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Über dieses Buch:

Eigentlich ist Juli eine Traumfrau – blöd nur, dass das bisher noch kein Mann erkannt hat … Kein Wunder, dass die Journalistin das Restaurant ›Weinstein‹, wo sie regelmäßig mit ihren Freunden über die Pleiten und Pannen des Lebens plaudert, gar nicht mehr verlassen will. Aber der Traummann findet sich nicht von selbst – und so hilft Juli nach, indem sie sich ein Interview mit ihrem Lieblingsautor angelt, dem schillernden Rafael Bleibtreu. Schon beim ersten Treffen knistert es gewaltig, und Juli weiß genau: Sie wären das perfekte Paar! Doch dann lernt sie auch noch Rafaels attraktiven Verleger Alexander kennen, der so viel einfühlsamer zu sein scheint als ihr Schriftsteller. Und plötzlich muss sich Juli die erstaunliche Frage stellen, was besser ist: gar keinen Mann zu haben … oder zwischen zweien zu stehen!

»Perfekt gegen Liebeskummer: romantisch, witzig, turbulent!« Jolie

Über die Autorin:

Jana Seidel, geboren 1977, war schon immer von zu vielen unterschiedlichen Dingen fasziniert, um sich für einen ›ordentlichen‹ Beruf zu entscheiden. Im Schreiben fand sie daher den idealen Ausweg aus diesem Dilemma. Nach ihrem Magisterabschluss in Spanischer Literaturwissenschaft und Öffentlichem Recht arbeitete sie einige Jahre als Redakteurin. Heute lebt sie als freie Journalistin und Autorin glücklich zwischen Fiktion und Wirklichkeit – und als echte Lokalpatriotin mit Mann und Sohn im schönen Hamburg.

Jana Seidel veröffentlichte bei dotbooks bereits »Das Café der süßen Wunder« und »Ein Cottage zum Verlieben«.

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Überarbeitete eBook-Neuausgabe April 2020

Dieses Buch erschien bereits 2012 unter dem Titel »Eigentlich bin ich eine Traumfrau« beim Goldmann Verlag

Copyright © der Originalausgabe 2012 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Copyright © der überarbeiteten Neuausgabe 2020 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Wildes Blut – Atelier für Gestaltung Stephanie Weischer unter Verwendung mehrerer Bildmotive von © shutterstock / Caterina Belova / Chrispictures / aopsan / Zerbor / Fabio Lamanna / RPD PHOTO / Ivonne Wierink

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (ae)

ISBN 978-3-96148-876-6

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Jana Seidel

Das Restaurant der süßen Träume

Roman

dotbooks.

Kapitel 1

»Wenn ich gestorben bin, dann macht aus meiner Asche einen Diamanten«, sagt meine Mutter hastig, kaum dass ich den Telefonhörer abgenommen habe. Für den Bruchteil einer Sekunde wage ich zu hoffen, dass diese Ansage bloß Teil der Proben für ihre Laienschauspielgruppe ist. Andererseits würde es zu ihr passen, sich an meinem Geburtstag ausführlich mit ihrer Vergänglichkeit zu beschäftigen – Nebenrollen liegen ihr einfach nicht.

»Ach, Mama, wie soll denn das gehen?«

Falsche Frage. Jetzt hat sie mich am Wickel. Sie erklärt mir lang und breit das aufwendige Verfahren, in dem ein Teil der Asche eines Verstorbenen zu einem Diamanten gepresst wird – das hat sie im Fernsehen gesehen. Irrwitzigerweise ist die ganze Angelegenheit natürlich viel teurer, als sich gleich einen echten Diamanten zu kaufen.

»Mama, du wirst noch ganz lange leben. Und ich habe heute einfach keine Lust über Beerdigungen nachzudenken, heute ist mein Geburtstag. Schon vergessen?«

Sie hat es tatsächlich vergessen. Unglaublich. Wäre mir das an ihrem Geburtstag passiert, hätte sie wochenlang alle Leiden Christi inszeniert. So murmelt sie nur leicht beschämt: »Ähem, nein, natürlich nicht. Alles Liebe zum Geburtstag.«

»Danke. Ich muss jetzt aber aufhören. Es klingelt gerade an der Tür.«

»Nie hast du Zeit für mich«, sagt sie beleidigt.

Ich verabschiede mich schnell und laufe zur Tür. Da stehen Tanja, Hrithik, Toni und Peter, um mich abzuholen. Juchhu! Die Party kann beginnen. Natürlich haben alle Geschenke dabei. Obwohl ich sie gebeten habe, das zu lassen. Nicht aus falscher Bescheidenheit. Mir gefällt die Endlosschleife des Geschenketerrors einfach nicht, in der man sich bei nächster Gelegenheit mit einem genauso kostspieligen oder liebevoll ausgesuchten Päckchen würde revanchieren müssen. Außerdem bekommt man sowieso nie etwas, was man wirklich gebrauchen kann.

Wir hätten uns direkt im Weinstein verabreden sollen, wo wir später feiern wollen. Dann hätte ich eine Ausrede gehabt, die Geschenke später am Abend allein auszupacken. Die erwartungsfrohen Blicke machen mich ganz nervös. Geben ist wohl wirklich seliger als Nehmen. Weil die erste Reaktion des Beschenkten über Glück oder Unglück des Schenkers entscheidet, gebe ich mir an dieser Stelle immer besonders viel Mühe. Ich lasse mir einen Moment Zeit und fange nicht sofort an zu strahlen. Das würde zu aufgesetzt und mechanisch aussehen. Ich tue also so, als ließe ich das Geschenk einen kleinen Moment auf mich wirken, setze zu einem leichten Lächeln an, um schließlich dem Schenker in juchzender Freude um den Hals zu fallen.

Das klappt auch diesmal ganz gut – zumindest bei Tonis nett gemeintem Versuch, mich mit der neu aufgelegten Hitchcock-Edition zu erfreuen. Einen der Filme besitze ich zumindest wirklich noch nicht. Es funktioniert auch bei Tanjas und Hrithiks Obst-und Gemüsekisten-Abo, das dazu führen wird, dass in Zukunft viel erlesenes Bio-Grünzeug in meiner Wohnung gammelt. »Jetzt wo du mit dem Rauchen aufgehört hast ...«, erklärt Tanja und meint wohl: Jetzt kannst du auch vollends zur genussfreien Asketin mutieren, die ihren Grüntee nur im Lotusblütensitz einnimmt.

Hrithik lächelt verlegen. Er ist noch nicht lange mit Tanja zusammen und hat ihren Gesundheitstick offenbar noch nicht richtig verinnerlicht.

Oh mein Gott, ich bin ein nörgeliges, undankbares Biest. Es ist aber auch wirklich nicht leicht, dreiunddreißig zu werden, ohne nennenswerte Ziele der jugendlichen Lebensplanung erreicht zu haben. Aber dafür können ja meine Freunde nichts, die es nur gut mit mir meinen. Mit liebevoller Aufmerksamkeit widme ich mich also Peters Geschenk.

»Oh, ein Buch?«, hauche ich lächelnd. Die Form der nachlässig verpackten Gabe lässt keinen Freiraum für Interpretationen.

»Korrekt«, antwortet Peter.

Innerlich gewappnet mache ich mich darauf gefasst, dass sich unter dem Papier wieder einer von Peters Lebenshilfe-Scherzen verbirgt – wie der Südamerika-Reiseführer im letzten Jahr. Für die Reise, von der ich immer spreche, die ich aber vermutlich nie machen werde.

Anklagend sieht der Buchtitel zu mir hoch, nachdem ich das Geschenkpapier abgewickelt habe: »Was ist Wahrheit?«

Ich schlucke, und in meinem Hinterkopf geht sofort ein fieses Affengeschnattere los. Peter hat bei allem, was er sagt und tut, einen tiefgründigen Hintergedanken. Was also will er mir sagen? Verdammt. Finden meine Freunde mich unehrlich? Dabei lehne ich Lügen und Heuchelei doch in jeder Form ab – außer vielleicht wenn es um Geschenke meiner Freunde geht. Na ja, vielleicht greife ich auch gelegentlich zu der ein oder anderen kleinen Notlüge. Aber das macht doch jeder, oder? Ich tue so, als läse ich den Klappentext. Dann lächele ich Peter zögernd zu. »Das klingt ja wahnsinnig interessant.«

Zum Glück fällt mir die sichere Methode der Spontanentspannung wieder ein, von der ich in dem Buch »Weil ich es mir wert bin« gelesen habe: Tief einatmen und gleich wieder ausatmen. Dann den Atem sechs Sekunden anhalten. Na bitte. Ich werde später über eventuelle, in Geschenkpapier verpackte Botschaften nachdenken. Übermorgen ist auch noch ein Tag. Wenn ich jetzt nicht in Grübeleien versinke, liegt vor mir ein wunderbarer Freitagabend mit meinen besten Freunden. Dann ein herrlich verkaterter Samstag. Und am Sonntag, wenn die Paare spazieren gehen oder eng umschlungen vor dem Fernseher sitzen, werde ich wieder arbeiten. Das ist der Vorteil eines freiberuflichen Singles. Er muss nicht den ganzen Sonntag untätig vor dem Fernseher hocken, um bei alten Schnulzen von einem besseren Leben voller Liebe zu träumen.

Apropos Schnulzen – Hrithik hat gerade meine gut versteckte Perry-Como-CD gefunden und »The most beautiful girl in the world« laut aufgedreht. Er strahlt Tanja an. Die beiden sind seit zwei Monaten ein Paar. Davor sind sie Ewigkeiten befreundet gewesen. Ich habe nie verstanden, wie so etwas passieren kann. Man hört zwar immer wieder davon, und »Harry und Sally« ist es schließlich auch so ergangen – aber ich persönlich habe niemals mit einem meiner alten Freunde schlafen wollen. Na ja, mit Peter habe ich geschlafen. Aber gleich im ersten Semester, als wir noch nicht alte Freunde, sondern frische Fremde waren. Da konnte ich schließlich noch nicht wissen, dass er sich einmal als philosophischer Berater selbstständig machen und von einer langen Asienreise eine chinesische Frau mitbringen würde, die seine Sprache nicht versteht, aber Feng-Shui in seine vier Wände bringt.

»Und das hat mir Louisa vor meiner Abreise für dich mitgegeben.«

Grinsend hält er mir noch ein Geschenk hin, das in etwa die Form eines Ufos hat. Ich packe es aus und halte eine kleine Schneekugel in der Hand. Statt weißer Flocken rieselt es allerdings winzige grüne Kleeblätter auf die Miniatur eines irischen Herrenhauses.

»Oh, wie schön«, sage ich und meine es nun tatsächlich ehrlich. Wir haben alle gemeinsam im letzten Jahr einige Zeit in Irland verbracht, um dort unsere Freundin Louisa und ihren Vater zu besuchen. Der hatte nämlich nach der unschönen Trennung von seiner Frau einen Jugendtraum verwirklicht und seinen Arztkittel in Deutschland gegen eine Küchenschürze in Irland eingetauscht. Sein Imbiss dort – in Sichtweite eines Herrenhauses, das genauso aussieht wie das in der Schneekugel – soll fantastisch laufen. Louisa haben wir dann leider auch an die grüne Insel und an Colin verloren, einen zugegebenermaßen bezaubernden Dozenten. In den hat sie sich nämlich unsterblich verliebt. Und auch Peter ist länger geblieben als geplant. Seine philosophische Praxis in Hamburg lief nicht so gut wie erwartet, deswegen hatte er sie eigentlich aufgegeben, um fortan Louisas Vater unter die Arme zu greifen. Aber dann hat er besagte Chinareise unternommen, sich in Liu verliebt und es vorgezogen, sich ihr als philosophischer Berater in Deutschland vorzustellen und nicht als begeisterter Frittenwender in Irland. Er will sie langsam an seine Zweitexistenz heranführen, ist schließlich nicht jedermanns Sache. Frechheit, dass ausgerechnet er mir ein Buch zum Thema »Wahrheit« schenkt. Egal, nicht drüber nachdenken! Begeistert schüttle ich die Schneekugel und vermisse Louisa ganz furchtbar.

»Auf Juli!«, ruft Peter und hebt sein Glas.

»Ja, auf ein wunderbares, neues Lebensjahr, in dem alles in Erfüllung geht, was du dir erträumst«, sagt Tanja und gibt mir einen Kuss auf die Wange, als ich neben ihr aufs Sofa sinke. Nebenbei krault sie Hrithik die Haare, der zu ihren Füßen auf dem Boden hockt – auf einem der seidenen, roten Kissen mit Schriftzeichen, die Peter mir zusätzlich zu dem Buch mitgebracht hat. Die Farbe Rot steht in China angeblich für Glück und Wohlstand, »und da Rot bei uns die Farbe der Liebe ist, kann bei dir eigentlich nichts mehr schiefgehen«, hat Peter kichernd gesagt. Das muss wohl so eine Art postmoderne Fusions-Mystik sein. Das Schriftzeichen wiederum ist die chinesische Zahl Neun, die wohl ewige Freundschaft bedeutet. Da hat er wirklich kunstvoll so viel Bedeutung wie möglich in ein kleines Kissen verpackt – typisch Peter. Aber irgendwie trotzdem süß.

»Darin könnte man auch wunderbar die Asche von Verstorbenen aufbewahren«, sage ich, auf das Kissen deutend, und erzähle von dem Telefonat mit meiner Mutter.

Wie sich herausstellt, ist sie nicht die Einzige, die sich schon ernsthafte Gedanken über ihr Ableben gemacht hat.

»Also, ich möchte verbrannt und nicht von Würmern zerfressen werden«, stellt Tanja fest. Ich bin überrascht. Bei ihrem Öko-Bewusstsein hätte ich darauf gewettet, dass eine korrekte Kompostierung, also die klassische Erdbestattung, viel eher in ihrem Sinne wäre. Hrithik will seine Asche in einer Rakete in den Weltraum fliegen lassen, um seinen kindlichen Traum vom Astronautendasein zumindest nach seinem Tod zu verwirklichen. Tanja gibt sofort bereitwillig ihr Einverständnis, ihre Asche ebenfalls ins Weltall zu schießen. Und Peter will sich in ein künstliches Korallenriff einpflanzen lassen, um damit posthum einen Beitrag an die Meeresbiologie zu leisten.

»Ich weiß aber nicht, ob Fische wirklich philosophische Beratung brauchen«, sagt Toni und lacht.

Peter zieht beleidigt die Augenbrauen hoch. »Freunde, können wir dieses Lästermaul nicht auch einfach in den Weltraum schießen? Am besten jetzt gleich?«, fragt er mit gespielter Verzweiflung.

Toni wirft – immer noch lachend – mit dem Kissen nach ihm. Tanja und Hrithik sehen sich an und verdrehen die Augen. Klar, die beiden sind ja nun dank erhebender Liebe über die Albernheiten ihrer drolligen Freunde erhaben.

»Können wir jetzt losgehen?«, frage ich ungeduldig. Ich kann es kaum erwarten, in unser aller Lieblingsrestaurant zu gehen, dessen Besitzer Noah die leckersten Cocktails überhaupt mischt.

Als wir eintreffen, begrüßt er mich mit einem Wangenkuss.

»Hallo Geburtstagskind, dein erster Gimlet geht aufs Haus.«

Die Lachfältchen rund um die warmen braunen Augen vertiefen sich, als ich mir die Hand aufs Herz lege und hauche: »Danke, du bist der Beste.«

Ein wenig fühlen wir uns mittlerweile wie seine Adoptivkinder. Auch wenn unsere Väter niemals ein Goldkettchen um den Hals tragen oder uns zum Trinken animieren würden. Mit seiner beleibten Statur und den wirren, grauen Locken wirkt er auf anheimelnde Art verlebt. An unseren Tisch kommt er immer persönlich, statt eines seiner zauberhaften Mädchen zu schicken.

Noah weiß stets, was gerade bei uns anliegt und hat dann die passenden warmen Worte für uns übrig. Ja, ein wenig kommt er mir wie die Mutter vor, die ich nie hatte, wenn er mich so umsorgt.

»Wir nehmen übrigens das Gleiche«, sagt Toni.

»Aber ihr müsst zahlen.« Mit gespielt strenger Miene streckt er jedem meiner Freunde nacheinander den Zeigefinger entgegen.

»Och«, macht Toni.

Sie und ich teilen eine Leidenschaft für Krimis von Raymond Chandler und für das Lieblingsgetränk seines Privatdetektivs Philip Marlowe. Zumindest, was die Gimlets angeht, konnten wir unsere anderen Freunde anstecken.

»Wieso hast du dich eigentlich von Thomas getrennt?«, fragt Hrithik mich abrupt, als wir alle schon etwas angetrunken sind.

Eine heikle Frage. Die »Feuersbrunst meines Herzens« hat uns sozusagen verbrannt. Das ist der Titel eines üblen Machwerks. Es gibt ein Stadium in Liebesbeziehungen, in dem ich wieder die Romane lese, die ich als Single auch lese, dann aber zumindest nicht verstecken muss. Die, auf deren Cover sich halb entkleidete, weichgezeichnete Pärchen räkeln. Also die billigen Dinger, die mit Vorliebe in der Vergangenheit spielen, als die Männer noch echte Männer und die Frauen noch echte Frauen waren. Einer ehemaligen Germanistikstudentin natürlich unwürdig, bieten sie dafür aber adelige, anfangs leicht distanzierte Herren, denen ein weiblicher Wirbelwind Schloss und Hormone aufmischt. Oder einen Lebemann, den umgekehrt ein strenges, junges Mädchen bekehrt. Außerdem wird darin reichlich Sex geboten, bei dem alle Beteiligten (in diesen Romanen meist nur zwei) genau gleichzeitig und mit einem seligen Seufzer zum Höhepunkt kommen. Das tröstet, wenn man alleine ist. Aber eben auch, wenn man anfängt, sich in einer Beziehung alleine zu fühlen.

Wenn man sich allerdings zu sehr mit der Heldin identifiziert, kann Schlimmes geschehen: Der Typ, der neben einem im Bett schnarcht, erscheint im Vergleich so blass, leidenschaftslos und wenig galant, dass man sich sofort nach einem anderen umsehen möchte. Bei Thomas hatte ich die Empfindung über ein halbes Jahr hinweg jeden Abend, und nichts ließ mehr auf eine rauschende Zukunft hoffen. Danach habe ich die Trennung oft bereut, weil Thomas eigentlich ein netter, zuverlässiger, intelligenter Mann ist. Einer, den sich jede Frau wünscht, die von einer reifen, erwachsenen Beziehung träumt. Aber das alles werde ich nun vor den anderen sicher nicht zugeben.

»Na ja, zuletzt war es eben eher geschwisterlich«, lautet die knappere Variante.

»Da waren Tanja und Hrithik aber raffiniert«, meint Toni, »die haben die Geschwisterlichkeit einfach zehn Jahre lang vorweggenommen. Dann kann ja nur noch ein Leben voller Leidenschaft und grandiosem Sex auf sie warten.«

Tanja wird rot. Und ich schweige lieber, weil ich daran ja nicht glaube. Ich habe mich noch nie in einen Mann verliebt, zu dem ich mich nicht von Anfang an hingezogen fühlte. Ich unterstelle diesen ehemals nur freundschaftlich verbundenen Paaren eher Bequemlichkeit und die Angst vor den unberechenbaren Risiken der freien Wildbahn. Vermutlich machen diejenigen, die von einer Freundschaft in eine Beziehung geschlittert sind, anschließend genauso geschwisterlich weiter, was sie letztendlich von anderen langjährigen Paaren nicht unterscheidet. Die verbindet aber zumindest immer noch die Erinnerung an eine Phase heißer Leidenschaft. Ach, das Leben ist einfach zu kompliziert, die Erwartungen zu hoch. Man sollte Ehen wieder arrangieren, und Frauen von der ohnehin nur lästigen Berufstätigkeit befreien. Dann sind sie abhängiger und können es sich nicht leisten, gutverdienende Männer wie Thomas zu verlassen, die im Grunde alles richtig gemacht haben. Da haben wir nun endlich die neuen Männer, die über Gefühle sprechen und aufmerksam sind, und träumen immer noch von den unterbelichteten Typen aus amerikanischen Altherrenromanen, die ihre Schwiegertöchter flachlegen und ihre Frauen anschweigen. Schwieriges Terrain. Vielleicht sehen meine Freunde das insgeheim genauso, denn wir wechseln rasch das Thema. Ausgehend von der mystischen Bedeutung meines neuen Kissens sind wir plötzlich mittendrin in der lebhaftesten Diskussion über die neue Esoterikwelle. Tanja glaubt an westliche Sternzeichen, Peter an fernöstliche. Hrithik, Toni und ich glauben an gar nichts und machen uns über sie lustig. Ich habe insgeheim ein schlechtes Gewissen dabei. Rein intellektuell lehne ich den neu aufkeimenden Boom natürlich wirklich ab. Und selbstverständlich glaube ich auch nicht ernsthaft an Horoskope. Aber ich lese sie doch zu gerne. Und wenn ich gerade mal einen Partner habe, lese ich den Text für dessen Sternzeichen gleich mit, um dann in helle Aufregung zu geraten, wenn dort eine Tendenz zu Affären oder Abenteuern angekündigt wird. Ekelhaft, dieser ganze Irrglaube.

»Ich möchte, dass es mal wieder ein Roman in die Bestsellerlisten schafft, in dem kein Vampir auftaucht oder die größte Liebe erst im Jenseits möglich ist«, sagt Toni gerade aufgebracht.

»Ja. Und Sachbücher, in denen es nicht ums Pilgern, Ayurveda oder Engel geht«, pflichte ich ihr schnell bei.

»Ich meine«, sagt Toni, »alle Hollywood-Schauspieler sind doch jetzt Buddhisten oder Hindus oder sonst was. Das ist doch absurd. Oder könnt ihr euch umgekehrt vorstellen, dass sich ein hinduistischer Bollywood-Schauspieler plötzlich einen Rosenkranz ums Handgelenk schlingt, Wasser aus Lourdes trinkt und sich dazu – in absoluter Verkennung der Unterschiede der westlichen Religionszugehörigkeiten – Luthers Thesen in dekorativem Tribal-Rahmen aufs Schulterblatt tätowieren lässt?«

Tanja wirft flugs einen Blick auf Hrithiks Hände, als wolle sie nach dem Rosenkranz suchen. Hrithik sieht nämlich fast genauso aus wie sein Namensvetter, der indische Superstar Hrithik Roshan. Unwirklich hübsch für einen Mann. Hellbraune Augen unter langen schwarzen Wimpern und dazu ein paar Zahnreihen, gegen die Tom Cruises Veneers dunkelgelb aussehen. Er ist zwar Jurist, aber selbst meine Mutter würde einem Typen mit diesem Äußeren die spießbürgerliche Berufswahl verzeihen. Ich habe mich allerdings nie zu ihm hingezogen gefühlt. Das wäre so, als würde man sich in Barbies Ken verlieben. Zu glatt, zu perfekt.

Mich beschleicht der Gedanke, dass Toni Recht hat. Anscheinend ist alle Vernunft aus der Alten Welt und ihrem Sprössling, den USA, abgezogen und in die östliche Welt abgewandert. Die bauen jetzt riesige Firmen, Atomwaffen und gigantische Einkaufszentren und verpesten die Umwelt, während wir uns in »Entschleunigung« üben. Eigentlich haben sie uns schon besiegt. Darauf noch einen Gimlet.

Wir bleiben, bis alle anderen Gäste gegangen sind und spielen mit Noah mein Lieblingsspiel: Schauspieler über fünf Ecken zusammenbringen. Es beruht auf der Theorie, dass alle Menschen auf der Welt über fünf Ecken miteinander bekannt sind. Und weil ich so wahnsinnig viele Filme geguckt habe, kann ich eigentlich alle Schauspieler der Welt über fünf Filme zusammenbringen. »Franka Potente und Humphrey Bogart.« Noah wackelt herausfordernd mit seinen graumelierten Augenbrauen.

»Oh, das ist schwer«, sagt Tanja.

Doch nach ein wenig Kopfzerbrechen gelingt es mir triumphal, die passenden Filme zu finden.

Kurz darauf ertönt aus den Boxen »Sweet Dreams« von Eurythmics. Aus irgendeinem Grund liebt Noah diesen alten Hit und hat ihn zu seinem Rauswerfer-Song gekürt. Dank unseres guten Durchhaltevermögens haben meine Freunde und ich ihn schon sehr häufig gehört. So oft, dass wir uns mittlerweile voneinander mit den Worten »Süße Träume« verabschieden.

Aber an diesem Abend bin ich noch gar nicht bereit, das Weinstein zu verlassen. Ich lasse meinen Blick über all das dunkle Holz der Tische und Stühle und die goldfarbenen, mit barocken Ornamenten verschnörkelten Regalborde an den weinroten Wänden gleiten, auf denen Noah seine liebsten Flohmarkt-Fundstücke unterbringt. Kannen im Zwiebelmuster, Lampen mit Schirmen aus Tiffany-Glas und eine Schneekugel-Spieluhr mit einer tanzenden Ballerina darin. Dazwischen hängen gerahmte Autogramme von Stars, die schon einmal in diesem Restaurant gegessen haben – Hamburger Labskaus natürlich, dafür ist Noah berühmt.

Ich liebe diese Oase des Nostalgischen inmitten all der Lounge-Clubs in Hamburg. Hier fühle ich mich wie Zuhause. Der Alkohol ist wirklich eine wunderbare Erfindung! Dies ist einer jener Abende, an denen man eins ist mit sich und der Umwelt und denkt: Genau dies hier, dieser Moment ist das Leben. Nicht diese übliche Kette von Tagen, die vergehen, ohne dass man es überhaupt bemerkt. An denen man tagsüber grübelt, was eigentlich genau von einem erwartet wird, und nachts, ob man es hinreichend erfüllt hat.

***

Meine Stimmung am nächsten Morgen ist weniger euphorisch. Ich bin verkatert und habe einen rostigen Geschmack im Mund. Je mehr ich versuche, ihn mit Mineralwasser wegzuspülen, desto schlimmer wird er gemeinerweise. Außerdem fühle ich mich schwach, weinerlich und sentimental. Es ist wohl so eine Art Post-Geburtstagskrise. Ich vermisse die gute alte Zeit, in der man selbst Anfang zwanzig und die Welt voller vermeintlicher Gewissheiten war: Mit dreißig würde man natürlich Haus, Mann und Kinder haben. Aber bis dahin war ja zum Glück noch so unendlich viel Zeit, dass man vergnügt vorgeben konnte, so etwas unglaublich Ödes niemals zu wollen. Niemals würde einen das Leben der Erwachsenen erwarten, in dem Ehemänner ihre Frauen betrügen und Freundinnen schwanger werden.

Und plötzlich kommt eine Einladung zum Klassentreffen, bei der man zunächst vermutet, die Absender hätten sich vertan. Man kennt keinen Namen auf der Liste. Dann fällt einem auf, dass die Frauen einfach nur andere Nachnamen haben. Nur ich heiße noch so wie beim Abitur: Juli Sommer. Wieso ist der Übergang so schleichend, warum gibt es keinen Punkt, an dem man vorgewarnt wird: Jetzt wird's ernst. Wieso ist das Leben so grausam? Wieso muss man plötzlich aufwachen, mitten im »echten« Leben stecken, in dem die Fenster der Möglichkeiten immer kleiner werden? Wieso? Wieso kann man nicht mehr Rockstar, Schauspielerin oder Archäologin werden? Das wäre doch alles mal drin gewesen. Mist, dies wird wieder so ein vergrübelter Tag. Vermutlich werde ich am Nachmittag erschöpft einschlafen, mich abends noch zerstörter fühlen, dafür dann aber gar nicht mehr schlafen können.

Das Telefon klingelt. Ich bin einfach zu wehrlos. Obwohl ich ganz genau weiß, dass es am Samstagmorgen nur meine Mutter wagt, mich anzurufen, gehe ich an den Apparat.

»Na, wie fühlt man sich mit dreiunddreißig?«, fragt sie.

»Schwach«, erwidere ich und merke erschrocken, wie abweisend ich klinge.

»Hast du wieder zu viel gefeiert? Ich bin ja abends meist zu erschöpft, um etwas zu unternehmen. Aber so ist das wohl, wenn man Verantwortung für einen Haushalt trägt, für einen Mann sorgt und zwei Kinder großgezogen hat.« Sie seufzt.

Oh nein, bitte nicht. Sie ist in Leidensstimmung, das erkenne ich sofort. Es gibt Tage, an denen ich sie fast normal finde. Und es gibt Tage wie diesen, an denen sich die eindeutig schizophrene Tendenz in ihrem Charakter nicht leugnen lässt.

An einem Tag vergisst sie ihre Kinder völlig, um im von Papas Geld finanzierten Nobelkostüm immer noch den Hippie im Geiste zu spielen und sich obskuren Selbstfindungstrips hinzugeben. Dann wieder hat sie diese weichgespülten Phasen, in denen sie so tut, als sei sie schon immer der aufopferungsvolle Muttertyp gewesen, der in weißer Baumwollschürze pausenlos duftenden Apfelkuchen und sonntags Rouladen serviert. Eine von denen, die ihres Lebenssinns beraubt werden, wenn die Kinder ausziehen. Und, was soll ich sagen: Es funktioniert hervorragend. Ich bekomme sofort Schuldgefühle und vergesse glatt, dass ich mir nach der Schule immer selbst Tiefkühlkost – wenn denn überhaupt welche da war – zubereiten musste, weil meine Mutter in anderen Sphären schwebte und nicht wirklich Zeit für so profanes Zeug hatte. Irdischer Pragmatismus und totale Transzendenz können bei ihr schneller wechseln als das Wolkenbild an stürmischen Tagen.

Aber heute bin ich nicht in der Lage, mich dem Berg der Schuld zu stellen, der aus den Tatsachen besteht, dass ich zu selten zu Besuch komme, dann zu schnell wieder abreise und auch sonst nicht zur pausenlosen Belustigung tauge. Deswegen stelle ich meine Ohren auf Durchzug.

»Nerve ich dich etwa?«, fragt sie irgendwann im Verlauf des Gesprächs empört.

»Nein, natürlich nicht, Mama.«

»Nie komme ich hier raus aus dem Kaff. Und ich muss einfach mal wieder in den Urlaub fahren, einfach mal raus hier. Aber dein Vater stellt sich quer.«

Ich verstehe ihn gut. Im Gegensatz zu ihr geht er als Physikprofessor einem geregelten Broterwerb nach, und sie fahren ohnehin schon dreimal im Jahr in den Urlaub. Ein weiteres Mal stürzt sie sich mit ihren überspannten Freundinnen in Abenteuer, zu denen zählt, unter Alkoholeinfluss ihre Wirkung auf jüngere Männer zu testen. Ich hoffe ja nur, dass Tanja, Toni und ich nie so enden werden. Und ich ahne, was nun kommen wird.

»Sollen wir drei nicht mal wieder verreisen? Nur wir Mädels?«, fragt meine unerschrockene Mutter.

Innerlich schreie ich. Vor ein paar Jahren sind Mama, meine Schwester Ruth und ich gemeinsam eine Woche nach Rom gefahren. Am Ende der Woche hatte sie uns durch alle Museen gejagt, und wir mussten sie mit Mühe davon abhalten, im Trevi-Brunnen zu baden. Sie verplante jede Sekunde nach ihrem Gutdünken, zählte in jedem Café auf, welche Promis hier schon verkehrten, und erklärte uns, warum wir genau dort nun auch sitzen müssten. Ich bin mir sicher, dass sie keinen der Namen gekannt hatte, bis sie im Reiseführer auf ihn gestoßen war. Aber wie unser Vater wehren auch Ruth und ich uns nur selten gegen die Launen unserer Mutter. Es ist einfach zu anstrengend. Am letzten Tag lagen bei Ruth und mir die Nerven blank. Wir konnten einfach nicht mehr. Wir planten den Widerstand und sagten unserer Mutter, dass wir den Verlauf dieses Tages bestimmen würden: Ein einfacher Spaziergang mit anschließendem Kaffeegenuss in einem zufällig entdeckten Café. Ruth ist die Mutigere von uns, sie ergriff das Wort. Mama war entsetzt. Sie wurde ganz blass. »Aber in dem Café, in das ich mit euch wollte, saß schon Fallsack.«

»Balzac«, ächzte Ruth.

Mama umklammerte den Reiseführer in der Hand, bis die Fingerknöchel weiß hervortraten, und flüsterte: »Aber ich hatte mich doch schon so darauf gefreut. Warum wollt ihr mir denn den Urlaub verderben? Wir können doch auch einmal machen, was ich mir wünsche!«

Da rastete Ruth aus: »Wir haben alles getan, damit du einen schönen Urlaub hast! Wir haben alles gemacht, was du wolltest! Jetzt können wir einfach nicht mehr! Wir machen uns heute einen entspannten Tag, und wenn du unbedingt noch Zeit mit Balzac verbringen willst, dann kannst du es doch auch einmal alleine tun!«

»Aber dann habe ich keine Freude daran. Ich dachte, alles, was wir gemacht haben, hätte euch auch gefallen. Wenn ich gewusst hätte, dass ich euch nur quäle, wäre ich einfach zuhause geblieben.«

»Es hat uns ja auch gefallen, aber ...«

»Na, dann könnt ihr doch heute auch einmal etwas für mich tun.«

Wir müssen ein göttlicher Anblick gewesen sein: zwei erwachsene Frauen, die wie eine düstere, aber immer noch brave Version von Hanni und Nanni hinter ihrer innerlich triumphierenden, wenngleich nach außen hin immer noch schmollenden Mutter her trotteten.

Deswegen muss ich einen vergleichbaren Urlaub verhindern, der nur in Muttermord enden kann. »Ich würde ja so gerne, aber ich muss so viel arbeiten, dass ich es in nächster Zeit einfach nicht schaffe«, sage ich hastig.

Das ist nur halb gelogen. Dummerweise kann ich jetzt nicht auch noch ablehnen, am Wochenende zu Besuch zu kommen. Ich lege mit dem blöden Gefühl auf, wieder mal von ihr ausgetrickst worden zu sein.

Dann fällt mein Blick auf das Wahrheitsbuch von Peter auf dem Tisch. Hätte ich ihr sagen müssen, dass die »Nur-wir-Mädels«-Reise die schrecklichste meines Lebens war, und ich sie niemals wiederholen will? Nein, das hätte sie schließlich verletzt und ihr das Gefühl gegeben, dass ich nichts mit ihr zu tun haben will, was ja so nicht stimmt. Und wäre das nicht noch unehrlicher gewesen als eine Lüge, die ihr das Gefühl vermitteln sollte, dass ich letztendlich für sie irgendwie auch Liebe empfinde?

Ich schlafe ein.

Wie erwartet liege ich dafür in der Nacht wach. Eine schlaflose Nacht ist etwas Merkwürdiges. Mir gehen dann immer die schlimmsten Dinge durch den Kopf. Der ganze Müll, der sich tagsüber unbemerkt angesammelt hat. Da bekomme ich plötzlich eine panische Angst vor allen möglichen Sachen, die einem tagsüber lächerlich erscheinen würden. Obwohl mein Kopf das weiß, kommt er nicht gegen die schaurigen Gefühle an. Ich versuche, mit positiven Gedanken gegen die Furcht anzusteuern. Visualisierungsübungen sollen schließlich bei fast allem helfen. Ich male mir also aus, wie ich über die grüne Wiese eines blühenden Parks direkt in die Arme des attraktiven Schlossherrn laufe. Leider verschwimmt das Bild immer wieder. Und ich muss wieder daran denken, dass ich mir das alles ganz anders vorgestellt hatte. Bald bin ich 40, 50, 60 und dann tot. Und dann? Waren das schöne, unbeschwerte Zeiten, als man sich als Kind noch unsterblich wähnte. Wenn man erst mal anfängt über das Ende nachzugrübeln, hört man nicht mehr auf. Und keine Lösung ist trostreich. Ich spiele sie, wie schon so oft, in Gedanken durch: ewiges Leben irgendwo im All – eine so erschlagende Vorstellung, dass man sie nicht aushält.

Abtauchen ins Nichts – eine so erschlagende Vorstellung, dass man sie nicht aushält.

Wiedergeburt? Aber dann würde man sich ja nicht an sein Vorleben erinnern. Es sei denn, man wird zufällig Esoterikerin und macht eine Rebirthing-Therapie wie meine Mutter. Und wenn man sich nicht erinnert, es also keinerlei Brücke zwischen den Leben gibt, ist das ja genauso wie ins Nichts abzutauchen, also auch nicht trostreich. Aber an was soll man glauben? Wer irrt sich, und wer hat Recht? An diesem Abend geschieht das Schreckliche. Mir fällt ein unschlagbares Argument ein, das eindeutig fürs Nichts spricht: Was ist denn bitte schön mit den Tieren? Die haben doch auch ein Bewusstsein. Warum sollen wir eine jenseitige Vorzugsbehandlung kriegen, nur weil wir einen grammatikalisch korrekten Satz formen, und unser Dilemma deswegen immerhin artikulieren können? Das erscheint mir unlogisch. Und ein Hundehimmel, da lass ich noch mit mir reden, aber kann man sich ein Regenwurm-Nirwana vorstellen? Nein, natürlich nicht! Das bedeutet, dass es kein Lebewesen in eine andere Welt schaffen wird, wir bald alle weg vom Fenster sind und einige Menschen, an denen ich hänge, noch vor mir.

Da muss ich einfach losheulen, um meine Liebsten, die Regenwürmer und mich. Im größten Elend finde ich endlich eine Lösung für das Wahrheitsproblem: Statt meiner Mutter die Wahrheit zu sagen, dass ich nie wieder mit ihr in den Urlaub fahren will, werde ich fürs gute Gewissen endlich mal eine andere Wahrheit über die Lippen bringen: dass ich sie trotz allem liebe. Wenn sie mich nicht vorher wieder zur Weißglut bringt. Ha! Alles in allem bin ich ein guter Mensch. Der vierunddreißigste Geburtstag kann kommen. Aber bitte nicht so schnell.

Kapitel 10

Als ich Hrithik, Tanja, Toni und Peter wiedersehe, könnte ich vor Glück schreien. Ich habe das Gefühl, jahrelang fort gewesen zu sein.

»Du siehst irgendwie anders aus«, meint auch Toni.

Klar, leicht gebräunt, letzte Nichtraucherkilos verloren wegen Durchfall nach ungehemmtem Genuss von tropischen Früchten am Straßenrand während der letzten Urlaubstage.

»Ein wenig erschöpft«, ergänzt sie ungefragt.

Da schlägt wohl doch eher der Durchfall als die Sonnenbräune durch. Schade. Dafür habe ich einen Plan, den ich inzwischen so überzeugend finde, dass ich ihn mitteilen muss.

»Wow«, sagt Tanja beeindruckt, »das ist echt romantisch.«

»Wenn du meinst«, gluckst Toni, »zumindest betreibst du den Aufwand diesmal für einen Typen, der es verdient hat.«

Hrithik und Peter starren mich einfach nur an, als hielten sie mich endgültig für geistesgestört.

»Spinnst du?«, fragt Hrithik. »So einen Roman zu schreiben, dauert doch Wochen. Wovon willst du in der Zeit leben? Und wenn du nicht einmal unbedingt willst, dass er abgedruckt wird, hast du ja überhaupt nichts davon. Kannst du nicht einfach zu ihm gehen, ihm alles erklären und dich entschuldigen?«

Männer!

»Er würde sie doch gar nicht zu Wort kommen lassen. Sie hat es doch schon versucht. Da hilft nur noch ein echter Knalleffekt«, wirft Tanja ein und verdreht die Augen.

An den finanziellen Aspekt habe ich natürlich auch schon gedacht, aber ich werde meine Tage einfach unterteilen: In der ersten Hälfte arbeite ich journalistisch, in der zweiten Hälfte schriftstellerisch.

»Wer in Eile ist, sollte einen Umweg machen«, gibt Peter bedächtig zu.

»Klingt verdächtig nach den Zen-Floskeln auf der Speisekarte des Thai-Restaurants, in dem Anna und Klaus sich die einzige Würze holen, die in ihrem Leben Platz hat«, sagt Toni boshaft.

»Ich meine ja nur, dass sie, würde sie jetzt an seiner Tür stehen und Alarm klingeln, vielleicht weniger erreicht, als wenn sie sich jetzt tatsächlich noch zurückhält und ihm Gelegenheit gibt, sie zu vermissen. Und wenn sie es anders nicht aushält, kann sie sich genauso gut damit ablenken, ein Buch zu schreiben, das niemand lesen wird«, erklärt Peter.

»Ähem, eigentlich schreibe ich diesen Roman ja mehr für mich.« Eines muss ich dennoch herausfinden: »Er hat doch noch keine Neue, oder?«, frage ich mit bangem Blick in Richtung Toni.

»Also, nicht dass ich wüsste. Und auch wenn du auf einem anderen Kontinent geweilt hast, ist eure Trennung ja gerade mal vier Wochen her. Außerdem wirkt Alexander nicht wie jemand, der die Dinge überstürzt.«

Nein, vermutlich nicht. Nur ich bin in der Lage, innerhalb kürzester Zeit gleich zwei Beziehungen in den Sand zu setzen.

***

Mit dem kleinen Gott im Blickfeld fange ich gleich im Anschluss noch leicht angetrunken mit der Arbeit an. Und es funktioniert. Morgens um sechs habe ich bereits 3o Seiten geschrieben. Dann sehe ich bei amazon.de nach, wie viele Seiten aktuelle Bestseller im Schnitt umfassen. Ich will es ja nicht unbedingt veröffentlichen, sage ich mir. Aber ich will ein absolut professionelles Manuskript einreichen. Wenn schon, dann richtig.

Auweia, kein angesagter Schriftsteller macht es unter 300 Seiten. Im Schnitt sind es 336 Seiten errechne ich mit dem Taschenrechner. Zumindest wenn man den Durchschnitt aus Titeln wie »Wie man einen Vampir nagelt« (Bestsellerliste Platz eins. 520 Seiten. Toller doppeldeutiger Titel. Blutsauger außerdem eindeutig im Trend. Hat zwar keiner im Regal stehen, aber offenbar jeder gelesen. Vielleicht sollte ich mich in der Geschichte in eine Vampirfrau verwandeln. Wichtig ist doch nur, dass die Botschaft am Ende stimmt) und solchen wie »Die Vermessung des Mondes« (Platz zwei. Anspruchsvolle Literatur, in Kultursendungen empfohlen. Haben zwar alle im Regal stehen, kenne aber keinen, der es gelesen hat. Deswegen sind die laxen 152 Seiten sicher kein Richtwert) bildet.

Wie soll ich so viele Seiten zusammenbekommen? Mir gefällt außerdem gar nicht, dass es sich als unmöglich erweist, die Geschichte so zu erzählen, dass ich im Gesamtergebnis dabei elegant wegkomme. Ich beschließe, die Arbeit an dieser Stelle zu beenden.

Das wird ein harter Tag. Aber es gehört wohl zum Künstlerleben dazu, dass man nachts, wenn alle schlafen, über den Dächern der Stadt einsam seine Inspirationen fließen lässt – und am nächsten Tag mit Augenschmerzen in die Sonne blickt. Oh, wie ein Vampir eben. Kein Wunder, dass die so oft in der Literatur vorkommen, ist ja irgendwie ein Sinnbild für den Schriftsteller, der anderen Menschen das Blut für seine Dichtung aussaugt und erst bei Nacht auflebt, um sein düsteres Treiben raffiniert zu maskieren. Ich krieche ins Bett, um den profunden Gedanken zu Ende zu denken. Dazu komme ich aber nicht mehr, ich schlafe sofort ein.

***

Erst um zwölf Uhr mittags wache ich aus wüsten Träumen von sexsüchtigen Vampiren wieder auf. Die haben nicht nur Furcht erregt, muss ich zugeben. Leider werde ich jetzt länger in der Redaktion ausharren und zum Schreiben wieder eine Nachtschicht einlegen müssen. Im Spiegel sehe ich blasse Haut und Augenringe. Spitze Eckzähne sind mir noch nicht gewachsen. Aber vielleicht bin ich ja trotzdem zur Schriftstellerin geboren. Ich werde dann nie wieder stumpfsinnige Artikel schreiben müssen. Das wäre auch ein Trost, wenn Alexander die Geschichte zwar gefiele. er mich aber wider alle Hoffnung doch nicht zurückhaben wollte. Ich frage den kleinen Gott, was er von der Idee mit der Dichtung als meine zukünftige Brotgeberin hält. Er antwortet natürlich nicht, aber wenigstens zerspringt er auch nicht vor Schreck in tausend Teile.

Es ist ziemlich hart, die verliebten Blicke zwischen PaPi und Toni aushalten zu müssen. Anna und Klaus schrecken mich weniger, hinter so viel aufgesetzten Emotionen können die Gefühle nicht sehr tief sein. Ich bin schon fast geneigt, mich doch noch mit Diana anzufreunden – eigentlich müssen zwei missmutige Single-Frauen zusammenhalten. Ich kann mich nur deswegen gerade noch zusammenreißen, weil ich die ganze Zeit den kleinen Gott in meiner Hosentasche streichle, der mir zuraunt, dass für mich noch Hoffnung besteht. Als ich gerade darüber nachdenke, ob es nicht vielleicht auch eine sexuelle Komponente hat, immer die Rundungen der kleinen Statue nachzufahren, kommt Picard auf mich zu.

»Ihr Finanzkrisenthema hat mir gefallen«, sagt er nachdenklich. »Ich wollte schon längst mal den Kulturbegriff etwas weiter gefasst sehen. Diese bloßen Kritiken zu Theater-, Literatur- und Musikereignissen der Region sind doch etwas für Provinzblätter. Ich will Kultur im eigentlichen Sinn, ich meine als Begriff für alles, was der Mensch selbst gestaltend hervorbringt.«

Mist, jetzt kann ich nicht einmal mehr die Augen in Tonis Richtung verdrehen, wenn er mal wieder seine althumanistische Bildung heraushängen lässt. Sie strahlt ihn bewundernd an. Liebe macht offenbar taub. Dummerweise habe ich keine Ahnung, worauf das Gespräch hinauslaufen soll.

»Ich meine den Klimawandel«, sagt er.

Ein großes Thema, zu dem ich so gar keine Idee habe.

Macht nichts, Picard hat eine: »Ich habe neulich eine Werbeanzeige für einen energiesparenden Vibrator gesehen. Vielleicht könnte man untersuchen, ob das rationale Bewusstsein der drohenden Gefahr inzwischen so verankert ist, dass auch die eher triebhaften Bereiche nicht mehr ausgeklammert werden können.«

Ich verstehe kein Wort, befürchte aber stark, meine sexuellen Gedanken an den kleinen Gott haben sich aus Versehen auf den ganzen Raum übertragen. Das meint er doch wohl nicht ernst. Was mache ich hier überhaupt? Ich bin zu Höherem berufen. Meine Hände zittern vor Schlafmangel. Es muss an dieser tiefen Erschöpfung liegen, dass ich gegen meinen Willen gleichgültig brummele: »Gute Idee.«

Zufrieden sieht er sich im Raum um.

Und ich mache mich also an die Recherche. Dabei will ich viel lieber nach Hause gehen, um dort mein Werk zu beenden. Ich will mich nicht mit Vibratoren beschäftigen. Wenn ich den Zeitschriften und Fernsehsendungen glauben darf, bin ich die einzige Frau auf der Welt ohne Vibrator. Ich habe nie einen vermisst. Warum auch, ich bin eine ernstzunehmende Filmkritikerin und habe Besseres zu tun. Aber leider bin ich auch eine, die mehr Geld braucht, als drei bis vier neue Filme die Woche einbringen. Also verschaffe ich mir bei amazon.de erst mal einen Überblick über die Lage an der Sexspielzeugfront. Erstaunlich viele Lustspender sind mit erstaunlich vielen Kundenbewertungen versehen. Irgendwie finde ich es komisch, die Gummiknüppel nach ihren Funktionen aufgeschlüsselt und bewertet zu sehen wie Stabmixer.