Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
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© 2018 Ingrid Kroese

Illustration: Julia Reifferscheidt

Herstellung und Verlag: BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt
ISBN: 978-3-7481-3586-9

Inhaltsangabe

Guchikla

Marco machte mit seinen Eltern Urlaub. Sonst fuhren sie meist zu Verwandten in den Bergen, wo sie jeden Tag eine andere Tante oder einen anderen Onkel besuchen mussten. Puh - war das langweilig! Oder sie fuhren mit dem Auto an die Küste, da war es zwar sehr schön, aber oft kalt und windig.

Dieses Jahr sagte Papa, hätten sie etwas Besonderes verdient: Sie flogen mit einem großen Flugzeug in den Süden auf eine exotische Insel, weit, weit weg von zu Hause.

Kurze Zeit nachdem sie aus dem Flugzeug stiegen, sahen sie schon eine weitere, kleinere Insel. Sie gelangten mit einem alten Schiff dorthin, das einmal am Tag Menschen mit Körben voller Früchte, Käfigen mit Hühnern und vielen anderen Waren mitnahm.

Anders als zu Hause war es auf der schönen kleinen Insel immer warm. Ein leichter, sanfter Wind wehte durch hohe Palmen, die in dem weißen Sand zwischen den einzelnen Felsen wuchsen.

Hier gab es nie Langeweile: Den ganzen Tag baute Marco Sandburgen oder auch Städte aus Sand. Oder er tauchte mit seiner Taucherbrille an den Felsen entlang, wo sich seltsame, bunte Fische zwischen farbigen Korallen vor ihm verstecken wollten.

Papa fuhr manchmal zusammen mit ihm in einem kleinen Paddelboot um die ganze Insel herum.

Manchmal paddelte Marco alleine, während seine Eltern am Strand in ihren Büchern schmökerten. Heute fuhr er ein wenig weiter auf das Meer hinaus, legte sich flach auf den Rücken ins Boot und genoss das sanfte Schaukeln auf den Wellen, die warme Sonne, die ihm ins Gesicht schien.

Nach einer Weile richtete er sich wieder auf. Oh je, er war schon weit aus der Bucht heraus getrieben. Mama und Papa konnte er nur noch als winzige Punkte unter den Palmen erkennen.

Er merkte, dass die Strömung ihn vom Ufer wegzog und rief so laut er konnte: „Mamaaa!! Papaaa!!“, aber seine Stimme schien ganz einfach vom Wind verschluckt zu werden. Niemand hörte ihn, niemand kam ihm zu Hilfe.

Verzweifelt versuchte Marco mit Leibeskräften, in die Bucht zu den Eltern zurück zu rudern, aber die Strömung hier draußen war viel zu stark für ihn. So wurde er immer weiter fortgetrieben, während seine Eltern nichts ahnend im Schatten der Palmen ruhten.

Anfangs versuchte Marco noch, gegen die Wellen anzukämpfen.

Aber schon bald verließen ihn seine Kräfte.

„Was soll ich nur tun?“, fragte er sich matt, und kauerte sich weinend auf den Boden des kleinen Bootes.

Stunden vergingen, schließlich wurde es Nacht, Marco fror fürchterlich, außerdem war er hungrig und durstig.

Er war beunruhigt durch die ungewohnten Geräusche, die aus dem Dunkel kamen, aber irgendwann fiel Marco in einen unruhigen Schlaf.

Als er erwachte, war es wieder hell. Er bemerkte sofort, dass das Schaukeln aufgehört hatte. Marco schaute vorsichtig über den Rand des Bootes. War er froh: Er war wieder an den Strand getrieben worden!

Nur - auf welcher Seite der Insel befand er sich? Alles sah so fremd aus, kannte er doch von seinen Ausflügen mit seinem Vater jede Bucht und jeden Hügel an der Küste der kleinen Insel.

Hier aber umrahmten rote Felsen einen breiten, schwarzen Sandstrand. Überall gab es seltsame Bäume, deren Blätter wie lange, silbrige Fäden zum Boden herabhingen.

Große, bunte, Papageien mit langen, gelb-grünen Schnäbeln saßen darin und machten ziemlich viel Krach. Solch eine Bucht hatte er noch nie gesehen.

„Bin ich vielleicht auf einer anderen Insel gestrandet?“, fragte er sich. Das konnte nicht sein. Außer der kleinen Insel, auf der er mit Papa und Mama im Urlaub war und der Insel, auf der sich der Flughafen befand, sollte es hier weit und breit keine andere Insel geben.

„Vielleicht kann ich ja mehr erkennen, wenn ich aus der Bucht klettere“, dachte er.

Mühsam zog Marco das Boot auf den Sand und band es vorsichtshalber auch noch an einem nahen Felsen fest. Dann suchte er nach einem Fußweg aus dieser Bucht hinaus. Er musste bald feststellen, dass rund um die Bucht ein undurchdringliches, stacheliges Dickicht wuchs. „Aber irgendwie muss es doch einen Weg geben“, dachte Marco.

Er schob das Boot wieder ins Wasser und paddelte vorsichtig um die nächste Landzunge herum. Diesmal gab er Acht, dass er nicht wieder zu weit auf das Meer hinaus geriet.

In der nächsten Bucht waren weder Strand noch Pflanzen. Es gab nur hohe, steile Felsen zu sehen, an denen sich die Wellen brachen. Nur an einer Stelle hinter einem großen Felsbrocken schien das Wasser etwas ruhiger zu sein.

Neugierig steuerte Marco um diesen Felsen herum und erblickte eine kleine Höhle in der Felswand. „Das hilft mir auch nicht“, stellte Marco fest und wollte wieder aus der Bucht heraus rudern.

Da sah er einen hellen Schimmer auf dem Wasser in der Höhle. Vorsichtig paddelte er hinein. Hier war das Wasser sehr ruhig, es gab kaum Wellen.

Das Innere der Höhle war gewaltig: Es kam Marco vor wie in einer riesigen Kathedrale. Weit hinten war ein Loch, durch das bläuliches Tageslicht in die Höhle strömte und bunte Muster auf dem Grund des Wassers leuchten ließ.

Marco hatte Angst, als er an all die Meeresungeheuer, die hier leben könnten, dachte. Aber er war auch zu neugierig, und so paddelte er weiter in die Höhle.

Bald war eine weitere Öffnung zu sehen, Marco fuhr hinein, wobei dieser Höhleneingang so niedrig war, dass er sich ins Boot kauern musste. Aber auch hier sah er einen Lichtschimmer am Ende des Tunnels. Die Höhle, in die Marco jetzt mit seinem Boot hinein glitt, schien noch viel größer als die erste. Und rundherum glaubte er unzählige weitere kleine Höhlen und Nischen zu sehen. Staunend hielt er die Paddel still, bis nur noch das Glucksen der Wellen unter dem Boot zu vernehmen war.

Plötzlich hörte Marco ein Geräusch. Er drehte sich um und erblickte im Halbdunkel Hunderte von Speerspitzen, die kleine, dunkelhäutige Menschen auf ihn richteten. Er zuckte zusammen und warf sich instinktiv flach auf den Boden des Bootes. Wie hilflos kam er sich jetzt vor. Wäre nur sein Papa hier. Er lugte vorsichtig über den Rand des Bootes und sah, wie eines dieser seltsamen Wesen, eine Frau mit langem, zotteligem Haar, etwas zu den anderen sagte, worauf alle die Speere sinken ließen. Einige sprangen ins Wasser und bewegten sich auf Marco zu. Er wunderte sich noch, wie schnell sie bei seinem Boot waren, als sie ihn und das Boot bereits in eine kleine Bucht schoben.

Da sah er erstaunt den Grund für dieses enorme Tempo: Zwischen Fingern und Zehen wuchsen diesen Menschen Häute wie bei einem Frosch! Ihre Augen wirkten glasig. Die Eine, die die Anführerin zu sein schien, bat ihn mit einer glucksenden Stimme, doch zu ihnen zu kommen. Marco folgte ihr zögernd, während ein paar dieser Wassermenschen sein Boot festmachten.

Marco wagte es endlich, seinen Mund aufzumachen: „Wer seid ihr? Und wo bin ich?“, fragte er schüchtern. „Du bist auf der Insel Takhiri“, gluckste die Frau. Ihre Stimme klang, als würde sie unter Wasser sprechen. Lächelnd fuhr sie fort „Ich bin Kacheba. Komm, ich zeige dir unser Dorf. Du hast sicher Hunger!“

Sie geleitete Marco in eine flache, weitläufige Höhle. In vielen Nischen am Ende der Höhle war getrockneter Seetang zu Nestern geformt. Aus manchen schauten die ungläubigen, glasigen Augen von Wasserkindern. Die Mitte der Höhle war wie ein flacher Kegel, und helles Licht fiel dort durch ein Loch in der Höhlendecke. Unter dieser Öffnung lagen die unterschiedlichsten Fische auf einer Art Grill, und es gab Schalen mit buntem Obst, wie Marco es noch nie gesehen hatte. Marco war sehr hungrig. Er genoss die seltsamen Speisen, die die

Wassermenschen ihm freundlich reichten. Bald fühlte er sich sehr viel wohler.

Kacheba fragte „Wer bist du, und woher kommst du?“ - „Marco heiße ich“, antwortete er, „ich komme aus Österreich, das ist weit weg von hier. Ich mache mit meinen Eltern Urlaub auf einer Insel.“ - „Urlaub - was ist das?“, wollte Kacheba wissen. „Meine Eltern arbeiten sehr viel. Daher machen sie einmal im Jahr eine Pause. Dann setzen wir uns in ein Auto oder Flugzeug, um uns woanders zu erholen“, erklärte Marco. Kacheba wunderte sich: „Flugzeuge - das müssen dann die großen, lauten Vögel sein, die es zu Zeiten unserer Großeltern noch nicht gab. Und da sitzen Menschen drin?“ - „Ja klar!“, sagte Marco, „Und so sind auch wir hierher geflogen. Ich möchte gerne zu meinen Eltern zurück. Sie machen sich bestimmt schon Sorgen.“ Marco spürte, wie ihm die Tränen in den Augen standen.

Kacheba meinte nachdenklich: „Dann sind deine Eltern wohl auf dem Land, das wir Guchikla nennen. Die meisten von uns glaubten, diese Insel sei eine Erfindung der Alten. Da hatte mein Großvater doch Recht, als er sagte, es müsse sie geben!“

Dieser Gedanke schien ihr zu gefallen. „Unser Volk lebt seit vielen Generationen in dieser Höhlenwelt. Seit Piraten uns überfielen, ausraubten und gefangen nahmen. Lange Zeit wagten wir uns nur abends zum Fischen auf das Meer.“

Marco fragte „Wie komme ich denn zu meinen Eltern zurück?“ Kacheba sprach kurz mit einigen der Wassermenschen. Einige zögerten, aber andere nickten fröhlich. „Wir werden dich nach Guchikla bringen. Mein Großvater erzählte, seine Eltern hätten ihm immer eingeschärft, dass es eine fruchtbare Insel gäbe. Man könne sie finden, indem man am frühen Morgen immer in Richtung der aufgehenden Sonne fährt.“ Marco war erleichtert: „Das wollt ihr wirklich für mich tun?“. Kacheba blickte versonnen in die Glut unter dem Grill. „Nun, eigentlich wollte ich immer schon einmal wissen, ob es Guchikla wirklich gibt. Lass’ uns jetzt ruhen, es ist bald Abend, und wir werden noch vor Sonnenaufgang aufbrechen.“

Sie zeigte Marco den Weg zu einem der Nester. Er sah, dass sich einige Wasserkinder hineinkuschelten. Kacheba stellte vor: „Das sind die Kinder meines Bruders. Mach es dir bequem!“, und Marco lächelte sie ein wenig verlegen an. Die Kinder kicherten leise und machten dann bereitwillig Platz für den sonderbaren Gast.

Marco schlief dort tief und fest, und am frühen Morgen setzte er sich zusammen mit neun Männern und Frauen in ein großes Boot, das aus drei ausgehöhlten Baumstämmen gefertigt war: Vorne waren zwei große, mit Holzstreben verbundene Stämme, in denen er mit Kacheba und den anderen Wassermenschen saß, und hinten in der Mitte befand sich ein kleiner Holzstamm.

Sein eigenes Boot konnte Marco nun nicht mitnehmen. Daher schenkte er es den Kindern von Kachebas Bruder, die sich freuten, nun ein eigenes Boot zu haben. Die Wasserkinder standen und saßen am Rand der großen Höhle und winkten mit beiden Armen, als das Boot unter der Anweisung von Kacheba ins Sonnenlicht gesteuert wurde.