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Mara Lang

Der Atem des Lichts

Roman

Impressum

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das Recht der mechanischen, elektronischen oder fotografischen Vervielfältigung, der Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, des Nachdrucks in Zeitschriften oder Zeitungen, des öffentlichen Vortrags, der Verfilmung oder Dramatisierung, der Übertragung durch Rundfunk, Fernsehen oder Video, auch einzelner Text- und Bildteile.

 

Alle Akteure des Romans sind fiktiv, Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen wären rein zufällig und sind von der Autorin nicht beabsichtigt.

 

Copyright © 2020 bei Drachenstern Verlag, ein Imprint von Bookspot Verlag GmbH, Planegg

1. Auflage

 

Lektorat: Catherine Beck

Korrektorat: Andreas März

Satz/Layout: Martina Stolzmann

Covergestaltung: Nele Schütz Design, München

Karte: Michael Makarewicz

E-Book: Mirjam Hecht

 

Druck: CPI – Clausen & Bosse, Leck

Made in Germany

ISBN 978-3-95669-123-2

www.bookspot.de

Inhalt

Impressum

Inhalt

Was bisher geschah

Teil I: Liebe

1

2

3

4

5

6

Teil II: Licht

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Teil III: Freiheit

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20

Dramatis Personae

Karte

Nachwort und Dank

Über die Autorin

Weitere Titel im Verlag

Leseprobe: Mara Lang – Das Juwel der Finsternis

1

Dorothea Bruszies: Fjorgaar – Der rote Vogel

Was bisher geschah

Die Guénnelande. Seit ewigen Zeiten kämpfen Atrouner, Bengiren und Shedis um die Vorherrschaft. Während die Atrouner nur über wenige und die Bengiren über keine Magiebegabte verfügen, sind die Shedis ein Volk der Gedankenformer und zum Erhalt ihrer Gabe vom Sonnenlicht abhängig.

Einst vom Atrounerkönig Orvhin und der Hexe Siladin mit Hilfe der magischen Zorkatkristalle versklavt, setzen die Shedis unter Führung ihrer Clanmutter Jora alles daran, ihre Freiheit und ihr Land zurückzugewinnen, und schrecken weder vor Attentaten auf das atrounische Königshaus noch vor einem Pakt mit den Bengiren zurück. Krieg heißt ihre Devise, und gemeinsam mit ihrem Bündnispartner wollen sie die Atrouner endgültig vernichten.

Die Shedisklavin Kea, durch einen Blutschwur an den Rebellen Nakush gebunden, der ihr versprochen hat, sie zur Braut zu nehmen, wird als Gedankenformerin in die Dienste des atrounischen Königshauses gestellt und dort ausgebildet. Kronprinz Zadjan, der zugunsten seines Bruders Casson auf den Thron verzichten will, ist von der jungen Frau fasziniert und will Kea für sich gewinnen. Und obwohl ihr Herz Nakush gehört, empfindet auch sie bald mehr für ihn. Doch dann gerät Zadjan in den Bann einer Hexe, und sein Wunsch, König zu werden, erwacht. Auf einer Reise zu Friedensverhandlungen mit den Bengiren, bei der Kea die Gedanken der Verhandlungspartner manipulieren soll, wird der Atrounertrupp von Shedirebellen angegriffen und muss die Ausweichroute durch die Schweigenden Wälder nehmen, einem Magischen Feld voller Gefahren, wo Zadjan, Kea und der Begabte Gilreth vom Rest des Trupps getrennt werden. Auf sich gestellt versuchen sie, rechtzeitig zum vereinbarten Termin mit den Bengiren einzutreffen – und Kea wird sich zwischen Krieg und Frieden, zwischen ihrer Liebe und ihrem Volk entscheiden müssen, nicht ahnend, dass ihr Sonnenblut für die Shedis von größtem Interesse ist.

Teil I: Liebe

Was ist Liebe,

wenn nicht ein unbeantwortetes Sehnen?

Ein Kreisen um Bangigkeiten.

Ein Hoffen und Warten,

ein Scheitern und Zweifeln.

Das ist Liebe,

dieses entsetzlich zermürbende Rätselraten.

 

Was ist Liebe,

wenn nicht ein federndes Entzücken?

Ein Rasen im Herzen.

Ein Locken und Schenken,

ein Vertrauen und Beflügeln.

Das ist Liebe,

dieses unfassbar beglückende Aneinanderdenken.

1

Esnaikhir, 16. kal. augusti anno 1691

Als ich ihr von Yessins Friedensplänen für die Guénnelande erzählt habe, hat sie gelacht. Er sei ein Narr. Es werde Zeit, dass ein fähiger König an die Macht komme.

Kea erwachte von irritierender Stille. Atemzüge streiften ihre Stirn, warm und süß. Fachten ihren Herzschlag an und ließen die Ereignisse der vergangenen Tage wieder in ihr aufleben: Der Anschlag der Shedirebellen auf die Kjadrophbrücke. Ihr Ritt durch die Schweigenden Wälder, der so vielen Kriegern das Leben gekostet hatte und um ein Haar auch Prinz Casson. Die Kettenbrücke und die Sekunden, als sie selbst zwischen Leben und Tod an nur einer Hand über der Schlucht hing. Zadjans Kampf gegen die Magie, von der sie beinahe alle vernichtet worden wären.

Kea riss die Augen auf. Sonne, sie lag Seite an Seite mit Zadjan qel Rasuth auf den Decken, ihr Gesicht seinem zugewandt. Er war wach. Ein Lächeln glitt über seine Lippen, und ihr wurde klar, dass er sie im Schlaf beobachtet hatte. Sie sah sich um. Gilreth? Nein, bis auf Fé waren sie allein im Zelt. Hastig rappelte sie sich auf.

»Bleib«, flüsterte Zadjan. »Bitte, Kea.«

Seine Hand auf ihrer Schulter war von angenehmer Schwere. Mehr brauchte es nicht, sie zu überreden. Sie ließ sich zurücksinken. Studierte im flackernden Schein der Kerzen seine Züge und befand, dass er den Schlaf weit dringender nötig hatte als sie. Ständig blinzelte er dagegen an. Hielt die Lider krampfhaft offen und erwiderte ihren Blick.

»Wir sollten wirklich schlafen«, meinte sie. »Du hier und ich draußen bei den anderen. Gilreth und Mayuri werden …«

»Ich weiß, was du für mich getan hast.«

Beklemmung setzte sich in ihrer Kehle fest. »Zadjan …«

»Es war nicht so, dass ich deine – wie nennst du das? Funken? – erkannt hätte, aber aus irgendeinem Grund wusste ich, dass du es warst. In meinem Kopf.«

Seine Stirn wirkte direkt leer ohne Zorkat. Als fehlte ein Schmuckstück, das zu ihm gehörte wie … wie der Goldschimmer in seinen Augen. Wie dieses Zucken der Unsicherheit um seine Mundwinkel. Oder die Bitterkeit, die manchmal seine Stimme färbte. Eigenschaften, die ihr allesamt so vertraut waren, dass es sie zutiefst verstörte. Sie durchstöberte ihr Gedächtnis nach Nakushs Gesicht, doch es blieb blass und unbedeutend im Vergleich zu Zadjans. Nein! Wie hatte das passieren können? Sie war doch nicht … sie hatte sich doch nicht … sie wollte ja gar nicht … Das Hämmern ihres Herzens bewies das Gegenteil.

Sie hatte sich in ihn verliebt.

Sonne, Kea! War das nötig? Du und er – daraus kann nichts werden. König oder nicht, zwischen euch liegen Welten.

»Tut mir leid, es ging nicht anders«, murmelte sie, bestürzt von ihrer Erkenntnis. »Ich musste diese Funken setzen. Die Magie hätte dich vernichtet.«

»Nicht doch, mach dir keine Vorwürfe. Ohne dich wäre ich …« Er sprach es nicht aus. »Als Kind hatte ich Angst davor, dass ein Shedi in meine Gedanken eindringt. Ich wollte immer den größten Zorkat zum Schutz haben.« Er lächelte. »Doch vorhin war ich froh, dich in meinen Gedanken zu wissen. Deine Funken waren wie ein warmes Licht. Du hast mich zurückgeholt. Danke!«

»Vermutlich braust der Fluss immer noch durch deinen Schädel.« Großartig! Dämlicheres fällt dir nicht ein? Verärgert über ihre unsensible Antwort biss sie sich auf die Lippen. Er offenbarte ihr seine Gefühle, und sie trampelte darauf herum. In ihrer Not suchte sie ihr Heil in einer unverfänglichen Bemerkung. »Gilreth sollte dir den Zorkat wieder anlegen.«

Verwirrenderweise ging er auch diesmal nicht darauf ein. »Ich konnte den Tod spüren, konnte spüren, dass ich … verging. Dass sich mein ganzes Selbst auflöste. Das war …« Er schluckte schwer. »Ich möchte das nicht noch einmal erleben. Aber in Nrachta … Wie soll ich denn bloß …?«

Es schmerzte sie, ihn so verzagt zu sehen. »Das wirst du nicht«, versicherte sie ihm. »Du hast doch gehört, dass dieser Hexer, Taliesh-Nil, die Magie in der ganzen Stadt im Zaum hält. Sie wird dich kaum beeinträchtigen … und im Zweifelsfall spülst du sie in den Abtritt.« Nun reicht es aber wirklich, Kea! Schuldbewusst rieb sie sich über die Stirn. Musste sie immer alles ins Lächerliche ziehen, wenn sie verlegen war?

Zadjan stieß ein Stöhnen aus. »Ich muss diese Glyphe loswerden. Ich kann und will Siladin nicht dienen.« Angeekelt verzog er das Gesicht. »Auf welche Art auch immer.«

»Du glaubst mir also?«

»Ja. Alles passt zusammen. Siladins Pakt mit Orvhin, sein Verrat, ihre Rückkehr und der Wunsch, durch mich an die Macht zu gelangen. Egal wie oft ich die Geschichte auseinanderpflücke und wieder zusammensetze – ich komme jedes Mal zu dem Schluss, dass sie es sein muss, die mich manipuliert. Dieser Wunsch nach dem Thron fühlt sich so falsch an. Und gleichzeitig auch richtig. Als würden zwei Seelen in meinem Inneren streiten. Manchmal sage ich Dinge, die ich gar nicht aussprechen will. Ich wehre mich mit aller Kraft, doch die Worte drängen von selbst aus mir heraus. Hinterher mache ich mir Vorwürfe, will mich entschuldigen, alles zurücknehmen, aber ich … kann nicht.« Seine Stimme splitterte. »Ich kann es einfach nicht«, wiederholte er flüsternd. »Gestirne, Casson muss mich hassen.«

Das Bedürfnis, ihn zu trösten, seine Schulter zu streicheln, ihn zu umarmen, flammte in Kea auf. Sie krallte die Finger in die Decke. »Er wird einsehen, dass du keine Schuld trägst, bestimmt. Immerhin hast du ihm mehrmals das Leben gerettet. Das … warst doch du, oder? Nicht sie?«

Zadjan zog die Brauen zusammen. »Ich denke schon. Es hat mich eine Menge gekostet, das zu tun, was ich für richtig hielt, was ich wollte.« Er seufzte. »Casson schlittert gern ins Unglück. Schon als wir noch Kinder waren, ist er ständig in Gefahr geraten. Fiel in einen Brunnen und wäre fast ertrunken. Schlitzte sich den Arm an einer Scherbe auf. Ist auf den Treppen gestürzt … Seltsam eigentlich, wie ein böser Fluch, der auf ihm lastet. Dann die Geschichte mit dem Pferd …«

»Sein Knie?«

Zadjan nickte. »Wäre ich nicht gewesen, hätte ihn das Vieh glatt zertrampelt. Anfangs war es ungewiss, ob Gilreth sein Bein würde retten können. Es stand wirklich schlimm um Casson. Meine Mutter gab mir die Schuld. Sie behauptete, ich wolle meinen Bruder töten. Dabei war er es, der mir in einem fort hinterherstapfte. Ich konnte keinen Schritt ohne ihn tun und durfte ihn auch noch regelmäßig aus dem Dreck fischen.«

»Hast du nicht versucht, der Königin all das zu erklären?«

»Doch, natürlich. Aber meine Beteuerungen nutzten nichts, sie blieb unerbittlich. Zur Strafe erhielt ich zwanzig Stockschläge und eine Woche lang kein Essen, nur Wasser. Ich war sechs Jahre alt und habe die Welt nicht mehr verstanden. Mutter hat Casson eingeredet, dass ich den Unfall verschuldet hätte. Ich durfte ihn nicht mehr sehen, konnte mich nicht vor ihm rechtfertigen. Sie hat uns regelrecht entfremdet. Ich glaube, das war die Zeit, in der ich angefangen habe, sie zu hassen.«

»Konntest du deinen Bruder denn nicht heimlich treffen?«, fragte Kea ungläubig. »Esnaikhir ist riesig …«

»Sie hat mich einsperren lassen. Nicht über Wochen oder Monate, sondern über Jahre. Ich verbrachte meine Tage in der Bibliothek beim Unterricht mit Gilreth oder auf dem Zimmer und lernte. Selbst beim Kampftraining oder Reiten bewachten mich ständig Krieger. Ich weiß noch, wie ich Casson beobachtet habe, als er im Garten wieder gehen lernte. Ich sagte mir, dass ich meine Gefangenschaft nicht anders verdient hätte. Schließlich war er nun ein Krüppel. Mein Vater war mein einziger Halt. Leider hat er sich viel zu selten Zeit für mich genommen. Und in Mutters Erziehungsmaßnahmen mischte er sich erst recht nicht ein.«

Der Horror seiner Kindheit rumpelte über Kea hinweg, mit jedem seiner brüchigen Worte meinte sie, sein Leid tiefer in sich aufzunehmen. Das Bild von dem kleinen Jungen, verwirrt, verstoßen, so voller Einsamkeit, schnitt ihr tief ins Herz.

»Tja«, sagte Zadjan, sichtlich überwältigt von seinen Erinnerungen, »mit zwölf Jahren wusste ich alles, was nötig war, um ein Land zu regieren. Ich hätte glatt den Thron besteigen können.« Er lachte verächtlich. »Irgendwann wurde mir alles zu viel. Ich flüchtete in den Stall, zu den Pferden. Es hagelte Vorwürfe, Schläge, noch strengere Regeln, aber das kümmerte mich nicht. Ich blieb dem Unterricht immer öfter fern. Gilreth ließ nicht locker und bemühte sich weiter um mich. Er nahm mich mit in die Stadt, um mir Abwechslung zu bieten, und machte mich mit Devyani bekannt. Ihr konnte ich meine Sorgen anvertrauen, sie war die Einzige, die mich wirklich verstanden hat. Sie schenkte mir den kleinen Racker dort«, mit einem schwachen Lächeln wies er auf Fé, der sich noch mit keinem Mucks bemerkbar gemacht hatte, »und meinte, er würde in Zukunft auf mich aufpassen, sollte meine Mutter mir weiter Unrecht antun. Das war zwar Blödsinn, aber irgendwie hat es mich getröstet.«

Zadjan schloss die Augen. Erschöpft, wie es Kea schien. Gerade als sie meinte, er sei endlich eingeschlafen, sprach er weiter: »Als Vater starb, driftete ich endgültig ab. Ich hatte schon vorher getrunken, aber nie regelmäßig und nicht in diesen Mengen. Es war Flucht und Plan in einem. Ich dachte, wenn meine Mutter dahinterkommt, was ich so treibe, wird sie mich ganz bestimmt enterben. Damit wäre allen gedient gewesen. Ich verstehe bis heute nicht, weshalb die Rechnung nicht aufging. Ich konnte mich noch so danebenbenehmen – sie hielt daran fest, dass ich König werden sollte. Selbst nach dieser Gewitternacht in Vachuk …« Er unterbrach sich und sah sie an. Ein Blick, so verwirrend sanft, dass Kea sich unweigerlich darin verlor. Die Bilder, die seine Kindheitserinnerungen in ihr heraufbeschworen hatten, all die neuen Erkenntnisse über Tabanya, Gilreth und Devyani zerstoben, als sie an ihren Kuss im Schafstall vor den Toren Vachuks denken musste. In ihrem Kopf war nur noch Wärme, die flatternde Ahnung von Zärtlichkeit. Zuneigung. Konnte man Gefühle denken?

Mit Mühe formulierte sie eine Frage und erschrak selbst über ihre heisere Stimme. »Warum hast du mich aus dem Turm geholt, Zadjan?« Gegen den Willen der Königin, die Kea vermutlich mit Freuden im Kerker verrecken gesehen hätte.

»Sag du es mir.«

»Du musst doch gewusst haben, dass sie dich damit erpressen würde …«

In seinem Schweigen lagen alle Antworten. Sie wusste, er wartete nur darauf, dass sie eine davon aussprach. Nur eine. Sie tat es nicht. Die Kluft zwischen ihnen war zu groß. Und eines hatte sie in den letzten Tagen gelernt: Keine der Brücken würde auf Dauer halten. Sie waren eben nicht für die Ewigkeit gemacht.

*

Der nächste Tag brachte stürmisches Regenwetter. Es war nicht kalt, doch der Wind peitschte unangenehm über das Land, und die Nässe kroch rasch unter die Kleidung. Zadjan, der immer noch aussah wie der leibhaftige Tod, hatte darauf bestanden zu reiten, und so kamen sie gut voran. Zumeist jagten sie abseits der Straßen über die Wiesen, immer gen Norden Richtung Nrachta. Ab und zu jedoch mussten sie durch besiedeltes Gebiet reiten. Zadjan nahm keinerlei Rücksicht und schickte ihren kleinen Trupp in gestrecktem Galopp mitten durch Felder oder Dörfer. Einmal stellten sich ihnen Männer mit erhobenen Armen in den Weg, aber als sie der königlichen Farben ansichtig wurden, sprangen sie mit etlichen Verbeugungen zur Seite. Trotz ihres scharfen Ritts schien ihnen die Zeit davonzulaufen. Die Verhandlungen in Nrachta waren zur zwölften Stunde des folgenden Tags anberaumt. Die Gestirne allein wussten, ob sie pünktlich dort eintreffen würden.

Bei Einbruch der Dunkelheit fanden sie in einem Wald unter dem ausladenden Schirm einer Steineibe einen geschützten Lagerplatz für die Nacht. Der Regen hatte nachgelassen, nur der Wind fuhr kräftig durch die Baumkronen und entlockte ihnen ein beständiges Rauschen. Sobald das Zelt aufgestellt war, zog sich Zadjan zum Schlafen zurück. Fé hingegen trieb der Hunger hinauf ins Geäst, wo zwischen den nadelförmigen Blättern ganze Trauben roter Beeren leuchteten. Er würde die Nacht über beschäftigt sein. Auch Keas Magen rumorte. Die halb verfaulten Goldaprikosen, die Fé bei der Mittagsrast angeschleppt hatte, hatten nicht sonderlich viel hergegeben. Nach geraumer Zeit brachten die Krieger ein junges Kitz, eine bescheidene Jagdbeute, die über dem mickrigen Feuer auch nicht richtig gar werden wollte.

»Elio, bring Prinz Zadjan seinen Anteil ins Zelt«, befahl Gilreth, als alle ihre Mahlzeit beendet hatten. »Wenn er aufwacht, muss er unbedingt etwas essen.«

Elio verfiel. Er hatte von Zadjans Schlag, den der ihm im Zuge seiner Raserei unter dem Einfluss der Magie verabreicht hatte, eine Blessur am Jochbein davongetragen und sich von seinem Schock noch nicht erholt. Gerade wollte er mit zittrigen Fingern nach dem Stein greifen, auf dem die Portion Fleisch lag, da kam Kea ihm zuvor. »Bleib sitzen, Elio. Ich gehe.«

Gilreth bedachte sie mit einem vorwurfsvollen Blick. »Was soll das, Kea? Ich habe ihn beauftragt, nicht dich.«

Sie überlegte, ob er mitbekommen hatte, dass sie letzte Nacht in Zadjans Zelt eingeschlafen war und sich erst im Morgengrauen ins Freie gestohlen hatte. Dann entschied sie, dass ihr das herzlich egal war. »Er hat Angst vor Prinz Zadjan. Das könnt Ihr ihm doch nicht verdenken.«

»Er muss lernen, auch mit solchen Situationen umzugehen.«

»Mag sein, aber nicht heute. Er ist müde und verwirrt. Womöglich lässt er das Fleisch noch fallen. Könnt Ihr garantieren, dass Seine Hoheit nicht noch einmal ausrastet?« Sie schob ein bissiges »Herr?« nach und beobachtete mit diebischer Freude, wie sich Gilreths Augen verengten.

Für einen Moment kaute er sichtlich an ihrer Entgegnung. Dann drückte er ihr die Wasserflasche in die Hand. »Sieh zu, dass er viel trinkt.«

Verwundert, dass sich Gilreth von ihr einschüchtern ließ, nickte sie knapp und verließ den Kreis am Feuer.

Heute brannten keine Kerzen im Zelt. Als die Plane hinter ihr zufiel, stand sie im Finstern. Schritt für Schritt tastete sie sich vorwärts – und stolperte über Zadjans Waffengurt, der mitten im Weg lag. Ihr gezischter Fluch mischte sich unter das Klirren, beinahe wäre sie gestürzt. Das Fleisch segelte davon. Im nächsten Moment griff ihr eine Hand stützend unter den Arm.

»Wirfst du absichtlich mit Essen um dich?«, fragte Zadjan und schwenkte das Stück Fleisch vor ihrer Nase.

»Prüfung bestanden. Du bist ausgesprochen reaktionsschnell.«

»Ich trainiere ja auch täglich. Allerdings nicht mit Dingen, die für meinen Magen bestimmt sind.«

Die gespielte Ernsthaftigkeit in seiner Stimme brachte ihr Herz zum Flattern. »Gut zu wissen. Dann werde ich das nächste Mal einen Stiefel nach dir werfen.«

»Besser einen Stiefel als eine Uaja-Flasche.«

Kea musste schmunzeln. Zadjan war stets schlagfertig genug, in ihre spitzen Bemerkungen einzuhaken, und ehe sie sichs versah, scherzten sie miteinander. Sie kam nicht umhin, zuzugeben, wie sehr sie das genoss. Nakush war in dieser Hinsicht fantasielos, er nahm alles viel zu persönlich.

Zadjan schob den Waffengurt beiseite, schien aber nicht gewillt, sie wieder loszulassen. Seufzend ließ sie sich ein Stück führen, bis er ihr mit sanftem Druck auf die Schulter bedeutete, sich zu setzen.

»Ich wollte dir nur Fleisch und Wasser bringen«, protestierte sie. »Von Bleiben war nicht die Rede.«

»Dann ist es das jetzt. Bitte leiste mir Gesellschaft.«

»Na schön. Aber nur kurz.«

»Nur kurz«, stimmte er zu.

Sie nahm mit gekreuzten Beinen auf seinem Lager Platz. Langsam gewöhnten sich ihre Augen an die Dunkelheit und sie konnte Zadjans Silhouette direkt vor ihr ausmachen.

»Was ist das? Stinktier? Schmeckt abscheulich«, stellte er nach einigen Bissen fest.

»Anspruchsvoll, Eure Hoheit?«, gab sie belustigt zurück.

»Und wie. Hast du etwas von Wasser gesagt?«

»Habe ich.« Sie hielt ihm die Flasche vor die Brust. »Austrinken, Befehl von Gilreth.«

Als er mit dem Essen fertig war, wollte sie gehen, doch er hielt sie erneut zurück. »Wir müssen über die Verhandlungen sprechen.«

Wird auch allmählich Zeit. Sie gab sich erstaunt. »Müssen wir das?«

Zadjan holte hörbar Luft. »Ich bin auf deine Hilfe angewiesen. Allein schaffe ich es nicht.«

»Ich bin nur die Sklavin, ich tue, was man mir befiehlt.«

»Nein, das bist du nicht. Nicht für mich.«

Sie stieß ein abfälliges Lachen aus.

»Kea, lass mich erklären. Der Friedensvertrag beinhaltet Maßnahmen, die alle Völker der Guénnelande betreffen, auch die Shedis. Unter anderem sieht er die Amnestie aller Sklaven vor …«

»Amnestie?« Das kam einer Verhöhnung gleich. Auch wenn er sich noch so sehr von seiner Familie distanzierte – in seinen Formulierungen schlug der Atrounerprinz in ihm immer wieder durch. »Welches Verbrechen haben wir begangen, dass Ihr uns Amnestie gewährt, Hoheit? Etwa Völkermord?«

Zadjan räusperte sich. »Ich habe mich falsch ausgedrückt. Die Sklaverei wird abgeschafft, alle Shedis sollen die Freiheit erhalten. Sobald wir uns mit den Bengiren geeinigt haben, laden wir die Shedirebellen zu Gesprächen. Wir wollen auch mit ihnen eine friedliche Übereinkunft finden.«

»Das klingt zu schön, um wahr zu sein.«

»Ich schwöre dir, es ist wahr. Casson und ich sind einer Meinung. Ausnahmsweise.«

»Und Tabanya?« Kea hatte nicht vergessen, wie sehr die Königin die Shedis verabscheute, insbesondere sie.

»Sie wird sich den Wünschen des neuen Königs fügen.«

»Was ist mit Siladin? Bestimmt hat sie nicht das geringste Interesse an einer Begnadigung der Shedis. Was, wenn sie dich weiterhin beherrscht? Oder … sich deiner entledigt, wenn du deine Aufgabe erfüllt hast?« Der Gedanke war unvermittelt aufgetaucht und beunruhigte sie zutiefst. Schaudernd rieb sie sich die Oberarme.

Von Zadjan kam ein Schlucken, ehe er antwortete: »Ich werde Taliesh-Nil aufsuchen und ihn bitten, die Glyphe zu entfernen. Aber vorher muss ich die Verhandlungen führen. Und dabei brauche ich deine Hilfe.« Als sie abwartend schwieg, sprach er weiter: »Du musst … Nein, ich bitte dich, in König Velvins Geist einzudringen. Bringe ihn dazu, dass er den Friedensvertrag unterzeichnet. Doch er darf keinesfalls etwas davon merken. Er muss aus eigenem Antrieb handeln.«

»Das ist Betrug«, sagte Kea.

»Gibt es eine Alternative? Ein Krieg würde alle Völker ins Verderben stürzen. Willst du das?«

Die Rebellen hätten sich für diesen Krieg ausgesprochen. Aber sie? Niemals. Ein Krieg brachte nur Tod und Leid. »Nein.«

»Siehst du. Wir haben nur diese eine Chance. Wir – du und ich, Atrouner und Shedi.« Er fasste nach ihrer Hand. »Bitte. Hilf mit, diesen Krieg zu verhindern. Wenn du es schon nicht für mich tun willst, dann tue es für dein Volk.«

Zadjans Absichten waren redlich, davon war sie überzeugt. Die Unsicherheitsfaktoren waren Tabanya und Siladin. Zu einem gewissen Teil auch sie selbst. Was, wenn es ihr nicht gelang, den Geist des Bengirenkönigs zu beeinflussen? Sie wusste nichts über Velvin, und allzu viel Zeit, um seinen Charakter zu ergründen, wie Gilreth es damals im Turm umschrieben hatte, würde ihr nicht bleiben. Ihr Scheitern würde mit ziemlicher Sicherheit eine Katastrophe nach sich ziehen. Sollte sie König Velvin allerdings zum Umdenken bewegen können, würde sie Frieden für die Guénnelande erwirken. Ihr Volk befreien. War dies nicht jedes Risiko wert?

»Also gut, Zadjan. Ich werde mein Bestes geben. Aber versprechen kann ich nichts, das Ganze kann auch ordentlich danebengehen.«

»Danke. Das bedeutet mir sehr viel.«

Kea schluckte. »War’s das?«

Als Antwort ließ er ihre Hand los. Ein Gefühl des Verlusts durchströmte sie, so überraschend, dass ihr ein Seufzen entwich. Sie spürte der fehlenden Wärme nach, dem Händedruck, der ihr Geborgenheit vermittelt hatte, Freundschaft und so viel mehr. Fand Zadjans Knie, hörte ihn scharf Luft holen, als sie sich höher tastete, hinauf zu seinem Gesicht. Bartstoppeln schabten über ihren Handrücken. Sie lächelte.

Du törichtes Sonnenblut, was treibst du da?, mahnte ihre innere Stimme. Sie ignorierte sie, konzentrierte sich ganz bewusst auf ihre Empfindungen. Es war ohnehin zu spät, sie konnte sich nicht länger beherrschen, wollte auch gar nicht. Wollte die Vernunft ausschalten. Genau jetzt. Nur jetzt, nur für diesen Moment.

Mit bebenden Fingern erforschte sie, was die Dunkelheit vor ihr verbarg. Seine zusammengezogenen Brauen. Das Zucken um seine Mundwinkel. Das Pochen an seiner Kehle, als sie ihn mit dem Daumen streifte – schnell, fiebrig, ein Puls, der mit ihrem um die Wette raste.

Ihren gehauchten Namen.

»Sch«, machte sie. »Nicht.«

»Du weißt, was du da tust?«

Sie beugte sich vor, bis sie in seinen Atem eintauchte. So verharrte sie, dicht vor seinen Lippen, kostete, schmeckte, atmete … ihn. Nur jetzt …

Als er sie küsste, jagte Hitze durch ihren Körper. Dann lag sie in seinen Armen.

Hände, die sie streichelten, zaghaft zuerst, immer noch ungläubig, nach und nach entschlossener. Verlangend. Dabei immer zärtlich.

Sie erwiderte seine Berührungen, fuhr unter sein Hemd, zeichnete Muskelstränge nach, dort, wo sie die Glyphe wusste, merkte, wie er erschauerte. Irgendwann streifte sie den hinderlichen Stoff über seinen Kopf. Er lachte leise, als sie sich an seiner Hose zu schaffen machte, als sie sich weiter vorwagte. Neu, verwirrend, drängend unter ihren Fingern. Die gesetzte Frist eines Augenblicks verlor an Bedeutung. Mehr, bettelte ihr Herz. Nicht nachdenken, nur fühlen.

Zadjan merkte an, dass er ihr versprochen habe, sie nicht noch einmal zu belästigen.

»Wer belästigt hier wen?«, gab sie zurück und verriegelte sämtliche Türen zu ihrem Verstand. Sie wollte die Einwände nicht beachten, die hartnäckig an ihren Gedanken ziepten, und schon gar nicht den Namen, der für den Bruchteil einer Sekunde in ihr aufzuckte. Nichts sollte sie mehr stören. Gar nichts.

Sie schlüpfte aus ihrer Kleidung, zog seine Hand an ihre Brust, weil sie seine Haut auf ihrer spüren wollte, hörte ihn noch einmal verwundert ausatmen, im nächsten Moment bettete er sie auf die Decke. Kam über sie.

Die Zeit zerfiel in Atemzüge. Raschelnde Haut. Flirrende Lichtpunkte hinter ihren geschlossenen Lidern. Sehnsucht.

Vor allem Sehnsucht.

Sie hatte nicht geahnt, dass Liebe, körperliche Liebe, auch ihr Herz ausfüllen konnte. Doch so war es. All die Löcher, die Verlust, Angst und Trostlosigkeit über Jahre hinweg in ihr Innerstes gefressen hatten, wurden von Wärme geflutet. Mit einem überraschten Seufzen schlang sie die Arme um ihn, zog ihn näher zu sich heran. Noch viel näher.

Er nahm sich Zeit, drängte sie nicht, sondern ließ sie nach und nach entdecken, wonach es sie verlangte. Bis die Leidenschaft die Führung übernahm.

Später schmiegte er sich an ihren Rücken. Küsste ihren Nacken und hielt sie fest umfangen, die Hände über ihrem Bauch gekreuzt.

»Ist Liebe immer so … atemlos?«, fragte sie.

Zadjans Lippen zeichneten ein Lächeln auf ihre Schulter. »So intensiv habe ich es selbst noch nie erlebt. Mein Himmel war grün.«

Ganz wie der ihre.

Als ihre Gefühle zur Ruhe kamen und sein Körper sich im Schlaf entspannte, schälte sie sich aus seiner Umarmung. Sie hatte genommen, was ihr nicht zustand. Es viel zu sehr genossen. Nun war der Rausch verebbt, Schuld ballte sich in ihrem Magen. Sie sammelte ihre Kleidung ein, zog sich an, schlug die Plane zurück, alles lautlos. Und trat, nach einem letzten Blick auf Zadjans Silhouette, hinaus in die Nacht.

Vor dem Zelt atmete sie tief durch. Die Luft war regenfeucht, der Wind schüttelte vereinzelte Tropfen aus den Baumkronen. Die anderen schliefen, selbst die Wache war eingenickt. Ganz klar zeichnete sich vor ihren Augen ab, was sie zu tun hatte. Jetzt.

Leises Bedauern stahl sich in ihr Herz. Nein, sieh nicht zurück, Kea, niemals zurück.

Sie schlich zu den Pferden. Die Sättel lagen nebeneinander aufgereiht unter einem Baum. Der richtige war rasch gefunden, schließlich hatte sie ihn selbst dort abgelegt. Erst die Decke …

Eine Hand presste sich von hinten auf ihren Mund.