Julius Stinde: Die Opfer der Wissenschaft

 

 

Julius Stinde

Die Opfer der Wissenschaft

oder

Die Folgen der angewandten Naturphilosophie

 

 

 

Julius Stinde: Die Opfer der Wissenschaft oder Die Folgen der angewandten Naturphilosophie

 

Neuausgabe.

Herausgegeben von Karl-Maria Guth, Berlin 2017.

 

Umschlaggestaltung unter Verwendung des Bildes:

Albert Edelfelt, Louis Pasteur, 1885

 

ISBN 978-3-7437-0670-5

 

Dieses Buch ist auch in gedruckter Form erhältlich:

ISBN 978-3-7437-0353-7 (Broschiert)

ISBN 978-3-7437-0640-8 (Gebunden)

 

Die Sammlung Hofenberg erscheint im Verlag der Contumax GmbH & Co. KG, Berlin.

 

Erstdruck: Leipzig, Barth, 1878 unter dem Pseudonym Alfred de Valmy.

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind über http://www.dnb.de abrufbar.

 

 

 

 

 

 

 

Motto:

 

 

Tenez, j'explique du latin, quoique jamais je ne l'aie appris; et voyant l'autre jour écrit sur une grande porte collegium, je devinai que cela voulait dire collège.

 

Molière. George Dandin. Akt III. Sc. 1.

 

Erstes Buch: Wissenschaft und Leidenschaft

Einleitende Worte. – Zwei Nationen. – Die naturwissenschaftliche Apokalypse. – Der Handwerker und die Sonnenflecke. – Die elektrische Pflanze. – Väter der Wissenschaft. – Die höchsten Ziele. – Die Opfer des Spektroskopes. – Tuez là und das Caesium. – Die Erhaltung der Kraft und das Gewissen. – Der Doktor Hugo. – Medizinische Systeme. – Die Blutkur. – Hyperkultur, Natur und Gesundheit. – Die Ratte, die Katze, der Hund. – Das vierte Opfer. – Weibliche Kannibalen. – Das zürnende Naturgesetz. – Desens und Jeremias auf den Trümmern von Jerusalem. – Die Rettung der Menschheit. – Fluoreszenz.

Mein Herr Leser!

Sie erhalten in nachstehenden Blättern die Lebensschicksale eines Naturphilosophen, des großen Professor Desens. Lassen Sie mich Ihnen jedoch zuerst den Grund darlegen, weshalb ich dieselben der Öffentlichkeit übergebe. – Mit tiefem Schmerz hat mich bisher die traurige Beobachtung erfüllt, dass mein geliebtes französisches Volk seine politischen Fähigkeiten auf Kosten des wissenschaftlichen Fortschrittes ausbildet, dass die Nation, welche den Völkern das Beispiel glänzender Königtume, erhabener Kaiserreiche und weltbeglückender Revolutionen gab, in allgemeiner wissenschaftlicher Bildung die Stufe noch nicht erreicht hat, welche das Volk der Denker, die Nation der Deutschen, bereits erkletterte. Der Sohn eines deutschen Landmannes, welcher den Ertrag einiger Ernten verschmerzen kann, erhält jene rapide Ausbildung, welche ihn befähigt, den Militärdienst in einem Jahre zu absolvieren. Er hat die Klassiker kennen gelernt, er ist vertraut geworden mit der Sprache der Griechen, er ist eingedrungen in die Lehre von den Naturgesetzen. Zurückgekehrt zu den heimatlichen Fluren, ist er im Stande, indem er mit seinen Ochsen den Acker bearbeitet, nachzudenken über Probleme der Metereologie, der Ackerchemie, der Botanik, der Geologie. Humboldts Kosmos, der dem französischen Paysan nicht einmal dem Namen nach bekannt ist, wird in wenigen Jahren dem deutschen Bauer keine Schwierigkeiten mehr bereiten; selbst ein untergeordnetes Mitglied der Nation von Denkern wird vermöge seiner Intelligenz die sieben Siegel dieser naturwissenschaftlichen Apokalypse zu lösen im Stande sein. Zur Erreichung dieses hohen Zieles tragen viele wichtige Umstände das ihrige bei. Der Unterricht in den Schulen befreit sich immer mehr von der Beschäftigung mit den Mysterien der Religion. Die Knaben einer Dorfschule beantworten dem Fremden, der Deutschland durchreist, die Frage, mit welcher Geschwindigkeit das Licht den Raum durcheilt, indem sie die Zahl von 42.220 Meilen für die Sekunde angeben. Eine solche Kenntnis frappiert den Fremden, der es nicht wagt, weiter nach dem »Wie« dieser Erscheinung zu fragen, aus Furcht von dem Knaben des Walddorfes auf einer Lücke des Wissens betroffen zu werden. Ferner verbreiten die Zeitungen täglich eine Fülle der merkwürdigsten wissenschaftlichen Entdeckungen und unterrichten ihrerseits das erwachsene Publikum, welches an der rapiden Bildung der heutigen Jugend nicht Teil nehmen konnte. Der Schuster, der Schneider, der Maurer hat von den Darwinschen Theorien gehört, er weiß, dass die Sonne Flecken hat, dass es Spektroskope gibt, dass man mit Fernrohren nach den Sternen sehen kann. Er erfreut sich an der Geschichte von der zahmen Auster, welche ihrem Herrn bis in das fünfte Stockwerk eines Hauses folgte, an der Mitteilung von der Aufhebung der Schwerkraft, an der elektrischen Pflanze, in deren Nähe die Magnetnadel in Unruhe gerät. Er hat gehört, dass die Magnetnadel in Unruhe geraten kann und versteht daher sofort den geheimnisvollen Zusammenhang zwischen der elektrischen Pflanze und dem Kompass. – Das Volk der Denker erkennt keine Heiligen mehr an, es ignoriert die Kirchenväter, es will nichts vom Dogma der Kirche wissen, denn es hat sein Dogma der Wissenschaft, die heilige Chemie, die heilige Physik, die allerheiligste Mechanik und die Väter der Wissenschaft, Darwin, Häckel, Karl Vogt und ihren Propheten Louis Büchner. Warum – so frage ich – kann die Nation der Politiker nicht auf denselben Standpunkt der allgemeinen Erkenntnis gebracht werden? Die Antwort darauf ist: sie kann es.

Es kommt nur darauf an, die Wissenschaft dem Verständnis anzupassen und schon ist ein bedeutsamer Anfang gemacht. Wer kennt nicht die unsterblichen Werke des großen Jules Verne, in denen die Wissenschaft mit der pikanten Sauce der Phantasie auf das schmackhafteste serviert wird?

Macht die Wissenschaft pikant und das Volk wird sie mit Appetit zu sich nehmen!

Das ist das große Geheimnis des neunzehnten Jahrhunderts.

Die Werke des großen Jules Verne haben jedoch leider in Deutschland eine größere Verbreitung als in Frankreich gefunden. Man reißt sich um dieselben, denn die Zeitungen empfehlen sie als bildend und belehrend. Man dramatisiert sie, um von der Bühne herab ethnographische, physikalische, astronomische, zoologische, chemische, kulturhistorische Kenntnisse zu verbreiten.

Das ist der eine Weg zum wissenschaftlichen Fortschritt.

Den anderen hat seit einer Reihe von Jahren mein Freund Professor Desens eingeschlagen, es ist der Weg der unmittelbaren Praxis. Wer die Probleme der Wissenschaft vor den Augen der Menschen zu lösen versteht, der wirkt nicht wie ein Lehrer, sondern wie ein Prophet, der seine Sendung durch Wunder erhärtet. Mein Freund Desens war von jeher zu bescheiden, als dass er selbst in die Öffentlichkeit zu treten den Mut besessen hätte, ich aber kenne sein Wirken, seine Ideen, sein Schaffen und unterließ es nicht, das Publikum davon zu unterrichten. Wieder war es das Volk der Denker, das sich mit Desens angelegentlichst beschäftigte. Als einzelne Abhandlungen über das Wirken meines Freundes in deutscher Sprache erschienen, fanden sie Aufnahme in Zeitungen und Journalen, indem sie von dem einen in das andere übergingen, oft sogar ohne Angabe der Quelle und ohne redaktionelle Bemerkungen, welche auf meinen Freund verdientermaßen hingewiesen hätten. Die »Berliner Industrieblätter« jedoch griffen meinen Freund Desens an, als er die Erfindung gemacht hatte, mittelst Wasserglas und hydraulischer Pressen aus der Asche verbrannter Leichen die Porträts der Verstorbenen herzustellen, während die »Wiener neue freie Presse«, deutsche und amerikanische Zeitungen und zuletzt »Dinglers polytechnisches Journal« diese Erfindung ihren Lesern ohne Widerspruch übermittelten, denn sie trug die Firma Frankreichs. Die vielfache Anerkennung jedoch, welche mein Freund Desens andererseits fand, milderte seinen Schmerz und ermunterte ihn, ruhig weiter zu arbeiten.

Auf den folgenden Seiten finden Sie die Methode meines Freundes, sie stellt sich Ihnen dar, als die Einführung wissenschaftlicher Entdeckungen und Probleme in das wirkliche Leben auf dem Wege der angewandten Naturphilosophie. Sie werden fragen, ob diese Methode von Nutzen ist, ob sie dem Tyrannen der Zeit, dem Fortschritt, huldigt, ob sie nicht gar Schaden anzurichten im Stande sei? Sie werden erfahren, dass die Wissenschaft unter Umständen ein Gift sein kann, das jedoch nur diejenigen beschädigt, welche ihr ungenügend vorbereitet nahen. Die Hohenpriester durften, da sie Eingeweihte waren, ungefährdet an die mit Elektrizität gefüllte Bundeslade der Israeliten herantreten, der Nichtwissende dagegen wurde erschlagen, weil er nicht mit den Vorsichtsmaßregeln vertraut war, welche die genaue Kenntnis der Eigenschaften dieser Naturkraft den Priestern gelehrt hatte. So auch verhält es sich mit der Methode meines Freundes Desens. Der allgemeinen Strömung folgend, detaillierte er die Wissenschaft und gab die einzelnen Stücke willig jedem hin, der die Hände danach ausstreckte. Der Empfänger dieser Bruchteile musste wissen, was er mit denselben zu tun hatte. Ein Messerschmied verfertigt Messer, es ist nicht seine Schuld, wenn dieselben einem Kinde in die Hand gegeben werden und ein Unglück daraus entsteht. Diese Worte muss ich voranschicken, damit das Streben meines Freundes in keiner Weise missverstanden werden kann, damit niemand ihm die traurigen Schicksale zur Last legt, welchen die Opfer der Wissenschaft anheimfielen.

Das Projekt des Professor Desens ist ein weltumfassendes, es strebt den höchsten Zielen zu, es ist der Flug des Ikarus zur Sonne. Sie werden aus den folgenden Blättern sehen, wie mein Freund durch die Verhältnisse, durch die ehernen Naturgesetze gezwungen wurde, immer mehr hervorzutreten, immer energischer in die Speichen des rollenden Rades der Natur einzugreifen. Sie werden die drei großen Perioden seiner Tätigkeit nachzufühlen im Stande sein. Anfangs wollte er nur das Individuum beglücken, dann sein Vaterland, dann die ganze Welt – er differenzierte sich selbst und die Wissenschaft in aufsteigender Linie. Möge der große Mann Ihre vollen Sympathien erwerben, möge der Same, den er gesäet, fröhlich aufgehen, möge das Blut, welches floss und die Leben, welche endeten, der Wissenschaft zu Gute kommen, deren redlichster Anhänger Desens von jeher gewesen ist

Alfred de Valmy.

 

* * *

 

Wer war Desens, wo war Desens, wer kannte Desens?

Niemand. –

Das heißt, die Welt kannte ihn nicht, das große Publikum, die Männer, die Frauen, die Kinder, hatten keine Ahnung von seiner Existenz, seinem Studium, seinen Ideen. Und wer von der Welt nicht gekannt wird, der ist überhaupt nicht vorhanden, ebensowenig wie ein Fisch, der tausend Meter tief mitten im Ozean sich aufhält. Man fange ihn jedoch, man bringe ihn auf den Markt und er ist da.

Desens lebte außchließlich der Naturwissenschaft und der Naturphilosophie des neunzehnten Jahrhunderts, nur einige wenige Schüler um sich sammelnd, zu denen ich zu gehören die Ehre habe und denen auch Herr von Saussayes angehörte. Die Schicksale dieses Herrn waren es, welche die öffentliche Aufmerksamkeit zuerst auf den großen Professor hinlenkten, ihn der Welt übergaben, der er von nun an angehörte. Er wurde entdeckt und für die Welt gefangen, wie jener Fisch, durch

 

Die Opfer der Spektralanalyse.

 

Herr von Saussayes – ein Mann in den ersten der Dreißiger – verheiratete sich vor einigen Jahren mit Helene von Plofand, einer jungen Dame von außerordentlicher Schönheit. Fräulein von Plofand hatte ihre Erziehung im Kloster genossen; sie trat in die Welt, um zu entzücken und entzückt zu werden. Die Gesellschaften, die Fahrten, die Oper, die Theater, genug alle die berauschenden Vergnügungen der Welt Paris, welche in der großen Welt das ist, was die Sonne für das Planetensystem, und in der Geschichte das ist, was der Pharus im Meere: alle diese ungewohnten Eindrücke mussten auf Helene von Plofand von außerordentlicher Wirkung sein. Man sah sie im Theater, man fragte: Wer ist diese Schönheit? Im Bois de Boulogne umschwärmten kühne Reiter den Wagen, der das Glück hatte, Helene von Plofand zu führen; man huldigte ihr in den Soireen. Sie war die Heldin des Tages, die Königin der Feste, das Wunder der Gesellschaft.

Unter den vielen Bewerbern befanden sich zwei Kavaliere, welche vor ihren Augen Gnade fanden: der eine war Herr von Fleaupaille, ein Offizier der Garde, der zweite Herr von Saussayes; beide bildeten einen deutlichen Gegensatz zueinander. Während Herr von Fleaupaille in seinen Bewegungen lebhaft war, in dem Feuer seiner Augen die Leidenschaft verriet, welche sein Innerstes verzehrte und den Ruf eines Attila trug auf dem Feldzug der Liebe, erschien Herr von Saussayes wie ein Philosoph. Seine stets untadelhafte Kleidung mied sorgfältig alles, was auffallen konnte. Über seinen schönen männlichen Zügen lag ein schwermütiger Ernst ausgebreitet; sein Gespräch verriet den Denker, den Freund der Wissenschaft. Wenn man das Recht hatte, Herrn von Fleaupaille einen Don Juan zu nennen, so musste Herr von Saussayes als steinerner Gast gelten, denn keine Dame konnte sich rühmen, ihn zu ihren Füßen gesehen zu haben.

Dies waren die bevorzugten Nebenbuhler. Herr von Saussayes trug jedoch den Sieg davon; seine 67.000 Francs Renten und das glänzend eingerichtete Hotel in der Rue d'Orleans St. Marcel waren wichtige Momente, welche die Eltern Helenens nicht außer Acht ließen und welche nicht minder auf die Entscheidung der jungen Dame einwirkten.