Über das Buch

»Dieses Debut ist so fein, klug, verletzlich, edel und urkomisch geschrieben, dass ich mich grusele vor dem großen Talent der Ilona Hartmann.« Charlotte Roche

»Wenn man zusammen allein ist, egal ob auf Kreuzfahrt oder daheim, ist Ilona Hartmann Rettungsring. Sie ist mega. Lest dieses Buch, und wenn ihr keinen Bock auf Lesen habt, dann kauft es trotzdem.« Ronja von Rönne

»Das ist genau das Buch, das wir diesen Sommer brauchen werden. Mit leichter Hand und viel Humor geschrieben.« Christoph Amend, Zeit Magazin

»Ich liebe Ilona Hartmanns Sprache. Sie ist so wunderbar schnörkellos, gnadenlos präzise und voll schwarzem Humor. Ihre Sätze, die möchte man sich an die Wand hängen, so gut sind sie.« Sonja Heiss

»Auf der Suche nach dem verlorenen Vater. Bewegend.« Rafael Horzon

Jana hat ihren Vater nie kennengelernt. Alles, was sie über ihn weiß, ist, dass er als Kapitän auf der MS Mozart arbeitet, einem eher wenig glamourösen Kreuzfahrtschiff auf der Donau. Also bucht sie sich kurzerhand eine Woche dort ein. Ob sie sich ihm zu erkennen geben wird, weiß sie noch nicht. Mit knapp hundert Gästen im Seniorenalter und der trinkfesten Bordbesatzung beginnt die Fahrt von Passau nach Wien. Mit großer Sensibilität erzählt Ilona Hartmann die Geschichte einer jungen Frau auf der Suche nach den eigenen Wurzeln. Ein Roman voller Situationskomik und skurriler Begegnungen, aber auch der Beginn einer zärtlichen, emotionalen Annäherung zwischen Vater und Tochter, die gerade erst lernen, was es heißt, einander Familie zu sein.

Über Ilona Hartmann

Ilona Hartmann ist freie Autorin und Texterin. Geboren 1990 bei Stuttgart zog sie direkt nach dem Abitur erst nach Leipzig und dann nach Berlin, vor allem aber ins Internet, wo sie bis heute lebt. »Land in Sicht« ist ihr erster Roman. Texte von ihr finden sich regelmäßig auf ZEIT Online, in Der Freitag und auf Twitter. Instagram @ilona_hartmann Twitter @zirkuspony

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Ilona Hartmann

Land in Sicht

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Anmerkung

Impressum

Für meine Eltern

Tag 1

Im Inneren des Schiffs ist es dunkel und kühl. Bordeauxroter Marmorboden, goldene Handläufe an den Treppen. Links von mir sitzt hinter einem Tresen eine Frau mit einer schmalen Lesebrille. Es ist alles genau so, wie ich es mir vorgestellt hatte.

»Hallo«, sage ich leise. »Ich würde gerne einchecken.« Die Rezeptionistin, auf deren Namensschild Ivanka steht, blickt mich über den Brillenrand aufmunternd an. »Willkommen an Bord. Das hier müssen Sie noch ausfüllen.« Sie schiebt ein Klemmbrett mit einem Formular und einen Kugelschreiber über den Tresen. Mit klammen Fingern greife ich danach und trage zittrig einen Namen ein, von dem ich hoffe, dass es meiner ist. Jana Bühler, wahrscheinlich 24 Jahre alt, wohnhaft irgendwo, Adresse vergessen. Den Rest weiß der Personalausweis, den ich auf Nachfrage aus der Tasche angele. Auf einen Decknamen habe ich verzichtet. Ich glaube nicht, dass der Kapitän Einsicht in Passagierlisten hat. »Hier, Ihr Kabinenschlüssel.«

Im winzigen Vorraum des WCs bleibe ich am Spiegel stehen. Ich sehe aus wie eine schlechte Party. Mein Gesicht ist fahl, und auf den Wangen haben sich unregelmäßige rote Flecken ausgebreitet. Ein Schweißfilm glänzt über der Oberlippe, auf der Stirn und dem Nasenrücken. Seit ich an Bord bin, habe ich verlernt, mich wie ich zu verhalten. Damit hatte ich gerechnet, aber natürlich auch ein bisschen gehofft, falsch zu liegen.

Über die Lautsprecheranlage ertönt eine Durchsage: »Liebe Gäste, wir legen in 30 Minuten ab. Ihren Kabinenschlüssel erhalten Sie an der Rezeption. Bitte finden Sie sich in fünfzehn Minuten im Salon auf dem Oberdeck zur Begrüßung ein. Vielen Dank.« Wie ferngesteuert gehorche ich.

Der Salon, ein langer Raum mit niedriger Decke, vielen Plastikpalmen und absurd vielen Säulen, füllt sich nach und nach mit Gästen. Ich stelle mich ganz hinten an die Wand und blicke auf ein Meer silberner und kahler Köpfe. Das monotone Surren der Deckenventilatoren, das sanfte Schlurfen der Schuhe über den Teppich und das gedämpfte Murmeln der Reisegruppe beruhigen mich. Zum ersten Mal wird mir bewusst: Die sind alle mindestens so alt wie meine Großeltern. Die einzige Ausnahme ist ein junges Paar um die 50. Ich atme mit der Gruppe ein und aus.

Ich bin hier. Alles verläuft so, wie ich es vorhatte.

Noch.

Reiseleiter Jo, eine gut gelaunte Ruine von schwer zu schätzendem Alter, betritt die kleine Bühne im hinteren Teil des Raums. In trippelnden Schritten rücken die Gäste näher heran, ich selbst komme in einer Palme zum Stehen. Jo trägt bunte Schuhe, eine selbstbewusst enge Hose und eine Sonnenbrille im lichten Haar, die aussieht, als würde sie gleich abstürzen. Er eröffnet die Veranstaltung mit einigen einleitenden Worten.

»Und zum Schluss: Bei Fragen oder Problemen wenden Sie sich gerne jederzeit an uns. Wir können bei allem helfen. Außer vielleicht bei dicker Luft in der Kabine.« Jo zwinkert wie wahrscheinlich jedes Mal an dieser Stelle. Diejenigen, die als Paar angereist sind, lachen verhalten, wie wahrscheinlich jedes Mal an dieser Stelle.

Der Tagesablauf auf der MS Mozart folgt einer Grundregel: Die Gäste müssen immer entweder satt, betrunken oder beides zugleich sein. Frühstück ab 7 Uhr, Mittagessen um 12 Uhr 30, Kaffee und Kuchen um 16 Uhr, und Abendessen wird um 18 Uhr 30 serviert. Wann und wo wir an- und ablegen, ist auf der Routenkarte im Foyer markiert und wird täglich bei der kurzen Gruppeninformation um 17 Uhr angekündigt. Das Unterhaltungsprogramm ist dezent. Keine Bingo-Abende, aber es gibt Gesellschaftsspiele zum Ausleihen, abgegriffene Spielkarten, einige Bücher, diskrete Animation und eine ab 10 Uhr geöffnete Bar. Abends ab 20 Uhr bedient Bordmusiker Bob das Keyboard und spielt, grob zusammengefasst, das Zweitbeste von gestern. Unter den Gästen freuen sich einige sichtlich über das Unterhaltungsangebot. Noch vor ein paar Tagen hatte ich Witze darüber gemacht, jetzt schäme ich mich für meine Häme.

Als ich in meine Kabine zurückkehre, steht dort der monströse Koffer. Die Klimaanlage war nicht eingeschaltet, so dass sich die warme, feuchte Juliluft im Raum gesammelt und mit dem Geruch des Teppichbodens vermischt hat. Ein Griff am Koffer ist eingerissen, was ich eine angemessene Reaktion des Materials finde. Ich lasse mich mit dem Gesicht nach unten auf die Pritsche an der Wand kippen. Bis zum Abendessen habe ich genug Zeit, um hier zu liegen und mindestens zweimal durchzudrehen, was ich eine angemessene Reaktion meinerseits finde.

*

Bei Kreuzfahrten denkt man gleich an gigantische, schneeweiß glänzende Hochsee-Schiffe mit unvorstellbaren Ausmaßen, tausenden Gästen, zehntausenden Angestellten, zentnerschwere Kronleuchter aus Kristall, Aufzüge aus Glas, Anzüge aus Satin, ein Spielcasino, mehrere Pools, ein Aquarium voller Rochen, Animation, Völlerei, Exzess, Austern, Viagra, Cocktails mit Schirmchen.

Eine schwimmende Großstadt also, mit allen Vor- und nur wenigen Nachteilen. Über allem schwebt der verblichene Titanic-Charme, die bittersüße Hoffnung, etwas Großes könnte, ja: möge bitte hier und jetzt auf dieser Reise passieren. Vielleicht trifft man die Liebe seines Lebens, vielleicht rammt man einen Eisberg, vielleicht fällt einem das Smartphone in die Trüffelpasta. Wer weiß das schon? Eine Reise, so verheißungsvoll wie der erste Schluck eiskalten Champagners, den man dort zur Begrüßung in hauchdünnen Kelchen gereicht bekommt.

All das jedenfalls gibt es auf einem Donaukreuzfahrtschiff wie der MS Mozart nicht. Wer sich für eine Flusskreuzfahrt entscheidet, wählt, aus welchen Gründen auch immer: den Pragmatismus. Es ist die ideale Art zu Reisen für Menschen, die noch ein bisschen was von der Welt sehen wollen, aber bitte nicht zu viel. Allein schon durch die räumliche Begrenzung von beiden Uferseiten entsteht hier gar nicht erst der Eindruck unbegrenzter Freiheit. Eher die Gewissheit: Alles, was hier passiert, passt auf zwei Bierdeckel.

Flusskreuzfahrtschiffen sind natürliche Grenzen gesetzt, ein Muster, das das gesamte Konzept einer solchen Reise durchzieht. Auffallend ist die Abwesenheit alles Maritimen. Keine blau-weiß gestreiften Sonnenschirme, keine kinderzimmergroßen Aquarien mit Zierfischen, keine unterarmdicken Schiffstaue als Deko an der Wand. Es stimmt ja auch: Meer machen die Großen.

Trotzdem wird nichts unversucht gelassen, den mondänen Glamour eines Atlantikkreuzers zu imitieren. Aber spätestens, wenn man aus den Fenstern seiner Außenkabine blickt, draußen oberösterreichische Kleinstädte vorbeiziehen und das Eiscafé »VALENZIA« an der Hafenpromenade wegen defekter Leuchtbuchstaben nur noch »NZI« heißt und jemand ein A zwischen N und Z gesprüht hat – spätestens da wird man sich bewusst: Hier trifft keiner die Liebe seines Lebens. Höchstens jemanden für den nächsten Wanderurlaub.

Ein schwimmendes Hotel ist trotzdem aufregend und an vielen Stellen bemerkenswert. Nach einem ersten Streifzug an Bord kann ich einige Punkte ausmachen, die ich am Konzept Flusskreuzfahrt positiv hervorheben würde.

Es klingt banal, aber damit muss man erstmal klarkommen: Auf einem Schiff ist man durchaus etwas Besonderes. Es herrschen verkehrte Verhältnisse. Da, wo sonst Straße ist, ist jetzt Wasser. Da, wo sonst das Hotelbett der einzige Fixpunkt einer Reise ist, fährt es jetzt mit einem herum. Da wo man sonst immer dachte: »Binnenschifffahrt« ist eigentlich nur bei Scrabble nützlich, gehört man jetzt plötzlich dazu.

Man wird übrigens in der Regel nicht seekrank, denn hier gibt es, Überraschung, keinen Seegang. Nur ab und zu entstehen ein paar große Wellen, wenn dicke Passagier- oder Containerschiffe vorbeifahren. Wie jeder vernünftige Mensch winke ich wie verrückt, wenn wir nah an Spaziergängern am Ufer vorbeikommen, denn das ist die erste Regel im Kreuzfahrtclub. Hallo! Ich bin hier! Wir schwimmen!

Die MS Mozart ist ein schönes Schiff. Einigermaßen. Auf dem Wasser wird Schönheit in anderen Einheiten gemessen. Alles ist ein bisschen dunkler, enger und niedriger, als man sich das an Land gefallen lassen würde. Die Decken hängen tief, die Flure ziehen sich lang und duster, das Fensterglas ist trüb. Das Dekor der Tapeten zeigt exotische Pflanzen, die nur für einen kurzen Moment in der Geschichte der Menschheit wuchsen, nämlich 1994 im Kopf des Tapetendesigners. Die Sessel im Salon sind mit gelblichem Kunstleder bezogen, das beim Hineinsetzen quietscht und beim Aufstehen schmatzt. Die Tische im Speisesaal sind aus Kirschholz oder etwas, das danach aussieht. Die Kronleuchter sind üppig, aber modern, also eckig. Jemand Perfides hat eine Waage neben die Tür zum Frühstücksraum gestellt, was entweder ein schlechter Witz ist oder eine gute Methode, um die Ausgaben für Lebensmittel an Bord gering zu halten. Ja, doch: Die MS Mozart ist ein besonderes Schiff, das merkt man gleich.

Man gewöhnt sich schnell an die Enge. Nach einem Landgang lässt man sich von der schattigen, schützenden Dunkelheit gern umarmen. An manchen Ecken fehlt der Lack oder eine Schraube, aber insgesamt, ach, das geht schon noch. »Da an der Reling bitte nicht anlehnen«, sagt Janko, der kroatische Bordmanager, an verschiedenen Stellen leise zu den Gästen. Sobald wir anlegen, stehen die Matrosen mit Farbeimern an Deck und bessern Stellen aus, die sonst niemand bemerkt hätte. Es erweckt bei uns Passagieren den Eindruck durchgehender Instandhaltung und wird wohlwollend zur Kenntnis genommen.

Man entdeckt immer wieder neue Lieblingsorte. Zum Beispiel der einzelne Sessel im Salon, der in einer Ecke steht und auf den ab dem Nachmittag ein goldener Lichtfleck fällt, während der restliche Raum beinahe nicht erhellt wird. Passend zu den Lichtverhältnissen gibt es in der Bordbibliothek vornehmlich düstere Literatur: schwedische Kriminalromane und Männerzeitschriften.

Neben den kraftvollen Wellen, die während der Fahrt an den Bug der MS Mozart schlagen, ist vor allem der Schiffsmotor zu hören. Er röhrt mit einem tiefen Bass am Heck des Schiffes und versetzt von dort alles in gleichmäßige, sanfte Vibration. Läuft er über Nacht, ist an Schlaf nicht zu denken, zumindest nicht in den Kabinen nah am Maschinenraum. »Ihre Kabine ist leider ziemlich nah am Maschinenraum«, sagt die Rezeptionistin bei der Verteilung der Zimmerschlüssel, was ich in dem Moment noch nicht ganz einordnen kann. Heißt das, ich muss wie am Notausgang im Flugzeug im Falle einer Panne rettend einspringen? Oder soll ich ab und zu den Ölstand prüfen? 200 Liter Diesel pro Stunde verbraucht die MS Mozart laut Steckbrief im Foyer, da kann man sich im Hinblick auf den ökologischen Fußabdruck schon mal überlegen, ob man nächstes Jahr nicht doch lieber selber rudert. Die Mecklenburgische Seenplatte soll ja auch ganz schön sein.

Ein besonderes Spektakel, auch akustisch, sind Schleusen. In der Schleuse hört man alle nur vorstellbaren Arten von Geräuschen, zu denen Wasser fähig ist. Rauschen, Gurgeln, Blubbern und Zischen, mal ganz leise, mal tosend laut, gleichzeitig oder in rhythmischer Abfolge. Wir werden auf der Strecke Passau–Wien 22 Mal in einem dieser Wasseraufzüge stehen. Es ist ein bisschen, wie wenn eine Schildkröte Eier legt: alles geht unendlich langsam, bis man schließlich mit einem Mal, schwupp, draußen ist.

Der Reiz ist schnell verflogen. Schon die zweite Schleuse schauen sich nur noch halb so viele Gäste vom Oberdeck an wie die erste.

Ein Geräusch, an das man sich allerdings eher nicht gewöhnen wird: Wenn wir in einem Hafen anlegen und größere Schiffe vorbeifahren, schwankt die MS Mozart durch die erzeugten Wellen und schrammt rhythmisch am Metall des Pontons, was ein gespenstisches, markdurchdringendes Ächzen zur Folge hat. Wie bei Turbulenzen im Flugzeug sorgt es für kurze Anspannung unter den Gästen. Auch bei denen, die nicht mehr so viel hören.