„Ein Drache kann ständig seine Gestalt verändern.

Ein Herrscher über Menschen hat sehr viel Ähnlichkeit

mit dem Drachen, auch er hat gesträubte Schuppen

und ein Mensch, der sich von ihm fernzuhalten weiß,

wird nicht übel verfahren.“

(Han Fei)

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Das worauf es am Ende vom Ende vom Ende vom Ende dann ankommt, wie Jakob sagen würde, ist viel leichter zu finden als man denkt.

Jakob war der erste Mensch, den ich an der Uni kennen lernte. An seinem langen, hellen Haar über den beinahe nassdunklen Augen, so wie Erde nach einem heftigen Regen aussah, konnte man nicht vorbeischauen. Wir redeten nur kurz, denn ich wollte viel lieber in meinem Universitätsführer lesen.

Drei Meter weiter am schwarzen Brett sprach er mich wieder an. Diesmal kehrte ich nicht zu meiner Lektüre zurück. Er studierte Philosophie aus einer geradezu unergründlichen Leidenschaft heraus, was er mir stundenlang in aller Ausführlichkeit bei einigen Bechern Kaffee erläutert hatte. Obwohl er dabei viel lachte, war er mir gleich sympathisch gewesen. Von seiner Familie wollte er mir nichts erzählen. Nur, dass er aus dem Teil Deutschlands kam der unter das Gebiet der ehemaligen DDR gefallen war verriet er mir. Jakob sah nicht glücklich aus als er davon sprach. Wie ich befand auch er sich auf der Flucht, da konnte er mir nichts vormachen. Deshalb war er der Erste, dem ich noch am gleichen Abend im Wohnheim ungefähr acht Mal „The sound of silence“ vorgespielt habe. Wir sprachen darüber, dass die meisten Menschen nicht tatsächlich miteinander sprechen. Auch darüber, dass sie nicht richtig hinhören und ebenso wenig richtig hinsehen. Jakob sagte mir zudem, dass es ihm so vorkomme, als würde letztlich jeder, wirklich jeder Mensch für sich alleine leben. Trotzdem lächelte er. Ich dachte dabei an einen Riss, der mitten durch den Menschen hindurch und mitten durch die Menschheit ging und ich verstand, was er meinte. Er begriff wiederum die Gefahr, die davon ausging. Wenn man die Einheit durchreißt, hat man die Macht, die Glieder nach eigenem Belieben neu zu ordnen. Das war mir früher tatsächlich schon häufiger in den Sinn gekommen.

Ein Herrscher über die Menschen könnte sich dies zunutze machen. Er könnte nicht nur – mit Sicherheit würde er es tun. Und ich bin heute noch davon überzeugt, dass damit jegliches Unglück seinen Lauf nimmt. Jakob stimmte mir immerhin uneingeschränkt zu. Immer noch leicht lächelnd. Und wir hörten „The sound of silence“ noch einmal. Seine Augen waren so warm wie seine Stimme und ich mochte die zuverlässige, weiche Form seiner Hände. Ob das genug ist?

Vielleicht ist das gar nicht so wichtig.

Wesentlicher ist der Beginn als solcher. Und es war nicht zu leugnen:

Das war der Beginn meines neuen Lebens, das gute Ende vom nicht so guten Anfang.

Kapitel 1

Mein Name ist Hannah Weiß. Ich komme aus der tiefsten Schweiz, und meine Familie beschwert sich oft und gern über meinen mangelnden Humor. Als wäre ich zu einem solchen verpflichtet. Was sollte das überhaupt bedeuten?

Möglicherweise wussten das meine Eltern aber selbst nicht. Ihre fast greifbare Ratlosigkeit im Umgang mit mir war schwer zu übersehen.

Als Kind wurde ich sogar regelmäßig zu einem Psychologen und zu einem Kräuterheiler nach St. Gallen geschickt. Die konnten aber auch nichts ausrichten. Da ich seinen Theorien widersprach durfte ich im Alter von 12 nicht mehr zu ihm kommen, was mich aber nicht besonders belastete. Niemand aus meiner gesamten Familie hat Deutschland jemals wieder betreten, seit meine Urgroßeltern, seit Martha und Johann Weiß, in diesem Land ermordet wurden.

Aber es gibt, irgendwo im unheimlichen Süden dieses Landes, noch das feinste Feiertags-Porzellan meiner Urgroßeltern. Eine Nachbarin hatte es damals für sie aufgehoben.

Wir haben es nie abgeholt, denn meine Familie hat sich geschworen, den Boden dieses Landes niemals wieder zu betreten.

Sie reden auch nicht über das, was war. Beinahe alles, was ich über den Holocaust weiß, habe ich mir aus Büchern und Filmen angeeignet.

Das Tagebuch der Anne Frank und andere dieser historischen Dokumente habe ich für eine Weile ununterbrochen gelesen. Immer wieder von vorne. Gesprochen habe ich darüber nicht, nicht mehr.

Das Gesicht meines Vaters sieht nämlich immer noch ein wenig müder aus als sonst, wenn ich ihn danach fragte. Todmüde trifft es am besten.

Seine Bewegungen sind oft langsam, und seine Stimme ist leise. Fast würde ich sagen, dass auch sein Humor etwas zu wünschen übrig lässt, im alltäglichen Leben meine ich.

Aber das würde er nie zugeben. Meist wirkt er einfach nur erschöpft.

Manchmal redet er über ihn, über den Weltuntergang. Als er noch jung war, hat ihm ein alter Mann aus dem Ort davon erzählt, während er vor dem Eingangsportal des Rathauses mit seinen Freunden herumsaß. Nach seiner Interpretation der Bibel wird sich sodann die Sonne verfinstern, der Mond wird sich blutrot färben und die Sterne werden vom Himmel fallen, so hat es der alte Mann meinem Vater offenbart. Als Kind habe ich nachts oft geschaut, ob der Mond noch weiß war. Manchmal sah es so aus, als seien die Sterne allesamt schon vom Himmel gefallen.

Seit dieser Zeit habe ich einen schlechten Schlaf.

Das Gute daran ist, dass ich mich dadurch immer genau an meine Träume erinnern kann. Auch wenn viele dieser Träume schrecklich sind.

Ich weiß nicht, warum das so ist. Aber ich träume von Deportationen, von Gaskammern und von Sternen, die vom Himmel fallen. Meine alte Tante Lilli wundert sich, dass ausgerechnet ich, die junge Generation, so gar nicht über den Holocaust hinwegkomme.

Vielleicht komme ich deswegen nicht darüber hinweg, weil meine Eltern alles totschweigen wollen oder müssen. Manchmal kann man es anders vielleicht auch nicht ertragen. Etwas in mir sträubt sich trotzdem und überaus mächtig gegen dieses Totschweigen- wollen oder – müssen meiner Eltern. Stille kann so sehr schmerzen. Ich weiß, dass ich mehr auf die Gegenwart bezogen sein sollte.

Und auf die Zukunft. Aber ich kann es nicht. Nicht ohne die Vergangenheit.

Und ich bin mir sicher, dass sich meine Tante Lilli auch nicht wirklich darüber wundert. Sie möchte eben nur, dass ich glücklich bin, und es ist ihre Art mir das mitzuteilen.

Aber ich kann nicht einfach schweigend, andere und mich selbst täuschend in ein nicht in mir vorhandenes Glück eintauchen. Nicht einmal in das Leben. Das Leben, es ist so merkwürdig weit von mir entfernt. Ich kann nicht einfach heucheln und vorgeben, im Ansatz – oder darüber hinaus glücklich zu sein, denn ich träume von Menschen denen man Unbeschreibliches angetan hat und ich träume vom unaufhaltsamen Anwachsen der Unmenschlichkeit und des Vergessens. Und es gibt nichts, was mich in solchen Nächten trösten könnte. Nicht einmal mein größtes Vorbild. Sein Name war Janusz Korczak, sein Beruf war der eines Arztes und Schriftstellers. Obgleich ihm damals in Polen ein unaufhaltsamer, mit Sicherheit steiler akademischer Aufstieg bevorstand, wählte er sich einen vollkommen anderen, einen entgegengesetzten Weg. Er wollte nämlich viel lieber den Armen und Waisen in den Elendsvierteln Warschaus helfen. Das tat er dann auch mit ganzem Herzen. Janusz Korczak selbst litt viele Jahre seines Lebens unter der tückischen Krankheit übermäßiger Traurigkeit.

Aber er war kämpferisch genug, um sich von dieser nicht besiegen zu lassen. Er kämpfte den Kampf den so viele vor ihm und so viele nach ihm verloren. Denn übermäßige Traurigkeit ist, das habe ich bereits erfahren, die stärkste Gegnerin überhaupt. Sie höhlt einen von innen heraus aus und macht einen brüchig, so dass jede Erschütterung die Gefahr des Zerbrechens erhöht. Gegen sie zu verlieren ist keine Schande. Doch Korczak verlor selbst gegen sie nicht. Er ließ sich einfach nicht besiegen.

Auch nicht von den Nazis. Korczak hatte einen geradezu unbezwingbaren Geist.

Seine Stärke schien mir dabei immer übermenschlich zu sein. So als widerspräche er den Gesetzen der Physik indem er, wenngleich durchzogen von brüchigen Linien wie grob erschüttertes Porzellan, er sich einfach strikt und tapfer weigerte sein doch so augenscheinliches Zerbrochen-Sein zu akzeptieren und dadurch wie ein Unzerbrochener, ein unbezweifelt Unbesiegter mit den Kindern in den Tod zu gehen. Ich denke, dass es sein Gewissen war, seine moralische Stärke, die ihm diese große, eine sehr große Kraft verlieh. Insofern war sie menschlich. Nur eben, in einer Zeit ohne Gewissen musste sie kontrastierend einfach schon beinahe übermenschlich, heroisch erscheinen. Anders kann man es, in der Tat, kaum deuten. Direkt nach dem Kriegs-ausbruch 1939 zog er seine polnische Offiziers-uniform wieder an und demonstrierte auf diese Weise deutlich seine ganze, seine uneingeschränkte Loyalität mit dem polnischen Volk. Als das Ghetto errichtet wurde, musste das jüdische Waisenhaus ebenfalls in ein Haus innerhalb der Ghetto-Mauern ziehen. Dort lebten Korczak und die Kinder. Sie lebten dort bis die Nazis am 22. Juli 1942 mit der Massentötung der Bevölkerung des Warschauer Ghettos durch die Deportationen nach Treblinka begannen. Am Mittwoch, dem fünften August 1942, war das bisher gerade noch verschont gebliebene Waisenhaus Korczaks an der Reihe. Korczak selbst hatte wiederholt die Möglichkeit gehabt, sein eigenes Leben zu retten. Aber alle diesbezüglichen Vorschläge lehnte er empört ab. Er hätte eine solche Tat wohl als Verrat an den Kindern und an seiner Aufgabe, an seinem Gewissen betrachtet. Und ich denke, dass er, als ethisch hochstehender Mensch der er war, er einfach so handeln musste. Ein immer wiederkehrender Alptraum von mir ist die Deportation von Korczak und den Kindern. Ich hatte darüber gelesen. Danach war es mir ganz unmöglich, es zu vergessen. „Alle raus!“, brüllten die SS-Männer und umstellten dabei das Waisenhaus. Die Kinder kamen die Treppe herab und stellen sich in Viererreihen auf. Janusz Korczak verließ als Letzter mit einem Kind auf dem Arm das Haus. Die Kinder nahmen sich an der Hand. Korczak ging an der Spitze. Die Menge wich, so habe ich es gelesen, vor Korzcak, dem „König der Kinder“ und den hinter ihm gehenden 200 Waisen zurück. Eine lange Zeit brauchten sie bis ans andere Ende des Ghettos. Hier wartete bereits der Todeszug nach Treblinka. Mein Traum endet immer an dieser Stelle, immer wieder schrecke ich in dem Augenblick auf, in dem der Zug das Ghetto verlässt. Und ich bin erleichtert, dass es hier abbricht. Obgleich ich auch davon träume. Nur wenigstens nicht im Zusammenhang mit Korzcaks Kindern. Bis in den August 1943 hinein sterben in Treblinka 870.000 Menschen. Es gibt heute nur ein einziges Grabmal mit einem Namen darauf: „Janusz Korczak und seine Kinder“.

Kapitel 2

Mein Vater Nathanael ist, soviel kann ich über ihn sagen, absolut kein glücklicher Mensch und dennoch versucht er es zu sein. Deswegen wohl spricht er nicht darüber wie er seine Großeltern verlor. Mein Vater liebte sie sehr, soviel weiß ich immerhin von meiner Großtante Lilli. Er hing wahrscheinlich auch besonders deswegen an ihnen, weil er ist bei ihnen aufwuchs bis er zehn Jahre alt war. Seine eigene Mutter, Elsa Maria Weiß, eine ehemals durchaus recht begeisterte Kunst- und Deutschlehrerin, war kurz nach seiner Geburt, etwa um 1935, nach Palästina gegangen. Der Vater ihres Kindes war nicht ihr Mann, und er wollte es auch nicht werden. Immerhin hatte er bereits eine Familie. Somit blieb Elsa allein. Sie wollte meinen Vater ursprünglich sofort nach Palästina nachholen, wahrscheinlich hat sie sich sehr nach ihm gesehnt. Doch daraus ist nie etwas geworden. Kurz nach ihrer Ankunft wurde ein durch einen Virus hervorgerufenes Herzleiden bei ihr entdeckt, und sie war seither, für den Rest ihres Lebens, in ständiger ärztlicher Behandlung. Man hatte ihr offenbar sehr dringend von jeglicher Aufregung abgeraten. Ich glaube, sie hätte meinen Vater, ihren Sohn, nach all der kriegerischen Zeit als eine medizinisch kaum vertretbare Aufregung empfunden. Doch das, da bin ich mir sicher, basierte auf ihren eigenen Lebenserfahrungen und es wäre vermutlich nicht richtig, sich ein diesbezügliches Urteil über sie anzumaßen. Nach der Deportation seiner Großeltern, meiner Ur-Großeltern, im Jahr 1944 lebte mein Vater daher bei der älteren Schwester seiner Mutter, bei Tante Lilli, die als leitende Bibliothekarin in Basel arbeitete und über die Mittel verfügte meinen Vater bei sich aufzunehmen. Nur durch die von Tante Lilli eingeleitete, komplizierte Flucht, konnte mein damals zehnjähriger Vater in die Schweiz gebracht werden. Sie selbst hatte ihn damals, unter größter Lebensgefahr und höchstpersönlich aus dem Land gebracht. Sonst hätte er wohl das unsägliche Schicksal seiner Großeltern geteilt. Auch nach dem Tod seiner Großeltern im Winter 1945 blieb er bei Tante Lilli. Selbst als er schon längst die Literatur studierte, wohnten er und Tante Lilli noch immer beieinander. Sie hat nie geheiratet. Angeblich fehlte ihr hierzu der Mut, was ich in Anbetracht ihrer damaligen Tapferkeit im Zusammenhang mit der Rettung meines damals gänzlich verlorenen Vaters kaum zu glauben wage. Andererseits mag es, das erscheint mir zumindest äußerst naheliegend zu sein, doch recht unterschiedliche Formen des Muts geben. Oder aber vielleicht erschien ihr das auch als ein kleineres Übel, das mit dem Alleinsein.