Peter Suhrkamp

Über das Verhalten in der Gefahr

Essays

Herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Raimund Fellinger und Jonathan Landgrebe

Suhrkamp Verlag

»Die Verkündigung« von Paul Claudel Gedanken nach einer Aufführung in den Münchener Kammerspielen

Wir lernen wieder die Geste religiöser Inbrunst, nicht aus Religiosität – sondern aus Mangel, nicht aus Sicherheit – sondern aus Angst. Aus Angst! Denn unser Sein ist am Ende der Erde und an ihrer Oberfläche hart vergittert, hört am Rande unserer Sinne auf; unser Leben, unaufhaltsam weiter rasend nach den Gesetzen der Materie, nach den Gesetzen der Technik, im Konkurrenzkampf, im Hunger nach Brot und Sensation, eine ungeheuerliche Konstruktion, verbaut uns den Himmel: Kälte und Finsternis fallen auf die Erde. Der Bau schwankte, krachte! liegt er nicht am Boden? zerstörte die Maschine sich nicht vielleicht doch selber? ist es nicht doch möglich, daß die Welt, in der unser Leben stand, unterging und daß, was wir sehen, nur noch eine Täuschung unserer überreizten Sinne ist? – Oh, Erregung her! Rührung her! Gebräuche her! Zeremonien her! Lichter! Lichter! –

Es ist so, daß wir Gott anrufen, aber wir sind nicht von Gott angerufen. Wir haben darum auch kein ursprüngliches Wissen von ihm. Wir suchen Äußerungen aus Zeiten ursprünglicher Religiosität auf, ihre Figuren, Bilder, Kostüme, Legenden, Kathedralen; wir halten sie als Antiquitäten zwischen nervösen Händen und sind stille beschauliche Sammler davor; sie zerbröckeln zwischen unsern tastend reibenden Fingern. Das Ohr hascht nach einem Klang, der entflieht, zwischen den Wolken hin, das Auge lauscht auf Farben, die im Lichte grau zerfallen, das Herz brennt nach Wundern, die uns meiden und uns nur ihren Namen lassen. Und aus Andacht zum Altertum, aus Lauschen, aus Erinnerungen an Erinnerungen, aus Stimmungen kommen unsere Anrufungen.

Rilke baut die Zelle des Mönches um sich auf und nimmt den Mantel eines Pilgers durch östlich weite Ebenen und Städte – streng gefaltet und tönend – aus dem Atelier eines Bildhauers, Francis Jammes geht in die Werkstatt des heiligen Franziskus, und Claudel stellt sich unter gotische Bögen am Fuße der Kathedrale.

In Paul Claudels »Verkündigung« sind alle Requisiten religiösen Kultes und kirchlicher Zeremonie zusammengerafft und zum Bild gestellt: gotische Formen, Farben und Symbole, Pilgerschaft und Wunder, Glocken, Chöre aus der Höhe und Christlegende, Aufsatz und Dombau. Doch was Feier und Dienst war, wurde Bild und Schaustück: aus gesteigerter, lauschend bangender, emporbegehrender Inbrunst wurde Rahmen, Form, Kulisse; Stadien zum Ausdruck verklärter Bewegung stehen nebeneinandergestellt als vollendete Bilder; das Wunder – ja: blieb Wunder; es ruft unsere Skepsis auf! Wir sind Skeptiker von Natur, wir leiden an unserer Skepsis, denn wir sind keine eitlen Narren, die sich damit wichtig machen, daß sie an den Dingen zweifeln, wir möchten glauben –, doch nur vor dem unmittelbaren Leben, das noch nicht durch Reflexion ging, vor dem primitiven – darum nicht minderen – Leben wird Skepsis behutsam und hat seine Lust darin, dem Glauben Halt und reicher Ausdruck zu sein. Die »Verkündigung« hat nicht Eigenleben genug, den Zuschauer sich einzubeziehen als Handelnden, wie die Messe, oder einen religiösen Keim in seiner Seele zu wecken, wie das religiöse Kunstwerk, sie vermag nicht mehr, als mit ihren Gegenständen und Ereignissen bekannte und gewohnte Stimmungen in ihm aufzurufen. Alle eigenen Gedanken, wie die Andeutung der Zusammenhänge der Religiosität des Menschen mit dem Schöpfertum des Künstlers, zwischen irdischer und himmlischer Liebe, zwischen Erde und Himmel, eigen in der Art wie sie gedacht sind, bleiben Gedankenmotive, die herausragen, für sich auf- und untertauchen, nicht eingegangen sind in das Gewebe aus Bild und Musik, nicht als eigene Melodie das Ganze überschwingen.

Um das Letzte über dieses Mysterium zu entscheiden, müßte man eine Aufführung wagen, die auf die Musik der Sprache gestimmt wäre. Das Theater müßte seine jetzige Art der Gestaltung aus gegenständlichen, aus Inhaltsmotiven, lassen, auf Wirkungen, die aus Szenen und Gedanken- oder Gefühlsproblemen und Problemen der Wirklichkeit des Lebens kommen, verzichten, müßte die Stimmung vom Gegenständlichen und vom mimischen Ausdruck lösen und sich zu rhythmischen und musikalischen Wirkungen steigern. Es gibt dafür zwei Möglichkeiten. Die eine, schwierigste und auf dem gegenwärtigen Theater wohl nicht zu erfüllende ist die, daß die Szene voll ausgedeutet mit allem Gerät gegeben ist, aber so leicht, so ausgeglichen rhythmisch und in Harmonie, daß sie dem Zuschauer nicht an sich Gegenstand wird, absolut keinen Anteil für sich fordert, daß sie eine Stimmung schafft, die dem Zuschauer nicht als Stimmung bewußt wird, eine Stimmung, auf der er ruht, die ihn im Rhythmus auf- und abspielt. Es darf dabei keine Pausen zwischen den Szenen geben, sondern die Bilder müssen einander ablösen, das nächste muß hinter dem gegebenen auftauchen, wie eine Verzauberung; die Verwandlungen müssen auf offener Bühne geschehen. Und über allem die Musik des gesprochenen Wortes. Sie muß ihrerseits in jedem Moment so stark, selbständig, bewegt und durchgehend sein, das der Zuschauer keinen Augenblick in die Stimmung der Szene sinken kann. – Die andere, einfachere, vielleicht auch idealere Möglichkeit ist die, daß die Szene nur in Farben und ganz einfachen gotischen Formen, ohne auch nur die Andeutung von einem Milieu, skizziert ist, und mehrere Bilder in dem Rahmen eines Szenenbildes spielen. Zur Farbengebung der Szene in beiden Fällen muß wohl angemerkt werden, daß die Szene nicht durch Farben neutralisiert wird, eine solche Szene greift den Zuschauer an; dieselbe Wirkung tritt ein, wenn Farben durch andere aufgehoben werden; leuchtende Farben sollen miteinander korrespondieren. Außerdem dies: die Anlehnung der Szenenbilder, jeweils oder durchgehend, an einen bestimmten Künstler der Gotik ist ein Irrtum, weil sie an sich fesselt und Gedanken gibt, weil sie die fertige Szene zu einem Problem macht.

Die Musik der Sprache werde zum Ereignis der Aufführung. Das bedeutet für den Schauspieler, daß er sich beschränke auf die musikalische und rhythmische Ausprägung des Wortes und Satzes und auf jede lautliche Ausdeutung des Wort- und Satzinhaltes verzichte. Die mimische und darstellerische Intuition sei angeregt von dem Klang und der melodischen oder thematischen Bewegung der Sprache. Ausgeschaltet sei die Erinnerung an den Menschen der Realität, der nicht künstlerisch, sondern praktisch, nicht psychisch, sondern geistig, nicht menschlich, sondern charakterisch, nicht selbstverständlich, sondern besonders, nicht hymnisch sondern notorisch lebte. Selbst Jakobäus und Mara sind nicht Jakobäus und Mara wie sie im Leben sind, sondern ins Mysterium eingegangene Leidende und Kämpfende. Und Leiden und Kampf drücken sich weder religiös noch künstlerisch in Schreien und Weinen aus.

Vielleicht machen wir in einer solchen Aufführung plötzlich und unverlöschbar die Begegnung mit dem Erlebnis Claudels, vielleicht begegnen wir uns selber als Begnadeten, Erlösten.

Kammerspiele

Im Winter 1919/20 war die Situation für sämtliche Theater nicht ganz einfach: während des vorhergehenden Winters und Sommers waren sie ganz der Bewegung des Volkes hingegeben gewesen, nach dem Fall der Zensur hatte sich eine Flut von Werken, würdigen und unwürdigen, über die Bretter gewälzt und gestelzt, dann – die Volksbewegung, in sich zersplittert, hatte die Wucht verloren, sie trug nicht mehr, es blieb nur noch Gerümpel des Zusammenbruchs – waren sie ratlos; wenige begriffen sofort, daß nicht die Negation, sondern die Wahrung innerster Gesetze, welche ein Leben gestalten, ihre Aufgabe war. Die Lage der Kammerspiele jedoch war über diesen allgemeinen Umstand hinaus schwierig.

Die Kammerspiele sind ausgezeichnet durch die Intimität des Raumes, welche ein feiner nüanciertes Spiel ermöglicht und Darsteller und Zuschauer einander näherrückt. Sie waren einmal eine von den Dichtern, den Schauspielern und von dem Publikum geforderte Notwendigkeit. Die neueren Dichter hatten Scham vor der lauten Äußerung, wie sie die Ausmaße des üblichen Theaters forderten. Das Leben ihrer Gestalten lebte ins Innere zurückgezogen. Die Geschehnisse waren leise geworden. Den Schauspielern genügte nicht mehr die Verwandlung, welche im Wechsel der Masken und der Kostüme gegeben war, sie strebten die Seelenverwandlung darzustellen mit dem Spiel ihres Leibes und der Modulation der Stimme. Seelenverwandlung jedoch kann sich nur intim geben. Der Zuschauer war gedrängt, sich aus der müden Gesättigtheit des eigenen Lebens in die romantisch bewegte Welt des Künstlers hinüberzuschmiegen. Für die Verständigung wurden von den Bühnen besondere Programmhefte ausgegeben. Die Zeit mit ihrem schnelleren Tempo verlangte größere Gedrängtheit.

Diese Kombination der Momente enthielt schon in sich Konflikte. Der Bürger fürchtet im Grunde die Wandelbarkeit des Wesens, wie sie der neuere Schauspieler gibt. Er liebte den Mimen, der schnell Maske auf Maske überstülpte, weil er ihm gegenüber das ruhige Bewußtsein haben konnte, daß das Wesen darunter ungewandelt blieb. Die Verwandlung ist von ihm nur im Wunder – weil sie dort objektiv bleibt – geliebt. Dem kommt das Kino entgegen. Im Kammerspiel zeigte sich ihm die reale Unsicherheit des Lebens. In der notwendigen Wendung der Kammerspiele zur neuen Produktion lag eine Wendung gegen den bürgerlichen Geist und zugleich eine Wendung zum einzelnen Bürger mit dem Anspruch, seinen moralischen Gesichtskreis zu erweitern. Sie wurden außerdem oftmals Podium für Diskussionen über Gesellschaftsfragen, politische Fragen und Fragen des Lebens. Das Theater darf jedoch niemals eine moralische Anstalt oder gar eine Bildungsanstalt sein. Es darf keinen Augenblick vergessen, daß es niemals einen Standpunkt einnehmen kann, sondern Gestalter eines Kunstwerkes ist, das als solches stets durch seine Form und als Leben allem Wissen und jeder einseitigen, viel- und auch allseitigen Einstellung fremd ist. Endlich kann nur eine müde Menschheit zum Künstlertum hinflüchten: erstarkt, wird sie immer wieder ihr Ideal im harten blutvollen Leben der realen Wirklichkeit gestalten und den Künstler geringschätzen.

Nach alledem mußte eine Krisis für die Kammerspiele kommen. Sie kam, durch Umstände gedrängt, plötzlich. Die besondere Darstellungsart und das Repertoire der Kammerspiele wurden nach der Revolution von den übrigen Theatern übernommen. Das letzte Drama, das Angelegenheit der Kammerspiele hätte sein können – das Revolutionsdrama –, fordert für sich wieder die große Geste und Pathos, also große Räume. Die Volkspsyche kehrte sich in Erregung gegen die psychische Atmosphäre, wie sie im Repertoire der Kammerspiele überwiegend Platz hatte. Gestern nämlich waren Dichter bei uns groß, die ihr Eigenleben nicht nur schamvoll in sich verbargen, sondern es noch mit Spott und Ironie überschütteten. Sie hatten Geist und verbargen diesen im Witz – weil der Wortwitz zu banal war, im Witz der Figuren und Szenen. Ihr Wesen war äußerste Bewußtheit. Jede ihrer Figuren trug in einem Zug noch das Bewußtsein, wozu ihr Dichter sie geschaffen hatte, ihr Sein klaffte bei der Berührung mit einer zweiten plötzlich in einem Witz. Das Wort verlor die letzte objektive Substantialität, sein letztes Geheimes wurde enthüllt, es wurde prostituiert. Wort und Mensch wurden als gemeines Handwerk in der Absicht eines Menschen zur Ausdeutung seines Weltgefühls mißbraucht. Davor mußten die Schauspieler, wie es geschehen ist, als mit dem Sichöffnen der Volkskräfte auch ihnen Gesundheit leise aufging, zusammenbrechen. Jedes Kunstwerk muß einen Untergrund haben, der mit dem Wort nicht gegeben werden kann, den das Wort niemals umfaßt. Es ist dies ein Leben, dessen Wirklichkeit nur noch in der Stimmung gefühlt wird. Dies Leben tritt – im Verlauf eines Kunstwerkes – immer deutlicher hervor als … Geheimnis. Alles Geschehen, alles Leben der Gestalten und des Wortes ruhe in diesem Leben, in diesem Geheimnis und verhauche am Ende in diese Anonymität gehüllt. Weil das Geheimnis fehlt, ist das Leben in vielen modernen Dramen – so sehr es sich auch neuerdings überschreit – depotenziert. Dies untergründige Leben ist aber im tiefsten einzig die Brücke vom Kunstwerk zum Publikum.

In den Münchener Kammerspielen fand die Krisis Ausdruck in einem Skandal während einer Aufführung von Wedekinds »Schloß Wetterstein«. Letzter Grund zu diesem Skandal – er mag von den Radaumachern national begründet oder in seiner Absicht anders gedeutet werden – sind die oben gezeichneten Umstände.

Die Kammerspiele blieben seitdem unsicher, griffen verlegen in's alte Repertoire zurück und fügten reichlich Tanzabende ein; die Befreiung in einer sichern Tat fanden sie nicht mehr. Vermutlich werden sie sich – wie alle heute – beklagen über die Irrungen der lebenden Dichter und über die schlechte Zeit. Dennoch: sie sollen nur zugreifen. Es gibt immer noch genug Kammerspielstücke – es braucht deswegen nicht in fernste Länder und fernste Zeiten hinübergegriffen zu werden –, die großes Leben geben, leise gelöst im Spiel im Wort und in der Szene, die kein anderes Theater so vollkommen ausdeuten kann. Die Schauspieler werden, wenn das Kunstwerk sie nährt – und dies allein nimmt und gibt ihnen Kraft – wieder freudig den Verwandlungen der Seele hingegeben sein.

Hanns Johst

Nicht Urteil, nicht Kritik will ich geben, weil die persönliche Gesinnung, aus der Urteil wachsen müßte, vor dem Kunstwerk zu billig ist, weil alle Regeln und Gesetze, die Maßstab für Kritik sein könnten, durch das neue Werk zwar bestätigt und doch aufgelöst und in neuer, für den Zeitgenossen noch nicht zur Form objektivierter Gestalt, erfüllt werden; endgültig: weil Urteil und Kritik die Menschen vor dem geschaffenen Werk verführen, intellektuell anzugreifen anstatt, bei aller eigenen Haltung, Ergriffenheit Raum zu geben, zu richten anstatt, ohne liebedienerisch zu buckeln, demütig sich segnen zu lassen, Forum statt Gemeinde, eine Versammlung schwarz vermummter Beamte statt Menschheit zu sein. Wir sind derartig zerstört und sind so arm, daß wir uns nicht mehr gestatten können, nicht das ernste Werk, und sei es gleich mangelhaft, mit unserer Liebe und Kraft bis zu seiner letzten realen Möglichkeit gestalten zu helfen. Und wären wir überreich, es wäre Verrat, den Reichtum zu zersetzen, anstatt uns aus der stärkeren Liebe mit ihm zu beschenken. – Nur die Erscheinung des Hanns Johst will ich aus allem Zufälligen lösen und deutlich werden lassen und für sein Werk, in dem er, wesentlich vom Theater, zu uns spricht, hingegeben den einfachsten, eindrücklichsten und fruchtbarsten Ausdruck suchen.

Hanns Johst wurde uns zunächst sichtbar mit dem Gesicht des »Jungen Menschen«, darnach als der wilde Grabbe, jung, in ekstatischer Verzückung aufsteilend, und eben jetzt im »König« wieder als eine Jugend, diesmal närrisch. Mit diesen Bezeichnungen sind nur, für ein bequemes Publikum, einer Fassade Plakate angeheftet. Der junge Mensch: laut aufbäumende Jugend, Taumelseligkeit, Optimismus, dem Erleben einen schmerzlichen Zug ins Gesicht wischt, bittere Flucht in Einsamkeit, Heilandsträume mit hochmütiger Güte und Sich-ans-Kreuz-schlagen, blaue Blume. Im »Einsamen« Grabbe: der eitle, heilige Phantast, der einsame, visionär ekstatische, tragische Dichter, der versinkende, süße Trunkenbold, der laute, zynische Kerl und die zarte, gläubige Seele. Der König, auch jung, doch von Anfang an, durch Geschlechter gedrängt, aus der Welt hinausgeboren, in jedem Augenblick Optimist, der hohe Verantwortung fühlt, immer bewußt, stets starke Konsequenz, steigt, niemals in ihr zu Hause, steil, wie eine Himmelfahrt, überschauend, aus der Welt hinaus. Das alles bezeichnet immer noch nur die Fassade. Doch fesselt schon diese Fassade den Blick, reißt ihn steil empor, deutet unerhörte Tiefblicke an und harte Stürze zur Erde. Sie läßt keinen Atem zu philosophischer Besinnung, läßt nirgends den beliebten Gedanken an eine Anschauung aufkommen, läßt keine Zeit zur Deutung, zwingt, nirgends mehr als Linie, in den Bann eines singenden, streng steigenden Blutes.

Damit ist bestimmt, wie wir einzutreten haben und was uns drinnen erwartet. Selbstverloren, absichtslos, alle Probleme vergessen, wie an einem ersten Frühlingstage, wenn Sonne aus erstem frei überblauten Himmel uns überstürzt und Blut töricht berauscht macht, in einen Wald, gehen wir ein und sehen, sehen, sehen … blinzeln im Zwielicht, stoßen mit harter Stirn durch Dickicht, halten den nackten Schädel unter breit einstürzendes Licht, schürfen in Vermoderndem, pflücken die Blume, werden töricht trunken und sind doch nie ganz losgelassen, geheimnisvoll hält uns etwas, nicht mehr in uns, aber hält uns dennoch, wie die Erde, wie der Himmel auch: Schicksal und Sturm, in dieser Stille dennoch Schicksal und Sturm.

Für den »Jungen Menschen« war es kaum notwendig, dies zu sagen, obgleich die Nähe anderer Dramen, die in anderen Gärten gleichzeitig entstanden und auch den jungen Menschen zum Gegenstand hatten, in ihm nur den Protest gestalteten und nicht immer ohne Absicht waren, gefährlich werden konnte, für den Einsamen noch weniger, da ihn keine zeitliche Gegebenheit einengte, die zur Deutung verleiten konnte umsomehr für den »König«. Es besteht jetzt, da Politik eine fixe Idee ist, da alle Welt unter politischer Anschauung leidet wie unter einer Angst, ähnlich der Platzangst, die Gefahr, daß hier nur ein politisches Spiel gesehen wird. Wir nehmen heute in allem zu leicht die Wendung zur Anschauung anstatt zum Sein. Wäre im »König« alles nur Anschauung, dann wäre das Tun des Königs nur ein Experiment, das Stück ein dialektisches Spiel, mit Politik als Gegenstand. Weil solche Deutung versucht werden könnte, sei hier kurz der Erlebenskomplex des Königs umrissen.

Da ist eine Seele, in der unerbittlichen Härte und Bedrängnis dieses Daseins verfangen, in ihren Seelentraum gehüllt, über alles hingetragen, von nichts berührt, unwissend, nur alles überschauend, alles nur erfühlend. Einer unter Menschen, der sich nicht als Mensch fühlt, sondern als Gleichnis. Da ist nichts launisches Spiel einer königlichen Langeweile und nichts Hochmut aus Weisheit, sondern überall nur reinster Traum. Die Ärzte und der normale Verstand nennen diesen Traum Irrsinn, andere nennen ihn Genie … Du, finde einen Namen dafür, wenn Du Namen nötig hast. Nein, vergiß alle Namen, laß alle Deutung, lausche in Dich, in Dir geschieht es!

Die Seele, ins erdene Dasein geworfen, dennoch Seele und in der Berührung mit Erde in seltsame Erregung gelöst, in diese Erregungen wie in Träume gehüllt: dies allein ist überall Gegenstand der dramatischen Dichtung des Hanns Johst, Im »Jungen Menschen« heißt die Erregung, der Traum: Jugend, im »Einsamen«: Dichter, im »König«: königliches Königtum. Doch wird nirgends – und das ist typisch – zur Erde nein gesagt, nirgends resigniert der Mensch pessimistisch, sondern überall ist er Optimist und nimmt die hohe Verpflichtung des Optimismus auf sich, nirgends ist es Verzweiflung, die tragisch wird, überall der Glaube. Und gerade in diesem verantwortungsstarken Optimismus ist das Seelische in allen Dramen gegeben. Es ist das Wesen der Seele, daß sie unsterblich ist, daß sie ewiges Leben ist, darum ist der starke, lichte Glaube an düsterem Orte, wo Verzweiflung Boden hätte, ein Seelisches. Am Ende löst die Seele im Kampf mit der Realität, in dem sie sich harte Organe bildet, überall die Erregungen, das gedrängte Wogen der Träume um sich her, doch nicht zu unirdischer Weisheit, sondern irdisch einfach. Der junge Mensch: »Die Liebe dieser Erde heißt Mitleid!« »Ich will Leben und Tod lassen! Und nicht mehr jonglieren mit Begriffen! Ich will eine Tätigkeit beginnen!« Grabbe: »Demut ist Anfang! Und Demut ist Ende!« Der König: »Mensch zu Mensch werf ich mich in den Strom!« »Alle Gleichnisse aus den Händen und sich selbst geglichen: das ist alles!«

Die Gestaltung eines Innern ist heute Wille aller ernsten Dichtung, doch unterscheidet sich die Dichtung Johsts trotzdem wesentlich von der modernen. Die moderne Dichtung hat entweder die Seele als Gegenstand, beschreibt sie, und es gelingt ihr nicht, sie sichtbar werden zu lassen, da die Seele nicht fest ist wie die Natur, oder ihre Gestaltungsmittel zergehen im ungefaßten Seelischen, und das Ergebnis ist eine Stimmung oder eine Weisheit, bestenfalls Gewissen. Einsichtige fühlen längst, daß die Dichtung sich nach und nach verliert im wesenlosen Spiel, ernsten oder heiteren, mit Worten und Gefühlen, daß die Bindung an das Konkrete, an Erde notwendig bleibt, doch gelingt es selten einem, Gegenstand und Ausdruck wesentlich, im natürlichen Wuchs, zu verschmelzen. In Johsts Dichtungen wird die Seele mit keinem Worte erwähnt. Es geht nirgends um die Seele. Kein Wort verschwimmt im Unfaßbaren. Kein Wort wird eitel und tänzelt vor dem Rhythmus. Jedes Wort ist hart und gefaßt. Jeder Satz hat einen konkreten Inhalt, doch außer diesem Inhalt hat jeder Satz noch ein anderes, hat er eine Linie, eine Richtung, hat er eine Stärke über sich hinaus, ruht verzückter Taumel an seinem Grunde, ist er überglänzt. Jede Dichtung ist Schau in einen realen Lebenskomplex und faßt jede Erscheinung darin und ist doch mehr, ist doch hart sich schaffende Seele. Die Tragik der Dichtungen des Hanns Johst, wie ich sie oben zeichnete, ist die Tragik des Dichters. Diese Seele, ins erdene Dasein geworfen, dennoch Seele und in der Berührung mit Erde in seltsame Erregung gelöst: das ist der Dichter. Es gibt Dichter, die nur das Wort haben, nichts sonst. Sie tönen, haben vielleicht eine Melodie, aber der Klang ist nicht eigen. Er packt nicht an, er hält nichts gepackt. Sie sind Instrument, nicht Geige! Geige werden sie erst nach dem Kampf, nach dem Zerbrechen, nach der Bindung, nach der Bejahung. Am Anfang glauben alle, nicht Mensch zu sein, sondern Gleichnis, Appell, Aufruf. Sie sind alle leicht flüchtende, erfühlende Schau über das Leben hin. Doch etwas innerhalb des eigenen Seins bindet: Geburt und Tod. Und Dichter, die diese Bindung am stärksten fühlten und an diesen Pfosten der Ewigkeit am stärksten rüttelten, weil sie von ihnen am nahesten bedroht waren, waren stets die stärksten. In jedem Werke des Hanns Johst gibt es die stärksten Worte über das Geheimnis der Geburt, in jedem Werk steht eine Auseinandersetzung mit dem Mütterlichen. Außerdem gibt jedes Werk eine neue Gestaltung des Todes. In allen schattet am stärksten der Tod. Es ist fast symbolisch bezeichnend, daß Johst mit der »Stunde der Sterbenden« zuerst vor die Welt trat. Da stehen verwundete Soldaten in der letzten Einsamkeit, und nun ist die Wahrheit vor der letzten Tür und pocht. »Mir ist, als ob vor meinen Toren etwas stände, etwas Hohes und Festliches, Einlaßheischendes!« … Hinter schwacher Tür steht jetzt das Wahre … Sein Blut vergießen für sich selbst … Da steht das Wahre … Nicht Opfer sein … sondern Wille sein … aber die Müdigkeit … die Müdigkeit verdunkelt die Erlösung.« In dieser letzten Einsamkeit rücken die realen Dinge näher, werden milder und brutaler zugleich, das Auge sieht sie gütiger und härter zugleich, das Wort packt sie mit übermenschlicher Sicherheit und übergießt sie mit einem Licht, in dem sie nackt und aufgerissen und zugleich mild überleuchtet erscheinen, das Herz reißt sie unendlich an sich und stößt sie unendlich zurück, doch ist kein Ding mehr für sich, der Einsame selbst ist Ding unter diesen seltsam verbundenen Dingen. Im Schatten dieser Einsamkeit entstanden Dichtwerke von außerordentlicher und fremdartiger Schönheit und Größe. Das Werk Georg Büchners ist höchstes Beispiel dafür.

Zwischen Geburt und seligem Tod, Erde und ziehendem Himmel, Schuld und Flucht in Gnade – Bekenntnis zur Geburt, doch ohne Sentimentalität, hart, zur Erde, doch ohne Hymnenseligkeit, tätig, zur Schuld, doch ohne Versprechungen, nur demütig gütig: das ist Hanns Johst. Aus dem schmerzlichen Zerbrechen am eigenen Gebundensein wächst ihm sein Leben zu höchster Bestätigung: Güte ist Demut!

Das Theater im Zeitgeist

Nur in einer bürgerlichen Welt kann man glauben, der Weg einer Zeit sei zu bestimmen und werde durch den Willen ihrer Menschen entschieden; Entscheidungen fallen nur im Geistigen, im Menschen nur, sofern das ewige Feuer durch ihn geht. Geistigkeit lebt in den Erfahrungen über Zusammenhänge, über Oberfläche und Hintergrund und wieder Hintergrund, in der Unterscheidung von Wesen und Erscheinung, in der Tradition, in der rein kreatürlichen Bescheidung, in der Ahnung von unmenschlichen Gesetzen im Kosmos, im Ergriffensein vom Kosmischen, von den Göttern bis zur Vernichtung, mit einem Wort: im Wissen vom Schicksal. Dies Wissen vom Schicksal ist allein Geistigkeit, und darin nur geht die Entwicklung, das ewige Feuer, der ewige Weg durch Menschen. Jeder Bürger fühlt seine absolute Ohnmacht in der politischen und wirtschaftlichen Entwicklung der Zeit, nur weil er ahnt, daß das noch nicht letztes, noch nicht tiefstes Schicksal sein kann, erträgt er diese Ohnmacht, die geistige Entwicklung glaubt er durch sein Wort, durch seinen Einwand entscheiden zu müssen; und er ist doch nur Kreatur und lebt nur, weil das Schicksal, weil der Gott in ihm geschieht, weil er gebraucht wird.

Dies Gefühl lebt noch im Bauern, weil seine Verbundenheit mit der Erde und mit den Tieren es ihm erhielt; es lebt im Arbeiter, die Härte seines Schicksals lehrte es ihn und die Unerbittlichkeit der Dinge. Nur den »Gebildeten« ist es verloren. Es sind das diejenigen, welche »geistige Arbeit« erfanden, um sich der Natur und der Arbeit zu entziehen, und die vor der Verantwortung in »Nervenkrankheiten« flüchten. Von ihnen stammen denn auch Kritik, die »Ideale« und die Parole zur »Richtung«, zwischen ihnen geht der politische Kampf. Sie sind der Herd der Ungläubigkeit, sie verwirren die Zeit im Gefühl, sie verschmieren das Gesicht der Zeit oder schminken Gesten hinein. Sie schaffen Bewegungen, Richtungen, Moden, den ganzen Tageslärm. Es ist klar, daß es nur Tageslärm ist, man darf nichts über die Zeit darin lesen wollen. Man könnte in unbeschwerter Lustigkeit dabei stehen: das Gesicht der Zeit ist anderswo, die Entwicklung geht allen durch die produktiven Kräfte der Zeit.

Es ist eine Erfahrungstatsache, daß sich der Angriff der Tagesgebildeten immer gegen die produktiven Kräfte richtet, sei es, weil sie den harten sachlichen Anstoß als Brutalität, weil sie die im Schicksal gehärtete Kraft als Kälte, weil sie Unbildung und Ursprünglichkeit als Geschmacklosigkeit empfinden, weil ihnen die Suggestivkraft, der Schicksalsblick unheimlich ist. Jede Zeit verleugnet sich selbst, darin ist kein Grund zur Verzweiflung: es stellt sich nur im Tageslärm so dar. Schlimmer ist, daß heutige Menschen, in der wirtschaftlichen und politischen Katastrophe verzweifelt geworden, jedes Wort als Schlag in ihren Glauben empfangen. Für sie muß die Nichtigkeit aller Worte des Tages immer wieder festgestellt werden, für sie muß immer wieder erinnert werden: es gibt eine Welt außer uns, über uns, ohne uns, und selbst gegen uns, eine Welt, in der allein das Schicksal Wirklichkeit ist, so wirklich wie Steine und Brot im Tag; und die Gesetze der Schönheit und der Wahrheit sind die stärksten Faktoren dieser Welt; sie ist die letzte Wirklichkeit des Menschen. Teil hat an ihr nur, wer sie durch seinen Glauben anerkennt. Freilich sehen diese Wahrheit und diese Schönheit anders aus, als die landläufigen Vorstellungen vom »Wahren und Schönen«, sie sind nicht Gesetze der Moral und der Ästhetik. Und auch dies muß gesagt werden: an Worten ist nur Sinn, was vom Glanz und der Härte jener Schicksalswelt an ihnen ist; alles destruktive Wort, die Negation ist im Letzten taubes Geräusch. Und: es ist ein Mangel der Menschen, die Schicksal nur als Leiden und Zerstörung empfinden.

Das Theater ist zur Zeit der lebendigste schöpferische Organismus und steht infolgedessen am meisten in dem angedeuteten Zwiespalt. Es hat aufgehört, eine Stätte für Unterhaltung, für Bildung und zur Erholung für ein Standespublikum zu sein, es hat aufgehört, für den Geschmack zu arbeiten, und in erster Linie ästhetische Ansprüche zu erfüllen, es hat seine gebildeten und ästhetischen Ambitionen fahren gelassen, es hat seinen geistigen Stolz und den Werkstolz aufgegeben, es ist wieder ins unmittelbar lebendige Dasein getaucht. Es wirkt durch seine Atmosphäre anstatt durch Werke, wie ein Ereignis, mit dem wir in unserem Leben zusammenstoßen. Und doch wirkt es auf diese Weise durch Werke. Das ist in der Entwicklung der deutschen Kunst etwas ganz Seltenes, in der Entwicklung des Theaters gab es das nur in Griechenland. Das Theater geht im Werke auf, im Extrem sogar so, daß selbst das Werk in diesem Prozeß hinschwindet, und nur das Ereignis, der lebendige Augenblick mit dem unheimlichen Blick ins Schicksal bleibt. Da ist nichts aus Kultur, und doch ist Kultur da. Nicht zufällig und aus artistischen Absichten wird die Bühne immer weiter in den Zuschauerraum vorgetrieben, werden die Wände des Guckkastens immer wieder gesprengt, das Theater fühlt sein Entstehen mitten unter Menschen in einer Schicksalsstunde; und da können Darsteller und Werke nur selten noch genügen. Die besten Theater sind heute fanatische Gemeinschaften mit religiösem Glauben an ihre Sendung.

Die Kritik setzt hier ein. Sie nennt das Theater verächtlich »expressionistisch«, und möchte es in einem Durchgangsstadium, das überwunden ist, erledigen. Sie kämpft aus sozialen Motiven für den Darsteller und mit Bildungsargumenten für das Repertoire. Das soll sie tun; aber sie soll damit nicht eine Krise des Theaters inszenieren. Die Kritik trägt nur die Vergangenheit in ihrem Herzen und nicht in gleicher Weise die Zukunft; wohl die Sorge um die Zukunft, aber sie stemmt sich dem Schicksal entgegen.

Die Kritik hat erreicht, daß man, wollte man aus ihr vorbehaltlos lesen, den Eindruck haben kann, an jedem Theater bestehe eine Krise. Aus der Ablehnung der Theater müßte man auf das Ende des Theaters schließen. Sieht man jedoch das Theater innerhalb einer Stadt, so weiß man, daß es, wie kaum je vorher, als Lebenszentrum besteht. Und wer beachtet, mit welchem Ernst heute das Theater allerorten und in allen Kreisen, öffentlich und nicht öffentlich, umstritten ist, spürt das Leben des Theaters im Volke, die lebendige Begegnung mit dem Theater, das Theater als Ereignis im Reich.

Der unbekannte Soldat Ein Kriegsbuch, das noch nicht geschrieben ist

Die Franzosen fanden sofort ein Symbol, das Grab unter dem Triumphbogen. Die Engländer fanden eine sinnfällige Sitte für alle, die Minute stiller Andacht durchs ganze Land hin. Wir sind kein plastisches Volk, und wir haben keine allgemeine gesellschaftliche Form. Das deutsche Denkmal für den unbekannten Soldaten wird ein literarisches sein, wenn es allgemeingültig überhaupt möglich sein wird.

Zuerst wurde Georg von der Vrings »Soldat Suhren« dafür ausgegeben. Das ist das Buch eines Poeten und Malers in Pastell. Der Dichter könnte die Kleinstadt oder die Vorstadt am Rande der Landschaft malen. Er knetet nicht im alltäglichen Stoff, aus dem Menschen gemacht sind, sondern zeichnet die zartfarbenen und die rührenden Skurrilitäten einer seelenvollen Beschaulichkeit an der Oberfläche. Seine Menschen sind Maler, Musiker, verliebte Narren. Bauern aus dem Moor oder von hinter dem Deich. Sein Buch gibt die Idylle im Kriege, die er auch enthielt. »Soldat Suhren« ist nicht der Roman einer Kameradschaft, wie gesagt wurde, sondern Bild um Bild das Leben Suhrens im Kriege; und Suhren ist Georg von der Vring, ein Poet, ein Maler; rotbraun, mit einer weißen gerundeten Stirn, braunen Augen, einem weichen sinnlichen Mund und runden abfallenden Schultern. Das ist nicht der Irgendwer.

Ein Jahr später erschien »Krieg« von Ludwig Renn. Einer, beim Auszug Gefreiter der Infanterie, als Heimkehrer Vizefeldwebel, er heißt einfach Renn, zeichnet seine Wege, die Örtlichkeiten, die er sah, seine Begegnungen mit Menschen und sein Tun im Kriege auf. Die alltäglichsten Begebenheiten, Handlungen und Gespräche sind als Alltag verzeichnet. Es ist Krieg; so war alles. Die dabei waren und sich um einen schlichten Ausdruck für die verwirrende Überfracht sinnloser Eindrücke bemühen, werden in diesem Buch lesen, lieber als in Remarques »Im Westen nichts Neues«. Für sie wird darnach von der Vrings »Soldat Suhren« eine literarische Leckerei sein.

Der oberflächliche Eindruck von »Krieg« ist der eines Stenogramms nach der Wirklichkeit. Mir will scheinen, daß auf diesen ersten Eindruck viele hereingefallen sind, und daß das Buch gedankenlos unter dieser Marke weitergegeben wird. Es ist tatsächlich mehr als ein Stenogramm oder nur Gesehenes und Erlebtes als Material zu einem Dokument redigiert. »Krieg« ist das Werk einer bewußten schriftstellerischen Methode von hohem Rang; die Sprache ist überall plastisch und hat sinnliche Atmosphäre. Die Methode besteht im Weglassen, in der Beschränkung auf den Vorgang. Das Buch hat eine Gestrafftheit, hinter der eine geistige Haltung steht. Der Gefreite und Unteroffizier Renn ist der Schriftsteller Ludwig Renn; das ist nicht der namenlose Soldat.

»Krieg« ist ein starkes Buch, von einem harten, disziplinierten Menschen geschrieben. Und ein Buch, das nur heute geschrieben werden konnte. Den unbekannten Soldaten gibt dieses Buch nicht.

Jetzt wird Erich Maria Remarques Buch »Im Westen nichts Neues« dafür angesehen. Das ist die Gestaltung des Krieges durch den jugendlichen Menschen. Krieg und Jugend: es wird immer Sympathie zwischen ihnen bestehen. »Alle jungen Leute schreiben gleich über den Krieg. Er tut all ihren Wünschen Genüge«, schreibt Kipling.

Remarques Buch ist mit einer Einstellung geschrieben. Er wollte die Wirkung des Krieges auf die Jungen zeigen. Das Resultat ist: »Der Krieg hat uns für alles verdorben.«

Verdorben – gestorben: das ist die Melodie des Buches. Man kann diese Melodie zweifach auffassen: als Klage und Anklage vom Standpunkt eines bürgerlichen Lebens, einer Anschauung, einer Moral; als Abenteuer, Vagabondage, romantisch-balladesk, aus halb versunkenen Wallungen des Blutes heraus. Diese Romantik bestimmt, trotz Klage und stellenweiser Anklage, trotz der unerbittlichen, knappen Härte in der Darstellung, den Klang von Remarques Buch. Die Stärke von »Im Westen nichts Neues« liegt in der Jugend der heimlichen Melodie dieses Werkes. Diese Melodie ist nicht pazifistisch. Sie und die romanhaft typische Gestaltung einiger Situationen von allgemeiner Wirklichkeit und Geltung erklären den riesigen und allgemeinen Erfolg dieses Buches. Es ist ein gefährliches, verführerisches Buch, als Werk gestaltet und gekonnt; das Denkmal des unbekannten Soldaten ist es nicht.

Der unbekannte Soldat, das ist nicht jeder Gemeine und Unteroffizier der kämpfenden Truppe, nicht jede Zahl in der grau verkleideten Masse. Suhren, Renn, Bäumer (Remarque) sind Einzelne mit einem individuellen Schicksal. Sie erfanden, jeder für sich, einen Weg, auf dem sie sich aus dem Massenschicksal retteten. Sie behaupteten sich, in dem sie verarbeiteten, indem sie deuteten. Sie bereicherten sich im Krieg an eigenem Leben.

Die Unbekannten hatten nichts vom Krieg; nur Angst, Gier, Fremde, Schweiß, Schmutz, unsägliche Mühen, Müdigkeit, Hunger, Wunden, Glück, Unglück und Tod, nichts als das Allgemeine. Sie wurden hineingeführt, und als sie mitten drin waren, begriffen sie noch nichts davon. Nicht einmal das erlebten sie. Sie wurden hierhin und dorthin getrieben. Die Tage gingen hin, und jeden Tag wurde gesagt, was sie tun mußten. Zerschossene und ausgebrannte Dörfer, Erdlöcher, Gräben, Stacheldraht, Trichterfelder waren nur das Milieu, in dem sie lebten. Ein Kampf war wie der andere; darüber wäre nicht viel zu berichten, wenn man von ihnen erzählen will. Kriegsbilder und Kriegserlebnisse enthalten ihr Schicksal nicht.

Das Buch vom unbekannten Soldaten müßte arm sein an Ereignissen; die Kriegsereignisse müssten ganz allgemein und im Hintergrund bleiben. Es dürfte darin langweilig sein. Das Dokumentarische ist nicht sein Stoff. Es käme darauf an, die Öde durch Sprache und Psychologie zum Stoff, zum Schicksal zu verdichten. Dahinter erschien der Krieg nicht mehr als Fanal und als Erlebnis, sondern einfach als eine technisierte Sinnlosigkeit.