tchibo, Woot, Threadless, Zappos, Asos und Notebooksbilliger groß und erfolgreich geworden, weil sie sich - aus gutem Grund -nicht an die Regeln halten.

Fit für die mobile Vielfalt

Vom Jamba-Klingelton-Abo über mobile Spieleanwendungen bis hin zur digitalen Bibliothek für den Amazon Kindle - Mobile Commerce kennt viele Gesichter. Allein Sony bietet inzwischen eine Fülle mobiler Endgeräte an: Neben Handys, Digitalkameras, digitalen Bilderrahmen, MP3-Playern, Navigationsgeräten und der PSP-Konsole soll ab März 2009 auch ein eReader für E-Commerce-Umsätze sorgen.

In den letzten Jahren hat sich der Markt für Mobilgeräte enorm entwickelt: Neben trendigen Lifestylegeräten wie dem iPod für Musik und Videos, dem iPhone oder den eeePC Netbooks von Asus gibt es mittlerweile eine Fülle von speziellen Geräten zum Spielen, Lesen, Hören oder Navigieren, ganz zu schweigen von kultigen Exoten wie dem Chumby Internet Device (www.chumby.com). Allesamt sind potenzielle Plattformen für mobile Shoppingkonzepte.

Man muss kein Prophet sein: Für jede mobile Plattform werden sehr spezifische Verkaufskonzepte entstehen - und für traditionelle Versender, die auf allen Hochzeiten tanzen wollen, wird es zunehmend schwieriger, mit Diensten mitzuhalten, die sich explizit auf eine Plattform spezialisiert haben.

Dem Handel bleiben also prinzipiell zwei Möglichkeiten, sich auf die mobile Vielfalt einzustellen: Entweder es gelingt ihm, universelle Verkaufskonzepte zu (er)finden, die auf möglichst vielen Plattformen funktionieren (Liveshopping Events wären ein gutes Beispiel dafür). Oder aber er konzentriert sich auf einige wenige zukunftsträchtige Plattformen und entwickelt sehr spezielle Shopping-Anwendungen dafür, die ganz auf die technologischen Eigenheiten (Bildschirmgröße, Grad der Vernetzbarkeit etc.) des entsprechenden mobilen Geräts zugeschnitten sind.

Noch hängt sich der Handel vor allem an bestehende Plattformen an, sei es das iPhone oder das Handy. Eine denkbare Alternative wäre aber auch ein speziell designtes, mobiles Shoppinggerät. Wie auch immer der "Shopman" oder das "Shopgirl" dann aussehen mag - vielleicht eine Mischung aus Barcode-Scanner und persönlichem Shopping Guide. Zumindest eines zeigt die Entwicklung der letzten Jahre ganz deutlich: Der Traum vom ultimativen mobilen Gerät scheint ausgeträumt. Die Welt divergiert auch in diesem Bereich. Und es wird sich zeigen, welche Geräte sich durchsetzen werden. Wohl denen, die heute schon wissen, wie wir in Zukunft mobil einkaufen werden.

Frische Impulse für den Online-Handel

Im Onlinehandel war 2008 ein bemerkenswerter Sinneswandel spürbar. Denn auch Händler, die bisher kaum versucht waren, gezielt mit ihrem Warenangebot zu spielen, bewegten sich und brachten mehr und mehr Dynamik in ihr Sortiment.

Mehr als ein Dutzend Shoppingclubs und weit mehr als 50 Liveshopping-Dienste waren die Folge. Neben Start-ups wie Brands4Friends oder Guut.de sind auch viele etablierte (Online-Händler wie Ebrosia, Alternate ("Zackzack!") und Quelle ("Q des Tages") in den Aktionsverkauf eingestiegen - mit zum Teil beeindruckenden Zahlen.

Hinzu kommen die Experimente der Medienhäuser mit alternativen Erlösströmen - allen voran die "Süddeutsche Zeitung" mit dem Süddeutsche. de-Kaufdown sowie die "Speedshopping"-Tests von Autobild und Sportbild.

Was viele immer noch verkennen: Händler werden online zu Mediendiensten. Sie müssen Onlinenutzer medienadäquat ansprechen und dauerhaft begeistern.

Nur wenigen gelingt dies heute schon. Entsprechend ist die Wiederbestellquote die Achillesferse vieler Onlineshops. Unter anderem deshalb werden wir künftig auch online zunehmend mehr Entertainment-Formate und Shops mit Entertainment-Elementen sehen.

Wenn dies dem klassischen Handel nicht gelingt, werden die Powerseller einspringen. Denn spätestens seit sich diese bei eBay nicht mehr wohlfühlen, sind sie auf der Suche nach alternativen Absatzkanälen und engagieren sich schon heute stark als Lieferanten oder Seitenbetreiber im Liveshopping-Bereich.

Seit dem Sommer 2008 veranstaltet Exciting Commerce regelmäßig die Live Shopping Days.

Dort treffen sich Verkäufer mit Lieferanten und Startups mit, um über neue Konzepte und Kooperationsmöglichkeiten zu diskutieren.

2011 fanden die 5. Live Shopping Days am 21. und 22. März in Berlin statt. Die nächsten Live Shopping Days sind für März 2012 geplant.

Shoppingsysteme mit Zukunft

Ein Shopsystem muss das Geschäftsmodell eines Online-Händlers optimal abbilden - und nicht umgekehrt.

Heutige Shoppingsysteme haben hier Nachholbedarf. Ein Standardshop nutzt den Marktführern Amazon und Ebay genauso wenig wie der zunehmenden Zahl von (Aktions-)Händlern in den Live-, Event- und Social Shopping Segmenten.

Dort wo Shopbetreiber auf einzigartige Geschäftsmodelle setzen, wird die Shoppinglösung zum wesentlichen Differenzierungsfaktor.

Die Mehrheit der Shopsysteme basiert aber gedanklich noch auf einem traditionellen Katalogmodell - mit saisonal wechselnden Sortimenten und weitgehend stabilen Preisen. Entsprechend beliebt sind diese bei Katalogversendern sowie E-Commerce-Einsteigern, die den Online-Kanal vorwiegend als weiteren Absatzkanal für ihr bestehendes Geschäft nutzen möchten.

Was aber, wenn der Online-Erfolg weniger von der Fülle der gleichzeitig vorgehaltenen Artikel abhängt, sondern vor allem von der Reaktionsschnelligkeit, wenn schnell drehende Postenware, hohe Bildmengen, flexible Preise und der schnelle Abverkauf hoher Stückzahlen heutige Shopsysteme an den Rand ihrer konzeptionellen Möglichkeiten bringen? Einiges lässt sich mit Zusatzmodulen auffangen, aber nicht alles.

Bei den Live Shopping Days beschrieben im Februar 2009 führende Anbieter wie iBOOD, Guut, Brands4Friends oder BuyVIP, wie sie notgedrungen auf selbst entwickelte Shoppingsysteme ausweichen müssen. Brands4Friends hatte es beim Start mit einer Standardlösung versucht, musste aber schnell erkennen, dass auf eine Sonderanpassung (Warenkorbentleerung spätestens nach 25 Minuten) die nächste (Wartelistenfunktionalität, etc.) folgte - und es sich irgendwann lohnte, für Shopsystem und Warenwirtschaft auf spezialisierte Lösung zu setzen, die dann inhouse entwickelt wurden.

Nicht nur die nächste E-Commerce-Generation ist es, die sich von Standardlösungen abwendet. Fast alle großen E-Commerce-Aufsteiger der letzten Jahre verdanken ihren Erfolg auch spezialisierten Shoppinglösungen. Notebooksbilliger, mit rund 275 Mio. Euro Umsatz 2008 einer der zehn umsatzstärksten Online-Händler hierzulande, hat mit einem einfachen Open Source System begonnen, dieses dann aber im Lauf der Jahre so stark aufgebohrt, dass er inzwischen von einer Eigenentwicklung sprechen würde.

Auch Bücher.de, Spreadshirt & Co. nutzen spezielle Systeme. Während sich die Geschäftsmodelle im E-Commerce in den letzten Jahren stark weiterentwickelt haben, scheinen die marktgängigen Shopsysteme auf der Stelle zu treten.

Betriebsblind für neue Geschäftsmodelle

Wie offen sind eigentlich die Manager etablierter Unternehmen für neue Geschäftsmodelle in ihren Kerngeschäften? Diese Frage warf kürzlich Musikmanager Tim Renner auf. Seine These: Der Wechsel vom analogen zum digitalen Medienträger bringe immer auch einen Wechsel des Geschäftsmodells mit sich. Darauf gelte es sich einzustellen.

Und doch wiederhole Branche für Branche die Fehler der Musikindustrie. Aktuell die Medienbranche: Statt online auf neue, dem Online-Medium adäquate Modelle zu setzen, übertrage man einfach nur die alten Geschäftsmodelle auf das Internet und wundere sich dann über „lousy pennies“.