Hermann Harry Schmitz: Der Säugling

 

 

Hermann Harry Schmitz

Der Säugling

und andere Tragikomödien

 

 

 

Hermann Harry Schmitz: Der Säugling und andere Tragikomödien

 

Neuausgabe.

Herausgegeben von Karl-Maria Guth, Berlin 2017.

 

ISBN 978-3-7437-0242-4

 

Dieses Buch ist auch in gedruckter Form erhältlich:

ISBN 978-3-7437-0217-2 (Broschiert)

ISBN 978-3-7437-0218-9 (Gebunden)

 

Die Sammlung Hofenberg erscheint im Verlag der Contumax GmbH & Co. KG, Berlin.

 

Erstdruck: Leipzig, Ernst Rowohlt Verlag, 1911

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind über http://www.dnb.de abrufbar.

 

Was so in der Familie vor sich geht

Der Säugling

Gott, das war schon eine maßlose Aufregung und ein unglaubliches Durcheinander bei Beckers! Es wurde das erste Baby erwartet. Schon seit Wochen harrte man gespannt darauf; es hätte schon lange da sein müssen.

Tante Tine aus dem Westfälischen, Tante Meta aus Düren, Tante Hucklenbroich aus Gladbach, Barbara Tröpfeli, eine unendlich ferne Verwandte aus dem Breisgau, Mutze Mandel, die Patin von Frau Becker, sie alle hatte es auf das Gerücht von dem bei Beckers zu erwartenden Ereignis nicht länger mehr in ihrer Heimat gehalten, und sie hatten sich eine nach der anderen bei Beckers zum Logierbesuch eingefunden. Sie führten ein für einen längeren Aufenthalt vorgesehenes umfangreiches Gepäck mit sich. Außerdem brachte eine jede, mit Ausnahme von Mutze Mandel, eine monumentale Amme aus ihrer Gegend mit.

Herr Becker war im allgemeinen ein Mann von einer gewissen Energie. Er konnte heroisch werden, wenn der Bäckerjunge zu spät mit den Brötchen kam, oder der Kohlenmann sich die Füße nicht abgeputzt hatte.

Aber mit jeder Tante, die bei ihm einzog, schwand sein Mannesmut mehr und mehr.

Tante Tine mit fünf großen Koffern und einer Amme hatte er als ersten Besuch harmlos, ohne Ahnung der folgenden Serie, süßsauer lächelnd, aber höflich entgegengenommen. Er erkannte den guten Willen der Tante an. Edle Beweggründe, ein schönes Menschenmitleid, ein blutsverwandtschaftliches Mitempfinden mochten sie veranlaßt haben, herbeizueilen.

Tante Meta mit acht Koffern und wieder einer Amme bekam schon einen weniger milden Empfang. Aber richtig grob und deutlich wagte Herr Becker nicht zu werden. Tante Meta war nämlich wohlhabend, und Beckers kamen als Erben in Frage.

Als Tante Hucklenbroich aber eines Tages mit einer Burg von Koffern und Körben und einer kolossalen Amme vor seinem Hause stand, war es mit seiner Selbstbeherrschung aus, und er ließ sich zu einigen häßlichen Bemerkungen hinreißen.

Da kam er aber schlecht an bei Tante Hucklenbroich.

Ob er wohl meine, man verlasse sein liebes Gladbach, sein gemütliches Gladbach und mache die anstrengende Reise zum Vergnügen oder gar seinetwegen? Da irre er sich aber gewaltig! Nur ihre Pflicht als Verwandte, als Tante habe sie dazu getrieben. Ja, ja. Wer solle sonst der armen, unwissenden Mutter beistehen und sie beraten? Und woher bekäme er hier in der Stadt eine solche Amme, wie sie eine mitgebracht? Hä. Sie bliebe hier und wiche nicht, da könne er machen, was er wolle. Außerdem habe sie das gleiche Recht hier im Hause, wie die beiden anderen Tanten. Und übrigens seien bei so was nie Hände genug.

So hatte den zukünftigen Vater die Tante Hucklenbroich angefahren und drohend und bestimmt mit ihrem Schirm – mit einem Storchenknopf aus Elfenbein als Griff – auf den Boden gestoßen.

Herr Becker war ganz klein geworden und hatte nur noch verzweifelt zu stöhnen gewagt. »Aber die Ammen – die Ammen. Wir haben ja auch schon eine engagiert, die bei uns wohnt!«

»Und wenn es nun Zwillinge werden? Oder gar Drillinge, hä? Was dann?« So hatte ihn Tante Hucklenbroich überlegen angeschrien. Und ihre Amme sei eine Kapitalsamme, und sie bestehe darauf, daß sie verwandt würde. Gegen ihre Amme kämen die der anderen Tanten nicht an.

Herr Becker resignierte kleinlaut, und als Barbara Tröpfeli mit einer Unmasse von Koffern und mit einer Amme, die aussah, wie eine Festung, eines Tages erschien, sagte er kein Wort. Apathisch stierte er den Besuch, die Koffer und die Amme an, wie ein unabänderliches, starres Prinzip.

Mutze Mandel kam nur mit vier Koffern und ohne Amme. Wie ein Irrer sah ihr Herr Becker entgegen und murmelte fragend: »Und die Amme, wo ist die Amme?«

Er schlief, ohne zu mucksen, auf dem Fensterbrett in der Küche. Alle Betten, Sofas und Chaiselongues waren in Anspruch genommen. Er schickte sich darin. Gott, so eine Geburt war eben ein außergewöhnliches Ereignis, das seine Schatten vorauswarf. Er war ein Neuling, das mußte vielleicht alles so sein.

Frau Becker war ruhig und gelassen und handelte nach allen Ratschlägen – sie mochten einander noch so entgegengesetzt sein – die ihr die Tanten und sonstigen Leute gaben.

Beckers hatten, bevor die Tanten über sie kamen, bereits alles, was nur eben für das kommende Ereignis nötig war, auf das reichlichste und sorgfältigste vorbereitet. Man hatte, wie gesagt, schon eine Amme ins Haus genommen, hatte Stöße von Tüchern, Bändern und anderem Zeug gerüstet, einen Kinderwagen, eine Wiege, eine Badewanne und eine Kinderwage und alle möglichen anderen, nach Aussage der Leute in den Geschäften unbedingt nötigen Gegenstände gekauft. Von allen Seiten hatte man sie haufenweise mit gehäkelten Jäckchen, Mützchen und dergleichen in liebevoller Weise bedacht. Man hielt sich für alle Fälle gerüstet.

Die Tatsache des Massentantenbesuches allein war schon äußerst schlimm, aber wehe! furchtbar wurde es, als sie anfingen, sich zu betätigen. Die Anschaffungen von Beckers wurden nach eingehender Prüfung in Grund und Boden verworfen. Da hieß es eingreifen. Jede Tante hatte dabei auch wieder ihre eigene Ansichten, die denen der anderen ganz entgegengesetzt waren.

Tante Tine bestand auf neuer Wäsche, da die Beckersche ganz und gar unhygienisch wäre. Nur in der Gesundheitswäsche »Prinzessin Alice« aus Pflanzenfasern läge das Heil und die Gesundheit eines Säuglings. Ballenweise schleppte sie diese Wäsche ins Haus.

Tante Meta erklärte den Kinderwagen für altmodisch und unpraktisch. Sie beschaffte einen raffinierten Patentkinderwagen, der durch entsprechende Handgriffe nach der Gebrauchsanweisung in eine Wiege, eine Schaukel, ein Karussell, einen Rundlauf, einen Schlitten und in die unmöglichsten Dinge verwandelt werden konnte.

Tante Hucklenbroich war für Wolle. Nur in Kamelhaarwolle würde das Kind gedeihen können. Sie ließ eine ganze derartige Wäscheausrüstung kommen.

Barbara Tröpfeli rannte aufgeregt umher und konnte sich nicht beruhigen: Die Ammen müßten Doppelkraftmalzbier »Goliath« trinken. In großen Mengen; davon hinge viel ab. Dieses Bier wäre die Basis eines Heldengeschlechtes. Fünftausend Flaschen dieses gepriesenen Bieres wurden Beckers in den Keller gelegt.

Herr Becker sah idiotisch und ergeben dem Tun der hilfreichen Tanten zu und bezahlte eine Rechnung nach der anderen. Die Summe, die er für die Aussteuer, wenn es ein Mädchen würde, für das Studium, wenn ein Junge käme, zurückgelegt hatte, hatten die Anschaffungen der Tanten völlig verschlungen. Aber Gott ja, hier durfte man nicht knausern, da es sich doch um das Wohl und Wehe seiner Nachkommenschaft handelte. Alles was getan wurde, diente doch nur diesem Zweck.

Mutze Mandel, eine begeisterte, fanatische Anhängerin von künstlicher Kinderernährung, ließ die kompliziertesten Sterilisierapparate mit Batterien von Flaschen ins Haus schaffen. Sie propagierte von früh bis spät ihre Theorie. Herr Becker hatte nichts gegen die Sterilisierapparate einzuwenden und bezahlte die erhebliche Rechnung ohne Murren, ungeachtet der fünf Ammen. Man konnte nicht wissen!

Oft saß er stundenlang vor all den fremden Dingen und sann über deren Zweck und Bestimmung nach. Aber er fand den Sinn nicht. Er tröstete sich mit dem Gedanken, daß so eine Geburt und das Drum und Dran schließlich für ihn, der das zum ersten Male mitmachte, ein notwendiges Mysterium sein mußte.

Nur das Doppelkraftmalzbier »Goliath« schien ihm verständlich. In ungeahnten Quantitäten tranken es die Ammen in sich hinein. Man sah in der Tat einen eklatanten Erfolg.

Die junge Mutter glaubte in ihrem Zustande zuversichtlich, daß alles notwendig und gut war, was um sie geschah.

Woche auf Woche verging, aber das Baby kam nicht.

Das Malzbier nahm rapide ab – die Ammen erschrecklich zu. Sie gingen zu fünf nicht mehr in ein Zimmer. Herr Becker mußte im Hause die zweite Etage dazu mieten und jeder Amme ein Zimmer für sich geben. Er ließ für jede Amme ein vierschläfiges Bett herstellen.

Die Ammen aber tranken unentwegt das Doppelkraftmalzbier »Goliath«.

Das Baby blieb aus. Man erinnerte sich anderer Fälle aus der Bekanntschaft, wo es auch so lange gedauert hatte. Bei Bösheims gegenüber – Gott, die hatten damals jede Hoffnung aufgegeben. Das war das Gespräch von früh bis spät.

Es wurden weitere fünftausend Flaschen Kraftbier »Goliath« eingelegt. Die Ammen füllten ihre Zimmer völlig aus. Sie glichen Riesenplumeaus oder auch vorsintflutlichen Tieren.

Wochen vergingen. Man wußte schon fast nicht mehr, um was es sich handelte, und hatte das Baby schier vergessen. Da plötzlich eines Morgens um fünf Uhr war das Ereignis eingetreten. Jetzt konnte man es sich kaum erklären. So unerwartet! Gestern waren Beckers noch im Stadtgarten. Kalbfleisch mit Kartoffelsalat hatte Frau Becker gegessen. Und jetzt war ein Junge da.

Das Kind wurde natürlich für so schön und kräftig befunden, wie man noch keines bisher gesehen hatte. Herr Becker ging mit enorm herausgedrückter Brust stolz durch das Haus.

Der Junge wanderte von Hand zu Hand. Die Tanten rissen sich um ihn. Eine jede hatte die krampfhafte Sucht, etwas mit dem Baby anzustellen. Es war ein seltsames Stimmendurcheinander, ähnlich einer wilden Unterhaltung von Papuanegern oder dem Lautgewirr in einer Irrenanstalt.

»Pi, pi, pi, tleine Jung, tleine Jünke! Tö, tö, tö, püh, püh, püh, hatu Weweeke? Teine Terlche, teine Terlche, kis, kis, kis!« klang es wirr durcheinander.

Tante Meta hatte das Kind auf dem Arm und fragte es fortgesetzt: »Wo is et liebe Kerlche, wo is der kleine Jung?«

Diese sinnige Frage wurde von dem Baby nur mit einem mörderischen Geschrei beantwortet.

Frau Becker hatte die fieberhafte Sorge aller jungen Mütter, horchte begierig und vertrauensvoll allen Vorschlägen und ließ die Tanten in allem gewähren.

»Gewickelt, feste gewickelt muß das Kind werden«, wurde vorgeschlagen. Der Junge wurde gewickelt mit einer Begeisterung, daß er ein gutes Stück länger wurde. Das Kind brüllte.

»Was wickeln? Um Gottes willen!« hieß es von anderer Seite, »das Kind muß frische Luft haben, muß strampeln können.« Das Baby wurde bei 0 Grad auf die Bleiche gelegt. Das Kind brüllte.

»In die Wiege muß das Kind, es muß geschaukelt werden«, ein neuer Vorschlag. Man schaukelte das Baby mit Vehemenz, daß es im hohen Bogen hinausflog. Es brüllte.

»Es muß in den Kinderwagen und hin und her gefahren werden«, schrie eine Stimme überzeugt.

Das Kind wurde in den Kinderwagen geschleudert und wie irrsinnig durch die Wohnung gejagt.

Der Fanatismus der eifrigen Tanten, die alle hartnäckig auf ihren Theorien bestanden, wurde unheimlich und wuchs zu einer Besessenheit aus.

»In Wolle muß der Knabe gebettet werden«, tobte Tante Hucklenbroich. Sie warf die Pflanzenfasergewebe von Tante Tine beiseite.

Tante Tine riß dann den Jungen wieder aus den Umhüllungen der Hucklenbroichschen Kamelhaarwäsche und legte ihn zurück in ihre Idealwäsche »Prinzessin Alice«.

Das Baby brüllte mörderlich.

»Der Junge muß gepudert werden. – Der Junge darf nicht gepudert werden, er muß mit Fett eingerieben werden. – Nein, er muß mit Spiritus abgerieben werden. – Er muß kalt gebadet werden. – Heiß, ganz heiß muß er gebadet werden.« Alle Ratschläge wurden befolgt. Das Baby brüllte unentwegt.

»Das Kind wird Hunger haben«, meinte der Briefträger Pempelfort. Auf die Idee war noch niemand gekommen.

Man schrie nach den Ammen.

Mit den Ammen war aber nichts mehr anzufangen, sie konnten wegen ihrer Fülle nicht aus ihren Zimmern heraus. Außerdem waren drei schon geplatzt, und die beiden anderen gingen demselben Ende entgegen.

In der Not griff man zu dem Sterilisierungsapparat der Mutze Mandel.

Die Entdeckung des Radiums war ein Kinderspiel gegen die Bemühungen der mit Vater Becker vereinigten Tanten, den Sterilisierapparat in Szene zu setzen. Gläser mit Maßstrichen und gebogene Glasröhren hatte man schon reichlich kaputt gemacht, sich auch bereits genügend die Finger verbrannt.

Das Kindchen schrie, daß es bereits blau im Gesicht war, nach Atzung. Die Nachbarn beschwerten sich. Ein Polizist kam von der Straße herein im Glauben, es würde jemand ermordet.

Man wußte nicht, was in die Flaschen kam. Das vor allem wußte man nicht.

»Milch«, schlug der Polizist vor.

»Richtig, natürlich Milch«, rief man froh und erlöst durcheinander.

Das Baby lag fast in den letzten Zügen, als man endlich die erste Pulle Milch bereitet hatte. Der Kleine sog die Milch mit Behagen. Mutze Mandel triumphierte. Der Sterilisierapparat ward anerkannt.

Das Baby schlief nach seiner Pulle ein. Der Polizist ging weg.

Man müßte das Kind mal wiegen – Tante Tine kam auf die Idee. Das Kind wurde auf die Wage gelegt, wurde wach und begann natürlich wieder zu schreien. Man legte es wieder in die Wiege, da man aus der Wage doch nicht klug wurde.

Dann kam man in den nächsten Tagen endlich zum Verständnis der Wage. Man wog den Knaben vor und nach jeder Flasche und konstatierte triumphierend, daß er nachher immer schwerer war. Das war ein gutes Zeichen. Er gedieh, hurra!

Aber eines Tages bemerkte man, daß das Baby am nächsten Tage vor der Flasche gerade so viel wog, wie am Tage vorher vor der Flasche. Das war ja äußerst seltsam. Da man keinen Mathematiker zur Hand hatte, blieb diese Erscheinung unerklärt.

Dann empfahl eines Tages die Bügelfrau das Idealrapidsäuglingskraftwachsnährpulver »Koloß«.

Man gab dem Kind abends eine tüchtige Dosis, und bereits am nächsten Morgen fand man das Baby aufgeschossen zur Größe eines zehnjährigen Jungen, mit den Beinen und den Armen aus der Wiege baumelnd vor. Entsetzen packte die Tanten und die Eltern.

Und das Kind wuchs sichtbar. Die Wiege brach zusammen.

Die Tanten flüchteten in die Heimat. Die Eltern ergaben sich dem Malzbier.

Niemand wagte mehr, nach dem Kinde zu schauen.

Der Junge hatte in wenigen Tagen die Größe eines ausgewachsenen Mannes mit dem Intellekt eines Säuglings.

Er ging ins Leben hinaus, geriet in die Diplomatenkarriere und brachte es in kürzester Zeit zu einer leitenden, hohen Staatsstellung.

Niemals ist das Land so auffallend gediehen, wie unter dem Regime des jungen Becker.

 

Die Taufe

Blonde Frauen bekommen furchtbar leicht Kinder. Blonde Frauen sind ganz besonders veranlagt, gute Mütter und Juwelen von Hausfrauen zu werden.

Mein Freund Theobald Seheim mußte einen solchen Typ deutscher Fruchtbarkeit heiraten. Es ging nicht mehr anders: das Mädchen gehörte der Gesellschaft an, und der Bruder war Reserveleutnant. Theobald hatte auch seinen Roman in der Gesellschaft haben wollen; er war dabei hereingefallen.

Wenn irgend etwas Außergewöhnliches an ihn herantrat, verlor Theobald stets völlig den Kopf. Ich war einmal sehr befreundet mit ihm und hatte ihm während der kritischen Zeit getreulich zur Seite gestanden; außerdem war ich ihm noch dreihundertzwanzig Mark schuldig.

Nach seiner Verheiratung sahen wir uns selten, er hielt sich unseren Kreisen fern. Zweimal war ich bei ihm zu Tisch, das letztemal vor etwa zwei Monaten. Die blonde Frau ging mir mit ihrem aufdringlichen Embonpoint auf die Nerven. Sie verließ das Zimmer nicht einen Augenblick. Theobald hatte sich in den sechs Monaten seiner Ehe verblüffend geändert. Er war äußerst moralisch geworden und begann, je mehr ich seinem wirklich nicht schlechten Mosel zusprach, mir mein ungeregeltes, verwerfliches, drohnenhaftes Junggesellendasein im Gegensatz zu seiner nützlichen, staatserhaltenden Häuslichkeit vorzuhalten. Einteilen müsse man sich sein Leben, dozierte er, alles zur Zeit und vor allem alles mit Maß. Um die Liebe sei es etwas Heiliges, erklärte er gemessen. Gerade sittlicher Ernst fehle heutzutage den jungen Leuten. Frau Seheim hängte sich polypenhaft an ihren Gemahl und drückte ihm ihre Lippen ins Gesicht. – Ich steckte mir beschämt eine neue Importe an und hauchte tief aufseufzend: »Ja, ja!« – Als er dann auf die materiellen Vorzüge einer Ehe hinwies, in höchster Entrüstung von dem In-den-Tag-Leben der meisten Junggesellen, dem sinnlosen Geldverprassen und der notwendigen Folge eines solchen verwerflichen Lebens, dem unsinnigen Schuldenmachen sprach, wurde es mir nun doch ungemütlich; ich verabschiedete mich, zumal Theobald keine Anstalten machte, eine neue Flasche anzubrechen, mit einer gewissen Kühle und mied von diesem Tage ab die Seheimsche Häuslichkeit. –

Ich hatte während der letzten Tage schauderhaft gesumpft, zwei Tage und zwei Nächte meine engsten Lackstiefel nicht von den Füßen gehabt. Die vergangene Nacht hatte sich bis heute mittag ausgedehnt. Nun saß ich als absolute Leiche auf meiner Bude und pflückte mir ächzend und stöhnend meine Gewandung vom Leibe.

Schlafen, schlafen, schlafen, war mein einziger Wunsch. Es war Dienstag. Ich hatte meiner Wirtin strengste Order gegeben, mich vor Freitag nachmittag nicht zu wecken.

Behaglich dehnte ich mich in den Federn und streckte grunzend das zerschlagene Gebein. Ich schloß die Augen und sank sanft dem Nirwana in die Arme.

Trrring ..... trrrriing ........ trrrrrrrrrriiiing ...

Ich warf mich stöhnend auf die andere Seite.

Trrrrrrrriing .... trrrrrrrrrrrriiiiing ..... trrrrrrrrrriiiiiiiing ..... trrring.

Ich fuhr im Bett auf; idiotisch versuchte ich, mir im Halbdusel darüber klar zu werden, woher das furchtbare Geräusch komme.

Trrrrrrrrrrrrrrrrrriiiing ..... trrrrrrrrrrrrriiing ... trrrrrrrrring .......

Die Korridorklingel –

Trrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrriing .... trrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrring ....

Warum öffnet die Wirtin nicht? Wirtinnen öffnen immer nur dann, wenn man aus bestimmten Gründen damit gerechnet hat, einen Besuch selbst an der Tür in Empfang zu nehmen.

Mein armer Kopf!

Ich hielt mir die Ohren zu. Vergebens!

Trrrrrrrrrrring .......

Da will nicht, da muß jemand herein.

Trrrrrrrrrrrrrrrrrrriiiiiiiing ... trrrrrrrrrrrring .... trring .... trring ........

Endlich. – Irgendeine Tür in der Wohnung wurde rabiat aufgerissen, und eine schwere Masse schluffte energisch durch den Korridor.

Aufatmend ließ ich mich in die Kissen zurücksinken. Ich war zu gebrechlich, um mich noch weiter für den Fall zu interessieren. –

Ein entsetzlicher Lärm auf dem Korridor störte mich, kaum eingeduselt, wieder auf. Lautes Stimmengewirr, aus dem ich das schrille Organ meiner Wirtin heraushörte, die gegen eine Männerstimme anredet. Die streitenden Parteien schoben sich näher und machten vor meiner Türe halt.

Ich richtete mich wütend auf und hörte, wie meine Wirtin fortgesetzt beteuerte, ich wäre verreist und würde in den ersten Wochen kaum wiederkommen; man könnte im übrigen gegenwärtig überhaupt nicht in das Zimmer, es sei frisch gestrichen. Dann kamen Argumente, die lediglich aus Schimpfworten bestanden.

Die Beharrlichkeit des Fremden draußen, zu mir zu gelangen, machte mir ernstlich Sorge. Ich suchte mir darüber klar zu werden, wo ich die Stimme schon gehört hatte. Ich konnte mich nicht besinnen. Ohne Zweifel irgendein feindseliger, gieriger Manichäer. Ich baute auf das Maulwerk meiner Wirtin.

Verzweifeltes, ohnmächtiges Schluffen und Stampfen; ein Drängen und Stoßen an der Tür. Eine energische Hand legte sich auf die Klinke, und rüttelnd heischte eine gebieterische Stimme, die ich jetzt als die Theobald Seheims erkannte, Einlaß.

Ich kroch unter die Decke. »Ich weiß, daß du da bist«, tönte es vor der Tür. Zögernd begann Theobald mit seinen amerikanisch Doppeltbesohlten den Anfang von Salomes Schleiertanz an meiner Tür zu produzieren. Mein armer Kopf. Die verdammten dreihundertzwanzig Mark.

Ich faßte einen Entschluß. Ich schleppte mich zur Tür und winselte durch das Schlüsselloch, ich sei totkrank, es müsse die Lepra sein oder die Pest. Es wäre unbedingt ansteckend; ich würde unter keinen Umständen öffnen; er habe aber als verheirateter Mann Pflichten seiner Frau gegenüber. Er solle mir schreiben, übrigens bekäme er sein Geld.

Er trampelte unverdrossen weiter. Ich hielt mir die Ohren zu. – Er änderte seine Taktik und rief durch die Türritze, er hätte mir eine für mich höchst wichtige Mitteilung zu machen. Ich solle nur um Gottes willen öffnen. Wegen der alten Geldsache käme er nicht; das eile nicht. Es wäre nichts Unangenehmes, darauf gäbe er mir sein Ehrenwort.

Ich war einigermaßen beruhigt und öffnete also.

»Anziehen, sofort anziehen«, waren seine ersten Worte.

»Ja, aber ...«

»Anziehen, schleunigst, ich erkläre dir alles. Schnell, schnell.«

»Unmöglich«, ächzte ich, »ich bin gerade im ersten Schlaf.«

»Anziehen, anziehen, sofort, soooofoooort!!« brüllte er wutschnaubend. Er sprang von einem Bein aufs andere, griff nach einem rostigen Beil aus der Schlacht bei Moorgarten, welches ich als wertvolle Antiquität an der Wand hängen hatte und rückte mir zu Leibe.

»Anziehen, anziehen, anziiiiiiiehen!!!«

Er ist irrsinnig, das wurde mir klar. Man muß ihm den Willen tun.

Ich brachte einen Tisch zwischen mich und Theobald und schwang mich mit einem gräßlichen Fluch in meine Hose.

»Schnell, schnell«, hetzte Theobald.

Ich hatte die Hose falsch herum angezogen. Ich riß sie wieder herunter, trat in die Waschschüssel, rannte gegen die offene Kleiderschranktür. Ein Topf Preißelbeeren, den meine Wirtin auf meinem Kleiderschrank aufzubewahren pflegte, fiel herab.

»Hier dein Rock – deine Schuhe – deine Weste – schnell, schnell!«

Meine Füße waren angeschwollen. Die kaum erkalteten Lackschuhe zu eng geworden. Ich zerrte und zerrte, der Hosenträger platzte.

»Töte mich, Theobald«, heulte ich, »oder sage mir wenigstens, was du mit mir vorhast.«

Die gymnastischen Anstrengungen, in die Schuhe zu schlüpfen, waren endlich von Erfolg gekrönt. Ich konnte nur auf den Fußspitzen auftreten. Es war fürchterlich. Das Blut stieg mir zu Kopf. Wasser lief mir im Mund zusammen. Es wurde mir schlecht. Die letzte Pulle Moët, der Ausklang einer gewaltigen Serie dieses leichtsinnigen Saftes, kam an den Tag.

Tränend, schluchzend, pustend ächzte ich: »Töte mich, Theobald.«

Ich sank in einen Sessel, auf welchem mein steifer Hut lag. – Unerbittlich hielt mir Theobald meinen Rock hin.

»Anziehen, anziehen! Es muß sein! Es muß sein!!«

Ganz willenlos ließ ich Theobald meine Garderobe vervollständigen. Er stülpte mir den eingesessenen Filz auf, nahm mich unter dem Arm und schleppte mich die Treppe hinab auf die Straße, wo eine Droschke wartete.

Ein naßkalter Novembertag –

Theobald und der Kutscher bauten mich im Rücksitz auf. Ich vergrub meinen todwunden Kopf in die Ecke und schlief ein. – Ein kalter Luftzug weckte mich auf. Das Fenster war heruntergefallen. Theobald zog es wieder zu und drückte mir das Ende des Fensterriemens in die Hand. Ich lehnte mich zurück, und die Augen fielen mir zu.

Der Riemen entglitt meiner Hand. Das Fenster sauste klirrend nieder. Ich schreckte auf. – »Es muß sein«, tönte mir Theobalds letztes Wort in den Ohren. Ich döste und versuchte, mir darüber klar zu werden, warum ich in einer Droschke sitze und nicht in meinem Bett liege; warum Theobald mir gegenüber sitze in einem schwarzen Anzug und mich anstarre. – »Warum dies alles?« – »Es muß sein«, tönte es in mir. – »Was muß sein, elender Bursche?« – brüllte ich plötzlich los. Ich packte Theobald an den Schultern und schüttelte ihn, geriet dabei mit dem Ellbogen in die andere Scheibe, glitt aus und fiel von der Bank. – Es war zu viel für mich; meine Kraft war endgültig gebrochen. Ich weinte und bat Theobald, er möchte doch wegen der dreihundertzwanzig Mark keine Schweinereien machen. Ich wollte Stunden geben, alten Damen vorlesen, Adressen schreiben, Konversationslexika verkaufen. Ich würde etwas zu verdienen suchen, um ihn nach und nach abzuzahlen. Tränen erstickten den Rest meiner Beteuerungen. –

Es gab einen Ruck nach vorn, es gab einen Ruck nach hinten, und der Wagen hielt. Theobald stieg zuerst aus. Es regnete heftig. Gleichgültig sah ich mich um; wir standen vor der Johanniskirche. Theobald zog, der Kutscher schob, ich stand in der Kirche. Das Dienstmädchen von Seheims, die Anna, war auch da. Sie stand mit einem weißverpackten Kind in der Nähe des Eingangs, als ob sie uns erwartete. Sie schloß sich uns an. Die Kirche war angefüllt mit Frauen, die Kinder trugen, und Männern in schwarzen Röcken und wichtigen Gesichtern. »Verstehe das, wer will! Was soll ich da?« – Es überlief mich kalt, wir wurde schwindlig: Theobald, – die Preißelbeeren – die Anna – der Moët – das Kind – der Kutscher: ein wilder Reigen vor meinen Augen. »Nimm dich zusammen, du sollst ja nur Pate bei meinem Kinde sein«, schnauzte mir Theobald ins Ohr. Er habe das mit dem Paten nicht gewußt, flüsterte er mir zu, erst der Pastor habe ihn heute vormittag bei der Anmeldung zur Taufe darauf aufmerksam gemacht. Er habe aber keinen von seinen anderen Bekannten angetroffen. – Mein erster Gedanke bei dem Wort Pate war: »ein silberner Löffel«.

Ich war physisch zu marode, um noch länger zu stehen; ich kroch in eine Bank. Theobald setzte sich krampfhaft neben mich; an der anderen Seite von mir saß die Anna mit dem Kind. Das Kind hatte einen Gummilutscher im Mund, der immer zu Boden fiel. Ich versuchte ihn aufzuheben, es ging nicht, es war zu tief. Ich bekam einen roten Kopf, und alles schmeckte nach Moët. – Trotz der harten Kirchenbank, trotz des allseitigen Kindergeschreis schlief ich wieder ein. – Ein unsanfter Stoß in die Seite schreckte mich auf. »Wir sind jetzt an der Reihe«, sagte Theobald und zog mich zum Altar. Fremden Leuten mußte ich sagen, wie ich heiße. Dann kam ein Pastor und predigte. Das Stehen bekam mir nicht, ich schwankte und stieß laut auf. Theobald trat mir verstohlen gegen das Schienbein. Unser Kind begann zu schreien; Theobald wurde rot und bekam eine dicke Ader auf der Stirn.

Ich duselte stehend ein.

»Sie können gehen, Ihre Leute sind schon weg«, hörte ich wie von ferne eine milde Stimme sagen. Es war der Pastor. Ich stierte um mich, die Kirche hatte sich geleert. Theobald und die Anna mit dem Kinde waren weg. »Sie werden draußen in der Droschke auf mich warten«, dachte ich.

Ich kroch zur Tür und hatte gerade die Klinke in der Hand, als der Küster auf mich zusprang und mir ein warmes Paket mit einem quietschenden Kind in den Arm legt. Ich versuchte, mich zu sträuben, protestierte und erklärte mit käglicher Stimme, daß wir unser eigenes Baby hätten, und daß mich die ganze Sache nichts anginge. – Ich mußte weinen. – Ich sei nur Pate bei Seheims Kind, schluchzte ich, er möge das Kind doch behalten. Der gute Mann zuckte lächelnd die Achseln und meinte, das kenne er, diese Art, sich zu drücken, zöge bei ihm nicht. Ich beschwor, ich beteuerte, immer noch jämmerlich heulend, ich sei Junggeselle. »Gerade deswegen«, lautete seine höhnische Erwiderung. Er drängte mich durch den Ausgang, und schwer fiel die Tür hinter mir ins Schloß.

Ein Gemisch von Schnee und Regen trieb mir der Wind klatschend ins Gesicht.

Ich stand seelisch und körperlich gebrochen an der Kirchtür, mit viel zu engen Lackstiefeln und einem fremden Kind. Von Theobald und unserer Droschke war nichts mehr zu sehen.

»Der Schuft!« Ich verfluchte ihn, seine blonde Frau, die Wirtin, die Anna, den Küster und den verdammten Moëtgeschmack im Mund. Ich zermarterte mein armes Gehirn, was ich anfangen sollte. Ich wurde immer mehr durchnäßt. Ich kroch unter das Portal; hier war ich wenigstens vor dem Unwetter einigermaßen geschützt. Ich klapperte vor Frost. Mir wurde übel.

Plötzlich fühlte ich mich von einer kralligen Hand am Arm gepackt, eine keifende Weiberstimme riß mich aus meinem Sinnen.

»Hann ech Se endlich, Sie jemeine Minsch! Sie also hann onser Traudsche verföhrt? Natürlich, nachdem et eso weit es, dröckt mer sech. Ech well et Ehne scho zeige!«

Ein übles, schmutziges Weib stand vor mir. Ich starrte sie verständnislos an und sagte zitternd: »Ich verstehe Sie nicht, gute Frau.«

»Verstehen Sie nicht? E arm Mädsche in et Onjlöck stürze, dat verstonn Se! Mettjekumme, ech well et Ehne schon klar mache!«

Sie riß mich die Kirchentreppe hinab und zog mich mit sich. Mir war nun alles gleichgültig geworden. Ich verteidigte mich nicht mehr, gab jedes Sträuben auf und stolperte hinkend, willenlos, wie im Traum neben der Alten her, das Kind noch immer auf dem Arm. Unermüdlich keifte das Weib weiter. Ihre Tochter wäre von der Kirche nach Hause gekommen ohne das Kind, sie hätte es auf eine Bank gelegt, und nachher wäre es weggewesen – so habe sie erzählt. – Ich hätte dem armen Mädchen den Plan eingegeben, so das Kind los zu werden. – Sie wäre eine alte, ehrliche Frau und wollte keine Scherereien mit der Polizei haben. Ein Glück, daß sie mich noch erwischt hätte.

Ich verstand nichts von alledem. Ich hatte nur den Wunsch, bald irgendwo zu sein.

Wir durcheilten Straßen, durch die ich nie gekommen. Endlich machten wir vor einem schmutzigen, vielstöckigen Mietshause halt. – Blöde erwartete ich, was nun vor sich gehen solle.

Die Alte riß mir das Kind aus den Armen; mit einigen kräftigen Püffen war ich im Haus. Ein Duft von schlechtem Fett, Kindern und feuchter Wäsche umfing mich. Irgend jemand rief: »Heini, die Ahl hätt em.«

Ich hörte Gejohle hinter mir und schleppte mich wie besinnungslos die Treppe hinauf. Man stieß mich in ein qualmiges Zimmer, wo ich halbtot auf dem ersten besten Stuhl zusammenklappte.

»He es de jemeine Minsch«, hörte ich aus dem Nebel meine Begleiterin kreischen.

Klatsch-päng – bekam ich eine Ohrfeige, die mich mit dem Stuhl umwarf.

Ich machte Anstalten, aufzustehen, ein Tritt von einem derben Stiefel vereitelte mein Beginnen. Ich brüllte um Hilfe. Ich flehte um Gnade.

Ein Hüne mit einem brutalen, viereckigen Gesicht, in einer gestrickten Jacke schleuderte mich in die Ecke eines alten Ledersofas, setzte sich mir drohend gegenüber und paffte mir rücksichtslos den Rauch einer nichtswürdigen kurzen Pfeife ins Gesicht. Um den Tisch herum standen ungezählte, nie gewaschene Kinder, die mich neugierig und schadenfroh angrinsten.

»Also du des däh Kääl?« brüllt mich mein Gegenüber an.

Ich stammelte: »Nein.«

Drohend hob er die Faust.

Ich flüsterte: »Ja.«

»Du wirs also ons Traudsche hierohde?« fuhr er fort.

Ich starrte, wie hypnotisiert, auf die furchtbare Faust. Mein Kopf drohte zu zerspringen, meine Backe schmerzte, – auch hatte der Tritt eine empfindliche Stelle getroffen. Dazu stieß mir noch fortgesetzt Moët auf.

»Ja oder nein?«

»Ja, ja, ja«, stöhnte ich in meiner Angst, »alles, was Sie wollen.«

Im Nebenzimmer begann das Göhr zu schreien. Das Weib keifte dazwischen. Der Mann am Tisch schimpfte weiter. Worte schlugen an mein Ohr, deren Sinn ich nicht verstand. Mein Begriffsvermögen war zu Ende. Ich sank völlig erschöpft in mich zusammen. –

»Dat es ja jar nitt der Hujoh«, hörte ich auf einmal eine fremde weibliche Stimme dicht neben mir. Man rüttelte mich auf. Ich glotzte um mich. Der Hüne stand drohend vor mir, neben ihm ein junges Mädel. Das alte Weib saß am Tisch mit dem Kind auf dem Arm.

»Dat es ja jar nitt der Hujoh«, wiederholte das Mädchen.

Ich bekam wieder Mut.

Weinerlich bestätigte ich: »Sie haben recht, ich bin wirklich nicht der Hugo.« – Obgleich ich tatsächlich nicht mehr wußte, wer ich überhaupt noch war.

Der Hüne schlug mir den Hut auf den Kopf, riß mich vom Sofa und schrie: »Wat häs du dann he verlore, du Flahbes, eraus sag ech, du hörs net en ons Famellje!«

Die Alte keifte dazwischen: »Wie kütt dä Kääl an ons Keng?«

Ich versuchte, langsam zur Tür zurückweichend, die Leute in einigen kurzen Sätzen aufzuklären, wie ich an das Kind gekommen sei, als plötzlich die junge Mutter, die sich inzwischen der Entblätterung des Kindes zugewandt hatte, gellend ausrief: »He dat es ja jar nitt onser Jösefke, he dat es e Mädsche!«

Die Alten und sämtliche Kinder drängten sich um den Säugling, um sich von dieser neuen, seltsamen Tatsache zu überzeugen.

Ich wollte die Verwirrung benutzen und mich still und anspruchslos drücken: bereits hatte ich die Klinke in der Hand, als man allgemein meiner gedachte.

Brutal wurde ich gepackt und ins Zimmer zurückgerissen.

»Mer sollt zur Pollezei schicke!« schrie die Alte, die mir rücksichtslos das schlecht verpackte Kind unter den Arm schob.

Brüllen. Kreischen. Johlen. Die Faust tanzte mir vor der Nase. Von allen Seiten wurde ich gezwickt und geschoben.

Da kam mir in höchster Not ein rettender Gedanke.

Mit dem Rest meiner Kräfte begann ich einen schauerlichen, gliederverrenkenden Tanz auszuführen, dazwischen brüllte ich:

»Huaoooh, huuuuuuuuaooooh, Kresooooooot, Yohimbiiiiiiiiiiiin, huuuuuuuuaoooohh ....!!« Schaum trat mir vor den Mund.

Man stob entsetzt auseinander und flüchtete ins Nebenzimmer.

Ich schleuderte das Balg auf das Sofa, erreichte die Tür und flog in gewaltigen Sätzen die Treppe hinunter. Ein Handbesen, geschickt geschleudert, traf mich noch ins Kreuz.

Ich gewann die Straße und raste dahin.