Karl von Holtei: Ein Mord in Riga

 

 

Karl von Holtei

Ein Mord in Riga

Kriminalroman

 

 

 

Karl von Holtei: Ein Mord in Riga. Kriminalroman

 

Neuausgabe mit einer Biographie des Autors.

Herausgegeben von Karl-Maria Guth, Berlin 2016.

 

Umschlaggestaltung unter Verwendung des Bildes:

Nikolay Bogdanov-Belsky, Dämmerung in Riga, um 1910

 

ISBN 978-3-8430-9340-8

 

Dieses Buch ist auch in gedruckter Form erhältlich:

ISBN 978-3-8430-9535-8 (Broschiert)

ISBN 978-3-8430-9536-5 (Gebunden)

 

Die Sammlung Hofenberg erscheint im Verlag der Contumax GmbH & Co. KG, Berlin.

 

Erstdruck 1855.

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind über http://www.dnb.de abrufbar.

 

1.

In der zweiten Hälfte des Monats August (griechischen Stiles) im Jahre 183* fuhr eine mit sieben kleinen litauischen Postpferden bespannte Reisekutsche am Gasthofe des Herrn Zehr, dem besten Hotel von Kurlands Hauptstadt, vor.

Herr Zehr in eigener Person sprang aus der Haustür und öffnete den Kutschenschlag, ehe noch der auf dem hintern Dienstbotensitz schwebende Bursche oder gar die neben ihm in Schachteln und Bündel eingezwängte Kammerjungfer sich erheben konnten.

»Ei, Herr Oberältester Singwald«, rief Herr Zehr, indem er einem bejahrten, doch rüstigen Manne aus dem Wagen half, »willkommen in Mitau; meine gütige Madame Singwald, ich empfehle mich Ihnen; glücklich wieder heimgekehrt von der Badekur? Geht es gleich weiter nach Riga, oder soll ich die Ehre haben, Sie bei mir zu beherbergen?«

»Es ist wohl schon spät«, meinte Herr Singwald, wobei er seine Gemahlin fragend ansah, »bei Nacht zu Hause eintreffen ist auch kein Vergnügen.«

»Und Nacht wird es«, setzte der Gastwirt hinzu, »bis Sie nach Riga kommen, späte Nacht. Sie müßten denn fahren wie neulich Ihr Herr Postmeister von Livland, der wegen einer Wette die Tour von Riga nach Mitau samt nötigem Aufenthalt in Olay mit gewöhnlichen Postpferden in achtundfünfzig Minuten machen wollte. Er hatte gegen Herrn Konsul – ich weiß nicht gleich den Namen – gewettet.«

»Nun, wer hat gewonnen?« fragte Singwald gespannt.

»Der Herr Staatsrat von Baranoff; sie waren, glaub ich, fünf Minuten vor der Zeit am hiesigen Schlosse. Der Herr Vizegouverneur von Meitel hielten die Uhr in der Hand.«

»Das nenn ich fahren«, rief Singwald; »das ist nur bei uns zulande möglich. Und wer sieht's den kleinen Hunden von Pferden an? Sechs Meilen in zweiundfünfzig Minuten, wenn wir nur eine aufs Umspannen in Olay rechnen. Ein fixer Kerl, mein Freund Baranoff, freut mich, daß er gewonnen. Aber da ich nicht Gouvernementspostmeister von Livland bin und die Pferde mit uns wahrscheinlich et's langsamer laufen würden ...«

»Darum muß ich auch dringend bitten«, unterbrach ihn Madame Singwald. »Dies Jagen kann mir nicht gefallen. Und wie ungern ich auch so nahe vor der Heimat noch einmal im Gasthause übernachte, ziehe ich's doch einer solchen tour de force bei weitem vor. Bitte, Herr Zehr, lassen Sie uns Zimmer anweisen. Simeon, schnallen Sie die Vache herunter.«

Die letzten Worte galten dem Diener, der bisher, eines bestimmten Befehles harrend, neben der sprechenden Gruppe am Wagen gestanden hatte.

Jetzt erst bemerkte ihn der Gastwirt und fragte: »Ei, mein gütiger Herr Oberältester, wie konnten Sie sich doch von Ihrem alten, wohlbekannten Faktotum trennen? Ich sehe da ein neues Gesicht ...«

»Mein Alter liegt in böhmischer Erde, lieber Zehr; ich habe mich nicht von ihm getrennt, sondern er sich von mir. Es war eigentlich wider die Abrede, denn er hatte mir versprochen – doch was hilft's! Für den Tod wächst kein Kraut, und ich bin mit meiner neuen Akquisition zufrieden!«

Der aufmerksame Hauswirt begleitete seine hochgeachteten Gäste selbst in ihre Gemächer, und nachdem er sich versichert, daß es an nichts fehle, und nachdem Madame Singwald den Wunsch ausgesprochen, eine recht gründliche Wasserbelustigung, welche die exzessiv waschsüchtige Frau seit Berlin hatte entbehren müssen, in ungestörter Abgeschlossenheit an sich vorzunehmen, machte Herr Zehr seinem gütigen Herrn Oberältesten den Vorschlag, den Abend im Garten der Medemschen Villa zuzubringen, wo Konzert, Beleuchtung und feine Gesellschaft zu finden waren.

Singwald ließ sich das nicht zweimal sagen. Seine lieben Freunde, den Prokurator von Kurland, Herrn von Klein, und den Postmeister Herrn von Joung (eigentlich Jung, und zwar Jung-Stillings leiblicher Sohn!), nach dreimonatlicher Abwesenheit wieder zu begrüßen, freute er sich um so mehr, als er dem ersteren Empfehlungen von geistvollen Bekannten aus Deutschland, dem zweiten aber Berichte über alle musikalischen Genüsse, die er in Wien, Prag, Dresden, Berlin gehabt, zu bringen hatte. Und daß beide in Medems Villa nicht fehlen dürften, setzte er voraus. Allgemeiner Willkommen begrüßte den rigischen Handelsherrn und Oberältesten, den gastfreien, gefälligen, klugen Singwald. Die schon genannten Freunde und viele andere beeilten sich, ihm die Hand zu drücken und ihn zu loben, daß er den ersten Abend in der Heimat der Schwesterstadt Mitau schenke. »Wir erwarteten Sie aber viel später«, sagte der Polizeimeister von Mitau, der Obrist von Friede; »wollten Sie nicht gar über September ausbleiben?«

»Freilich wollt ich, Obrist; jedoch, Sie wissen ja: mag es noch so schön sein draußen in der Welt, es ist denn doch nicht zu Hause. Meiner Frau fehlte ihre Sonntagstafel, mir mein Comptoir, meine Börse, meine ›Muße‹; ja, soll ich's ehrlich gestehen, meine Düna. Wir wohnten in Berlin Unter den Linden im schönsten Hotel; wir waren bedient, wie unsere Majestäten es nur sein können, wenn Allerhöchstdieselben auf der Durchreise in Elley bei Gräfin Medem übernachten, und das will viel sagen! Doch bei alledem fehlte mir immer et's, ich wußte nicht was. Wie ich aber mit meiner Frau darüber zu Rate ging, entdeckten wir eines dem andern unsere fabelhafte Sehnsucht nach den engen, krummen, finstern Gassen der geliebten, nordischen Vaterstadt. Ein echt rigisch Kind –«

 

»Tut Gott alltäglich loben,

Daß er das Balt'sche Meer

So nah zur Stadt geschoben!«

 

zitierte jetzt lächelnd ein klug dareinschauender Mann, der sich zu dem Tische, wo die Plaudernden saßen, gesellte. »Ist das aus einem Ihrer Gedichte entlehnt, Herr von Zuccalmaglio?« fragte Singwald, den Ankommenden begrüßend.

»Nein«, erwiderte dieser; »nur ein Anklang aus den zerstreuten Versen eines in Ihrem Riga untergegangenen verlorenen Talentes, um dessen Gaben es ewig schade ist. Herr von Brackel las uns, als wir vergangenen Winter in Riga waren, einige Proben davon aus vergilbten Blättern vor, und diese Zeilen blieben mir im Gedächtnis. Sie sind so wahr, so natürlich. Ich begreife vollkommen die Anhänglichkeit des rigischen Kaufherrn für seine Stadt; trägt sich doch dies heimatliche Gefühl auf die meisten über, die aus fremden Landen dorthin übersiedeln: auf Bremer, Lübecker, Dänen, Schweden, Franzosen und Engländer. Alle akklimatisieren sich sehr bald und nennen sich mit Freuden Rigenser. Ja, auch den russischen Patriotismus, der sie bald zu begeisterten Untertanen des Beherrschers aller Reußen macht, begreife ich vollkommen. Sie werden wirklich, mögen sie an und für sich noch so freisinnige Kosmopoliten sein, sehr bald echte russische Staatsbürger. Und warum sollten sie nicht? Ihre bürgerlichen, kaufmännischen, gewerblichen Institutionen haben noch so viel Reichsstädtisch-Selbständiges aus den blühenden Zeiten der Hanse an sich; ihr gerichtliches Verfahren neigt in allen Ziviljustizsachen noch so ganz zum alten einfachen Wesen hin; ihre Gilden und Zünfte bewahren manche schöne Vorrechte, und nur in der politischen Verwaltung macht sich der eiserne Arm aus Petersburg fühlbar, was freilich mitunter schwer trifft, wie uns alle, was aber wieder durch immense Vorteile aufgewogen wird. Über geistig strebenden Menschen würde vielleicht der Zensurdruck am härtesten walten und fühlbar werden, wäre nicht glücklicherweise die Handhabung desselben edlen wissenschaftlichen Männern, wie Napiersky, Albanus, Grave, anvertraut und stünde nicht ein wahrer Gönner und Kenner schöner Literatur in Person Ihres würdigen Zivilgouverneurs von Fölkersahm an der Spitze. So lebt sich's denn im Wohlstand und Wohltun prächtig innerhalb dieser alten Festungsmauern, und ich lobe jeden Rigenser, der stolz darauf ist, so zu heißen. Wer aber gar, wie Sie, Herr Singwald, sein Haus zum Sammelplatz liebenswürdigster Geselligkeit im vollsten Sinne des Wortes schuf, dem verdenkt es niemand, daß es ihm nirgends, auch unter den Berliner Linden nicht, so gut gefällt als in diesem seinem Hause.«

Alle Anwesenden stimmten verbindlich ein. Auch des Herrn Zivilgouverneurs von Kurland Exzellenz, der hoch aufgerichtet, in geradester Haltung wie ein Riese, bei den letzten Worten an der Seite seiner Damen in die Nähe der Versammlung heranpromeniert kam, gewann der unbeugsam scheinenden Steifheit seiner Figur eine freundliche Verneigung ab. Und gleich nach ihm erschien der Vizegouverneur mit seinem Neffen, einem achtzehnjährigen Lieutenant, welcher vorgestern auf einen kurzen Urlaub von der persischen Grenze her zu den Verwandten gekommen war. Man freute sich sehr, den man als kleinen Jungen vor etlichen Jahren abreisen gesehen, jetzt als jungen schönen Mann, von des Orients Sonne gebräunt, wieder zu empfangen, und er benahm sich, wie wenn er nur das Allergewöhnlichste erlebt hätte und wie wenn er aus Pernau oder von der Insel Ösel käme; schon ein alter gewiegter Soldat. Er wußte viel und gut zu erzählen vom persischen Hofe, wo er sich als Genosse irgendeiner militärischen Gesandtschaft irgendeinen brillantierten Ordensstern geholt und von wo er sich auch einen Perser als Kammerlakaien mitgebracht, der sich in Medems Villa durch seine Nationaltracht sehr auszeichnete. Als jetzt unseren guten Oberältesten seine Pfeife ausgegangen war vor lauter Eifer des Zuhörens, und als der Landsmann des unsterblichen Dichters Hafis dem rigaischen Kaufherrn mit grandioser Ruhe einen brennenden Fidibus darreichte, versicherte sein junger Gebieter, es sei dies eine nicht genug zu schätzende Herablassung, denn ursprünglich habe dieser Schüler des Zoroaster nur die Pflicht auf sich, Pfeifen zu stopfen; das Anzünden gebühre einem andern Individuum, weil für jede Dienstleistung bestimmte Persönlichkeiten angestellt wären.

»Haben Sie alle bei sich, bester Herr von Meitel?« fragte Singwald, der sich dabei amüsierte, wie wenn er selbst Schach von Persien hieße.

»Nein«, erwiderte der junge Offizier; »die übrigen habe ich im Hauptquartier zurückgelassen, ebenso wie die echten Steine meines Ordens, die ich einstweilen mit nachgeahmten vertauscht habe. Es gibt auch in Persien Juwelenhändler, und die Reise bis Mitau kostet viel. Aber eine schöne Georgierin möcht ich meinem Onkel mitgebracht haben, hätte ich mich nicht vor der Tante gefürchtet.«

»Das sind Vorzüge, einem unermeßlichen Riesenreiche einverleibt zu sein«, nahm der Prokureur das Wort, »daß junge Leute Gelegenheit haben, im Dienste ihres Vaterlandes in verschiedenen Weltteilen heimisch zu werden und Erfahrungen zu gewinnen, die unbezahlbar bleiben fürs ganze Leben. Wie lange ist es her, daß wir dieses Bürschchen mit seinen Büchern unterm Arm ins Gymnasium wandern sahen, und jetzt hört ihm Freund Singwald zu wie einem Orakel. Ja, ein russischer Offizier ist freilich etwas anderes als der Lieutenant, der aus dem Karlsruher Kadettenhause nach Mannheim oder Rastatt in Garnison geschickt wird.«

»Na, wo Schatten ist, muß auch Licht sein«, wollte einer von der Gesellschaft sagen, doch er schluckte es noch bei guter Zeit hinunter, als der Polizeimeister ihm gerade eine Prise reichte.

Singwald, weil er darnach trachtete, dem Gespräche eine andere Wendung zu geben und es aus dem Bereich bedenklicher Fragen zu bringen, äußerte sein Befremden darüber, daß kein Dampfschiff auf dem Wege von Stettin nach Petersburg in Riga anlege, und wurde alsogleich von seinen Freunden gutmütig verspottet, die ihm deutlich zu verstehen gaben, daß Frau Oberälteste niemals und unter keiner Bedingung ihren bequemen Reisewagen mit einer Kajüte oder Kabine vertauscht haben würde und daß er selbst, obgleich in jüngern Jahren ein rüstiger Seefahrer, jetzt auch nicht mehr so lüstern nach Stürmen sei.

»Ich weiß doch nicht«, erwiderte er; »das Stückchen von Berlin bis Tilsit ist verzweifelt lang, dreimal vierundzwanzig Stunden und darüber auf der Landstraße ... Na, wie lange dauert's, haben wir Eisenbahnen!«

»Das erleben wir wohl nicht mehr«, sagte der Polizeimeister.

»Ich bin um soviel älter als Sie, liebster Obrist; aber wie ich noch erleben will, daß wir von Riga nach Tauroggen durchgängig Chaussee haben, so sollen Sie erleben, daß von Königsberg bis Berlin Eisenbahn geht. Zwischen Leipzig und Dresden wird's schon. Binnen vierundzwanzig Jahren können Livland und Kurland in unsre lieben böhmischen Bäder fliegen wie Brieftauben. Und nach Dresden werden eure Kinder ...«

»Apropos von Dresden«, unterbrach ihn der Postmeister, »was macht der herrliche Lipinsky? Was macht die edle Musika im allgemeinen?«, dabei stand er auf, verließ seinen Platz und nahm einen leeren Stuhl neben Singwald ein.

»Wenn sich der Etatsrat von Joung und der Herr Oberälteste in Musik verbeißen, dann hat's mit der übrigen Konversation ein Ende«, sprach Herr von Korff; »ich denke, wir brechen auf und geben unserem rigaischen Freunde das Geleite bis in sein Gasthaus.«

Der Zug bewegte sich langsam fort, paarweise gingen die Herren zur Stadt, und lautes Gelächter brach bisweilen schallend aus über die kräftigen Witzworte, welche der Oberforstmeister von Manteuffel in die Sternennacht losfeuerte.

Simeon, den die vorsorgliche Madame Singwald ihrem Gatten mit einem Überrocke nachgesendet, ging ganz zuletzt neben dem ispahanischen Pfeifenstopfer und bemühte sich, mit diesem Ansichten über persische und livländische Valetaille pantomimisch auszutauschen.

 

2.

Nicht ganz so schnell wie der auf einer Wettfahrt begriffene Postmeister von Livland, Herr Etatsrat von Baranoff, aber doch immer noch rasch genug, um einem deutschen Fuhrmann die Haare auf dem Kopf krabbeln zu machen, fuhren Herr und Frau Singwald ihrer lieben Düna zu. Da floß der mächtige Strom vor ihren freudigen Augen; da lag die alte, räucherige, von grünen Festungswällen eingezwängte Stadt; da schwamm die seltsame, aus Balken und Brettern gefügte lange Brücke, ohne Mauer, ohne Pfeiler, ohne Bogen, nur durch Ketten festgehalten, an riesenhaften Pfählen hin und her schwankend auf den Wogen; da standen zu beiden Seiten derselben Schiffe, Kähne und Strusen jeder Größe und Gattung, teils um ausgeräumt zu werden, teils um neue Ladung zu erwarten.

»Dort hinunter geht's?« fragte Simeon ängstlich seine Nachbarin, die Kammerjungfer, als der Kutscher vom Damme hinablenkte; »dort hinunter ins Wasser, zwischen die Schiffe? Da müssen wir ja ersaufen!«

»Waih, mein Guter«, rief Dorchen, die jetzt beim Anblick der geliebten Heimat plötzlich gesprächig wurde; »so'ne Brücke trägt et's andere Lasten als unsern Wagen! Da müßten Sie sehen bei ›Hungerkummer‹, wenn es von vielen tausend Menschen wimmelt, hin und her, und ist stürmisch Wetter; da geht die Brücke wie eine Schaukel und ersauft doch kein Mensch – außer wer ins Wasser fällt aus Versehen.«

»Das glaub ich wohl, Dorchen; 's ist nur wunderlich, so 'ne Brücke, die auf dem Flusse schwimmt wie eine ausgehobene Tür auf dem Teiche. Aber was sagten Sie von ›Hungerkummer‹, was stellt das vor?«

»›Hungerkummer‹ heißt unser Volksfest. Schade, daß wir nicht ein bißchen früher zurückkamen, da hätten Sie's noch erlebt. Das ist zur Erinnerung an eine große Hungersnot vor vielen, vielen Jahren, wie wir noch sind schwedisch gewesen. Aber das sollen Sie doch alles wissen, Simeon? Sagten Sie nicht in Teplitz zu Herrn Oberältesten, Sie wären aus Pet'sburg?«

»Bin ich auch, Dorchen!«

»Und waren noch nicht in Riga?«

»Außer jetzt, wo wir ins Tor hineinfahren ... Donnerwetter, ist das ein schwarzes Loch!«

»Wie sind Sie denn aber nach Teplitz geraten, wenn Sie nicht durch Riga gereist sind?«

»Sehr einfach, Beste: von Petersburg nach Kopenhagen zur See; von Kopenhagen nach Lübeck dito mit Schrauben; von Lübeck nach Hamburg zur Achse und von Hamburg nach Magdeburg auf der Elbe; das übrige können Sie sich denken! Ist das unser Haus?«

»Freilich! Da steht schon der Isaak!« Die Kutsche hielt auf einen Ruf Singwalds vor der richtigen Tür, und der alte Isaak, seinen vollen Bart streichelnd, näherte sich freudig der geliebten, fast seit vier Monaten entbehrten Herrschaft. In seinem selbsterfundenen Gemisch von Russisch, Lettisch und Deutsch, welches außer ihm nur der liebe Gott verstand und welches die zum Singwaldschen Hause Gehörigen aus langer Übung errieten, verkündete er zuvörderst, daß, Gott sei Dank!, die Pferde wohlauf seien; dann erst begrüßte er Herrn und Frau ehrfurchtsvoll; und nachdem diese Pflicht mit aller Unterwürfigkeit erfüllt war, wendete er sich mit vertraulichem Nicken zum Gefolge. Aber wie zitterten seine hellen blaugrauen Augen unter ihren buschigen weißen Brauen, als er einen jungen, ihm wildfremden Diener vortreten und beim Aussteigen Hilfe leisten sah. Fragend warf er einen erstaunten Blick nach der Kammerjungfer, und diese, ihre Pyramide von Schachteln und leichten Hutfutteralen vorsichtig türmend, sagte nur: »Er ist auf der Reise gestorben!«

Isaak schlug ein Kreuz, wischte sich die Augen, murmelte mit dem kindlichen Ausdruck, der den alten Russen so weich erscheinen läßt: »Armes Bruder, wo kommst du geblieben?«, richtete flüchtig die forschenden Augen auf Simeon, dessen elegante Jugendlichkeit ihm entschieden mißfiel, und ging dann, ohne sich weiter mit diesem einzulassen, an die Arbeit, um die Remise zu öffnen und den Reisewagen, wenn er gesäubert wäre, ins alte Standquartier zu bringen. Die Köchin, welche mittlerweile auch herbeigestürzt war, eine derbe, langhaarige, wohlgenährte Lettin, sah den Nachfolger ihres in Böhmen begrabenen Kameraden ungleich freundlicher an als der Kutscher Isaak. Die Röte ihrer glänzenden Wangen und das Lächeln der breiten Lippen, welches ein kerniges weißes Gebiß enthüllte, deutete Herrn Simeon mit unwiderleglicher Gewißheit an, daß es nur bei ihm stehe, gastronomische Genüsse aus allen Töpfen, Tiegeln und Kasserollen der Singwaldschen Küche zu schmecken. Er benützte denn auch gleich den ersten ungestörten Moment, wo sie ihm sein Stübchen anwies, die Lächelnde in den dicken Arm zu zwicken und ihr zu sagen: »Verdamm mich, Köchin, Sie haben schöne, solide Zähne, förmliche Palisaden wie an einer Festung.«

»Wie Zikadell bei Dünakant«, erwiderte die Geschmeichelte und entzog dem ausgewitzten Petersburger ihren Arm nicht. Die Kammerjungfer dagegen, welcher diese rasch vorschreitende Vertraulichkeit nicht entging, bereute alsogleich, den »windbeuteligen Laffen« auf der Brücke einige gefällige Worte gegönnt zu haben, und zog sich wieder in ihre reife und verdrüßliche Mamsellenhaftigkeit zurück, worin sie während der ganzen Reise verhüllt geblieben war. Von heute, als am ersten Tage ihrer Ankunft in Riga, erklärte sie sich zu Simeons entschiedener Gegnerin und trat dadurch vollständig auf die Seite ihrer Madame. Simeon, der Gunst des Herrn gewiß, legte wenig Wert auf jene Ungunst und bedauerte nur, daß nicht wenigstens ein Sohn von etwa achtzehn Jahren vorhanden sei, der einen Vertrauten gebrauche; dann, rechnete er, würde der Platz das Doppelte wert sein!

Herr Singwald rechnete derweilen in seinem Comptoir, übersah, was er aus brieflichen Mitteilungen nicht deutlich entnommen, ließ sich über den Zustand der Geschäfte mündliche Berichte nachtragen, prüfte die Bücher und erklärte sich völlig zufrieden mit allem, was während seiner Abwesenheit geschehen. In dieser günstigen Stimmung, noch erhöht durch das anmutige Gefühl, wieder behaglich in der gewohnten Heimat zu weilen – ein Gefühl, wofür das reifere Alter gar so empfänglich macht! –, begab er sich gegen Abend auf seinen seit langen Jahren immer gleichen Weg nach der »Muße«! Wer hätte sich länger als einen Tag in Riga aufgehalten, hätte er nur die geringste Ansprache an irgendeinen gebildeten Menschen gehabt und wäre nicht aufgefordert worden, die großartigste, einer reichen Handelsstadt würdige und ihr zur Zierde gereichende »Muße« zu besuchen? Sie ist allerdings auch nichts anderes als eine Ressource, ein Klub, oder wie man sonst gesellige Vereine dieser Gattung benennen will. Aber sie ist so splendid dotiert und ausgestattet, so fest begründet, wird so nobel geführt, daß sie gewiß auch auf den Weitgereisten, Vielerfahrenen Wirkung machen und ihm Achtung einflößen muß. Zwei Absonderlichkeiten, die sie vor allen ähnlichen Instituten auszeichnen, haben auf den Verfasser dieser Zeilen doch den größten Eindruck gemacht, weil ihm dergleichen sonst nirgends begegnete. Erstens, daß die »Muße« in ihren weiträumigen Lokalitäten nebenbei auch ein Theatergebäude besitzt und dieses dem öffentlichen Gebrauch des Publikums gratis zur Disposition stellt. Zweitens – was ganz unerhört bleibt, während der erstere Punkt eben nur rigaisch, will sagen: human, großmütig, »gentil« genannt werden darf! –, daß sie zur Zeit, in welcher diese Novelle spielt, einen Portier den ihrigen nannte, welcher, in den Vorzimmern zu den Gesellschaftssälen die Aufsicht führend, jedem Eintretenden Hut, Stock, Überschuhe, im Winter Pelz oder Mantel abnahm, ohne eine Nummer daran zu befestigen, ohne irgendein anderes Kennzeichen nötig zu erachten, und diese ihm anvertrauten Gegenstände ihrem Besitzer regelmäßig wieder zustellte, auch wenn bei großen Versammlungen sechs- bis achthundert Personen und mehr sich durcheinanderdrängten. Erwägt man, daß die in Riga gebräuchlichen und von jedem anständigen Menschen getragenen Waschbärpelze einer wie der andere aussehen, daß die – meisterhaft gearbeiteten – Überschuhe sämtlich nach einem Zuschnitt gemacht sind und daß binnen zehn Jahren nicht eine Verwechslung vorgefallen ist, auch an Fremden nicht, so übersteigt solche Abnormität doch wahrlich alles, was im Gebiete des Personen- und Sachengedächtnisses überhaupt geleistet werden kann.

Doch das ist eine leere Abschweifung. Ebenso, als die nur kürzlich zu erwähnende Klage, daß es bis jetzt noch keiner kritischen Forschung festzustellen gelang, ob man »Muße«, ob man »Muse« schreiben müsse. Ein Streit, der um so schwieriger zu schlichten, weil für beide Lesarten gewichtige Gründe vorhanden. Gesprochen wird einmal: »Muße«, und usus tyrannus.

In diese seine »Muße« also begab sich unser Herr Singwald, nachdem er vorher schon die betreffenden Freunde avertieren lassen, daß er glücklich eingerückt sei und ihrer angenehmen, längst entbehrten und ersehnten Whistpartie kein Hindernis mehr drohe. Doch dieses Avertissement war zu voreilig gegeben – wie manches andere. Sie setzten sich zwar, des eifrigsten Willens voll, als redliche Spieler an den schon bereiteten Tisch, aber schon während des ersten Rubbers hatte sich die Kunde von Herrn Singwalds Ankunft durch alle Räume verbreitet, und da entstand eine förmliche Völkerwanderung zu ihm, und ein Händedrücken, ein Willkommenheißen, ein Fragen, ein Erzählen störten die notwendige geistige Sammlung, ohne welche echte Kartenspieler nicht bestehen können.

Sie hätten es für Entweihung gehalten, in diesem Durcheinander die Partie fortzuführen, und entschlossen sich lieber, den ersten Abend von Singwalds Heimkehr traulichem Geschwätze zu widmen. Da kam dann vielerlei Neues zum Vorschein, was sich in diesem Sommer zugetragen: wichtige Veränderungen an der Börse; Verschönerungen in Wöhrmanns Park; definitiver Entschluß von Seite der bisherigen Schauspieldirektrice Frau von Tscherniewska, die Führung niederzulegen; verschiedene Pläne, ein neues theatralisches Unternehmen durch Aktien zu gründen; heitere Zusammenkünfte auf diesem oder jenem Landsitz im Grünen; festliche Begehung des Jakobstages in Bienenhof, wo bei fröhlichem Mahle der Herr Oberälteste gar sehr vermißt worden – diese und noch vielfältige andere Dinge wurden besprochen. Für die wichtigste von allen Neuigkeiten galt – die freilich nur noch im Vertrauen und leise geflüsterte Vermutung –, daß der bisherige Polizeimeister von Riga, trotz aller mündlichen auf der Durchreise in Elley gegebenen Gegenversicherungen des allmächtigen Grafen B., höchstwahrscheinlich seinen Platz werde räumen müssen.

»Und warum das jetzt auf einmal?« fragte Singwald. »Wenn der gute Obrist damals gefallen wäre, als sein Gönner, der Marquis Paulucci, beim Thronwechsel in Ungnade entlassen wurde, da hätt es mich nicht Wunder genommen. Aber jetzt, wo er sich mit seinem späteren Vorgesetzten, unserem gegenwärtigen rechtschaffenen Generalgouverneur so gut eingerichtet, was stürzt ihn denn jetzt?«

Die Herren rückten noch näher zusammen und flüsterten nur: »Es kommt vom Archimandriten her; der Obrist soll sich bei Verfolgung und Einkerkerung der Raskolniks nicht energisch genug benommen und namentlich einige Greise auf Bürgschaft aus den Fesseln entlassen haben, ehe noch die Untersuchung geschlossen war. Darüber hat ihn der hiesige Archimandrit in Petersburg verklagt.«

»Ja, freilich, dann ist er schon so gut wie verloren, da kann ihn auch Graf B. nicht retten. Wenn die Altgläubigen mit im Spiele sind ... Wer heißt ihn aber auch ein so mitleidiges Herz haben? Das paßt nicht für seinen Posten. Nun bin ich nur neugierig, wen wir an seine Stelle bekommen. Gewiß einen rechten Stockrussen!! Ah, schade, schade um unsern guten Obrist. Ja, der Herr Archimandrit, der steht sehr gut mit Petersburg. Da ist alles leicht erklärlich.«

Und sie gingen, mehr oder weniger verstimmt, auseinander.

 

3.

Eine Woche war beinahe herum, der liebe Sonntag vor der Tür, und Simeon stand bei seiner wohlbeleibten Freundin in der Küche, zum – ich weiß nicht wievielten Male – sich schildern zu lassen, was es im gastfreien Riga mit den sogenannten offenen Tafeln eigentlich für eine Bewandtnis habe?

»Also eingeladen wird niemand, Lieschen?« fragte er.

»Niemand, guter Simon, außer einmal, zum ersten Mal. Da sagt Herr Oberältester oder Frau Oberälteste: ›Sonntag um drei Uhr, immer willkommen.‹ Und hernach bleib aus oder stelle dich ein, jeder wie er will.«

»Da weiß ja aber unsereiner nicht, für wie viele gedeckt werden soll?«