Aiken, G. A. Lions - Leichte Beute (New York Shape Shifters 3)

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Für Ma.

 

Mir war nicht bewusst wie sehr du Sissy Mae wirklich ähnelst.
Eine charmante Südstaatenlady, die schnelle Autos, faule Sommertage und Alphamänner liebt.

Ich vermisse dich unglaublich, aber während ich dieses Buch schrieb, habe ich gemerkt, dass du immer noch jeden Tag bei mir bist.

 

 

Übersetzt aus dem Amerikanischen von Karen Gerwig

 

© dieser Ausgabe: Piper Verlag GmbH, München 2020
© Shelley Laurenston 2008
© Deutsche Erstausgabe 2012
Titel der amerikanischen Originalausgabe: »The Mane Attraction«
© Kensington Publishing, New York 2008
© der deutschsprachigen Ausgabe: Piper Verlag GmbH, München 2012
Covergestaltung: Cover&Books by Rica Aitzetmüller
Covermotiv: stock.adobe.com

 

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Kapitel 1

Es war schwer, bei einer Hochzeit an den Tod zu denken.

Dennoch gelang es ihm ganz gut.

Und das lag nicht daran, dass ihm langweilig oder die Braut nicht schön oder der Ort nicht toll war. Es lag an dem verdammten Anruf.

Ein Anruf, und sein Kopf war voller Bilder des Todes. Seines Todes. Aber man bekam auch nicht jeden Tag gesagt, dass ein Kopfgeld von zwei Millionen auf einen ausgesetzt ist. All das Geld für seinen dicken Löwenkopf.

Er hätte in Niedergeschlagenheit versinken müssen. Er hätte eine seiner Panikattacken haben müssen, bei denen er nicht mehr atmen oder klar sehen konnte. Er hätte tun sollen, was jedes normale menschliche Wesen tun würde, wenn es herausfand, dass jemand ihn so unbedingt tot sehen wollte – wobei »normal« relativ war, da er sich in ungefähr dreißig Sekunden von einem Menschen in eine Großkatze verwandeln konnte.

Aber er konnte nicht deprimiert sein, er konnte nicht panisch werden. Nicht jetzt. Nicht damit direkt vor der Nase.

Okay. Er hatte es nicht direkt vor der Nase, aber wenn er auf alle viere gehen und hinüberkriechen würde … dann konnte seine Nase direkt dort sein. Das war etwas, was es wert war, darin zu versinken.

Genussvoll zu versinken.

»Du starrst mir schon wieder auf den Hintern, oder?«

Normalerweise hätte Mitchell Patrick Ryan O’Neill Shaw, wenn er so von einer Frau auf frischer Tat ertappt wurde, ordentlich angefangen zu lügen. Er kannte die Frauen gut genug, um zu wissen, dass es Momente gab, in denen ein Mann lügen musste, wenn er nicht riskieren wollte, wichtiger Körperteile verlustig zu gehen. Doch ab und zu, wenn ein Mann genug Glück hatte, kam jemand vorbei, der über dieser ganzen Mann-Frau-Flirtsache stand. Und dieser Jemand war Sissy Mae Smith.

Sie hatten nicht gerade als Freunde begonnen. Was wenig überraschte, denn sie hatte ihm seine verdammte Jacke geklaut. Er hatte sie ihrer leicht bekleideten Freundin geliehen – zumindest war sie in diesem Moment leicht bekleidet gewesen –, und Sissy hatte getan, was diese Plünderer von Wölfen eben taten … sie hatte sie für sich behalten. Aber Mitch war eine Katze – König des Dschungels und so weiter –, also hatte er sich das verdammte Ding wiedergeholt. Das hatte dazu geführt, dass Sissy sich an ihn klammerte wie ein Äffchen und ihn aufforderte: »Genieße deinen Vorgeschmack aufs Nirvana, Arschloch!«

Um ehrlich zu sein, hatte er damals nicht viel mit ihr anfangen können, aber Sissy hatte so eine Art, den Leuten das Gefühl zu geben, sie schon zwanzig Jahre zu kennen. Sie kam zum Beispiel in das Büro der Sicherheitsfirma, wo sie beide für ihren Bruder arbeiteten – ein Job, der ihn auf Trab und von Ärger fernhielt, bis er für seine Zeugenaussage zurück nach Philly musste –, und ließ sich auf Mitchs Schoß fallen, als gehöre sie dorthin. Dann sagte sie etwas wie: »Ich weiß, dass meine Schönheit fesselnd ist, aber meinst du, Männer merken, dass ich auch was im Kopf habe?«, oder: »Würdest du mich ernster nehmen, wenn ich nicht so hübsch wäre?« Aber ihm war bewusst geworden, wie sehr er sie mochte, als sie ihn dabei ertappt hatte, wie er mitten in der Nacht ruhelos im Hotel seines Bruders herumwanderte. Sie hatte ihm keine Fragen gestellt wie: »Warum schwitzt du und zuckst bei jedem Geräusch zusammen, das auch nur im Entferntesten nach einem Schuss klingt?« Stattdessen hatte sie ihn zu einem »Lästerfrühstück«, wie sie es nannte, in ein Diner geschleppt, das um diese Uhrzeit noch geöffnet hatte.

Und es war auch bei einem dieser Frühstücke gewesen, als Mitch klar wurde, dass Sissy zu einer seiner besten Freundinnen geworden war.

»Ja, ich starre dir auf den Hintern«, antwortete er so unverblümt, wie sie gefragt hatte, »aber ich kann nicht anders. Er spricht ständig mit mir.«

Das war kein Scherz. Die Art, wie sie dieses dumme Brautjungfernkleid trug, machte ihn verrückt. Es war einen Millimeter zu eng um den Hintern, und er konnte nicht anders, als hinzustarren.

Wie die meisten weiblichen Gestaltwandler der Smith-Meute war Sissy viel Frau. Stark und kräftig gebaut. Sie konnte Verdächtige besser niederringen als die meisten Wrestler ihre Gegner. Er hatte erlebt, wie sie einen Fausthieb ins Gesicht einsteckte und den Kerl, der ihn ihr verpasst hatte, dann krankenhausreif trat. Er hatte sie aber auch schon jammern gehört, weil sie sich einen Zeh gestoßen hatte. Sissy würde nie ein Supermodel werden, aber genau das mochte Mitch an ihr. Wenn man mit Sissy ins Bett ging, musste man sich keine Sorgen machen, dass man sie versehentlich zerbrach.

Hübsch war sie außerdem. Sie sah ihrem großen Bruder sehr ähnlich, aber ihre Züge waren weicher, ihre Narben aus vergangenen Kämpfen etwas weniger dramatisch. Die dunklen Haare trug sie in einem fransigen Stufenschnitt, der ihre klaren hellbraunen Augen und ausgeprägten Wangenknochen umspielte und unterstrich. Die Frisur wirkte lässig und praktisch, aber Mitch war in einem Haushalt mit lauter Frauen aufgewachsen, und seine Mutter, eine ehemalige Krankenschwester, besaß jetzt eine eigene Salonkette. Er erkannte einen Dreihundertdollarhaarschnitt, wenn er einen sah. Aber die Designerschuhe an ihren Füßen waren ihr erstes und einziges Paar. Dasselbe galt für das Designerkleid. Sissy hatte es gern gemütlich und sah auch gern so aus, und sie scheute sich nicht, ein bisschen Arbeit hineinzustecken, um auch wirklich genau so zu wirken.

Ja, Mitch gefiel es, dass sie ein wandelnder Widerspruch war. Ein Landei aus der hintersten Provinz, das die ganze Welt bereist hatte und mehr fremde Kulturen kannte als mancher Promovierte. Eine Frau, die mit Ach und Krach die Highschool abgeschlossen hatte, es aber dennoch schaffte, sich den Respekt von Leuten mit mehreren akademischen Graden zu erwerben und zu erhalten. Eine Nervensäge, die dafür lebte, jeden zu ärgern, der dumm genug war, ihr ins Netz zu gehen, die aber für ihre Familie und Freunde sterben würde.

Sissy war genau, wie er erwartet hatte, und ganz anders als gedacht.

Also schien es unvermeidlich, dass sie irgendwann zusammen im Bett landeten, zumindest für eine Nacht, doch dann hatte ihn Sissy eines Tages unvermittelt angesehen und in ihrer direkten Art gesagt: »Weißt du, ich mag dich viel zu sehr, als dass ich dich je vögeln würde.« Sissy hatte nicht viel übrig für vage Euphemismen. Wenn man in ihrer Welt »miteinander schlief«, machte man etwas falsch. »Sex« war etwas für Prostituierte. Und »Liebe machen« war für Leute, die nie aus der Missionarsstellung herauskamen.

Und auf irgendeine seltsame Art hatte Sissys schonungslose Erklärung Mitch vollkommen eingeleuchtet, und er hatte ihr schockierenderweise zugestimmt. Seither waren sie beste Freunde.

Natürlich war das gewesen, bevor sie dieses verflixte Kleid angezogen hatte. Jetzt war er völlig abgelenkt und heiß, und Sissy konnte niemandem die Schuld geben außer sich selbst und ihrem wohlproportionierten Hintern.

»Hast du gesagt, mein Hintern spricht mit dir?«

»Yup.«

Er hatte schon die ganze Zeremonie über mit ihm gesprochen, und auch jetzt, während sie gezwungen wurden, unter der sengenden Mittagssonne von Long Island Fotos zu machen. Eine einfache Sache wie ein Fototermin hatte Mitch inzwischen die Gelegenheit beschert, weiter auf ihren Hintern starren zu können.

Die ganze Veranstaltung war völlig durchgedreht. So eine riesige Hochzeit für zwei Leute, denen eine Hochzeit nicht unwichtiger hätte sein können. Als Trauzeugen und Begleiter waren es fünfzehn Leute auf der Seite des Bräutigams und fünfzehn auf der der Braut, eine interessante Mischung aus Männern und Frauen – und Tierrassen. Großkatzen und Hundeartige gemischt. Vielleicht nicht immer gerne, aber auf jeden Fall höflich. Sissy begleitete ihren Bruder, und Mitch hatte auf der Seite der Braut geendet.

Es hatte ihn überrascht, als die Braut ihn gefragt hatte. Warum sollte sie ihn bei ihrer Hochzeit haben wollen? Und genau das hatte er sie auch gefragt. Sie hatte zu ihm heraufgelächelt, ihre großen braunen Wildhundaugen hatten sofort das Bedürfnis in ihm ausgelöst, sie zu beschützen, und dann hatte sie ihm gesagt: »Weil du, Junge, unser Karaoke-König bist und wir dich vor deinem Altar anbeten.«

Die Braut war ein seltsames Mädchen. Aber so liebenswert, wie es nur ein Hund sein konnte.

Aber ehrlich, zu wie vielen Gestaltwandler-Hochzeiten wurde man schon eingeladen? Im Gegensatz zu vielen Vollmenschen hielten die Bindungen bei ihnen, wenn sie sie erst einmal eingegangen waren, und deshalb hielten sie eine große Hochzeit und den ganzen Papierkram, mit dem man sich herumschlagen musste, normalerweise in erster Linie für Zeitverschwendung. Natürlich waren Gestaltwandler – männliche wie weibliche – nicht so leicht dazu zu bekommen, sich fest zu binden, aber wenn sie erst in der Falle saßen, dann auch auf Dauer.

Allerdings heiratete Bobby Ray Smith, Alphamann der New Yorker Smith-Meute und örtliches Quoten-Landei, nicht einfach irgendwen. Er heiratete Jessica Ann Ward, Alpha der Kuznetsov-Wildhundmeute und heißester weiblicher Computer-Geek weit und breit. Eine Hochzeit wie diese gab es nicht alle Tage … und auch nicht jedes Jahrtausend. Daran teilnehmen zu dürfen war also durchaus irgendwie eine Ehre für Mitch. Wenn man dann noch bedachte, dass Jess’ Meute so reich war wie Bill Gates, hatte man eine Hochzeit auf Augenhöhe mit einer Kennedy-Veranstaltung.

Die Hochzeit fand tatsächlich in einem echten Schloss statt. Und Mitch musste nicht einmal etwas zahlen. Sein Smoking, die Schuhe, der Versuch eines Haarschnitts – der in weniger als vierundzwanzig Stunden schon wieder zu seiner üblichen vollen Mähne herausgewachsen war –, alles bezahlt. Außerdem waren Zimmer in richtig teuren Hotels in der Nähe gebucht. Er wusste, das Essen würde phantastisch werden, und man erzählte sich, es gäbe einen Raum namens Schokoladenzimmer. Schokolade war sowieso das Thema der ganzen Hochzeit, aber in diesem Zimmer gäbe es Desserts aller Art. Außerdem gab es den Glücksspielraum, das Computerspielzimmer und den Sing-dir-das-Herz-aus-dem-Leib-Raum für die Karaoke-Fans.

Ja, ihm gefiel, wie diese Wildhunde lebten. Sie wussten, wie man das Leben genoss, und schämten sich nicht, wenn sie dabei erwischt wurden, wie sie ihre Schwänze jagten.

Aber jetzt musste er diese Fotos überstehen. Eines nach dem anderen mit einem dümmlichen Lächeln im Gesicht.

Während das Brautpaar Fotos mit den Eltern des Bräutigams machte, wandte sich Sissy Mae zu ihm um. »Hast du gerade gesagt, mein Hintern spricht mit dir?«

»Schon wieder. Er spricht schon wieder mit mir.«

»Schon wieder. Verstehe.«

Sie stand neben ihm und lehnte sich mit der Schulter an ihn. Mit den hohen Absätzen – über die sie sich schon seit Tagen beschwerte – war sie fast so groß wie Mitch. »Und was genau sagt dir mein Hintern?«

»Ich weiß nicht. Er spricht in Zungen.«

Sissys Lachen schallte über die Ländereien, die das Schloss umgaben. Aber es verklang rasch, als eine Stimme neben ihr blaffte: »Sissy Mae, versuch heute bitte, deinen Bruder nicht in Verlegenheit zu bringen. Wenn du das dieses eine Mal zustande bringen könntest.«

Ja, da war wieder dieses nervöse Zucken. Es war ein kleines im Winkel ihres linken Auges, und die meisten bemerkten es wahrscheinlich gar nicht. Doch Mitch hing schon lange mit Sissy herum und hatte ihre Gesichtsausdrücke zu lesen gelernt, denn ein bestimmter Ausdruck konnte ab und zu die einzige Warnung sein, die er bekam, bevor sie irgendetwas anstellte. Aber dieses Zucken war neu, und es schien nur aufzutauchen, wenn ihre Mutter in der Nähe war.

»Meinst du, du kannst dich nützlich machen«, sprach ihre Mutter weiter, »und Jessica Ann helfen, sich umzuziehen, jetzt, wo wir mit den Fotos fertig sind?«

»Warum? Kann sie ihre Arme nicht mehr bewegen?«

Das irgendwie Beängstigende an Sissys Mutter war, dass sie nicht hysterisch oder sauer wurde wie die meisten Mütter, die sich mit ihren Töchtern stritten. Im Gegenteil, sie setzte ihr furchteinflößendes kleines spöttisches Lächeln auf und trat bis auf ein paar Zentimeter an ihre Tochter heran.

Leise sagte sie: »Geh rauf und hilf deiner Schwägerin, bevor ich dafür sorge, dass du dir wünschst, ich hätte dich im Tierheim gelassen.«

Sissy seufzte. »Wenn auch nur die leiseste Hoffnung bestünde, dass ich nicht deine richtige Tochter bin, wäre das ein echter Grund zu leben.«

»Tja, Gott weiß, diesen Hoffnungsschimmer würde ich dir nicht geben wollen.«

»Ich bringe sie hin«, bot sich Mitch an, schnappte nach Sissys Hand und zog sie zu der Tür, durch die die anderen Frauen gegangen waren.

Meistens liebte Mitch es, Familienzwiste aus sicherer Entfernung zu beobachten. Aber er erkannte, wenn zwei tödliche Raubtiere in Angriffsstellung gingen, und wenn jemand ihn gefragt hätte, auf welche der beiden er wetten wollte … er hätte es nicht gewusst.

Sissy war jung, und sie war verflixt schnell, wenn sie wollte. Er arbeitete lange genug mit ihr zusammen, um zu wissen, wozu sie fähig war. Vor allem, wenn man sie richtig verärgerte.

Aber da lag etwas im Blick ihrer Mutter. Etwas Hartes und Gefährliches, das Sissy nicht hatte. Zumindest noch nicht. Und da Mitch tatsächlich zur Junggesellinnenparty eingeladen gewesen war, verspürte er eine gewisse Verpflichtung, dafür zu sorgen, dass Jess’ Tag perfekt blieb. Er wollte nicht, dass sie sich Sorgen über Blut an den Wänden ihrer schönen Hochzeitslokalität machen musste.

»Erklär mir noch mal, warum Muttermord in manchen Bundesstaaten illegal ist«, knurrte Sissy hinter ihm, als er sie zu der riesigen Freitreppe zog.

»In allen Staaten. Außerdem gibt es da auch noch ein paar moralische Einschränkungen.«

»Das ist nicht fair. Die Gesetzgeber haben eindeutig meine Mutter noch nicht kennengelernt.«

»Keine Ahnung. Abgesehen davon ist mir das alles fremd«, erklärte er, als sie auf der obersten Stufe angekommen waren. »Meine Mutter liebt mich und würde alles für mich tun, also hatte ich nie das Bedürfnis, sie umzubringen.«

Ihre hellbraunen Augen verengten sich plötzlich zu Schlitzen. »Wag noch einmal, mir das zu erzählen, sonst muss deine liebe Momma deinen geschundenen Körper gesundpflegen!«

»Schmeichlerin!«

Sie näherten sich den Räumen, die für die Braut und ihre Brautjungfern reserviert waren. Mitch hörte das Gekicher und fühlte sich sofort wie zu Hause. Er war von Frauen aufgezogen worden. Das Rudel seiner Mutter hatte sich seine ganze Kindheit hindurch gut um ihn gekümmert. Sie hatten ihm über die Jahre eine Menge beigebracht, und wenn sie ihn etwas nicht lehren konnten, waren immer ein oder zwei Männer im Haus gewesen, die aushelfen konnten. Dann war am Tag, nachdem er achtzehn geworden war, eine seiner Tanten in die Küche gekommen, wo er am Tresen gelehnt und eine Schüssel Cornflakes verschlungen hatte. Sie hatte ihn angestarrt, als habe sie ihn noch nie zuvor gesehen, und gefragt: »Bist du immer noch hier?« Da hatte er gewusst, dass es Zeit war, weiterzuziehen. Er würde im Haus seiner Mutter immer willkommen sein, aber es würde niemals sein Rudel sein.

Und Mitch hatte die Sache mit dem Rudel nie durchgezogen. Er war der einzige männliche Nachwuchs in einem Haus gewesen, das von knallharten Philadelphia-Girls geführt wurde, die kaum ein Blatt vor den Mund nahmen. Also hatte er schon in jungen Jahren gewusst, was Rudelfrauen wirklich über die Männer dachten, die ihr Essen aßen und sie schwängerten, und Mitch wollte das nicht.

Ein Nomade zu sein, hatte auch seine Vorteile, und es gefiel ihm, dass er sich die einzigen Feinde, die er hatte, selbst gemacht hatte. Sich einer Gruppe anzuschließen, war ihm ein bisschen zu sehr »Gang-Mentalität«. Wie diese Meuten von Hundeartigen das aushielten, war Mitch ein Rätsel. Die Wölfe schienen es als ihr Los im Leben zu akzeptieren. Die Wildhunde schienen es richtig zu mögen.

Mitch blieb abrupt stehen, als Sissy sich weigerte, weiterzugehen.

»Du kannst mich nicht zwingen, da reinzugehen«, sagte sie, als das Kichern und Lachen lauter und hysterischer wurde.

Er wandte sich ihr zu. »Du trägst ihr doch nicht immer noch diesen Boxhieb nach, oder, Sissy?«

»Nein. Und hör auf, mich ständig daran zu erinnern!« Sissy und die Braut hatten eine lustige gemeinsame Vergangenheit, und Mitch ärgerte Sissy äußerst gern damit.

Sie kam näher und flüsterte: »Sie sind alle so … so …«

»Mädchenhaft?«

»Golden-Retriever-mäßig.«

Mitch lachte und schleppte Sissy weiter in Richtung der Tür. »Ihr seid jetzt eine Familie. Das heißt, du hilfst aus.«

Sie blieben vor der offenen Doppeltür stehen und starrten fasziniert in die Suite voller Wildhunde, die »Jess! Jess! Jess!« skandierten.

Und Jess, in Wildhundgestalt, jagte ihren Schwanz im Kreis herum, eine Runde um die andere.

Mitch warf Sissy einen Blick zu, und sie versuchte nicht einmal, ihre Verlegenheit zu verbergen.

»Los«, drängte er. »Rein da!«

Sie entzog ihm ihre Hand. »Es muss hier irgendwo eine Bar geben.« Sie ging, und Mitch drehte sich wieder zu Jess um. Sie hatte aufgehört, sich zu drehen, und taumelte dafür durch den Raum, weil ihr so schwindlig war.

Als sie sich auf ihr Hinterteil fallen ließ und die Beine unter ihrem Körper wegrutschten, entdeckten die anderen Wildhunde Mitch.

»Mitch!«, jubelten sie alle, und er betrat grinsend den Raum.

 

Sissy ging zu ihrer besten Freundin hinüber und legte Ronnie Lee Reed den Arm um den Hals. »Hast du die Umgebung gecheckt?«

»Yup. Zwei volle Bars vorne im Ballsaal, zwei im hinteren Teil und noch mal drei verstreut in der Nähe des Computerspiel- und des Karaokezimmers.«

»Karaoke?« Sissy schüttelte sich. »Hör bloß auf!«

»Ja. Aber im Glücksspielraum gibt es Poker und Blackjack.«

»Gott sei gedankt für die kleinen Gnaden im Leben.« Sie sah sich um. »Die alte Kuh gesehen?«

»Ich habe schon eine ganze Weile keine von den alten Kühen mehr gesehen. Aber du weißt, wie gern sie sich an ihre Beute anschleichen und warten, bis wir am verletzlichsten sind, bevor sie zuschlagen.«

»Ich bin in der Hölle, Ronnie Lee. In der absoluten Hölle.«

Ihre Momma war nun schon drei Wochen in der Stadt … drei der längsten Wochen in Sissys ganzem Leben. Sie wusste nicht, was mit ihr los war, aber die Frau schikanierte sie schon seit dem Tag, an dem sie in New York angekommen war, und Sissys Geduldsfaden wurde allmählich sehr dünn.

»Zumindest sagt deine Momma deutlich, was für Probleme sie mit dir hat. Meine seufzt nur die ganze Zeit und schüttelt den Kopf.«

»Ich weiß nicht. Nach drei Wochen ständigen Geplappers von Janie Mae klingen enttäuschte Seufzer in meinen Ohren ziemlich gut. Und wann gibt es Abendessen? Ich kriege Hunger.«

»Frühestens in einer halben Stunde. Vielleicht könntest du noch mal raufgehen und die Braut sanft überreden, sich schneller anzuziehen?«

»Ich gehe da nicht noch mal rauf. Das ist zu viel verlangt. Abgesehen davon ist Mitch da oben. Er bringt sie dazu, sich zu beeilen.«

 

Mitch hielt ein Ende des Seils und die Wildhunde das andere. Er hatte ein Bein über das andere geschlagen, den linken Ellbogen aufs Knie gestützt und studierte seine Fingernägel.

»Zieht!« Sie taten es, und Mitch rührte sich keinen Zentimeter.

»Ladys, wird euch das nicht langsam ein bisschen peinlich?«

»Nein!«, schrien sie im Chor. Er war nicht wirklich überrascht. Bei afrikanischen Wildhunden lag die Schamgrenze hoch.

Jess, die – diesmal – nicht beim Tauziehen mitgemacht hatte, setzte sich neben Mitch. Sie trug ein Satinkleid und sonst nicht viel.

»Wie geht es dir, meine Schöne?«

»Gut. Bin froh, dass der Teil vorbei ist.«

Er warf einen Blick auf ihren flachen Bauch und stellte die Frage, die er täglich stellte, seit er erfahren hatte, dass sie mit Smittys Kind der Liebe schwanger war: »Und wie geht es Mitch junior?«

Jess schüttelte den Kopf. »Du musst aufhören, sie so zu nennen. Smitty reißt dir den Kopf ab.«

»Aber ich sehe so gern, wie rot sein Gesicht wird.« Er schaute auf die Wanduhr. »Du ziehst dich besser an. Dein Tag ist noch nicht zu Ende.«

Sie verdrehte die Augen. Soweit Mich wusste, hatte Jess nicht viel mit den Hochzeitsvorbereitungen zu tun gehabt, außer auf den Karaokeraum zu bestehen und darauf, dass es weder bei der Zeremonie noch beim Empfang echte Blumen gab, da sie dagegen höchst allergisch war. Von den Blumen auf den Tischen bis zum Brautstrauß waren alle Blumen unecht, aber so kunstvoll gemacht, dass er es nicht bemerkt hätte, wenn es ihm nicht jemand gesagt hätte.

»Ich habe das andere Kleid noch nicht gesehen. Zieh es an, und ich schaue, ob ich ihm das Mitch-Gütesiegel verleihen kann.«

»Okay.« Sie warf einen sehnsüchtigen Blick auf das Seil und die Hündinnen, die sich immer noch daran festklammerten.

»Nein, Jess. Du darfst jetzt nicht Tauziehen spielen.«

Sie stieß ein niedliches kleines Knurren aus und stürmte dann davon. »Mein Tag, von wegen!«

 

»Wusst ich’s doch, dass du dich hier hinten versteckst.«

Sissy lächelte zu ihrem Daddy hinauf. Sie war nicht überrascht, dass er sie in der hintersten Ecke der Küche gefunden hatte, wo sie sich im Pausenraum des Personals versteckte. Er kannte seine Tochter besser, als die meisten ahnten. Sie hatten sich schon immer nahegestanden. »Du bist eine der wenigen, die mich nicht nerven, Shug«, hatte er ihr schon gesagt, als sie erst fünf war. Bubba Ray Smith war ein Unikum, aber Sissy liebte ihren Vater und hätte jeden vernichtet, der sich mit ihm anlegte.

»Ich verstecke mich nicht. Ich mache eine dringend nötige Pause.« Sie stand auf und umarmte ihren Vater. »Hallo, Daddy.«

»Hallo, Shug.« Er nannte sie immer so, wenn sie allein waren. Es war sein Kosename für sie. Anfangs hatte er sie Sugar genannt, aber als sie ungefähr vier gewesen war, war er faul geworden und hatte es zu Shug abgekürzt. »Hältst du durch?«

»Ich versuche es, Daddy. Ehrlich. Aber sie provoziert mich!« Wie immer.

»Du darfst dich nicht immer von ihr nerven lassen.« Ihr Vater zog einen Stuhl für sie unter dem Tisch hervor, Sissy setzte sich, und er ließ sich neben ihr nieder. »Sie provoziert dich, weil sie will, dass du die Beste bist.«

»Die Beste worin? Muttermord?«

»Das ist nicht lustig, und das weißt du auch.«

Irgendwie war es schon lustig.

»Du bist jetzt erwachsen, Shug. Du darfst dich nicht mehr von ihr reizen lassen. Du hast deine eigene Meute, und du wohnst nicht einmal mehr daheim. Auch wenn ich dich nie davon abhalten würde, wieder zu uns zu ziehen, wenn du willst.« Und sie hörte die Hoffnung in seiner Stimme. Es brach ihr das Herz, und gleichzeitig fühlte sie sich sehr geliebt.

»Du weißt, dass ich nicht zurückkommen kann, Daddy. Nicht für immer.« Sie lächelte. »Aber zumindest bin ich jetzt in den Staaten.«

»Ja. Das stimmt. Und hier weiß ich mein kleines Mädchen wenigstens in Sicherheit.«

Ja, ihr Vater sah sie immer noch so. Sein kleines Mädchen. Süß, zerbrechlich, seine Prinzessin. Natürlich wussten es alle anderen besser. Und die meisten Frauen wären verärgert gewesen und hätten sich gefragt, warum ihre Väter sie nicht als Erwachsene sahen, die ihr Leben selbst in der Hand hatten. So war ihr Vater aber nicht. Sissy hatte nie das Gefühl, dass er sie nicht ernst nahm. Er hatte ihr schon die meisten Dinge zugetraut, als alle anderen sie noch wie ein Kind behandelten. Daher war sie immer, egal, wohin sie ging oder wie weit weg sie war, Bubba Smiths kleines Mädchen und würde es auch immer bleiben. Es störte sie nicht, denn sie zweifelte nicht an sich als Frau oder Wölfin. Das konnte man auch gar nicht, wenn man Alpha war. Man konnte es sich nicht leisten.

»Ich habe mir echte Sorgen gemacht, dass du da drüben in Asien bleibst, und dann hätte ich nicht gewusst, was ich ohne mein kleines Mädchen gemacht hätte.«

Denn Gott bewahre, dass der Mann womöglich einmal das Land verließ.

»Was gibt es denn so Interessantes außerhalb von Amerika?«, pflegte er zu brummeln. Die Tatsache, dass er ab morgen tatsächlich richtig Urlaub machen würde, verblüffte sie immer noch. Ihre Mutter hatte sicherlich einiges von ihrem Lewis-Charme spielen lassen müssen, um ihn so weit zu bekommen.

»Tu deinem alten Herrn einen Gefallen, Shug«, sagte er und nahm ihre Hand.

»Alles, Daddy.«

»Leg dich heute nicht mit deiner Momma an. Versprich es mir.«

»Aber …«

»Versprich es mir, Sissy Mae.« Okay. Er hatte ihren vollen Namen benutzt. Nicht Shug oder Kleine oder irgendeinen seiner anderen Spitznamen für sie. Also meinte er es ernst.

Zu Sissys Überraschung – und vor allem zur Überraschung ihres Bruders – bedeutete diese Hochzeit ihrem Vater viel, und sie wollte sie ihm nicht ruinieren. Sie würde der Kuh einfach aus dem Weg gehen. Zum Henker, das tat sie schon seit der Grundschule, was bedeutete da schon ein weiterer Tag?

»Versprochen, Daddy.«

Er beugte sich zu ihr vor und küsste sie auf die Stirn. »Das ist meine Kleine.«

 

»Deine Titten werden herausfallen.«

Jess blinzelte ihn mit großen braunen Hundeaugen an. »Was redest du da?« Sie schaute an dem ärmellosen, elfenbeinfarbenen Kleid hinab, das sie trug. Ihr Kleid für die Zeremonie hatte ein kleines Vermögen gekostet. Dieses hier, speziell für den Empfang, hatte viel weniger gekostet. Ein Minivermögen.

»Ich habe dich tanzen sehen, Jess. Deine Titten werden herausfallen.«

Jess machte einen Schritt rückwärts und streckte die Arme aus. »Nippelcheck.«

Die Hündinnen stürmten vor und starrten angestrengt das Kleid an.

»Ich sehe nichts«, stellte Sabina fest, als sei ihr Wort das einzige, das zählte. Sabina war Russin, Jess’ Stellvertreterin und diejenige, nach der die Meute benannt war, und sie hatte den sexyesten Akzent, den Mitch seit einer ganzen Weile gehört hatte. »Du irrst dich«, erklärte sie Mitch.

»Ich irre mich nicht.« Er stellte sich hinter Jess und legte die Hände an ihre Seiten. Dann hob er sie hoch und schüttelte sie ein paar Sekunden durch. Wie erwartet kicherte Jess wie eine Sechsjährige.

Als er sie wieder auf den Boden stellte, schauten die Wildhündinnen noch einmal hin.

»Nippel, meine Freunde«, verkündete May. Maylin war Mitchs andere Lieblingshündin. Ursprünglich stammte sie irgendwo aus Alabama, war eine niedliche Asiatin und fand ihn »einfach zu süß«. Leider waren beide Frauen vergeben. Und sie hatten beide Massen von Kindern. Was tat man mit so vielen Kindern? Man konnte sie schließlich nicht einfach in eine Fabrik schicken, um ihr eigenes Geld zu verdienen – manche hielten das für falsch.

»Man sieht Nippel«, bekräftigte May.

Mitch legte das Kinn auf Jess’ Schulter und schaute nach unten. »Wie schlimm ist es? Ich sollte mir das Gebiet genau ansehen. Schon gut, Süße. Ich bin Cop.«

Jess streckte den Arm nach hinten und gab ihm einen Klaps ins Gesicht. »Du bist widerlich!«, lachte sie.

Die Schneiderin, die sie für ebensolche Situationen für die Dauer der Hochzeit engagiert hatten – wer kann sich so was leisten? –, wurde in die Suite der Braut gerufen.

Mitch setzte sich auf einen Stuhl und sah zu, wie passende Satinträger an ihrem Kleid angebracht wurden, damit es oben blieb. Jetzt war es zwar immer noch ärmellos, aber viel sicherer.

»Besser?«, fragte Jess, als sie vor ihm stand.

Er streckte sich und legte das Gesicht genau an ihre Brüste. »Gib mir einen Moment Zeit, um das zu untersuchen.«

»Oder«, knurrte eine sehr wütende Stimme neben ihm, »ich könnte dir jetzt sofort die Kehle zerfetzen, dann können wir eine Hochzeit und eine Beerdigung feiern.«

Ohne sich zu entfernen, drehte Mitch den Kopf und schaute in die wütenden Wolfsaugen von Bobby Ray Smith oder Smitty, wie er von seinen Freunden genannt wurde.

»Jetzt sei nicht gleich sauer auf mich, ich versuche nur zu helfen!«

Daraufhin bekam Mitch aufblitzende Wolfszähne zu sehen, bevor Jess Smitty wegschubste.

»Wenn einer von euch Blut auf mein Kleid schmiert, ist hier der Teufel los«, warnte sie sie.

 

»Sissy Mae!«

Sissy wandte sich von der Bar ab und ihren Lieblingstanten zu. Sie waren die Schwestern ihrer Mutter, aber das machte sie ihnen nicht zum Vorwurf.

Quietschend warf sie sich in ihre Arme, und ihre Tanten drückten sie und zeigten ihr, dass sie keine totale Enttäuschung war, egal, was ihre Mutter sagte.

»Sieh dich an, Schätzchen! Bildschön bist du!«, rief ihre Tante Francine, die älteste der Lewis-Schwestern.

»Danke.« Ihre Momma hatte ihr gesagt, sie solle ein paar Pfund abnehmen. »Ich muss zugeben, ich hatte Angst, mit was für Kleidern die Wildhunde ankommen würden. Vor allem, als ich Jessie Anns Hochzeitskleid gesehen habe.« Nicht dass das Kleid der Braut nicht schön gewesen wäre. Aber es hätte wahrscheinlich ein bisschen besser ins Jahr 1066 gepasst.

Typisch Jessie Ann, es musste immer alles ein bisschen anders sein.

Sissy löste sich von ihren Tanten.

»Aber diese Farbe gefällt mir an dir«, erklärte ihr Francine. »Allerdings, Braun zu einer Hochzeit …«

»Es ist nicht braun«, erklärte Sissy, denn sie hatte es im letzten halben Jahr schon zehntausendmal gehört. »Es ist schokofarben. Dunkle Schokolade. Zweiundsiebzig Prozent …«

»Hör auf.« Francine hob die Hand. »Ich kann mir das nicht anhören.«

Sissy lachte. »Nur Bobby Ray kann sich eine wie Jessie Ann aussuchen.«

»Hat sie dir verziehen?«, fragte Roberta, die Zweitjüngste.

»Sie sagt, sie hat, aber ich glaube ihr nicht. Wenn ich in den Raum komme, findet sie eine Ausrede, um zu gehen.«

»Das hast du allein dir selbst zuzuschreiben, Sissy Mae.« Francine ließ Sissy niemals etwas vergessen. »Du hast das kleine Ding ganz schön gequält.«

»Quälen ist ein hartes Wort. Zutreffend«, fügte sie hinzu, »aber hart.«

Sissy lächelte ihre Tante Darla an, die jüngste der Schwestern. »Wie geht es Onkel Eggie? Schade, dass er nicht hier ist.«

»Ach, Schätzchen, das weißt du doch. Mein Mann ist nichts für Menschenmengen.« Und Darla war nicht viel besser.

»Er ist wahrscheinlich in einem Müllcontainer irgendwo in Smithtown.«

»Das will ich ihm nicht geraten haben«, knurrte Darla scherzhaft. »Ich habe ihn gewarnt, dass er sich besser nicht noch mal von mir in einem erwischen lässt.«

»Und Dee-Ann?«, fragte Sissy nach ihrer Lieblingscousine, Darlas und Eggies einzigem Kind.

Darla wollte etwas sagen, zuckte dann aber nur die Schultern. »Ehrlich, Schätzchen, ich habe genauso wenig Ahnung wie du.«

»Ich würde mir keine Sorgen machen, Tanta Darla. Ich bin mir sicher, Dee-Ann geht es prima.« Zumindest hoffte Sissy das. Sie liebte ihre Cousine, aber Dee arbeitete für die Regierung, und was auch immer sie dort tat, hielt sie von ihrer Familie fern und unterband für Sissys Geschmack viel zu lange den Kontakt.

»Also …«, fragte Tante Janette mit strahlenden Augen, »wann kommst du nach Hause, Sissy Mae?«

»Aaach. Vermisst ihr mich?«

»Natürlich … und ein paar Katzenzicken bräuchten dringend mal wieder einen ordentlichen Dämpfer.«

Typisch. »Nein. Auf keinen Fall.«

»Ach, komm schon, Sissy …«

»Nein, Tante Janette.« Sissy schüttelte nachdrücklich den Kopf. »Ich habe dir schon mal gesagt, dass ich nicht zurückkomme, und das habe ich ernst gemeint.«

»Undankbares Ding!«

»Bin ich nicht, und hör auf, mir ein schlechtes Gewissen machen zu wollen!«

»Und sonst?«, schaltete sich Francine ein. »Wann wird unsere Sissy Mae sesshaft?«

»Äh …«

Doch bevor auf diese bedrohliche Frage die Panik mit voller Wucht einsetzen konnte, schnappte Mitch sie plötzlich von hinten.

»Entschuldigen Sie, Ladys. Ich muss Sissy als menschlichen Schutzschild benutzen.«

Er hob sie hoch, und es überraschte sie nicht, dass sie plötzlich das Gesicht ihres Bruders direkt vor sich hatte.

Sissy seufzte, als sie den finsteren Blick ihres Bruders sah. »Was hat er jetzt wieder angestellt?«

»Der Junge sollte seine Hände bei sich behalten.«

»Eigentlich waren meine Hände überhaupt nicht beteiligt!«

Bobby Ray reckte sich um sie herum und versuchte, nach Mitchs Kehle zu schnappen.

»Hört sofort auf! Bobby Ray, beweg dich, los! Bald fängt das Dinner an, und du musst deine Braut von den anderen Tierheimhündchen wegholen.«

»Hör auf, sie so zu nennen! Und du, denk daran, was ich dir gesagt habe, Junge!«

Nachdem ihr Bruder davonstolziert war, schlug Sissy nach Mitchs Händen. »Lass mich sofort runter, Mitchell Patrick O’Neill Shaw.«

»O-oh«, sagte er zu ihren Tanten, während er sie absetzte. »Sie hat meinen vollen Namen benutzt. Das heißt, ich habe Ärger.«

»Ich dachte, die Regeln wären klar?« Sissy drehte sich zu ihm um und konnte sich gerade noch ein Stirnrunzeln verkneifen. Nicht wegen dem, was Mitch getan hatte. Zum Henker, er war ausgesprochen zahm. Nein, weil Mitch in letzter Zeit anders aussah … sie konnte es nicht erklären. Er hatte dunkle Ringe unter den Augen, und er wurde immer dünner. Er war kleiner als sein Halbbruder Brendon, aber sie hatte das Gefühl, dass etwas nicht ganz stimmte. Mitch war eine Großkatze und sollte eigentlich groß und kraftvoll gebaut sein. Aber sie hatte bemerkt, dass Mitch nicht viel aß, und das wurde immer schlimmer. Sie versuchte, ihn dazu zu bringen, mehr zu essen, aber in letzter Zeit stocherte er nur noch in seinem Essen herum. Etwas stimmte nicht mit ihm. Mehr noch als sonst, und sie musste herausfinden, was es war. Es gab nicht viele Kerle, die sie genug respektierte, um sie als Freund zu bezeichnen. Ihre Freunde waren normalerweise weiblich; Männer, die sie ehrlich respektierte, gehörten normalerweise zur Familie. Die meisten Männer sah sie schlicht als potentielle Bettgeschichten, weiter nichts. Mitch war der erste, der in Sissys Welt darüber hinausging, und Sissy kümmerte sich um ihre Freunde.

»Hör mal, Mitchell, wenn ich nichts anstellen darf, darfst du auch nichts anstellen!«

»Ich habe nur der Braut geholfen!« Er schaute ihre Tanten an. »Ich habe nur kontrolliert, ob ihr Mieder richtig passt.«

Francine fragte: »Und ich nehme an, du musstest dein hübsches Gesicht hineinstecken, um das zu kontrollieren, was?«

»Wenn eine Freundin meine Hilfe braucht, dann – entschuldigen Sie meine derbe Ausdrucksweise – verdammt noch mal, ja! Dann tue ich genau das!«

Sissy kicherte und begann sich am Kopf zu kratzen, als ihr einfiel, dass sie immer noch diesen verdammten falschen Blumenkranz in den Haaren hatte. Laut Aussage der Braut waren diese Dinger der Renner auf Mittelalterfestivals … Sissy hatte immer noch Mühe damit, dass sie jetzt Leute kannte, die zugaben, zu solchen Veranstaltungen zu gehen. »Du bist einfach nicht glücklich, wenn dein Leben nicht in Gefahr ist, was?«

Mitch grinste. »Sei nicht eifersüchtig auf mich und Jess. Du weißt, dass ich auch dein Mieder jederzeit kontrollieren würde, wenn du willst.«

»Sei still!« Sie nahm ihn am Arm und zog ihn näher zu ihren Tanten. »Mitchell, das sind die Schwestern meiner Mutter. Miss Francine, Miss Darla, Miss Roberta und Miss Janette. Ladys, das ist Mitchell Shaw, Brendon Shaws kleiner Bruder.«

Obwohl er damit beschäftigt war, allen Tanten die Hand zu schütteln, schaffte es Mitch dennoch, ihr über die Schulter einen finsteren Blick zuzuwerfen. »Mehr fällt dir nicht ein, um mich zu beschreiben? Nur Brendon Shaws kleiner Bruder?« Er seufzte betrübt, und traurige goldene Augen sahen ihre Tanten an. »Sie hat Angst, Euch reizenden Damen die Wahrheit zu sagen, wissen Sie? Was sie sagen will, ist: Mitchell Shaw, der Mann, den ich liebe und mit meinem ganzen frechen Südstaatenherzen anbete.«

»Traurige Gestalt, was?«

Mitch verzog plötzlich das Gesicht. »Ich muss weg. Die Reed-Jungs auf zehn Uhr.«

»Was hast du ihnen diesmal getan?«

»Die Erklärung würde zu lange dauern, aber es geht um einen Anruf bei einer entzückenden Heiratsvermittlerin auf Long Island namens Madge, die glaubt, die Reed-Jungs suchten die Liebe fürs Leben. Shit!« Mitch rannte los, und Ronnie Lees Brüder waren ihm direkt auf den Fersen.

Sissy schüttelte den Kopf. »Ich weiß manchmal wirklich nicht, was ich mit dem Jungen anstellen soll.« Sie runzelte die Stirn, als sie merkte, dass all ihre Tanten sie süffisant angrinsten. »Was denn?«

 

Das Dinner stellte sich als besser heraus, als Sissy gedacht hatte. Erstens – wichtig – waren die älteren Gestaltwandler auf dem langen Podium am Kopfende des Raumes platziert. Normalerweise war dieser Platz für das Brautpaar reserviert, aber Jessie Ann war mit irgendeinem Mist dahergekommen, wie wichtig die Älteren und die Familie seien, und Sissys Daddy wurde ganz aufgeblasen, weil Jessie darauf bestand, dass er und Janie direkt in der Mitte sitzen mussten. Mit anderen Worten: sie waren die Wichtigsten.

Andererseits waren sie vielleicht auch tatsächlich die Wichtigsten für Jessie Ann. Sie hatte ihre Eltern verloren, als sie erst vierzehn war, und Sissys Eltern hatten Jessie Ann sofort gerngehabt.

Was noch wichtiger war: Die Sitzordnung war ein Vorteil für Sissy. Statt eine Stunde lang bei ihrer Momma in der Falle zu sitzen, saß Sissy glücklicherweise am Tisch des Brautpaars, das sein Eheglück-Geturtel auf ein Minimum beschränkte. Mitch saß rechts von ihr, und Ronnie Lee saß mit ihrem Gefährten und Mitchs Halbbruder Brendon zu ihrer Linken. Desiree MacDermot-Llewellyn saß ihr gegenüber, zusammen mit ihrem Gefährten und Smittys bestem Freund Mace. Den restlichen Tisch besetzten Jessie Anns Freunde, Sabina, Phil, May und Danny.

Der riesige Raum bot nicht nur genügend Platz für Tische für alle Anwesenden, sondern es gab auch eine Tanzfläche direkt in der Mitte. Wenn Sissy auch bezweifelte, dass sie zur Musik irgendeiner lahmen Band – oder noch schlimmer: eines langweiligen DJs – tanzen würde. Aber ihr Steak war blutig und köstlich und die Gesellschaft akzeptabel.

Obwohl Sissy gewusst hatte, dass es eine große Hochzeit werden würde, war ihr nicht bewusst gewesen, welche Art von Leuten kommen würde. Auf einer Seite der Tanzfläche waren einige der wichtigsten Namen der ach so langweiligen Welt des Software- und Computer-…krams versammelt. Sissy wusste das nur, weil Brendon sie erwähnt hatte, und er hatte ziemlich ehrfürchtig geklungen. Als Löwe war er nicht leicht zu beeindrucken. Um diese unwissende Gruppe von Vollmenschen waren mehr Meuten und Rudel und ungebundene Katzen versammelt, als Sissy je zusammen in einem Raum gesehen hatte. Einige von ihnen erkannte sie von ihrer Arbeit in New York City wieder. Andere hatte sie noch nie gesehen, aber von ihnen gehört. Sie kamen aus den ganzen Vereinigten Staaten, sogar von der Westküste.

Dann waren da noch die Wildhundmeuten. Asiatische Wildhunde, Dingos aus Australien und mehr afrikanische Wildhunde, als man hätte bestimmen können. Und da sie niemals den Mund hielten – Herr im Himmel, diese Hunde konnten reden und reden! –, hätte Sissy sie am liebsten für immer zum Schweigen gebracht.

Der Rest waren Smiths. Entweder blutsverwandt oder durch Verpaarung. Sie waren von überallher gekommen, aus North und South Carolina, Alabama, Mississippi, Louisiana, Virginia, West Virginia und Texas. Die einzige Gegend, die schwach vertreten war, war ihr eigenes verdammtes Zuhause, Smithtown.

Nun hatte Sissy gleich gewusst, dass Sammy es nicht zur Hochzeit schaffen würde. Er hatte zehn Kleine und ein Diner, das er und seine Frau im Herzen von Smithtown betrieben. Ferien gab es für sie so gut wie gar nicht. Aber Sammy hatte sowohl Sissy als auch Bobby kontaktiert, um es ihnen zu sagen und sich zu entschuldigen. So gehörte sich das ja auch.

Das erklärte jedoch nicht die Abwesenheit von Travis, Donnie und Jackie. Wie die Geschwister ihren eigenen Bruder so behandeln konnten, war Sissy ein Rätsel. Das tat man einfach nicht, egal, was man über eine Person dachte. Familie war Familie, zumindest Sissys Meinung nach, und es gab nichts, was sie nicht für ihre Geschwister getan hätte, egal, wie sehr sie sie hasste, und auch wenn sie ihnen am liebsten bei der erstbesten Gelegenheit die Gesichter eingeschlagen hätte.

Damit würde sie sich aber ein andermal beschäftigen. Auf jeden Fall würde sie Travis noch deutlich die Meinung dazu sagen. Mit Jackie und Donnie würde sie sich nicht aufhalten. Sie taten sowieso nur, was Travis ihnen sagte.

Mitch lehnte sich auf seinem Stuhl zurück, eins seiner langen Beine ausgestreckt, den Arm auf die Rückenlehne ihres Stuhles gelegt.

Der Mann sah gut aus in einem Smoking. Natürlich zog sie Männer in Jeans und T-Shirt solchen in spießigen Anzügen oder Smokings vor. Na ja, um genau zu sein, bevorzugte sie sie nackt, aber darüber rümpfte die Gesellschaft ja die Nase.

Der Blick seiner goldenen Augen schweifte durch den Raum, und sie wusste, dass er das Gleiche dachte wie sie.

»So viel, was man hier anstellen könnte«, murmelte sie neben seinem Ohr, »und so wenig Zeit?«

Er grinste. »Es ist zu einfach. Wie Lämmer bei der Schlachtung.«

Sissy beugte sich noch näher zu ihm und sog genüsslich den Duft der Großkatze ein. »Es ist jetzt fast vorbei, oder?«

»Noch nicht einmal annähernd, Süße.«

Er hatte natürlich recht. Aber Sissy war trotzdem der Überzeugung, dass das Schlimmste vorüber war.

Bis die Musik begann …

 

Mitch liebte es. Die Wildhunde waren in Hochform. Sie hatten weniger als sechs Takte von George Clintons »Atomic Dog« gehört, bevor sie alle gleichzeitig anfingen zu jubeln und auf die Tanzfläche stürmten. Sogar die Braut ließ ihren frisch Angetrauten sitzen und rannte mit den anderen zum Bellen auf die Tanzfläche.

Die reichen Geeks schlossen sich ihnen vollkommen ahnungslos an. Die restlichen Rassen waren dagegen offensichtlich entsetzt. Die Katzen waren überrascht, weil sie an die Wölfe gewöhnt waren, die mehr Raubtier waren als die albernen Hunde. Die Wölfe wiederum waren peinlich berührt vom albernen Betragen der Hunde. Die Bären waren wie üblich gelangweilt.

»Warum lächelst du?«

Mitch lachte über Sissys Frage. »Komm schon! Wie cool war das denn? Es war, als wäre ein Hundeflüsterer hereingekommen und hätte sie alle auf die Tanzfläche getrieben!«

Die Löwen und Dez lachten. Die Wölfe … weniger.

»Seid nicht sauer!«, sagte er, als sie gingen. »Ihr versteht die Komik der Lage nicht!«

 

Sissy nahm die Hand ihres Bruders und zog ihn in die Küche; als alle ihren Namen riefen, lächelte und winkte sie.

»Woher kennst du diese Leute?«

»Du warst nie ein geselliger Typ, Bobby Ray.«

»Diese Leute« waren die, die Sissy halfen, wenn sie es am meisten brauchte. Das waren die Leute, um die sie sich immer besonders kümmerte, wenn sie eine Leistung erbrachten oder ihr bei einer Kleinigkeit außerhalb des Jobs halfen.

Sissy führte Bobby Ray in den Raum, in dem sie mit ihrem Vater gesessen hatte, und schloss die Tür hinter ihnen. »Ich wollte dir etwas geben.«

Ihr Bruder verschränkte die Arme vor der breiten Brust. »Bekomme ich noch einen Vortrag über die Gefahren von Mischlingskindern?«

»Wozu die Mühe? Du wirst es wohl selbst lernen müssen.« Sie nahm das Päckchen, das sie auf dem Tisch deponiert hatte, und gab es ihm. Sie hatte gewusst, dass die Angestellten das Geschenk dort liegen lassen würden. Der Chefkoch vergötterte sie.

»Das ist für dich.«

Bobby Ray starrte das Päckchen in seiner Hand an. »Wofür?«

»Zur Hochzeit.«

»Du sagtest, eine Hochzeit sei etwas Dummes und die Ehe noch viel dümmer.«

»Daran hat sich nichts geändert. Aber da du es durchgezogen hast, wollte ich dir etwas schenken. Mach es auf!« Sie hüpfte vor ihrem Bruder auf und ab, während er das Geschenkpapier abriss. Er öffnete die Schachtel und blinzelte. Dann schloss er die Augen, und ein warmherziges Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus.

»Wo hast du das denn gefunden?«, fragte er schließlich.

»Als ich dein Zimmer nach Zigaretten durchsucht habe. Du warst erst ungefähr einen Monat bei der Navy.«

»Ich bin überrascht, dass du es nicht weggeworfen hast.«

»Ich habe sie nie gehasst, Bobby Ray. Ich war nicht nett zu ihr, aber ich habe sie nie gehasst. Und als ich das sah«, sie deutete auf das Geschenk, »wusste ich, dass du sie liebst. Sogar damals schon. Ich habe es nie vorher erwähnt, weil ich dachte, ich hätte es verloren. Aber ich habe es letztes Mal, als ich daheim war, gefunden, in meinem alten Geheimversteck unter meinen Playgirls vergraben.«

Bobby Ray hob das gravierte Armkettchen aus der mit Samt ausgeschlagenen Schachtel. Auf der Vorderseite stand Bobby Rays Name, aber es war die Inschrift auf der Rückseite, die der sechzehnjährigen Sissy damals ihre Vermutung bestätigt hatte und sie sich das erste Mal wie eine Tyrannin hatte fühlen lassen: »Für meine Jessie Ann.«

»Ich dachte mir, du könntest es ihr jetzt geben, da du ja den Schwanz eingezogen hast, als du achtzehn warst.«

»Ich habe nicht den Schwanz eingezogen; ich fand nur nicht, dass es der richtige Zeitpunkt war. Hochnäsige Ziege.«

»Kastrat.«

Sissy schlang die Arme um ihren Bruder und drückte ihn fest. »Hab ein glückliches Leben, Bobby Ray.«

»Ja. Ich arbeite dran.«

Und Sissy lachte.

 

Mitch legte seiner älteren Halbschwester den Arm um die Schulten und lächelte, als sie sich verspannte und die Hände zu Fäusten ballte.

Marissa Shaw war Brendons Zwilling und Mitchs ältere Halbschwester. Zum Glück war sie nicht seine einzige Schwester. Es gab noch Gwenie. Die fünf Jahre jüngere, süße, unschuldige Gwen wäre nie so gemein zu Mitch gewesen. Sie betete ihn an!

Rissa dagegen schien überzeugt, dass Mitch nichts weiter als ein Dreckskerl war, der ihnen ihr umfangreiches Vermögen stehlen wollte. Und das, obwohl er so nett zu ihr war …

»Was für interessante Schuhe! Sind das offizielle Clownsschuhe, oder musstest du billige Imitationen kaufen?«

Marissa schenkte ihm einen bösen Blick. »Wirst du nicht irgendwo gebraucht? Ich bin sicher, Sissy würde es nichts ausmachen, wenn du noch ein bisschen ihren dicken Hintern anstarrst.«

»Sei nicht eifersüchtig, Liebling. Ich bin mir sicher, dass es auch jemanden gibt, dem es nichts ausmachen würde, deinen dicken Hintern anzustarren.«

Sie machte sich abrupt von ihm los. »Tu dir bitte keinen Zwang an und halte dich heute fern von mir.«

»Ich versuche jeden Tag, mich von dir fernzuhalten.«

»Du gibst dir wohl nicht genug Mühe.«

Mitch sah ihr nach, als sie ging. »Hab dich lieb, Rissa!«

»Halt die Klappe!«

Lachend zog Mitch sein vibrierendes Handy aus der Hosentasche. Doch sein Lachen erstarb, als er die Nummer erkannte.

 

Sissy sah, wie ihre Mutter sich auf die Zehenspitzen stellte und über die Menge hinweg nach etwas Ausschau hielt. Wahrscheinlich nach ihr. Panisch machte Sissy mehrere Schritte rückwärts, aber diese verdammten Schuhe rutschten unter ihr weg. Wer zum Henker zahlte überhaupt siebenhundertfünfzig Dollar für Schuhe? In was für einer Welt war das in Ordnung? Ein Paar Stiefel und eine Lederjacke, und Sissy war für weit weniger Geld glücklich.

Während sie darauf wartete, auf dem Boden aufzuschlagen, schloss Sissy die Augen und biss die Zähne zusammen. Sie knallte tatsächlich auf etwas Hartes, aber es war nicht der Boden.

Langsam öffnete sie die Augen und verkniff sich ein Lächeln. »Oh. Hallo, Brendon.«

»Äh … hi.« Er sah so sagenhaft entsetzt aus, als er plötzlich mit der besten Freundin seiner Gefährtin auf dem Schoß dasaß, dass Sissy nicht widerstehen konnte. All die Regeln, die ihr Bobby Ray in den vergangenen Wochen eingehämmert hatte, verschwanden aus ihrem Kopf, als sie Mitchs großen Bruder ansah.

»Das ist jetzt wohl ein bisschen peinlich, was?«

»Na ja …«

»Aber ich konnte nicht mehr mit der Heimlichkeit leben.« Sie legte die Arme um seinen Hals, und sein ganzer Körper verkrampfte sich, während seine Blicke durch den Raum schweiften und praktisch darum flehten, jemand möge ihn retten. »Du und ich … wir passen perfekt zusammen, Brendon.«

»Was?« Seine goldenen Augen wurden groß. »Äh … Sissy … warte mal eine Sekunde …«

»Ernsthaft. Ich habe deine Kinder gesehen. Wir hätten wunderschöne Babys.«

»Was ist hier los?«

Armer Brendon. Er wusste nicht, ob er erleichtert oder zu Tode erschrocken sein sollte, als Ronnie Lee zu ihnen herüberkam.

»Ich habe Bren endlich gesagt, dass er mir gehört und wir für immer zusammen sein werden.«

Ronnie wandte den Blick zur Decke und strich sich die Haare aus dem Gesicht. »Ich dachte, du würdest zuerst mit mir darüber reden.«

Sissy spürte, wie Brens großer Löwenkörper zusammenzuckte, und sie hatte größte Mühe, ihr Lachen zu unterdrücken.

»Ich bin die Alphafrau, Schätzchen. Ich muss über verdammt noch mal gar nichts reden, weder mit dir noch mit sonst jemandem.«

Ronnie nickte und räusperte sich. »Sie hat recht. Es tut mir leid, Bren.« Sie schniefte eine nichtexistente Träne weg – Ronnie brachte nie falsche zustande. »Ich hoffe, du wirst mich in liebevoller Erinnerung behalten.« Dann rannte sie in die Menge davon.