Über das Buch:
Das Einzige, was Robin Price von ihrem verstorbenen Mann geblieben ist, sind ein dreijähriger Sohn, ein Café, das besser laufen könnte, und Erinnerungen, die langsam verblassen. Trotzdem ist sie nicht bereit, das Willow Tree Café aufzugeben. Es ist die Erfüllung eines Traums, der während ihrer Hochzeitsreise in Italien geboren wurde, inmitten herrlichster Röstaromen und Gebäckduft. Und eine Oase nicht nur für sie, sondern auch für unzählige andere.

Als der Investor Ian McKay in die Stadt kommt und Robins Café einer seelenlosen Wohnanlage weichen soll, schlagen die Wellen daher hoch. Einerseits will niemand auf das kleine Café verzichten. Andererseits könnte das Projekt der Stadt – und Robin? – einen Neuanfang bescheren. Und der wäre dringend nötig ...

Über die Autorin:
Katie Ganshert war Lehrerin, bis ihr der Durchbruch als Romanautorin gelang. Sie ist verheiratet und hat zwei Kinder. Für »Das Motel der vergessenen Träume« bekam sie in den USA einen Preis für den besten zeitgenössischen christlichen Roman des Jahres verliehen.

Kapitel 6

In meinem Leben gab es nie eine Zeit, in der ich nicht Klavier gespielt habe. Wenigstens kann ich mich an eine solche Zeit nicht erinnern. Als die meisten anderen Kinder sich auf das Alphabet und die Zahlen von eins bis zehn konzentrierten oder darauf, nachts nicht ins Bett zu machen, saß ich auf einem Klavierhocker. Meine Füße baumelten über dem Boden und ich kuschelte mich an meine Mutter, während sie uns in einen Kokon aus wundervoller Musik einhüllte.

So drückte meine Mutter ihre Liebe aus.

Sie schrieb Stücke für meinen Dad. Sie schrieb Stücke für meine Großeltern. Sie schrieb Stücke für mich. Und ganz am Ende schrieb sie Stücke für Jesus. Es war eine merkwürdige Verlagerung, vor allem weil wir keine religiöse Familie waren. Wir gingen sonntags nie in die Kirche. Nicht weil wir etwa die Existenz Gottes leugneten, sondern einfach, weil es nie zu unserem Leben dazugehört hatte. Die geistliche Erweckung meiner Mutter am Ende ihres Lebens sollte mich erst viele Jahre später trösten.

Angeblich schrieb sie mir zu meinem dritten Geburtstag ein Stück, und während sie es spielte, stolzierte ich in einem rosafarbenen Tütü im Wohnzimmer herum und schlug mit den Armen, als wäre ich ein Schmetterling. Dann kletterte ich auf den Hocker und bat sie, mir das Stück beizubringen.

Und das tat sie. Aus Flohwalzer und Kinderliedern wurden mit der Zeit Für Elise und die Ungarische Rhapsodie Nr. 2. Moms Sprache der Liebe wurde auch meine. So drückten wir unsere Gefühle nicht nur aus, sondern verarbeiteten sie auch. Während meine Mutter immer kränker wurde, wurde ihre Musik immer leichter, und meine? Sie wurde wütend und dunkel, hektisch und laut. Voller Dissonanzen.

Weil ich sie nicht verlieren wollte.

Sie sollte bei meinem Abschlussball und bei der feierlichen Urkundenverleihung dabei sein. Sie sollte mir helfen, das richtige College auszusuchen. Meine Verlobung mit mir feiern. Sie sollte mir dabei helfen, meine Hochzeit zu planen, und von meinem Kleid schwärmen und weinen, wenn ich zum Altar schritt. Mein ganzes Leben lang hatte ich mich darauf verlassen, dass sie da war. Es war mir nie in den Sinn gekommen, dass es einmal nicht so sein könnte. Bis ihr die Bestrahlung und die Chemo die Haare und die Energie raubten und ich dabei nur hilflos zusehen konnte.

Mom versuchte nicht, mir die dunkle musikalische Phase, die ich durchmachte, auszureden. Sie saß da und hörte zu, während ich die Schwarze Messe und Mozarts Requiem und Beethovens Fünfte ins Klavier hämmerte. Als sie schließlich starb, hängte ich das Klavier, dass sie mir hinterlassen hatte, mit einem schwarzen Tuch zu und rührte es ein Jahr lang nicht an. Ich konnte mich nicht überwinden zu spielen, wenn sie nicht da war, um mir zuzuhören.

Ein Jahr lang trocknete meine Sprache der Liebe aus. Ich dachte, ich würde wieder anfangen zu spielen, wenn diese Sprache zurückkehrte. Mir war nicht klar, dass sie erst durch das Spielen fließen konnte.

Kapitel 7

Das Mondlicht am schwarzen Himmel und das Zirpen der Zikaden drangen durch das geöffnete Fenster von Amandas Schlafzimmer. Ein zarter Windhauch bewegte die Gardinen ein wenig. Wenn sie sich Mühe gab, konnte sie bestimmt Calebs tiefe, gleichmäßige Atemzüge nebenan hören.

Sie lag auf dem Rücken, die Hände hinterm Kopf gefaltet, und starrte die Spinne an, die langsam aus ihrem Versteck kroch und dann über die Zimmerdecke huschte. Amandas Herz schlug einen schweren, eintönigen Rhythmus, als sie den Kopf drehte und zu dem ungeöffneten Umschlag auf dem Nachttisch hinübersah.

In dem Augenblick, als sie den Stapel Post aus dem Briefkasten geholt und ihr Blick auf den Absender des ersten Briefes gefallen war, hatte ihr der Atem gestockt. Anderthalb Stunden später war sie sich noch immer nicht sicher, ob sie wieder normal atmete. Nach zwei Monaten Schweigen, in denen sie ihre geschundenen Gefühle verdrängt hatte, war er in ihr Leben zurückgekehrt.

Amanda setzte sich im Bett auf und griff nach dem Umschlag. Sie hielt ihn fest und starrte auf die vertraute Handschrift. Jason Ainsley. Ein Name, der ihr so vertraut war wie der Mond vor ihrem Fenster. Ein Name, der einmal mit ihrer Zukunft verbunden gewesen war. Ein Name, der bitter schmeckte, seit er vor zwei Monaten alles ruiniert hatte. Sie hatte noch nicht den Mut gehabt, den Brief aufzureißen. Denn sie war sich nicht sicher, ob sie lesen wollte, was Jason zu sagen hatte

Winzige Hoffnungsfunken stiegen in ihrem Herzen auf. Was war, wenn er seine Entscheidung bereute? Was, wenn dies ein Versuch war, ihre zerbrechliche Beziehung wieder aufleben zu lassen, bevor sie ganz starb? Amanda schüttelte den Kopf. Einerseits hätte sie das Ding am liebsten in winzige Fetzen zerrissen und in den Müll geworfen. Andererseits, und dieses Gefühl war stärker, wusste sie, wenn sie das tat, würde sie den Rest der Nacht damit verbringen, aus Verzweiflung die Schnipsel mit Tesa wieder zusammenzufügen.

Ihr blieb also nichts anderes übrig, als den Umschlag zu öffnen. Und sich dem zu stellen, was Jason zu sagen hatte. Vor zwei Monaten hatte er ihr das Herz gebrochen. Wie viel mehr Schaden konnte ein kleines Nachbeben schon anrichten? Bevor sie es sich anders überlegen konnte, öffnete sie den Umschlag und zog den Brief heraus.

Die geschwungene Schrift ließ den Schmerz, den sie zu ignorieren versucht hatte, über sie hereinbrechen. Aber die Worte selbst weckten einen Zorn in ihr, der in den vergangenen sechzig Tagen unter diesem Schmerz geschlummert hatte.

Er vermisste sie? Er hoffte, sie würde ihm verzeihen? In Liebe, Jason? Sie zerknüllte den Brief und starrte aus dem Fenster. Er hatte kein Recht dazu, so etwas zu schreiben. Er hatte seine Entscheidung getroffen und sich gegen sie entschieden. Anstatt ihr einen Heiratsantrag zu machen, war er nach Nairobi gegangen. Nicht für eine Woche oder einen Monat oder ein Jahr, sondern für immer. Er hatte ihr erzählt, er hätte gebetet. Er hatte zu ihr gesagt, wenn er nicht ginge, wäre das ein Akt des Ungehorsams. Und damit hatte er jedes Argument und jeden Widerspruch im Keim erstickt. Denn wer konnte dem schon etwas entgegensetzen, ohne selbstsüchtig und unchristlich zu klingen?

Aber sie hatte auch gebetet. Immer und immer wieder. Für einen Mann, der jetzt auf der anderen Seite der Erdkugel lebte. Sie dachte, sie würden Mann und Frau werden. Sie dachte, sie würden in einem eigenen Haus wohnen, Kinder bekommen und sonntags in die Kirche gehen. Aber stattdessen war sie hier. Und er war dort.

Sie verstand es nicht. Jasons Frau sein zu wollen, sich Kinder zu wünschen und sie in der Liebe zum Herrn erziehen zu wollen ... warum war das weniger fromm, als in die Mission zu gehen?

Amanda ließ sich aufs Bett fallen und suchte nach der Spinne, aber das Tier war nicht mehr da. Sie seufzte. So hatte sie sich ihr Leben nicht vorgestellt. Warum war sie Buchhalterin in Peaks und lebte bei der Frau ihres Bruders und ihrem süßen Sohn. Sie strich den Brief glatt und starrte Jasons neue E-Mail-Adresse an, die er unten auf die Seite gekritzelt hatte. Sie wünschte, er hätte es nicht getan.

* * *

Ein steter Menschenstrom schob sich durch die Türen von Grace Assembly, einer unauffälligen Steinkirche, die sich hinter einer Reihe hoher Eichen verbarg, ein Sichtschutz vor dem benachbarten Fast-Food-Restaurant. Ian hielt die Luft an und betrachtete den Kirchturm, während der Kloß in seinem Magen immer größer wurde.

Im letzten Jahr hatte der den Gottesdienst nur sehr unregelmäßig besucht. Zum Teil, weil er ein Problem damit hatte, einer Gemeinschaft von Menschen anzugehören, die nicht verstanden, was schieflief; zum Teil aber auch aus Scham. Er stieß die angehaltene Luft aus, legte die Stirn aufs Lenkrad und starrte nach unten. Er würde das schaffen. Es war nur eine Stunde, und hier kannte ihn ja niemand. Es war der perfekte Zeitpunkt, um einen ersten Schritt zurück in die Kirche zu tun.

Jemand klopfte an sein Fenster.

»Ian? Sind Sie das?« Die Scheibe dämpfte die Worte, aber die Stimme kannte er. Er blickte auf und sah in die Augen von Bürgermeister Ford, der ihn mit zusammengezogenen Augenbrauen anstarrte. Ian öffnete die Tür und stieg aus.

»Es sah aus, als hätten Sie da drin geschlafen.«

»Nein, ich habe nur ... gebetet.«

»Ich wusste nicht, dass Sie Kirchgänger sind. Das ist eine angenehme Überraschung.« Bürgermeister Ford legte den Arm um eine rundliche Frau in einem biederen Kleid. »Das ist meine Frau Elaine. Elaine, das ist der Herr, von dem ich dir erzählt habe. Der uns helfen wird, dieser Stadt neues Leben einzuhauchen.«

Ian schüttelte ihr die Hand. »Es freut mich, Sie kennenzulernen, Mrs Ford.«

»Das Vergnügen ist ganz auf meiner Seite, junger Mann.«

»Meine Frau ist beeindruckend, Ian. Sie ist die Vorsitzende des Elternrats an der Highschool, und das schon seit« – der Bürgermeister blies die Backen auf und kratzte sich am Ohr – »wie lange schon? Seit zwölf Jahren?«

Elaine nickte.

»Ob Sie es glauben oder nicht, wir haben drei Kinder durch dieses Schulsystem gebracht. Eigentumswohnungen, die Menschen anlocken, die wiederum Steuerzahler sind – na, Sie wissen, was das bedeutet.« Er hielt seiner Frau den Ellbogen hin und wandte sich der Kirche zu. »Mehr Einnahmen für die Schulbehörde. Sie werden dafür sorgen, dass wir alle gewinnen.«

Ian folgte dem Bürgermeister und seiner Frau. Dass wir alle gewinnen. Er musste diesen Auftrag dingfest machen. McKay Planung und Bau hing davon ab und seine eigene Zukunft auch. Die Firma zu retten, war seine zweite Chance – etwas richtig zu machen, noch einmal von vorne anzufangen, endlich wieder Stolz in den Augen seines Vaters zu sehen. Endlich wieder zu den Gewinnern zu gehören. An diese Hoffnung klammerte er sich, als er Bürgermeister Ford durch das volle Foyer in den Gottesdienstraum folgte.

Der Mann begrüßte mehrere Menschen mit Handschlag, bevor er seine Frau in eine der Bänke schob. Ian zog an seinem Kragen und setzte sich, während der Bürgermeister eine Bibel aus dem Gesangbuchständer nahm und sie ihm reichte. Das Buch in Ians Hand steckte voller Worte, die er kannte. Worte, an die er sich klammerte. Worte, die man so leicht vergessen konnte.

»Normalerweise essen Elaine und ich nach dem Gottesdienst bei Val. Harry macht hervorragende Pfannkuchen. Kommen Sie doch mit!«

Ian fuhr mit der Hand über den Buchrücken der Bibel. »Gerne.«

Dann erfüllte Klaviermusik den Kirchenraum. Die vertraute Melodie ließ Ian aufhorchen. Er blickte auf und sah Robin Price am Klavier sitzen. Sie war auf der Bühne in Licht getaucht und strahlte eine solche Wärme und Ruhe aus, dass Ian gern etwas davon gehabt hätte. Mit geschlossenen Augen drehte Robin den Kopf in Richtung Mikrofon und begann zu singen, und ihre Stimme war genauso fesselnd wie ihre Musik.

Die Gemeinde erhob sich und stimmte ein, aber Ian konnte nicht aufstehen. Er blieb sitzen, und wie eine Massage seiner empfindlichen Muskeln grub der Text sich in seine verkrampfte Seele und erinnerte ihn an eine Wahrheit, die ihm viel zu weit entglitten war. Gottes Gnade war ausreichend. Groß genug für ihn. Und für Cheryl.

Als der Gottesdienst zu Ende war, fand Ian sich im Sonnenschein des späten Vormittags vor dem Gebäude wieder, wo die halbe Gemeinde ihm die Hand schüttelte. Zuletzt kam Brian O’Malley auf ihn zu, eine grauhaarige Bohnenstange, und Darrell Maddocks, ein Herr mit breiter Brust. Offenbar hatte Bürgermeister Ford Freude daran, Leute einander vorzustellen.

»Wir haben gehört, dass Sie Pläne für unsere Stadt haben«, sagte Darrell, nachdem er seine fleischige Hand wieder zurückgezogen hatte. »Chuck hat etwas davon gesagt, dass wir in einer Sitzung bald Näheres erfahren. Brian und ich sind beide im Stadtrat.«

Ian sah den Bürgermeister an. »Ach ja?«

Ein Mann versuchte sich zwischen O’Malley und einer anderen Gruppe hindurchzuquetschen, aber der Bürgermeister sprach ihn an. »Lange nicht gesehen, Evan. Wie läuft das Leben auf der Farm denn so? Und wie geht es Ihrer hübschen Frau?«

Der Mann – Evan – blieb stehen. Ford hatte ihn in die Ecke gedrängt. »Super. Sie holt gerade die Kleine.«

»Genießen Sie diese Tage, solange Sie können. Sie vergehen sehr schnell.«

»Da werden sie recht haben.«

»Ich möchte Sie einem Freund vorstellen, Ian McKay. Ian, das ist Evan Price. Hervorragender Mechaniker. Falls Sie während Ihrer Zeit hier Ärger mit dem Wagen haben sollten, kann Evan Ihnen helfen.«

Ian bezweifelte, dass sein Auto Ärger machen würde, aber er gab Evan trotzdem die Hand.

»Ian ist geschäftlich in der Stadt«, fuhr der Bürgermeister fort. »Seinem Vater gehört das Planungs- und Bauunternehmen McKay.«

Evan schien ihn aus dem Augenwinkel zu begutachten. »Ein Stadtentwickler also?«

Die ganze Zeit über hatte Ian das Gefühl, dass dieser Mann ihm bekannt vorkam, und jetzt wusste er, warum. Price. Der gleiche Nachname wie der von Robin. »Sind Sie zufällig mit der Inhaberin vom Willow Tree Café verwandt?«

Evan wollte antworten, aber bevor ein Wort über seine Lippen kam, rannte ein brauner Lockenkopf mitsamt kleinem Körper und leuchtend blauem Gips in die Arme des Mannes. Der quittierte den Aufprall mit einem Grunzen und warf den kleinen Jungen in die Luft. Evan kitzelte ihn und der Junge wand sich und lachte.

Ian riss den Blick von Vater und Sohn los und sah, dass Robin näher kam. Ihre Miene war genauso verwirrt wie gestern vor Sybils Laden. »Du kannst nicht einfach so weglaufen, Caleb.« Dann sah sie Ian und blieb stehen.

»Wunderbar, Robin.« Bürgermeister Ford faltete die Hände. »Darf ich dir einen neuen Freund von mir vorstellen, Ian McKay? Ian, das sind Robin Price und ihr Sohn Caleb.«

»Wir sind uns schon begegnet«, erwiderte Robin. »Er war gestern Abend in meinem Café.«

Der Bürgermeister riss die Augen auf. »Schon? Sie machen sich aber schnell an die Arbeit, was?«

Ian räusperte sich und schüttelte den Kopf, aber es war zu spät. Robin blickte in die Runde, und ihr Lächeln wirkte unsicher. »Tut mir leid. Ich verstehe nicht, was Sie meinen.« Sie sprach leise und wandte sich an den Bürgermeister, dessen kahler Kopf sich leuchtend rot färbte.

»Ich dachte ... Ich war davon ausgegangen ...« Sein Stottern half nicht.

Sie sah Ian an. »An was für eine Arbeit machen Sie sich denn?«

»Ich hatte gehofft, später mit Ihnen darüber zu sprechen, Mrs Price.« Er sah Caleb an, der sich jetzt an seine Mutter lehnte und mit dem unverletzten Arm ihr Bein umklammerte. »Hat ihr Sohn sich verletzt? Ich könnte schwören, gestern hatte er noch keinen Gips.«

Ihr Blick huschte zu dem Jungen und wanderte dann wieder zu Ian zurück. »Worüber wollten Sie später mit mir sprechen?«

Er überlegte krampfhaft, wie er die unüberlegten Worte des Bürgermeisters wegerklären konnte. Dies war kein guter Zeitpunkt, um Robin auf ihr Café anzusprechen – an einem Sonntag, ausgerechnet nach dem Gottesdienst. Aber sie ließ sich nicht ablenken. Sie legte die Hand auf die Schulter ihres Sohnes und sah Ian direkt in die Augen. Auch die umstehenden Männer starrten ihn an.

»Ich wollte mit Ihnen darüber sprechen, ob Sie mir Ihr Café verkaufen.«

Jetzt starrte sie ihn mit offenem Mund an. »Ich soll mein Café verkaufen?«

»Für die Eigentumswohnungen, von denen wir gestern Abend gesprochen haben.«

Robin sah die Männer an, die da in der Runde standen und sich jetzt alle sichtbar unwohl fühlten – vor allem Bürgermeister Ford –, und ihre Miene wurde misstrauisch. »Warum haben Sie das dann nicht erwähnt?«

»Ich wollte …«

»Was wollten Sie? Spionieren?«

»Nein, ich wollte nicht spionieren.« Was für ein lächerlicher Gedanke. Was gab es schon zu spionieren? »Ich wollte etwas sagen, aber Ihre Musik hat mich überrumpelt.«

»Wie auch immer. Ich fürchte, ich kann Ihnen nicht geben, was Sie wollen. An einem Verkauf bin ich nicht interessiert.«

»Ich werde dafür sorgen, dass Sie von dem Geschäft profitieren.«

Sie schob ihr Kinn vor. »Profit ist mir egal.«

Ian wandte sich an Evan. Vielleicht reagierte ihr Mann rationaler. »Sie sollten sich das überlegen.«

Evan runzelte die Stirn, Ian spürte seine Verunsicherung und stürzte sich darauf. »Ich will nicht mit Ihnen streiten. Willow Tree Café ist ein schönes Lokal. Ich sehe, dass Sie sich im Laufe der Jahre gut darum gekümmert haben, aber Sie müssen an Ihre Familie denken.«

»Ich glaube, Sie verwechseln da …«

»Glauben Sie mir, Mr Price, ich irre mich nicht. Ich habe schon viele Unternehmen wie Willow Tree gesehen. Die Inhaber halten zu lange daran fest und haben am Ende Schulden. Ich will nicht, dass Ihnen das auch passiert. Ich bin nicht sicher, was …«

»Den Rest können Sie sich sparen, Mr McKay.« Robins Worte klangen entschlossen, zuversichtlich. Die verletzliche Frau, die am Klavier gesessen hatte, war verschwunden. »Bei meinem Unternehmen geht es nicht ums Geld.«

Ian sah sie an – ihre starre Haltung, das leicht nach vorn gerichtete Kinn, der leidenschaftliche Beschützerinstinkt in ihrem Blick – und plötzlich war sein Ehrgeiz geweckt. Er würde nicht zulassen, dass viele Menschen nur wegen dieser Frau ihre Arbeit verloren. Er schob die Hände in die Hosentaschen. »Vielleicht nicht, Mrs Price, aber ohne Geld ist es schwierig, eins zu führen.«

Kapitel 8

Wie haben wir abgeschnitten?« Robin wickelte ihr Besteck aus der Serviette, während Caleb neben ihr auf einer der Bänke in Vals Imbiss hüpfte und knurrende Geräusche ausstieß, während zwei Dinosaurier in seinen Händen gegeneinander kämpften. Weil er seinen Mähdrescher an diesem Morgen aus Versehen auf dem Nachttisch hatte stehen lassen, hatte er nur halb so viel Spaß wie sonst. Das war ihm, seit er das Geschenk zu seinem dritten Geburtstag im vergangenen Juli bekommen hatte, noch nie passiert. Robin stützte das Kinn auf ihre Hand und beugte sich vor. »Ich habe ein gutes Gefühl, was diesen Monat betrifft.«

Amanda hatte einen Stapel Papiere in der Hand. »Das sagst du jeden Monat.«

»Ja, aber diesen Monat ist es ein richtiges Bauchgefühl.«

»Weißt du, was ich mir wünschen würde? Dass dein Bauchgefühl dir mal eingibt, deine Inventarliste besser zu führen. Es ist nämlich unmöglich, die Bücher korrekt zu führen, wenn deine Unterlagen so gut geordnet sind wie eine Krimskramsschublade.«

Robin hob drei Finger zum Pfadfinderschwur. »Ich verspreche, dass ich mich bessern werde. Ich werde es zu meinem persönlichen Ziel machen. Und jetzt lass hören: Wie ist das Ergebnis?«

»Ziemlich identisch mit dem vom letzten Monat.«

Ein Gefühl von Enttäuschung legte sich auf Robins Gemüt. Dank des Erbes von ihrer Mutter und Micahs Lebensversicherung achtete Robin nicht sehr auf Zahlen. Bei ihrem Café ging es um Zugehörigkeit und Gemeinschaft, und die konnte man mit einer Einnahmen-Ausgaben-Rechnung sowieso nicht messen. Trotzdem hatte sie Ians düstere Warnung vor der Kirche nicht vergessen.

»Wieso guckst du so skeptisch?«, fragte Amanda.

»Wenn das so weitergeht, werde ich irgendwann kein Geld mehr haben.«

»Das ist das Schöne an Roy, nicht wahr?«

Robin atmete aus. Amanda hatte recht. Und sie war klug. Auf ihr Anraten hin hatte Robin bei Roy Hodges, ihrem Bankberater, ein Jahr nach der Eröffnung des Cafés einen Dispokredit vereinbart. Dadurch musste sie nicht ihre Ersparnisse antasten, wenn es eine Durststrecke gab.

»Und sei froh, dass du keine Hypothek abbezahlen musst. Es könnte schlimmer sein.«

Das stimmte. Sie hatte es besser als viele andere Geschäftsleute entlang dem Flussufer, vor allem im Süden. Es gab keinen Grund zur Sorge. Mr McKay hatte sie klar zu verstehen gegeben, dass sie nicht verkaufen würde. Punkt.

Megan stellte drei Teller mit dampfendem Essen auf den Tisch. Heute trug sie ein lilafarbenes T-Shirt, auf dem Die Glasglocke stand. »Eine Portion Pfannkuchen, Spiegelei und Speck und eine Schinken-Käse-Pfanne.«

Das salzig-süße Aroma von Speck mit Sirup stieg Robin in die Nase und weckte neuen Optimismus in ihr. Sie nahm ihre Gabel und schnitt Calebs Pfannkuchen klein, während er auf seinem Sitz auf und ab wippte. »Danke, Megan. Das riecht super.«

»Kann ich euch noch was bringen? Mehr Wasser? Kaffee?«

Amanda tippte auf den weißen Becher, der vor ihr stand. »Ich nehme einen Nachschlag.«

Als die Bedienung gegangen war, um die Kaffeekanne zu holen, lehnte Robin sich über den Tisch. »Du weißt schon, dass du ein Teil des Problems bist, oder? Selbst meiner Buchhalterin macht es nichts aus, abgestandenen Filterkaffee zu trinken.«

»Wenn du dir wirklich Sorgen machst, weißt du, was du dann tun solltest?« Amanda zeigte mit dem Buttermesser auf Robin. »Mach das Café sonntags auf. Das würde das Geschäft beleben.«

»Das mit dem Kaffee war ein Witz.«

»Ich finde, es ist eine gute Idee. Du solltest zumindest darüber nachdenken. Du könntest am Samstag früher zumachen, so wie an den anderen Tagen auch, und stattdessen Sonntag morgens aufmachen.« Amanda schob sich eine Gabel mit Schinken, Ei und geschmolzenem Käse in den Mund.

Caleb ertränkte sein Essen in Blaubeersirup und Robin konnte ihn gerade noch aufhalten, bevor er die ganze Flasche auf seinem Frühstück verteilt hatte. »Ich kann von niemandem verlangen, dass er seinen Sonntag opfert, und auf keinen Fall werde ich Caleb noch einen weiteren Tag in der Woche in die Kita geben.« Ihr Sohn sah mit klebrigen Lippen und großen Augen von seinem Essen auf. Ein Stück Pfannkuchen fiel von seiner Gabel und landete auf seinem Teller.

»Ich könnte doch auf den Knirps aufpassen«, schlug Amanda vor.

Robin schüttelte den Kopf. Caleb würde ihr das nie verzeihen, und sie selbst würde es sich ebenfalls nicht verzeihen.

»Ist ja nur ein Vorschlag. Willow Tree hat Probleme, und du machst an dem einen Tag zu, an dem die Leute am ehesten einen leckeren Kaffee trinken gehen. Das ist nicht gerade ein intelligenter Schachzug.«

»Tut mir leid. Das mach ich nicht.«

Amanda zuckte mit den Schultern und spießte ein Stück Schinken auf. »Aber heute Nachmittag machst du doch auch auf.«

»Das ist etwas anderes. Es ist ein besonderer Anlass. Ich will die Leute mit dem neuen Leiter von One Life bekannt machen. Wenn ich dabei ein bisschen Umsatz mache, dann ist das ein zusätzlicher Bonus.«

»Ich dachte, du wolltest kein Geld nehmen.«

»Tu ich auch nicht.«

»Und wie willst du dann ›ein bisschen Umsatz‹ machen?«

»Ich werde alle mit tollem Essen und Trinken beeindrucken, und dann kommen sie das nächste Mal als zahlende Kunden wieder.«

»Oder du könntest von deinen Gästen heute Geld nehmen und sie werden zahlende Kunden, ohne dass du zuerst Geld verlierst.«

Megan trat an den Tisch und goss eine heiße schwarze Flüssigkeit in Amandas Becher. Robin tauchte eine Scheibe gebutterten Toast in ihr Eigelb und aß einen Bissen. Knusprig und warm legte sich die fettige Mischung auf ihre Zunge.

Megan zog an ihrem unordentlichen Haarknoten und beugte sich vor. »Ich habe das noch nie gemacht, wollte es aber immer mal tun. Zeiger auf neun Uhr.« Sie murmelte die Worte aus dem Mundwinkel.

»Wie bitte?«

Megan deutete mit einer ruckartigen Kopfbewegung in Richtung Eingangstür. »Guck mal in Richtung neun Uhr.«

Robins Blick wanderte nach links. Mit einem Mal schmeckte das Essen in ihrem Mund wie Pappe. Sie würgte den Bissen hinunter und beobachtete wie Ian McKay, so lässig wie vor einer Stunde, Val’s Diner betrat. Du liebe Güte, der Typ war aber auch überall.

Megan eilte hinter den Tresen. Robin tupfte ihre Lippen mit einem Zipfel ihrer Serviette ab und wandte ihre Aufmerksamkeit Caleb zu, der einen Pterodactylus in einer Hand hielt und seine Gabel in der anderen. Sie rettete die Plastikfigur vor dem Teller mit klebrigen Pfannkuchen, als ein Schatten über ihren Tisch fiel und Amanda ihr unter dem Tisch einen Fußtritt versetzte.

»Dass wir uns hier treffen.« Das vertraute Timbre von Ians Stimme kratzte an ihren Nerven – klangvoll, tief, kultiviert. Niemand klang so vollkommen, ohne es gründlich geübt zu haben.

Amanda legte ihr Besteck zur Seite und hob ihre Tasse hoch. »Sie sehen heute genauso vornehm aus wie gestern. Sogar noch besser ohne Kaffee auf dem Hemd.«

Ian schnipste mit den Fingern. »Amanda, richtig?«

»Korrekt.«

»Schön, Sie wiederzusehen.«

»Oh, das Vergnügen ist ganz auf meiner Seite. Wie laufen die Geschäfte? Gut, hoffe ich.«

Robin verdrehte die Augen. »Er will Willow Tree einreißen und Eigentumswohnungen bauen. Das ist sein Geschäft.«

»Im Ernst?«

Robin warf ihr einen »Ja genau also hör auf mit ihm zu- flirten«-Blick zu. Nur weil Amanda wieder Single war, brauchte sie ja nicht gleich auf den Charme dieses Mannes hereinzufallen.

Bürgermeister Ford beendete seine Unterhaltung am Eingang, begleitete seine Frau zu einem Tisch und kam dann zu ihnen. Er schien noch genauso peinlich berührt wie am Vormittag vor der Kirche. »Ich hoffe, Sie haben sich vorhin nicht überrumpelt gefühlt, Robin.«

»Es war schon eine Überraschung.« Sie drehte sich auf ihrem Platz um und wandte sich an Ian. »Ich würde euch ja vorstellen, aber ihr seid euch schon begegnet. Amanda ist meine Buchhalterin. Und meine Schwägerin.«

Er schob die Hände in die Hosentaschen und zwinkerte, als wäre die ganze Sache irgendwie lustig. »Das heißt, sie hat Insider-informationen. Das könnte sich als nützlich erweisen.«

Der Bürgermeister bellte. Caleb blickte von dem klebrigen Teighaufen auf, den er aus seinen Pfannkuchen gemacht hatte. »Warum ist das lustig?«

»Ist es nicht, Liebling«, erwiderte Robin.

Amanda faltete die Hände und stützte ihr Kinn darauf. »Ihr könnt euch gerne zu uns setzen, wenn wir wollt.«

Jetzt war es Robin, die unter dem Tisch Tritte verteilte. Was dachte Amanda sich nur? Auf keinen Fall konnten die beiden sich dazusetzen.

»Danke für die Einladung«, sagte Ian, »aber wir müssen noch die Pläne für unsere Sitzung mit dem Stadtrat am Freitag besprechen.«

Angst stieg in Robins Magen auf und verdarb ihr das köstliche Essen. »Warum gibt es eine Sitzung mit dem Stadtrat?«

»Bürgermeister Ford möchte die Eigentumswohnungen in die Stadtplanung im Südteil des Gewerbegebietes einbinden.«

Zu der Angst gesellte sich nun auch noch das Gefühl, hintergangen worden zu sein. Sie sah den Bürgermeister an – einen Mann, der zur Eröffnung ihres Cafés gekommen war und seitdem jeden Samstagmorgen erschien. »Sie wollen mein Café abreißen?«

Seine Ohren wurden rot.

Sein sichtliches Unbehagen war ihr nun wieder unangenehm, aber so leicht durfte sie ihn nicht davonkommen lassen. »Ich dachte, Sie unterstützen Willow Tree

»Es tut mir leid, Robin. Es geht nicht anders. Ich bin stolz auf das, was Sie mit Ihrem Café geleistet haben. Es ist ein schönes Lokal. Nur steht es leider am falschen Ort.«

»Und One Life

»Es ist meine Pflicht, das Beste für alle Bürger der Stadt zu erreichen.«

Etwas Starkes und Leidenschaftliches schob Robins Angst beiseite. Das Beste? Wie konnte es für irgendjemanden das Beste sein, wenn man eine Organisation, die Menschen wie Molly half, dem Erdboden gleichmachte? Sie hob das Kinn und sah Ian in die Augen. »Sie wissen aber, dass Sie mich nicht zwingen können zu verkaufen, nicht wahr?«

Er zog eine Augenbraue hoch, als wäre sie nicht mehr als ein übermüdetes Kind, das nicht schlafen gehen wollte. So als müsste er nur warten, bis der Ort von der Bildfläche verschwand, der ihr in den letzten vier Jahren ein Ziel gegeben hatte. »Ich werde keine Gewalt anwenden.«

»Natürlich nicht.« Der Bürgermeister lächelte Robin halbherzig zu. »Wir werden schon eine Lösung finden. Aber jetzt bin ich kurz vorm Verhungern. Kommen Sie, Ian. Und ich freue mich auf Ihren offenen Treff nachher, Robin. Was für eine schöne Willkommensgeste für den neuen Leiter.«

Robin spürte, wie sie innerlich kochte. Der Bürgermeister beglückwünschte sie, weil sie den neuen Leiter von One Life willkommen hieß, aber gleichzeitig hatte er keine Skrupel, ihre Arbeit zu zerstören? War ihm denn gar nicht bewusst, wie unlogisch das war, was er gerade gesagt hatte?

Ian nickte. »Wir sehen uns. Guten Appetit noch, meine Damen.«

Robin warf ihm einen bösen Blick hinterher.

»Das müsste verboten werden«, sagte Amanda.

»Was?«

»Dieses Lächeln.«

Robin wäre am liebsten explodiert. »Wen interessiert schon sein Lächeln? Er will mein Café plattmachen.«

Amanda tippte mit dem Finger auf die Einnahmen-Ausgaben-Rechnung. »Vielleicht wäre es gar keine schlechte Idee, sich sein Angebot wenigstens anzuhören.«

Kapitel 9

Robin zog die Ofenhandschuhe aus und warf sie auf die Arbeitsplatte. Dann schloss sie die Augen und rieb sich die Schläfen. Nach dem Mittagessen hatte sie ein ganzes Blech Erdbeer-Rhabarber-Muffins und zwei Dutzend von Calebs Lieblingslebkuchen gebacken und trotzdem ging ihr Ian und seine hochgezogene Augenbraue nicht aus dem Sinn.

Herr, warum bin ich deswegen so durch den Wind?

Plötzlich spürte sie Calebs kleine Finger ihren Unterarm berühren. »Schläfst du, Mommy?«

Sie öffnete ein Auge und sah das Gesicht ihres Jungen, der sie mit dem Lächeln seines Vaters ansah. »Nein, Dummerchen, ich bete.«

»Für meine Plätzchen?«

Sie öffnete auch das andere Auge und legte die Hand um sein Kinn. »Ich bete für meinen Geisteszustand.«

Er zog die Nase kraus. »Was ist ein Geisteszustand?«

Robin lachte und nahm die Erdbeer-Rhabarber-Muffins vom Blech und setzte sie zum Abkühlen auf ein Kuchengitter. Der offene Treff hatte offiziell begonnen. Kyle und den unangenehmen Nachwirkungen ihres langweiligen Dates wäre sie zwar lieber aus dem Weg gegangen, aber es war an der Zeit, sich blicken zu lassen und unter die Leute zu mischen. Ausgerechnet in diesem Augenblick streckte Bethany den Kopf in die Küche, als könne sie Robins Gedanken lesen.

»Der Laden füllt sich zusehends und alle sind völlig begeistert von deinen Zitronenschnitten.«

»Solange sie nicht dafür bezahlen müssen.«

Die Tür schwang zurück und sperrte Geplauder und Lachen, das in die Küche drang, aus. Bethany balancierte über die verschiedenen Matchboxautos, die Caleb aus der Spielzeugkiste in der Ecke unter der Galerie geholt hatte. »Ich bin hier die Zynikerin, weißt du noch? Nicht du.«

Caleb ließ sich auf den Boden fallen und fuhr mit einem Auto um Bethanys Füße herum. Robin nahm ihre Schürze ab und legte sie auf die Arbeitsplatte zu den Ofenhandschuhen.

»Willst du mir nicht erzählen, was du auf dem Herzen hast?«

Robin wollte ihre Angst nicht in Worte kleiden, aber selbst nach all den Jahren hörte sie noch die Stimme ihrer Mutter. »Besser raus damit als drinnen lassen«, hatte sie immer gesagt. »So schnell, wie hier Neuigkeiten die Runde machen, wirst du sicher bald davon hören.«

»Wovon?«

»Hat Evan dir erzählt, wen wir vor der Kirche getroffen haben, während du Elyse aus der Kinderbetreuung abgeholt hast?«

»Wen denn?«

»Erinnerst du dich an den Typen, dem Amanda Kaffee übers Hemd geschüttet hat?«

»Den süßen Buchprüfer?«

»Wie sich herausgestellt hat, ist er doch kein Buchprüfer.« Und so süß war er nun auch wieder nicht. Robin holte tief Luft und ließ ihre Angst heraus. »Er will Willow Tree kaufen, damit er es abreißen und Eigentumswohnungen bauen kann.«

Bethany sah sie ungläubig an.

»Ich weiß nicht, warum mich das so fertigmacht. Schließlich kann er mich nicht zwingen zu verkaufen, und ich habe auch schon abgelehnt. Also sollte ich mir doch keine Gedanken mehr darüber machen, oder?«

Bethany verschränkte die Arme und lehnte sich an die Küchenzeile.

»Aber er ist mit Bürgermeister Ford bei Val aufgetaucht, als ich mit Amanda die Zahlen durchgegangen bin. Angeblich hat er am Freitag eine Besprechung mit dem Stadtrat.«

»Klingt ernst.«

Robin warf Bethany einen finsteren Blick zu. »Danke, jetzt fühle ich mich nicht gerade viel besser.«

»Hör zu, wir beide können im Moment nichts wegen dieser Eigentumswohnungen unternehmen. Heute geht es darum, Kyle willkommen zu heißen, richtig?« Bethany stellte sich zu Robin und legte ihr einen Arm um die Schultern. »Also sehen wir mal nach, wo die ewig optimistische Robin ist, die alle lieben und schätzen, damit wir uns unter die Gäste mischen können.«

Ein vorsichtiges Lächeln trat auf Robins Gesicht, als Bethany sie in Richtung Tür schob.

»Du kannst dich in demütiger Dankbarkeit üben, während alle deine Backkünste loben. Vielleicht willst du ja auch Klavier spielen und deine Gäste nicht nur mit einer, sondern gleich zwei erstaunlichen Begabungen hypnotisieren, die gelegentlich mein eigenes Selbstwertgefühl ruinieren.« Bethany drückte ihr beruhigend die Schulter. »Alles wird sich fügen, du wirst schon sehen.«

Caleb sprang vom Fußboden auf. »Kann ich hier spielen?«

»Unbeaufsichtigt? Das glaube ich kaum, Kumpel.« Es war zwar der erste Knochenbruch seit zehn Jahren, aber verzeihen konnte sie es sich nicht, dass sie ihn gestern draußen allein hatte spielen lassen.

Mit Bethanys Arm um ihre Schultern und Calebs Hand in ihrer konnte sie die Ungewissheit loslassen, die sie ins Chaos zu stürzen drohte. Sie holte tief Luft und betrat das überfüllte Café. Überall standen oder saßen Grüppchen über Kaffeebechern und aßen selbst gebackenen Kuchen und füllten den Raum mit Gelächter. Robins Kehle war wie zugeschnürt. Dies war der Traum, den Micah und sie vor Jahren gehabt hatten, als das Willow Tree Café nichts weiter als eine Reihe von Zeichnungen auf Papier gewesen war. Kein leerer Raum. Keine Verluste, die größer waren als die Gewinne. Sondern das hier. Menschen, die sich bei Kaffee und Kuchen begegneten und miteinander ins Gespräch kamen. Ihr Lächeln wurde breiter.

Bethany tätschelte Robins Schulter und gesellte sich zu Amanda an der Espressomaschine. Evan saß an einem Tisch in der Nähe der Tür und sprach mit Kyle, während die kleine Elyse an Papas Finger lutschte. Mit ihrem braunen Flaum, den großen dunklen Augen und dem typisch spitzen Kinn war die Kleine eine Miniversion ihrer Mutter.

Caleb wollte zu den dreien laufen, aber Robin hielt seine Hand fester, als Erinnerung daran, dass er zuerst um Erlaubnis bitten musste. Er blickte auf. Sie nickte und dann lief er zwischen den Gästen hindurch. Als er auf Evans freies Knie kletterte, rührte sich ein dumpfer Schmerz in Robins Brust. Sie schloss die Augen und stellte sich vor, es wäre Micah, der Kyle dort gegenübersaß. Micah mit seinem Arm um Caleb.

Sind eine Mommy und ein liebevoller Onkel genug für meinen Sohn, Herr?

Sie schob die sinnlose Frage beiseite. Micah war tot. Es musste genügen. Sie ging am Tresen vorbei und auf Kyle zu, weil sie die erste Begegnung mit ihm nach ihrer Verabredung hinter sich bringen wollte. Auf halbem Weg schlug ihr der Geruch von Regen entgegen, und gleich darauf kam Bürgermeister Ford von draußen herein, gefolgt von dem Mann, der scheinbar überall gleichzeitig war.

Etwas in ihr erwachte zum Leben. Dass Bürgermeister Ford kam, war eine Sache. Aber Ian? Nee. Auf keinen Fall. Sie würde nicht zulassen, dass er diese Veranstaltung dazu benutzte, seine Pläne zu verfolgen, vor allem, wenn diese Pläne genau die Hilfsorganisation bedrohten, die alle hier unterstützen wollten. Also marschierte sie zur Tür, um ihm ihre Meinung zu sagen, aber die Crammers fingen sie ab, und all die Worte, die sie Bürgermeister Ford und Mr McKay hatte an den Kopf werfen wollen, blieben ungesagt.

Sie umarmte Carl und Mimi. »Ich freue mich ja so, dass Sie gekommen sind.« Sie hatte schon mehrfach versucht, die Crammers dazu zu bringen, dass sie die Dienste von One Life in Anspruch nahmen, aber das Ehepaar – vor allem Mimi – konnte Wohltätigkeit nicht gut annehmen. Ein gelegentlicher kostenloser Muffin oder Kaffee war eine Sache. Kostenlose Mahlzeiten, Kleider oder Beratung waren etwas anderes.

»Wir haben doch versprochen, dass wir kommen«, erwiderte Carl. »Und wir halten unsere Versprechen.«

Robin strahlte. »Bedeutet das, dass ich Sie mit Kyle bekannt machen darf?«

Carl warf seiner Frau einen Blick zu und rieb sich die stoppeligen Wangen. »Wir reden gerne mit ihm, solange klar ist, dass wir keine Almosen wollen.«

»Natürlich.«

Hinter ihr räusperte sich jemand.

Robin hätte das Geräusch am liebsten überhört. Sie wusste genau, wer das war. Aber Carl und Mimi starrten über ihre Schulter, darum drehte sie sich um. Sie wollte ja nicht unhöflich sein. Und wie erwartet stand er da. Mister Eigentumswohnungen.

»Viel los hier.«

Robin legte Mimi eine Hand auf den Arm. »Sie und Carl können sich schon mal einen Kaffee holen. Vielleicht einen Cappuccino? Ich mache Sie gleich mit Kyle bekannt.«

Mimi wirkte erleichtert. Carl straffte die Schultern. Die beiden hatten es offenbar nicht eilig mit der Vorstellung. Carl führte seine Frau zu Bethany und Amanda, ihren beiden Baristas, und kaum war das Ehepaar außer Hörweite, wandte Robin sich an den Mann neben ihr. »Darf ich fragen, warum Sie hier sind?«

»Bürgermeister Ford hat mich eingeladen. Dieses Angebot konnte ich doch nicht ausschlagen.«

»Doch! Anstatt Ja zu sagen, hätten sie sich entschuldigen können: ›Tut mir leid, aber ich finde, das wäre nicht angebracht. Da ich nicht hier bin, um One Life oder den neuen Leiter zu unterstützen.‹ Sehen Sie? Ist doch gar nicht so schwierig, oder?«

Ians Lippen zuckten. »Wenn Sie es so formulieren ...«

»Ich mache keine Witze.«

Seine Miene wirkte plötzlich ernst. Beinahe aufrichtig. »Hören Sie, Mrs Price. Ich weiß, dass unsere erste Begegnung etwas unglücklich gelaufen ist. Ich wollte nicht, dass der Bürgermeister Sie mit meinen Plänen so überrumpelt, schon gar nicht an einem Sonntag nach dem Gottesdienst. Ich hatte gehofft, wir könnten uns in Ruhe zusammensetzen und wie zivilisierte Erwachsene die verschiedenen Möglichkeiten besprechen.«

»Und warum sind Sie dann gestern hier herumgeschlichen und haben nichts von Ihren Plänen gesagt?«

»Das habe ich doch schon erklärt. Ihre Musik hat mich einfach total aus dem Konzept gebracht. Ich habe noch nie jemanden so spielen hören, und ich war schon oft bei Sinfoniekonzerten. Von Musik verstehe ich etwas.«

»Und was wollen Sie mir damit sagen?«

»Dass Sie eine außergewöhnliche Musikerin sind.«

Sie trat einen Schritt zurück. »Entschuldigen Sie mich.«

»Wohin gehen Sie?«

»In meine Küche. Ich muss Servietten holen.« Und dringend tief durchatmen. Sie schob sich an den Gästen, ihrem Klavier und dem Tresen vorbei. Erst als sie durch die Schwingtür trat, merkte sie, dass sie einen Schatten hatte. »Kundschaft darf hier hinten nicht rein.«

»Ich bin keine Kundschaft. Aber das Essen duftet so verführerisch, dass ich versucht bin, es zu werden.« Er schnupperte. »Schade, dass Sie nicht in den Norden der Stadt ziehen können.«

»Und One Life? Was ist mit denen?«

Ein Schatten fiel auf sein Gesicht und verschluckte jede Spur eines Lächelns. »Es tut mir wirklich leid, aber wir haben uns den Standort nicht ausgesucht. Wir bauen, wo die Stadt es wünscht.«

»Sie sollten besser gehen.«

»Darf ich mich vorher wenigstens entschuldigen?«

»Wofür?«

»Für das, was ich vor der Kirche zu Ihnen gesagt habe. Und im Imbiss. Manchmal geht mein Ehrgeiz mit mir durch. Beim Sport ist das keine schlechte Eigenschaft, aber wenn es um persönliche Dinge geht, ist es nicht die beste Vorgehensweise.« Er machte noch einen Schritt in die Küche und brachte den Duft von Seife und Minze mit. »Ich merke, dass es sehr persönlich wird, wenn es um Ihr Café geht.«

Sie wich zurück und stieß gegen die Trittleiter, die an der Wand hing.

»Ich wollte Sie nicht in die Defensive drängen. Und ich würde gerne noch mal von vorne anfangen.«

Wenn er glaubte, sie würde auf seine charmante Netter-Kerl-Masche reinfallen, dann hatte er sich gründlich getäuscht. Sie riss die Leiter vom Haken und wischte sich einige Haarsträhnen aus den Augen. »Wollen Sie mein Café immer noch kaufen?«

»Ja.«

»Dann gibt es keinen Grund, noch mal von vorne anzufangen.« Sie klappte die Leiter auseinander.

Doch er legte eine Hand auf die Arbeitsplatte und versperrte ihr so den Weg. Sie presste die Lippen aufeinander und zog die Augenbrauen hoch, den Blick auf seinen Arm gerichtet. Diese Küche war ihr Zufluchtsort, und er drang unerlaubt ein.

»Es gefällt mir nicht, dass Sie so eine negative Meinung von mir haben und mich verachten. Können wir nicht wenigstens reinen Tisch machen, bevor Sie vor mir Reißaus nehmen?«

»Ich verachte Sie nicht. Ich kenne Sie doch überhaupt nicht ... und ich nehme auch vor Ihnen nicht Reißaus.« Sie hielt die Leiter hoch. »Ich versuche nur, die Servietten zu holen.«

»Oh.« Er steckte die Hände in die Hosentaschen. »Das ist natürlich etwas anderes.«

Robin stellte die Trittleiter auf, stieg zwei Stufen hinauf und tastete mit der Hand auf dem obersten Regalbord nach den Packungen mit Servietten. Sie dachte an ihre letzte Materialbestellung zurück. Hatte sie vergessen, Servietten zu ordern? Sie verdrehte die Augen angesichts ihres mangelnden Organisationstalents. Amanda hatte recht. Sie musste sich wirklich etwas einfallen lassen.

»Brauchen Sie Hilfe?«

»Nein.« Das Wort kam heraus wie ein Schlag. Sie legte die Stirn auf einen Arm. Nur weil Ian McKay Willow Tree und One Life loswerden wollte, war das kein Freibrief für Unhöflichkeit. »Tut mir leid, ich wollte Sie nicht anfahren.«

Ihre Hand berührte etwas Weiches. Sie zog sie zurück und sah ein braunes Päckchen. »Hören Sie, Mr McKay, ich spiele keine Spielchen. Ich verstehe, dass Sie nur Ihre Arbeit machen und dass Ihre Abrisspläne nicht persönlich gemeint sind. Aber Sie müssen wissen, dass mir dieses Café sehr viel bedeutet. Ich werde es nicht verkaufen.«

Ian schien sie zu mustern, als wäre er sich nicht sicher, wie viel Entschlossenheit hinter ihren Worten lag. Sie straffte die Schultern und hoffte, dass sie ihn durch die Leiter etwas einschüchtern konnte. »Also gut. Ich spiele auch keine Spielchen. Sie haben recht. Diese Eigentumswohnungen sind ein Geschäft. Für die Firma meines Vaters. Von diesem Abschluss hängt viel ab, und deshalb kann ich nicht aufgeben.«

Sie klemmte sich die Servietten unter einen Arm. »Dann sind wir wohl in einer Pattsituation. Ich werde nämlich auch nicht aufgeben.«

Die Tür schwang auf und Caleb kam hereingerannt. »Mommy? Bist du hier?« Beinahe wäre er gegen Ian geprallt. Robin trat hektisch von der Leiter, doch sie rutschte auf etwas aus, verlor das Gleichgewicht und die Servietten flogen durch die Luft. Sie ruderte mit den Armen, aber bevor sie auf dem harten Fußboden landete, fing Ian sie auf und legte den Arm um ihre Taille.

Calebs Modellauto lag bei den Servietten. Es landete auf dem Dach und die Räder drehten sich.

* * *

Eine Schrecksekunde lang hielt Ian ihren reglosen Körper, bevor Robin die Augen aufriss und sich aus seinen Armen wand. Er ließ sie los und trat einen Schritt zurück.

Ihr Sohn starrte Ian mit offenem Mund an. »Du hast meine Mommy gerettet«, flüsterte er.

Robin strich mit zitternder Hand über ihre Bluse. »Er hat mich nicht gerettet, Caleb.«

Der Junge nickte so eifrig, dass eine Locke über seiner Stirn auf und ab wippte. »Doch. Du hättest dir sonst den Arm gebrecht.« Er hielt seinen Gips hoch, damit Ian ihn sehen konnte. »Ich bin mal von einem Trecker gefallt.«

Ian rieb sich den Nacken.

»Hör mal, Liebling?« Robin ging in die Hocke und legte die Hände um die Arme ihres Sohnes, damit er sie ansah. Mit kindlicher Unschuld in den Augen sah der kleine Junge seine Mutter an. »Habe ich dir nicht gesagt, dass du dein Spielzeug wegräumen sollst?«

»Tut mir leid, Mommy, das hab ich vergesst.« Der Kleine nahm sein Auto und sah an seiner Mutter vorbei. »Magst du Dinosaurier?«

»Äh, klar«, antwortete Ian.

»Die bösen oder die guten?«

»Ich war schon immer ein Fan von Triceratops.«

Caleb strahlte. »Ceratops ist ein Guter!«

Ian lächelte Robin an. Ihr Sohn war wirklich süß.

Einen Augenblick lang schien es, als würde sie sein Lächeln erwidern, aber bevor er ihr auch ein Lächeln entlocken konnte, wandte sie den Blick ab. »Geh und räum das Auto wieder in die Spielzeugkiste. Ich komme gleich.« Sie gab Caleb einen liebevollen Klaps auf den Po und scheuchte ihn durch die Tür. Kaum war er gegangen, zupfte Robin an ihrer Bluse und verzog das Gesicht zu einem wütenden Blick, der ihm Angst einflößen sollte. Er musste sich auf die Lippe beißen, um seine Belustigung nicht zu zeigen. Irgendwie wirkte Robin auf ihn nicht wie jemand, vor dem man Angst hatte.

»Ein einfaches ›Danke‹ würde schon reichen.«

»Wofür?«

»Dafür, dass ich Sie vor einem gebrochenen Steißbein bewahrt habe. Ich habe gehört, das soll sehr schmerzhaft sein.«

Ihre hellblauen Augen verengten sich. »Mr McKay, ich glaube, zwischen uns ist alles gesagt. Ich weiß Ihre Entschuldigung wegen heute Vormittag zu schätzen, aber sie ändert nichts an meiner Meinung. Und das bedeutet, dass wir nichts Geschäftliches mehr zu besprechen haben. Tut mir leid, dass Sie keinen Erfolg hatten. Wenn Sie mich jetzt entschuldigen wollen, ich muss zu meiner Familie.« Sie schob sich an ihm vorbei und ging durch die Tür, sodass er mit dem Echo ihrer Worte allein zurückblieb.

Meine Familie.

Das musste schön sein. Ein Ehepartner. Ein Kind. Wozu brauchte sie da noch ein Café.