Dr. med. Adam Alfred

Dipl. Psych. Stefanie Eiden

Klaus Werner Heuschen

Dr. med. Astrid Neuy-Bartmann

Dr. med. Ulrich Rothfelder

AD/HS-PRAXISHANDBUCH

DIE AUFMERKSAMKEITSDEFIZIT-/ HYPERAKTIVITÄTS-STÖRUNG
(AD/HS) UND IHRE BEGLEITERKRANKUNGEN

EIN PRAKTISCHER LEITFADEN FÜR KINDER, JUGENDLICHE
UND IHRE ELTERN, ERWACHSENE, LEHRER UND THERAPEUTEN

Unveränderte Neuauflage der überarbeiteten Ausgabe von 2011
mit weiterführenden Literaturangaben

Illustration Bernd Herold

Gestaltung Karolina Herold

Books on Demand

Unter Mitwirkung von:

Dr. med. Sabine Dörning

Dipl. Psych. Dr. phil. Markus Fellner

Dipl. Psych. Christian Schaipp

Dipl. Psych. Stefanie Liebl-Timm

Marie-Louise Stalter

An dieser Stelle möchten wir uns vor allem bei unseren äußerst engagierten Sekretärinnen bedanken, die mit zahllosen Telefonaten und E-Mails Informationen überprüfen, aktualisieren und ergänzen.

Unsere Praxisbücher erscheinen in kleinen, nur im Eigenverlag herstellbaren Auflagen. Die Autoren haben auf jegliches Honorar verzichtet, der Verkaufspreis unserer Bücher gibt lediglich Herstellungs- und Vertriebskosten an den Käufer weiter. Ein eventueller finanzieller Gewinn wird einer karitativen Einrichtung zugutekommen.

VORWORT ZUR 2. AUFLAGE

Die Informationsschrift, auf der unser nun in 2., aktualisierter Auflage vorliegendes Praxishandbuch basiert, war aus der Beobachtung heraus entstanden, dass die Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (AD/HS) ein in der Öffentlichkeit viel zu wenig bekanntes, oft auch falsch interpretiertes Störungsbild darstellte. Nun wird das Thema AD/HS inzwischen öffentlich zwar durchaus sehr rege kommentiert, doch leider nicht immer mit grundlegender Kenntnis der Zusammenhänge. Hilfreich sind solche Diskussionen dann nicht, wenn betroffene Familien dabei unter Druck geraten. Nicht anders als in anderen Fällen bedeutet aber der Umgang mit AD/HS zunächst einmal: Man muss sich informieren.

Als spezialisierte Ärzte und Therapeuten haben wir im Laufe von zwei Jahrzehnten bei einer Vielzahl von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen die Diagnose AD/HS sichern und entsprechende Therapiemaßnahmen einleiten können. Die Erfahrungen, die wir dabei gesammelt haben, möchten wir gerne an unsere Patienten, ihre Eltern und Bezugspersonen sowie an Kollegen aus dem therapeutischen und pädagogischen Bereich weitergeben: Unser Buch soll zum einen über die Symptomatik der AD/HS, ihre möglichen Ursachen, über Diagnostik und Behandlung informieren. Zum anderen können wir auf diesem Wege vielleicht auch dazu beitragen, die vielen Missverständnisse, die mit der AD/HS verbunden sind, zu klären und Ängste zu zerstreuen.

Neben allgemeinen Grundlagen greifen wir in unserer Darstellung der AD/HS weitere wichtige Zusammenhänge auf: Das Zusammentreffen von AD/HS mit sogenannten Teilleistungsschwächen, psychiatrischen Erkrankungen und emotionalen Problemen; den Verlauf der AD/HS in der Adoleszenz und im Erwachsenenalter; „AD/HS“ und „Ritalin“ als Stichworte unserer Gesellschaft. Wir möchten Sie aber auch auf unsere weiterführenden Veröffentlichungen aufmerksam machen: Mit MyADHS.com (2010) wenden wir uns an Jugendliche und junge Erwachsene, und in Vorbereitung befindet sich der Band AD/HS-Spots. Ein Lernprogramm für Erwachsene mit AD/HS (mit DVD).

München, im März 2011

Inhaltsverzeichnis

TEIL I

SYMPTOMATIK, DIAGNOSE UND
BEGLEITERSCHEINUNGEN
DER AUFMERKSAMKEITSDEFIZIT-/
HYPERAKTIVITÄTSSTÖRUNG

1 SYMPTOMATIK UND DIAGNOSE DER AD/HS

1.1 WAS IST AD/HS?

Die Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (AD/HS) ist eine der häufigsten psychischen Erkrankungen im Kindes- und Jugendalter: Etwa 5 bis 10% aller Schulkinder sind von AD/HS betroffen, zwei Drittel von ihnen behalten diese Erkrankung bis zur Adoleszenz bei. In bis zu 80% der Fälle sind einzelne Symptome noch im Erwachsenenalter zu finden, auch wenn sie häufig gut kompensiert werden können. Bei Jungen tritt die Störung drei- bis neunmal häufiger auf als bei Mädchen. Fast 85% der Kinder, bei denen sich der Verdacht auf AD/HS in der kinder- und jugendpsychiatrischen Praxis diagnostisch bestätigt, sind 7 bis 14 Jahre alt; in der Altersgruppe 0 bis 6 Jahre sind es ca. 5% und in der Altersgruppe 15 bis 22 Jahre ca. 15%.

Kennzeichnend für Kinder mit AD/HS ist im Wesentlichen eine sehr kurze Aufmerksamkeitsspanne, verbunden mit einer erhöhten Ablenkbarkeit. Nicht selten sind aber zusätzlich auch vermehrte motorische Unruhe, Zappeligkeit, Impulsivität, ausgeprägte Stimmungsschwankungen und ein gestörtes Sozialverhalten zu beobachten. Oft haben diese Kinder weitere Schwierigkeiten, z.B. in der Grob- und Feinmotorik, in der Wahrnehmung, beim Lesen, Schreiben und Rechnen.

Die bekannteste ausführliche Beschreibung eines AD/HS-Kindes geht auf Dr. Heinrich Hoffmann zurück, den Leiter einer städtischen Nervenheilanstalt in Frankfurt am Main, der im Struwwelpeter 1845 den hyperaktiven, impulsiven „Zappelphilipp“ und den verträumten „Hans-guck-in-die-Luft“ mit allen unangenehmen Folgen ihres Tuns genau schildert. Dr. Hoffmann hat dieses Buch seinem Sohn gewidmet, der nach heutigem Verständnis ein typisches AD/HS-Kind war: unruhig, konzentrationsschwach und impulsiv.

1902 veröffentlichte der britische Kinderarzt George Frederic Still einen Bericht über zwanzig von ihm behandelte Kinder, die er als „trotzig und boshaft“ beschreibt. Er führte diese Eigenschaften allerdings nicht auf eine falsche Erziehung zurück, sondern auf eine„leichte Hirnverletzung“.Ähnliche Symptome, einschließlich Gedächtnis- und Konzentrationsstörungen, wurden von mehreren Ärzten 1917/18 als Folge einer damals grassierenden Virusencephalitis (Gehirnentzündung) beschrieben.

1937 stellte der amerikanische Kinderarzt Charles Bradley fest, dass bei hyperaktiven Kindern Psychostimulanzien, d.h. anregende Mittel, unerwarteterweise eine beruhigende Wirkung zeigten. In den 50er Jahren wurde die Symptomkonstellation aus Unruhe, Impulsivität und Konzentrationsstörungen von Maurice Laufer als minimaler, d.h. kaum messbarer Hirnschaden bzw. später als „MCD“ (minimale cerebrale Dysfunktion) bezeichnet. Mitte der 70er Jahre am die Behandlung mit Methylphenidat (Ritalin®) auf, das vorwiegend bei den unruhigen Kindern mit „Hyperkinetischem Syndrom“, einer später zugunsten von AD/HS aufgegebenen Bezeichnung, verwendet wurde.

1990 führte Dr. Alan Zametkin in den USA radiologische Untersuchungen an hyperaktiven Erwachsenen durch, wobei er eine verminderte Durchblutung im Bereich des Frontalhirns diagnostizierte. Biochemische Experimente zeigten, dass in erster Linie wohl der Mangel an bestimmten Neurotransmittern, speziell Dopamin, für dieses Krankheitsbild verantwortlich ist.

1.1.1 KERNSYMPTOME DER AD/HS

Das internationale Diagnosemanual psychiatrischer Krankheitsbilder (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders, DSM-IV), von der amerikanischen psychiatrischen Gesellschaft (APA) in der Erstfassung 1994 herausgegeben, unterteilt das Krankheitsbild in drei Hauptsymptome, die bei diesen Kindern besonders auffallen können:

1. Unaufmerksamkeit:

Flüchtigkeitsfehler bei Schularbeiten; mangelnde Aufmerksamkeit beim Spielen; mangelnde Bereitschaft zuzuhören; Schwierigkeiten, Anweisungen genau zu befolgen, Arbeiten zu Ende zu bringen, Aufgaben und Aktivitäten zu organisieren; Vermeidung geistig anstrengender Aufgaben; Vergesslichkeit bei Alltagsdingen; Tendenz, Dinge zu verlegen oder zu verlieren; leichte Ablenkbarkeit durch äußere Reize; eher feinmotorische Unruhe beim ängstlich-unsicheren Typ.

Die Aufmerksamkeitsstörung zeigt sich vor allem dann, wenn die Anforderungen ansteigen: Nehmen Menge und Komplexität, Geschwindigkeit, Genauigkeit und Dauer des zu verarbeitenden Informationsflusses zu, so kommt es im Vergleich zu unauffälligen Kindern zu deutlichen Leistungseinbußen. Die verminderte Aufmerksamkeit vermittelt den Eindruck, als sei das Kind zu langsam, desinteressiert, vergesslich, chaotisch. Langsamere und wechselnde Reaktionszeiten sowie Kurzzeitgedächtnisstörungen gehören dementsprechend zu den regelmäßigen Ergebnissen psychologischer Testbefunde (s.a. unter 1.1.2 und 13.2.3).

2. Impulsivität:

Das Kind kann nur schwer warten, bis es an der Reihe ist; unterbricht und stört andere häufig; handelt unüberlegt; platzt mit Antworten heraus, bevor die Frage zu Ende gestellt ist.

Die mangelnde Impulskontrolle führt zum Versagen höherer Kontrollmechanismen, die für problemlösendes Denken, zielgerichtetes und flexibles Verhalten sowie die Selbststeuerung von Antrieb, Motivation und Affekt erforderlich sind. Es kommt zu reduzierter Frustrationstoleranz und Affektkontrolle mit Stimmungsschwankungen, erhöhter Irritabilität, Feindseligkeit. Die Betroffenen neigen dazu, lieber nach der erstbesten kleinen Belohnung zu greifen als auf eine attraktivere, größere zu einem späteren Zeitpunkt zu warten. Es lohnt sich eher, ein Klassenkasper zu sein, als nach einer guten, aber zeitaufwendigen Leistung gelobt zu werden!

3. Hyperaktivität:

Das Kind zappelt mit Händen und Füßen; rutscht auf dem Stuhl herum; steht unerwartet auf, läuft und klettert herum; kann nicht ruhig spielen; wirkt getrieben; redet übermäßig viel.

Im Hinblick auf die motorische Hyperaktivität scheinen vor allem Vorbereitung, Auswahl und Ausführung motorischer Reaktionen im Sinne einer mangelnden Kontrolle und ungenügenden Hemmung der Abläufe auffällig zu sein. Grob- und feinmotorische Koordinationsstörungen sind deshalb häufig im Rahmen einer neurologischen Untersuchung nachweisbar (s. Schriftbild!).

Diese drei Kernsymptome können in wechselnder Kombination und unterschiedlicher Ausprägung vorkommen. Je nachdem, welche Kennzeichen beim Kind vorherrschend sind, werden drei Formen unterschieden. In der Praxis unterscheidet man zwei Hauptgruppen, wobei allerdings die Übergänge zwischen diesen Gruppen fließend sind:

Die meisten Menschen, die die oben zusammengestellten Symptomlisten lesen, würden meinen, so manches davon auch bei sich feststellen zu können: Jeder hat doch schließlich etwas davon, auch ohne eine AD/HS. Wann wir von einer Störung sprechen können, hängt davon ab, in welcher Häufigkeit, in welchem Ausmaß und über welchen Zeitraum diese Kennzeichen vorhanden sind. Ist es nur eine Phase, in der sie gerade auftreten, oder sind sie schon länger und überdauernd zu beobachten? Bei einer AD/HS ist die Ausprägung der Kernsymptome mit dem Entwicklungsalter nicht zu vereinbaren und kommt in unangemessenem Ausmaß vor.

Eine AD/HS ist übrigens keine Krankheit wie Masern oder Mumps, sondern eher wie Bluthochdruck, Übergewicht oder Depression: Man kann mehr oder weniger davon haben. Die Grenzen sind fließend. Weichen die beschriebenen Eigenschaften aber zu weit vom sogenannten „Normalen“ ab, sind negative Reaktionen der Umwelt schnell die Folge. Die wiederum können ihrerseits eine Verschlimmerung der Situation bewirken (s. Kap. 1.3). Häufig mündet dies sogar in eine sekundäre emotionale Erkrankung (s. Kap. 3).

1.1.2 WAS GENAU IST EIGENTLICH AUFMERKSAMKEIT?

Es gibt verschiedene Modellvorstellungen von Aufmerksamkeit. Folgende Aufmerksamkeitsbereiche lassen sich unterscheiden (Heubrock & Petermann 2001):

Verschiedene Untersuchungen legen nahe, dass nicht die Gesamtkapazität der Aufmerksamkeitsleistung reduziert ist, sondern der kontrollierte Einsatz der dafür notwendigen Energieressourcen.

Die Symptomatik einer AD/HS wird daher in der Regel nur dann sichtbar,

» wenn Daueraufmerksamkeit erforderlich ist, die Aufmerksamkeit also über einen längeren Zeitraum aufrechterhalten werden muss (beim Stuhlkreis im Kindergarten, beim Abwarten im Schulunterricht, bei den Hausaufgaben)

» wenn durch selektive oder geteilte Aufmerksamkeit in einer unüberschaubaren Situation viele Reize gleichzeitig zu verarbeiten sind.

Relativ unauffällig verhalten sich die Betroffenen in kurz andauernden, neuen Situationen, im direkten Kontakt mit einer einzelnen Person oder auch bei angenehmen, engmaschig reizgeleiteten Aktivitäten, beispielsweise bei ihren Lieblingsbeschäftigungen – Computerspielen, Fernsehen oder erfolgreichem Sport.

1.2 DAS AD/HS-KIND IM ALLTAG – WORAN KANN MAN ES ERKENNEN?

Bei Kindern mit AD/HS liegt eine Reizfilterschwäche vor: Sie nehmen viel zu viele innere und äußere Reize wahr, werden überflutet und tun sich schwer, den wichtigsten Reiz herauszufiltern, Wichtiges von Unwichtigem zu unterscheiden. Dass diese Kinder eigentlich erstaunlich viel leisten und oft, insbesondere nach einem Schulvormittag, entsprechend müde und erschöpft sind, ist unter diesem Aspekt gut nachvollziehbar.

Doch Kinder mit AD/HS bereiten Eltern, Lehrern, Gleichaltrigen und vor allem sich selbst oft erhebliche Schwierigkeiten. Wenn die Familien in unsere Praxis kommen, haben sie meist schon einen enormen Leidensweg hinter sich. Aussagen wie beispielsweise, sie sollten ihr Kind besser erziehen, es brauche mehr Zuwendung o.Ä., begleiten sie schon lange. Dass die Paarbeziehung diesen außerordentlichen Konflikten nicht immer standhalten kann, liegt nahe. So ist das Familienleben häufig belastet, Schuldgefühle machen sich breit, und spätestens mit Schuleintritt hängt der Haussegen schief und der Druck – sowohl auf das Kind als auch auf die Eltern – verstärkt sich immens.

1.2.1 WAS BERICHTEN DIE ELTERN?

Solche und viele ähnliche Aussagen hören wir häufig von Eltern. Und immer wieder tauchen dabei die folgenden Themen auf:

Typisch Hypie...

Erfragt man die Geschichte eines hyperaktiven Kindes, so wird nicht selten schon das Säuglings- oder Kleinkindalter von seinen Eltern als schwierig beschrieben, weil es z.B. mit seinem ausgeprägten Schreien, seiner Unruhe und Erregbarkeit alle Energien der Eltern forderte. Ess- und Schlafprobleme oder Ablehnung von Körperkontakt können aufgetreten sein.

Im Kindergarten fallen hyperaktiv-impulsive Kinder dann häufig durch ihre Umtriebigkeit, geringe Ausdauer bei Einzel- oder Gruppenspielen, ihre mangelhafte Verhaltenssteuerung und geringe Impulskontrolle auf. Oft werden sie von anderen gemieden oder ziehen sich selbst zurück. Heftige Wutausbrüche bei kleinsten Enttäuschungen, ausgeprägte Trotzreaktionen, die Unfähigkeit, eine gewisse Ordnung einzuhalten, und der Wunsch nach übermäßigem Fernsehkonsum oder elektronischen Spielen (Game Boy, Playstation, X-Box...) können das Familienleben erheblich belasten.

Im Vorschulalter zeigen manche Kinder Auffälligkeiten beim Zeichnen oder darin, mündliche Aufforderungen in Bewegungsabläufe umzusetzen. Diese Schwierigkeiten nehmen mit Schulbeginn meist noch zu, denn mit ihrer Zappeligkeit, ihrer Impulsivität, dem mangelhaften Konzentrationsvermögen und der „schlechten Arbeitshaltung“ können die Betroffenen die Anforderungen des Schulalltags mit den vielen Vorgaben und Regeln nicht bewältigen.

Häufig fällt das Kind daher unangenehm auf, wird unbeliebt bei Erziehern, Lehrerinnen und Schulkameraden. Um überhaupt noch Aufmerksamkeit und zumindest kurzfristige Beachtung bei den Mitschülern zu erreichen, macht es sich in seiner Verzweiflung oftmals zum Klassenkasper, der dann wiederum den Unterricht mit seinen Zwischenrufen und Kommentaren völlig zum Erliegen bringen kann. Auch chaotisches Ordnungsverhalten, andauerndes, oft hastiges Reden, aggressives Verhalten, Ungeschicklichkeit oder eine schlechte Schrift sind auffallende Merkmale bei Kindern mit AD/HS des hyperaktiv-impulsiven Typs. Zuweilen berichten Eltern außerdem von Problemen in der Sauberkeitserziehung, wie verlängertes Einnässen tagsüber oder nachts, sowie von Kotspuren in der Unterwäsche.

Typisch Hypo...

Aber auch das Gegenteil von Überaktivität ist möglich: Das hypoaktive Kind ist ruhig und verträumt. Häufig wird es zunächst gar nicht als AD/HS-Kind erkannt, denn im Klassengeschehen ist es eher unscheinbar, angenehm unauffällig. In der ersten Klasse wird es noch als verspielt betrachtet und arbeitet zu Hause alles fleißig nach, wenn es mal wieder nicht fertig geworden ist. Erst später kann man manchmal in den Zeugnissen lesen, dass es aktiver mitarbeiten solle, noch zu verträumt sei oder Ähnliches.

Das Kind bekommt jedoch durch seine Verträumtheit nur wenig vom Unterricht mit, hinkt bald im Lernstoff den anderen hinterher und hat Mühe, die Lücken aufzuholen. In der sehr ausgeprägten unaufmerksamen und verträumten Form ist das Kind mit seinen Gedanken ganz woanders, wenn es aufgerufen wird (oftmals zur Belustigung der Mitschüler), oder es vergisst häufiger, was es sagen wollte, wenn es nicht sofort an die Reihe kommt.

Bei diesen Kindern sind nicht so sehr die Verhaltensstörungen vorherrschend, sondern die Lern- und Leistungsstörungen. Sie leiden sehr unter ihrer Vergesslichkeit und ihren Misserfolgen – trotz fleißigen Lernens. Sie erleben ständig, dass sie ihre gute Intelligenz nicht aufs Papier bringen können und nicht den Erfolg haben, der ihnen eigentlich „zustünde“. Durch diese Erfahrungen entwickeln sie ein negatives Selbstbild mit geringem Selbstwertgefühl.

Auch beim hypoaktiven Kind können bereits Symptome vom Säuglingsalter an auftreten, wie etwa unstillbares Weinen, ein oberflächlicher Schlaf, keine Beruhigung durch Streicheln u.a. Bei etwa der Hälfte der betroffenen Kleinkinder können sprachliche Entwicklungsverzögerungen oder motorische Ungeschicklichkeit beobachtet werden.

Im Kontakt zu anderen Kindern kann das hypoaktive Kind sich möglicherweise nicht wehren und gibt schnell auf, ist eher unselbständig, motzt schnell und unangemessen heftig. In der Kindergartenzeit verhält sich das Kind oftmals weiterhin sehr anhänglich, ängstlich und klammernd. Es weint leicht und ist stimmungslabil, hat eher nur einen Freund oder eine Freundin oder spielt am liebsten allein in der Ecke. Feinmotorische Aufgaben wie Basteln werden gerne gemieden.

Das Kind kann aber durchaus sehr eifrig beim Sport und bei sozialen Diensten dabei sein und hat auch einen großen Gerechtigkeitssinn. Hinsichtlich der Impulsivität kann es womöglich ein wechselhaftes Verhalten zeigen: Regt es sich zu Hause bei kleinsten Anlässen außergewöhnlich schnell auf, so tut es dies außerhalb der Familie eher nur in Ausnahmefällen, wenn es sich gar nicht mehr anders zu helfen weiß.

Das Sozialverhalten eines hypoaktiven Kindes kann man sich typischerweise folgendermaßen vorstellen: Möchte es sich zu einer Gruppe spielender Kinder gesellen, stellt es sich an den Rand und beobachtet zunächst eine Weile. Wird es dann aber nicht wahrgenommen und aktiv von einem anderen Kind aufgefordert mitzumachen, so zieht es sich bald zurück und verinnerlicht die Einstellung „Mich mag ja eh keiner!“ Den nötigen Blickkontakt aufzunehmen und sich aktiv und spontan einzubringen – diese Fähigkeit beherrscht es kaum. Seine Spontaneität kann durch seine schlechte auditive (Kanal des Hörens) und visuelle (Kanal des Sehens) Wahrnehmung gebremst sein.

Vom Selbstwertgefühl Heranwachsender

Die Unruhe im Alltag mit AD/HS-Kindern entsteht typischerweise auch dadurch, dass sie häufig und in kurzer Taktung die Beschäftigung wechseln. Doch typisch ist auch, dass sie sich durchaus über Stunden hinweg völlig ins Spiel vertiefen können, wenn Sie an einer Sache großes Interesse haben (z.B. Lego). Durch das sog. Überfokussieren scheinen sie sich von der Außenwelt zu lösen und begeben sie sich in einen Zustand, der auch als Hyperfokus bezeichnet wird.

Die Schwierigkeit der Aufmerksamkeitsstörung liegt also offenbar nicht darin, dass sich die betroffenen Kinder unter keinen Umständen konzentrieren könnten, sondern dass sie ihre Aufmerksamkeit nicht angemessen ausrichten können. Und aufgrund genau dieser Problematik haben beide Formen der AD/HS zur Folge, dass schlechte Leistungen erzielt werden, obwohl das Kind eigentlich intelligent und kreativ ist. Noch dazu wird es ständig verunsichert, denn es kann aufgrund seiner veränderten Wahrnehmung weder alle Situationen noch die Reaktionen der Anderen auf das eigene Verhalten richtig verstehen und erfassen. Darum fühlt es sich auch oft unverstanden und ungerecht beurteilt, was heftige Diskussionen in Gang setzen kann.

Im Jugendalter (Adoleszenz) steht so schließlich häufiger eine „Null-Bock-Mentalität“ im Vordergrund, mit Leistungsverweigerung und oppositionellaggressivem Verhalten. Dahinter steckt oftmals ein stark vermindertes Selbstwertgefühl. Auch Ängste und Depressionen können in den Vordergrund rücken. Erhöhte Verletzlichkeit, mangelndes Selbstbewusstsein und unzureichende Entscheidungsfähigkeit sowie „sich nicht verstanden fühlen“ werden von den Betroffenen beklagt. Durch ihre häufig unreife Persönlichkeit fehlt ihnen ein entsprechend sozial angepasstes Verhalten, Kontaktfähigkeit, Durchsetzungsvermögen und Selbstbehauptung. Auffällig werden sie durch depressive Verstimmungen oder Blackout-Reaktionen, wenn sie am Rande ihrer Belastbarkeit angekommen sind. Kontakte zu sozialen Randgruppen, Gefährdung durch Verkehrsunfälle, der Griff zu Alkohol, Nikotin und Drogen können das Bild prägen.

Es gibt nicht das eine Bild der AD/HS. Jedes betroffene Kind, jeder betroffene Jugendliche hat eine andere Ausprägung der Symptomatik, und diese verändert sich im Laufe der Entwicklung abermals. Eine AD/HS „verwächst“ sich nicht. Zu bemerken ist lediglich, dass die äußere Unruhe im Jugendalter abnimmt und sich in eine innere Unruhe wandeln kann, die folglich nicht mehr so offensichtlich zu beobachten ist. Das innere Getriebensein kompensieren die Betroffenen selbst häufig durch dauernden Aktionismus, viel Sport etwa, im Erwachsenenalter z.B. auch durch übermäßiges Arbeiten („Workoholic“).

Kurz zusammengefasst

1.2.2 WAS KÖNNEN WIR AUSSERDEM BEOBACHTEN?

Wie bereits angedeutet, haben viele Kinder mit einer AD/HS (nach eigenen Untersuchungen etwa 50 bis 60%) zusätzlich Lernstörungen bzw. Teilleistungsstörungen, z.B. Sprachentwicklungsstörungen, Lese-Rechtschreibschwäche (Legasthenie), Rechenschwäche (Dyskalkulie) oder fein- und visuomotorische Schwierigkeiten (d.h. bei der Verbindung von Sehen und Bewegung, wie sie nötig ist, um z.B. einen vorgezeichneten Kreis mit der Schere auszuschneiden). Dies alles sind Leistungsstörungen, die einen bestimmten abgegrenzten Bereich betreffen, im Normalfall von der Gesamtintelligenz des Kindes aber unabhängig zu betrachten sind. Dennoch tragen sie dazu bei, dem Kind einen zusätzlichen „Stempel aufzudrücken“ und im Klassenverband noch mehr zu isolieren, denn:„Die kann ja nicht richtig lesen! Der ist echt zu blöd für Mathe!“ (s. auch Kap. 2).

Sehr häufig (bei bis zu 40% der AD/HS-Patienten) tritt die AD/HS auch in Verbindung mit anderen psychischen Störungen auf, wie z.B. Einnässen (Enuresis), Einkoten (Enkopresis), Depressionen, Angststörungen, Tics und Zwangssyndromen (s. Kap. 3). Diese Begleiterkrankungen (Komorbiditäten) können die Behandlung erheblich erschweren.

Auch eine Störung des Sozialverhaltens kann sich als Begleit- oder Folgeerscheinung entwickeln, und häufig sind Auffälligkeiten dieser Art der erste Vorstellungsgrund in der kinderpsychiatrischen Sprechstunde. Eltern, Lehrer und Erzieher klagen dann vor allem über:

Es sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass sich eine tatsächlich pathologische Störung des Sozialverhaltens im Sinne einer Persönlichkeitsstörung in der Regel erst ab dem Jugendalter sicher diagnostizieren lässt (s.a. Kap. 3.9).

AD/HS berührt zahlreiche Lebensbereiche der Patienten

vgl. Barkley 2002; Slomkowski et al. 1995; Brown & pacini 1989.

1.2.3 HABEN AD/HS-KINDER DENN GAR KEINE POSITIVEN SEITEN?

Die haben sie auf jeden Fall! Ganz schnell hat man eine lange Liste von Beispielen zusammengetragen, wenn man Eltern nach den positiven Eigenschaften ihrer Kinder fragt: dass diese Kinder sich durch einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn auszeichnen, sowohl für sich als auch für andere; dass sie oft ausgesprochen hilfsbereit, interessiert und offen sind; dass sie einen verblüffend guten Orientierungssinn besitzen und eine ausgeprägte Liebe zur Natur und zu Tieren empfinden; dass sie sehr kreativ und nicht selten schauspielerisch sehr begabt sind. Durch ihr erfrischendes Neugierverhalten und ihre originellen Problemlösungen bringen sie Leben in den grauen Alltag. Durch ihre anders strukturierte Sensibilität sind sie ihren Alterskollegen häufig überlegen, wenn Ideenreichtum und Phantasie gefragt sind.

Hyperaktive Kinder sind oft...

... spontan

... ideenreich

... originell

... charmant und liebenswürdig

... schnell

... gute Sportler

... auf Draht

aber manchmal...

... scheinen sie nicht aus ihren Fehlern zu lernen

... finden sie kein rechtes Maß

... wirken sie sehr egozentrisch

... diskutieren sie endlos

... können sie grenzenlos nerven

... gefährden sie sich selbst

... scheinen sie nicht zuzuhören

1.3 WAS WISSEN WIR ÜBER DIE URSACHEN DER AD/HS?

Wissenschaftliche Untersuchungen deuten darauf hin, dass ein Zusammenspiel mehrerer Ursachen für Entstehung, Ausprägung und Verlauf von AD/HS verantwortlich ist.

Genetische Disposition

Eine erbliche Veranlagung, also biologische Faktoren könnten im Zusammenhang mit der AD/HS eine Hauptrolle spielen. Sie werden wahrscheinlich über mehrere dominante Gene weitergegeben (vermutlich sind um die 15 Gene beteiligt). Vor allem Zwillings- und Adoptionsstudien weisen in diese Richtung. Familienuntersuchungen zeigen, dass zwischen 10 und 35% der nächsten Familienangehörigen an ähnlichen Verhaltensauffälligkeiten bzw. Konzentrationsschwierigkeiten leiden. Fangen Eltern betroffener Kinder an, sich mit ihrer eigenen Lebensgeschichte und mit der ihrer Verwandtschaft zu beschäftigen, so entdecken sie häufig erstaunliche Parallelen. Werfen Sie doch ruhig einmal einen Blick auf alte Schulzeugnisse...

AD/HS und Genetik – AD/HS tritt familiär gehäuft auf

Faraone & Biederman 1998; Edelbrock et al. 1995; Gillis et al. 1992.

Hirnstoffwechsel

Diese spezielle genetische Ausstattung nun scheint Störungen des Neurotransmitter-Stoffwechsels im zentralen Nervensystem mit sich zu bringen. Hier sehen viele Forscher die vorwiegende Ursache für eine AD/HS: die verminderte Konzentration zweier entscheidender Substanzen – Dopamin und Noradrenalin – im synaptischen Spalt, d.h. an genau der Stelle, wo zwischen den Nervenzellen die Impulse übertragen werden.

Mit bildgebenden Verfahren, die nur speziellen Forschungseinrichtungen zur Verfügung stehen, kann man zeigen, dass vor allem die für Aufmerksamkeit, Impulskontrolle und Motorik zuständigen Hirnareale bei einer AD/HS anders aussehen und anders funktionieren als gewöhnlich: die frontale, parietale und motorische Hirnrinde, das Striatum sowie das Kleinhirn. Die hier stark vertretenen, aber offensichtlich fehlerhaften dopaminergen (durch Dopamin wirksamen) Netzwerke bilden die neurobiologische Grundlage der AD/HS.

Darüber hinaus muss man noch an tiefer liegende Netzwerke zur Regulation der Grundwachsamkeit denken, die vermutlich noradrenerg (durch Noradrenalin) reguliert werden und übergeordnete Hirnareale beeinflussen können. Neue Medikamente, die die Noradrenalin-Konzentration erhöhen und dadurch zur Besserung der AD/HS-Symptomatik führen (z.B. der Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer Atomoxetin), scheinen diese Hypothese zu bestätigen.

Umwelteinflüsse

Doch zur Fehlfunktion der komplexen neuronalen Strukturen tragen möglicherweise auch Giftstoffe in der Nahrungskette (z.B. Blei), Allergene und Lebensmittelzusätze bei (etwa 10% der Betroffenen leiden unter Nahrungsmittelunverträglichkeiten). Auf welchen biologischen Grundlagen diese beruhen, ist noch unklar.

Nach neuesten Studien (Canfield et al. 2003) scheinen selbst geringste Bleikonzentrationen, die bislang als unbedenklich galten, die Aufmerksamkeit und das Sprachvermögen herabsetzen zu können. Eine mögliche Gefahrenquelle kann z.B. Leitungswasser sein, das etwa in Altbauten durch Bleirohre fließt. Als gesichert gilt, dass vorgeburtlicher Kontakt mit Nikotin und Alkohol zu Verhaltensauffälligkeiten und kognitiven Defiziten führt, die später ein erhöhtes Risiko für eine AD/HS und Störungen des Sozialverhaltens darstellen.

Auch Schwangerschafts- und Geburtskomplikationen sowie Infektionen im Säuglingsalter (Keuchhusten) und traumatische Hirnschädigungen können Einfluss auf die Entwicklung und den Verlauf einer AD/HS haben. Unter Frühgeborenen ist die Häufigkeit von AD/HS besonders hoch. Hier kommt es häufig zu hypoxisch-ischämischen Episoden, d.h.zu Sauerstoffmangel und Durchblutungsstörungen, welche vor allem die in diesem Lebensabschnitt besonders empfindlichen striatalen Neuronen betreffen.

Psychosoziale Umgebung

Darüber hinaus steht aber fest, dass neben den biologischen Komponenten auch soziale Faktoren für die Entstehung, die Aufrechterhaltung und das Ausmaß einer AD/HS eine wichtige Rolle spielen: AD/HS-Symptome sind umso stärker in ihrer Ausprägung, je eingeschränkter die Familienfunktion, je niedriger das Familieneinkommen und je beengter der Lebensraum ist.

Auch eine frühere psychiatrische Erkrankung der Mutter trägt zur Stärke der Symptomausprägung bei. Bei Vätern von AD/HS-Kindern findet sich gehäuft eine Alkoholsucht in der Vorgeschichte. Einige Studien legen nahe, dass eine mangelnde Ausbildung der Mutter, niedrige soziale Schicht und alleinerziehende Eltern weitere Risikofaktoren darstellen. In Bezug auf die Erkrankung der Kinder sind diese jedoch kritisch zu betrachten: Die Eltern von AD/HS-Patienten haben, wie bereits erwähnt, ein erhöhtes Risiko, selbst an dieser Störung zu leiden. Daher besteht durchaus die Möglichkeit, dass die hier aufgeführten Faktoren nicht allein Ursache einer AD/HS ihrer Kinder sind, sondern Folge der eigenen Veranlagung oder Erkrankung.

Es ist wichtig zu wissen, dass elterliches Verhalten keine AD/HS verursachen kann. Zwar werden im Zusammenhang mit der AD/HS auch Erziehungsdefizite und Störungen der Eltern-Kind-Beziehung angeführt, doch die Ursache in Bindungsproblemen oder elterlicher Schuld zu suchen ist weder empirisch gestützt noch therapeutisch hilfreich. Andererseits aber verschärfen natürlich bestimmte psychosoziale Bedingungen die Problematik erheblich. Seelische Belastungen, wie z.B. familiäre Spannungen, Verlusterlebnisse oder auch Unverständnis bei den wichtigsten Betreuerinnen, Lehrern und anderen Bezugspersonen, werden von AD/HS-Kindern wesentlich schlechter vertragen als von gesunden Gleichaltrigen.

1 Swanson et al. 1998a. 2 Hauser et al. 1993; Cook et al. 1995; Swanson et al. 1998c. 3 Milberger et al. 1997. 4 Castellanos et al. 1996; Swanson et al. 1998b

Kurz zusammengefasst