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EDEN

TIM LEBBON

Ins Deutsche übersetzt von
Stephanie Pannen

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Titel der Originalausgabe: EDEN

Copyright © 2020 by Tim Lebbon

German translation copyright © 2020, by Cross Cult.

Print ISBN 978-3-96658-313-8 (Oktober 2020)

WWW.CROSS-CULT.DE

»Selbsterhaltung ist das oberste Gesetz der Natur.«

– Sprichwort

Inhalt

KAT

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

KAT

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

KAT

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

KAT

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

KAT

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

KAT

Kapitel 29

Kapitel 30

KAT

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

KAT

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

KAT

KAT

Eden scheint ein guter Ort zu sein, um zu sterben. Bevor sie eintraf, hatte sie gehofft, dass es so sein würde, doch jetzt ist sie davon überzeugt. Selbst wenn sie noch nicht bereit wäre, den ewigen Schlaf zu akzeptieren, ist Dunkelheit alles, was sie erwartet. Nach dem, was sie gesehen und erlebt hat und was vor ihr liegt, besteht kein Zweifel daran.

Der tiefe Wald, der sie umgibt, singt unbekannte Lieder in Stimmen, die sie nicht versteht. Sie war nie jemand, der um Aufmerksamkeit gebuhlt hat. Ganz im Gegenteil, und das war auch ihr Hauptgrund dafür, herzukommen. Sie kam, um sich selbst zu verlieren und so etwas wie Frieden zu finden. Stattdessen hat etwas sie gefunden.

Sie wischt sich Blut aus dem rechten Auge und ist überrascht, wie schnell es trocknet. Es formt eine Kruste, die ihr fast das Augenlid zuklebt. Sie will dem Tod nicht mit nur einem offenen Auge entgegentreten. Sie reißt sich ein paar Wimpern aus, als sie die gerinnende Masse auseinanderzieht. Nun sind ihre Fingerspitzen und Handinnenfläche damit verschmiert und es bildet dunkle Halbmonde unter ihren Nägeln. Sie starrt sie an und verspürt Traurigkeit über all das, was geschehen ist. Es ist nicht ihr Blut.

Sie sieht in das Blätterdach und den blauen Himmel darüber auf. Die Zweige schwingen in der Brise, ein beruhigender Tanz zum natürlichen Jazz der Vögel und Tiere und dem Ruf von etwas anderem. Wolkenfetzen ziehen vorüber. Der Anblick lässt sie schwindeln, doch sie schließt nicht die Augen.

Stattdessen schaut sie auf den Boden und sieht Schatten von den Bäumen fließen. Untermalt wird ihr Näherkommen vom anschwellenden Missklang der Waldgeräusche. Sie atmet zitternd aus. Nach all den Jahren und Kilometern, die sie hierhergeführt haben, hatte sie immer geglaubt, dass es am Ende die Krankheit sein würde, die sie erledigt. Sie hatte nichts Schlechtes im Sinn, als sie nach Eden kam, sondern hatte gehofft, unter ihren eigenen Bedingungen sterben zu können. Etwas Schlimmeres hatte sie nicht erwartet.

Als die Schatten ihre Haut berühren, legt sich ihre Hand um den filigranen Hals des Geistes, den sie gefunden hat.

1

»Unser Ziel war ambitioniert, unsere Absichten rein, unsere Herzen und Gedanken auf eine einfache Aufgabe gerichtet: die Welt zu retten.«

Ekow Kufuor, Oberster Vorsitzender des Vereinten Zonenrats

»Nach allem, was du getan hast, erstaunt es mich immer noch, dass du Angst vorm Fliegen hast.«

Jenn nahm die Bemerkung mit einem leisen Brummen zur Kenntnis, das sie über den Motorengeräuschen des alten Flugzeugs kaum hören konnte. Sie starrte auf Coves Hinterkopf, umklammerte mit rechts den Sitz vor sich und mit links Aarons Hand. Sie konnte spüren, wie der Schweiß ihre Handflächen zusammenklebte und wusste, dass es nicht nur ihr eigener war. Wenn er tatsächlich wegen des Flugs nervös war, würde der Schmerz durch ihren Klammergriff zumindest eine willkommene Abwechslung sein.

Doch Aaron hatte keine Angst vorm Fliegen. Aus dem Augenwinkel konnte sie sein Grinsen sehen, ein Ausdruck kindlicher Freude, während er bei dieser Flughöhe die Baumwipfel über ihnen vorbeirasen sah.

»Jenn.«

»Was?«

»Ich habe gesagt …«

»Ich hab dich gehört, Dad. Vielen Dank.«

»Erinnerst du dich, wie du mal diesen Basejump vom Burj Khalifa gemacht …«

»Das ist nicht hilfreich.« Er musste ihre wachsende Verärgerung wahrgenommen haben, denn er verstummte. Ohne den Kopf zu drehen, schaute sie nach rechts über den Gang hinweg und sah, was sie erwartet hatte – ihren Vater, der mit einem entspannten Lächeln auf seinem Platz saß.

Während das Flugzeug um sie herum vibrierte und auseinanderzureißen drohte, um sie alle über das tiefe Tal unter ihnen zu verstreuen, war er mit seinen Gedanken schon viel weiter. Er war stets einen Schritt voraus, eine Minute in der Zukunft.

»Das hier soll fliegen sein?«, sagte Gee von dem beengten Platz hinter ihr. »Fliegen beinhaltet eine gewisse Anmut und Kontrolle. Das hier ist eher so was wie ein langer Sturz.«

Wie als Antwort begannen Turbulenzen, den gesamten Flugzeugrumpf zu erschüttern, bevor die Maschine in ihren vorherigen Zustand einer kurz bevorstehenden Katastrophe zurückkehrte. Jenns Herz klopfte wie verrückt. Sie umklammerte den Sitz und Aarons Hand noch fester. Vorne rief der Pilot etwas auf Spanisch und lachte. Das gleiche kehlige Husten, das er ausgestoßen hatte, als Gee der Meinung gewesen war, sein ganzer Stolz sei wohl eher ein Fall für den Schrottplatz.

Jenn meinte, während dieser letzten Turbulenzen etwas zerbrechen gehört zu haben. Der Anblick der Maschine, bevor sie an Bord gegangen waren, hatte fast ausgereicht, um sie die Expedition abbrechen zu lassen und mit der Planung noch einmal von vorn zu beginnen, doch Aaron hatte sie davon überzeugt, dass sie sicher sei. »Ich kenne einen, der kennt diesen Kerl«, hatte er gesagt. »Er lässt das Flugzeug extra so aussehen, um unerwünschte Aufmerksamkeit zu vermeiden. Diese Maschine ist wie dein Dad – äußerlich heruntergekommen, mürrisch und altersschwach, aber hinter der Fassade in perfektem Zustand.«

Die Erinnerung zauberte ein nervöses Lächeln in ihr Gesicht und sie warf einen erneuten Seitenblick zu ihrem Vater. Als Reaktion zog er eine Augenbraue und einen Mundwinkel hoch. Er war Anfang fünfzig und damit der erfahrenste Entdecker unter ihnen. Er hatte genügend Abenteuer hinter sich, um ein Dutzend Bücher zu füllen, sollte er jemals die Muße haben, sie aufzuschreiben. Gelegentlich sprach er vom Ruhestand und dem Schreiben seiner Memoiren, doch sie wusste, dass das noch Jahrzehnte entfernt war. Er war noch nie der Typ gewesen, der zu Hause vor dem Fernseher hockte, selbst wenn er mal einen Fernseher sein Eigen nannte oder überhaupt ein Zuhause. In einer Welt, die unter der übermäßigen Last und Verschwendung der Menschheit litt, gab es immer noch Orte für ihn, die er erforschen konnte. Täler und Inseln, Steppen und Wälder, die vom zerstörerischen Griff der Menschen noch nicht erfasst worden waren, zumindest wenn man nicht zu genau hinsah. Doch das war manchmal sein Problem – dass er zu genau hinsah.

Ihr Vater war immer noch der Mittelpunkt ihrer Existenz, die Sonne, um die sich ihre Welt drehte. Auch wenn Aaron vor ein paar Jahren in ihr Leben getreten war und sie ihn liebte und sich eine Zukunft mit ihm vorstellen konnte, war es ihr Vater, nach dem sie sich orientierte, wenn sie in die große Schwärze blickte.

Von vorn kam ein weiterer Ruf. Sie hielt den Atem an und starrte an Coves Kopf vorbei ins offene Cockpit. Der Pilot schien unfähig, still zu sitzen, fummelte unermüdlich am Armaturenbrett herum, deutete aus dem Fenster, sprach mit sich selbst und schnippte Messanzeigen an.

»Machen Sie es aus und wieder an!«, rief Aaron und Jenn drückte seine Hand fest genug, um sie ihm zu brechen. Vielleicht würde das zumindest das Auseinanderbrechen des Flugzeugs übertönen. Er verzog sein Gesicht, protestierte aber nicht.

Sie trieben im sich windenden Tal nach links und nach rechts und als Jenn aus dem Fenster zu schauen wagte, sah sie, wie die Flügel durch Bäume rasten, Äste abbrachen und Blätter aufwirbelten. Sie waren so nah, dass sie aus dem Fenster greifen und sich eine Frucht hätte pflücken können. Aber ein so waghalsiger Flug war der Preis, den sie zahlen mussten, um dem Radar der Zeds auszuweichen, und dies war eine der Voraussetzungen, um unbemerkt Eden zu erreichen. Wenn die Zeds wüssten, dass sie hier waren, würde man sie verfolgen, bis sie gelandet waren oder abgeschossen wurden. Im Lauf der Zeit hatte sich die Zonenschutztruppe von Ort zu Ort und von Land zu Land in vollkommen unterschiedliche Einheiten aufgeteilt. Der eine Aspekt, der sie jedoch weiter vereinte, war ihre Entschlossenheit und Hingabe.

Nach der Landung war das Team immer noch eine sechsstündige Wanderung von der südlichen Grenze der unberührten Zone entfernt, doch auf diese Weise waren sie noch einigermaßen frisch und voll ausgerüstet, wenn sie in das gefährliche Grenzgebiet eindrangen.

Sie waren dabei, genug Gesetze zu brechen, um alle für lange Zeit im Gefängnis zu landen.

»Seht euch das mal an«, sagte Gee.

Jenn schaute an Aaron vorbei erneut aus dem Fenster. Das steile Tal hatte sich geöffnet und sie konnten das herrliche Farbenspiel eines Sonnenuntergangs über einer Bergkette im Osten sehen. Das Geräusch des Flugzeugmotors änderte sich, als der Pilot noch tiefer ging. Trotz ihrer Flugangst lehnte sie sich an Aaron vorbei, um besser durch das schmutzige, verkratzte Fenster sehen zu können.

Ein nahe gelegener Felshang war von toten Bäumen bedeckt. Die majestätischen Giganten waren nackt und die ausgebleichten Skelette ihres früheren Selbst ragten traurig und steif in den Himmel.

An den Rändern dieser Todeszone klammerten sich einige wenige Bäume noch an ihre Existenz. Ihre Blätter, gesprenkelt von blassem Tod und schwachem, verzweifeltem Leben, hinterließen einen weniger üppigen Gesamteindruck als jene in den angrenzenden gesünderen Wäldern. Es war, als hätte jemand einen Eimer grauer Farbe über dem Hang ausgekippt.

»Seltsam, wie es nicht alle Bäume erwischt«, sagte Cove. Dan Covington, vielleicht der eifrigste Sportler unter ihnen, war sich gleichzeitig am wenigsten der Veränderungen bewusst, die ihren Planeten heimsuchten. Ein neu entdeckter Wunsch, mehr darüber zu erfahren, war der Grund, warum er bei ihnen blieb, anstatt sich einer anderen Gruppe anzuschließen. Sie brachten ihn an Orte, die den meisten anderen verschlossen blieben, und jede Expedition lehrte ihn etwas Neues.

»Die Verschmutzung ist nicht selektiv«, erläuterte Selina. Sie saß hinter Jenns Vater und hatte den Großteil des Flugs so gewirkt, als hätte sie geschlafen. Nun betrachtete sie an Gee vorbei den traurigen Anblick zu ihrer Linken. Obwohl sie die einzige qualifizierte Wissenschaftlerin unter ihnen war und darüber hinaus eine leidenschaftliche Umweltschützerin und Dozentin, ließ sie sich nur selten Emotionen über die Zerstörung der Welt anmerken, deren Zeugen sie so oft wurden. Ihr Vater hatte Jenn erklärt, dass Selinas Seele ebenfalls zerstört sei und sie keine Tränen mehr übrig habe.

»Aber warum einige Bäume und andere nicht?«, fragte Cove.

»Könnte etwas mit der Art zu tun haben. Einige sind anfälliger für Verschmutzung und Klimaveränderungen als andere. Möglicherweise hat es auch etwas mit der Wasserversorgung zu tun. Vielleicht folgt der tote Bereich dem Verlauf eines Bachs, einem Riss im Unterboden oder den Bestäubungsmustern der einheimischen Bienenpopulation. In Malaysia habe ich mal zweihundertfünfzig Quadratkilometer toter Bäume mit fünf Flecken gesehen, an denen etwa fünfzig Bäume noch gediehen. Eines Tages wird jemand eine Abhandlung über die Gründe veröffentlichen. Spielt keine Rolle.« Selina lehnte sich zurück und schloss wieder die Augen. »Nur ein weiterer toter Wald.«

»Sieht fast hübsch aus«, sagte Cove.

»Hübsch wie ein Krebsgeschwür«, erwiderte ihr Vater. Jenn hielt die Luft an und spürte Schuldgefühle hochsteigen, wie immer, wenn sie an das dachte, was sie vor ihm geheim hielt.

»Unsere Frohnatur schlägt wieder zu«, kommentierte Aaron. »Du solltest Stand-up-Comedy machen, Dylan. Du solltest deinen eigenen Motivationskanal haben. Du könntest ihn Depri-Dylan und die …«

»Sagt der Mann, der mit meiner Tochter schläft.«

»Hey!«, schaltete sich Jenn ein. »Das ist für dich tabu.«

»Sagt Jenn zu Aaron. Nie«, scherzte Gee und alle begannen zu lachen. Selbst Selina schmunzelte, als sich Jenn nach hinten umdrehte, um Gee eine zu verpassen. Er hielt beide Fäuste hoch und ihr Schlag landete an seiner linken Prothese. Während sie sich die schmerzende Hand hielt, zeigte er ihr grinsend den Mittelfinger.

»Zumindest hat dich das kurz von unserem unmittelbar bevorstehenden Flammentod abgelenkt«, sagte Aaron.

»Ich weiß wirklich nicht, warum ich bei euch bleibe«, erklärte Jenn, während sie sich wieder zurücklehnte. Sie sah ihren schmunzelnden Vater an. »Ihr seid Teufel. Jeder Einzelne von euch. Ich bin die einzige nicht teuflische Person hier.«

»Vollkommen ohne Sünde«, pflichtete ihr Aaron bei.

Jenn verschränkte die Arme und tat so, als würde sie schmollen. Vor ihr zuckten Coves Schultern vor Lachen und ihre Angst ließ nach. Sie konnte sogar dem Piloten bei seinem hektischen Treiben zusehen, ohne jeden Moment zu befürchten, dass die Maschine sich überschlagen und in den Wald rasen würde.

Jenn mochte es, ein Problem zu analysieren, es auseinanderzunehmen und seine Bestandteile zu untersuchen, bis sie, wenn schon keine Lösung, so doch zumindest die Ursache gefunden hatte. Doch ihre Angst vor dem Fliegen blieb ihr ein Rätsel. Es war keine Höhenangst, denn sie war eine fähige Basejumperin, Kletterin und war vor zwei Jahren mit einem Mountainbike entlang einer Bergkammlinie in Mexiko gefahren, von der sogar Aaron hatte zugegeben müssen, dass sie ihn ziemlich nervös gemacht hatte. Sie hatte seine Zeit auch mit ziemlichem Abstand geschlagen. Es ging auch nicht um Kontrollverlust, denn sie gab ihr Wohlergehen regelmäßig in die Hand anderer Leute, nicht nur Mitgliedern ihres eigenen Kernteams. Sie wusste, dass es auch nicht daran lag, dass dieses alte Flugzeug wohl schon seit einem Großteil des letzten Jahrhunderts nicht mehr als neu gegolten hatte, ganz zu schweigen von diesem, denn sie hatte bereits hundert angsterfüllte Reisen in einer Vielfalt von Jets, Propellerflugzeugen, Helikoptern und sogar ein paar Heißluftballons gemacht.

Sie wusste nicht, woran es lag. Sie konnte aus dem Fenster blicken und Autos sehen, die sich wie Ameisen über Straßen bewegten, und erfreute sich an den unterschiedlichen Ausblicken, die einem ein solcher Flug bot. Und doch schlug ihr Herz doppelt so schnell wie gewöhnlich, wenn ein Flugzeug startete, ihre Hände wurden schwitzig und eine konstante Übelkeit breitete sich in ihr aus. Wenn sie die Augen schloss, machte es das nur noch schlimmer.

»Vielleicht bist du ja in einem früheren Leben bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen«, hatte Aaron mal zu ihr gesagt, als sie einen Tag vor einem Flug über ihre Angst gesprochen hatten.

»Ja, klar. Als Kampfpilotin.«

»Wohl eher in einem Schädlingsbekämpfungsflugzeug.«

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»Oh Mann, das ist ja toll«, staunte Gee.

»Was?«, fragte Jenn.

»Schau mal nach links«, antwortete er mit dem Gesicht ans Fenster gepresst. »Jemand Lust auf ein Bad?«

Neben ihnen hatte sich ein schmales Tal geöffnet und erstreckte sich jenseits ihrer Flugroute. Der Fluss, der sich am Grund des Tals entlangschlängelte, war stellenweise blassgelb und hier und dort war ein Durcheinander aus unnatürlichen Farben zu sehen. Der Film aus Chemikalien flirrte wie gebrochene Regenbögen. Am Ufer sammelten sich Schaumkronen, die auf der sanften Strömung tanzten.

»Muss von hundert Kilometer flussaufwärts stammen«, sagte Lucy neben Cove. Sie studierte ihr Tablet und Jenn überlegte, wie ihre Freundin jemals ohne ihre Technik überlebt hatte. Sie arbeitete gerade an ihrer Doktorarbeit zum Thema Kommunikation zwischen menschlicher und künstlicher Intelligenz. Die näheren Einzelheiten waren Jenn zu hoch und Cove scherzte manchmal, dass sie in der Gesellschaft eines Computers am glücklichsten war. Die meisten Expeditionen kamen ohne komplizierte Technik aus und diese würde noch stärker als die anderen auf das absolut notwendige Minimum reduziert sein, sobald sie erst mal richtig unterwegs waren. Schlicht, optimiert, schnell. »Eine Chemiefabrik, offiziell seit siebzehn Jahren geschlossen.«

»Offiziell«, betonte Aaron.

»Geld kann Türen öffnen und Augen verschließen«, bemerkte Lucy. »Verdammte Arschlöcher.«

»So nah an Eden?«, fragte Cove. »Ich bin erstaunt, dass das erlaubt ist.«

»Ist es nicht«, erwiderte Lucy. »Wie ich schon sagte, verdammtes Arschloch.« Der Singular war nicht zu überhören. Sie zog sich ihr langes dunkles Haar ins Gesicht und drehte sich halb weg, einen Mundwinkel nach oben gezogen. Jenn unterdrückte ein Kichern. Die beiden hatten am gleichen Tag Geburtstag, auch wenn Jenn zwei Jahre älter war, und manchmal scherzte Cove, dass sie wie Schwestern waren, die sich gegenseitig Geheimnisse zuflüsterten. Nicht immer, wenn er das sagte, lächelte er.

»Wir lassen all das bald hinter uns«, sagte Aaron und Jenn fand, dass er gerade laut genug sprach, dass nur sie es hören konnte. Auf ihrer Reise hierher waren sie an vielen Orten vorbeigekommen, wo die Verschmutzung deutlich sichtbar gewesen war. Unter anderem an einer Küste, wo die globale Erwärmung und das nachfolgende Ansteigen des Meeresspiegels durch verlassene, halb unter Wasser stehende Gemeinden nachdrücklich illustriert worden war. Es war nichts, was sie in ihrem Leben nicht schon viele Male zuvor gesehen hatten. Einst waren sie über Müllansammlungen im Pazifik geflogen, die so riesig waren, dass einige dieser Abfallinseln Namen bekommen hatten und Piraten, Schmuggler und Terroristenzellen beherbergten. In Alt-Shanghai hatten sie miterlebt, wie ganze Stadtteile unterspült und weggerissen worden waren. Daraufhin hatte man Millionen von Einwohnern in Lager umgesiedelt, wo Hunger, Kriminalität und Seuchen an der Tagesordnung waren. Sie hatten entsetzliche Massengräber und Monumente für die Millionen Opfer der Großen Alexandrischen Flut gesehen, eine Katastrophe, die leicht hätte verhindert werden können, wenn die Regierungen den zerstörerischen Effekt des Klimawandels nicht geleugnet und vertuscht hätten. Während der Planung einer Expedition in die Jaguar-Zone mit Aaron und ihrem Vater – eine Reise, die sie noch vor sich hatten – waren sie Zeuge der zerstörerischen Folgen jahrzehntelanger illegaler Rodung des Amazonas geworden. Der riesige Regenwald hatte sich in viele Tausend kleiner, verstreuter Waldgebiete verwandelt.

Erinnerungen und Erfahrungen dieser Art ließen die Vorfreude auf diese Reise noch größer werden.

»Das hoffe ich doch.« Wieder drückte sie seine Hand, sanfter diesmal. »Ich liebe dich«, flüsterte sie, doch er antwortete nicht und sie fragte sich, ob er es überhaupt gehört hatte. Sie drehte sich vom Fenster weg, starrte wieder auf Coves Hinterkopf und hoffte inständig, dass der Flug bald vorbei war. Sie sehnte sich nach dem Gefühl von Gras und Erde unter ihren Füßen, nach dem Gegendruck des Planeten.

Sie stellte sich die bevorstehende Expedition vor. Es erfüllte sie mit Begeisterung. Sie sah Wälder und Berge, verlassene Städte, Täler, Flüsse und Seen, ein wunderschöner Ort ohne jegliche Menschen.

Dann erinnerte sie sich an den wahren Grund ihres Kommens und wünschte, der Flug wäre alles, was sie zu fürchten hätte.

2

»Natürlich erkenne ich die guten Absichten hinter dem Internationalen Abkommen zu den unberührten Zonen an und ich habe das ganze Unternehmen auch öffentlich immer wieder unterstützt. Doch diese Unberührtheit kann nicht wiederhergestellt werden. Wie erfolgreich diese Orte auch sein mögen – und das wird nur die Zeit zeigen können –, sie sind immer noch ein Teil dieser Welt, die von der Menschheit gründlich zerstört wurde.«

Anthony Keyse, Green World Alliance

Jenn liebte die kameradschaftliche Spannung zwischen diesen sieben Personen, die sich schon viele Male zuvor zusammen vorbereitet hatten. Das Geräusch der Ausrüstung, die überprüft und gepackt wurde, der Geruch von Sonnenmilch und Mitteln gegen Wundreiben, das süße Aroma eines nahrhaften Frühstücks, das auf dem Campingkocher brodelte, das Glucksen von Wasser in Flaschen und Rucksacktrinkblasen und das nervöse und aufgeregte Geplapper, leiser als gewöhnlich, als würde ein zu lautes Sprechen das angenehme Gleichgewicht stören, das sie gemeinsam gefunden hatten.

Sie liebte auch das Gefühl von Gefahr. Das taten sie alle. Darum waren sie hier und hatten ihr Zuhause, ihre Familien und Arbeitsstellen zurückgelassen. Sie waren sich einig, dass dies die vielleicht gefährlichste Sache war, die sie jemals gewagt hatten.

Um sie herum murmelten Waldgeräusche – das Rascheln der Blätter in der Brise, Vogelzwitschern, das leise Knacken von Zweigen, während kleine Tiere ungesehen ihren morgendlichen Routinen nachgingen. Es war eine erfrischende Abwechslung zum Rattern und Dröhnen des Flugzeugs und Jenn fühlte sich gestärkt und lebendig.

»Dreißig Minuten«, sagte die Frau. Sie nannte sich Pocahontas, oder kurz Poke. Jenny hatte gelacht, als sie sich vorgestellt hatte, doch Pokes strenger Blick hatte das Lächeln ersterben lassen. In diesem Blick lagen Erfahrung und Wissen und das musste Jenn respektieren. Ganz egal wie sie sich nannte.

»Sie sehen nicht aus wie eine Pocahontas«, bemerkte Cove, während er seinen eingerollten Schlafsack an seinem Rucksack befestigte.

»Und wie zum Teufel sehe ich aus?«, fragte Poke. Sie saß auf einem umgestürzten Baum, rauchte eine stinkende Zigarette und sah ihnen bei der Vorbereitung zu. Ihr Vater hatte gesagt, Poke sei die beste Führerin, die er je getroffen hatte.

Jenn fand sie faszinierend. Sie konnte sich nicht erinnern, wann sie das letzte Mal jemanden rauchen gesehen hatte. Es freute sie zu sehen, dass die alte Frau lächelte, und ihre dunkle, faltige Haut, schlanke Gestalt und funktionelle Kleidung deuteten darauf hin, dass sie sich hier draußen absolut zu Hause fühlte. Der Goldschmuck an ihren Fingern und Ohren verriet, dass sie sich immer noch für die schönen Dinge im Leben interessierte. Ihr Haar war schneeweiß und eng an die Kopfhaut geflochten. Sie hatte Narben. Jenn fragte sich, was für Geschichten hinter jeder einzelnen steckten.

»Vielleicht eine Mildred«, sagte Cove.

»Oder eine Whitney«, schlug Jenn vor.

Poke lachte laut auf, warf den Kopf in den Nacken und hustete Zigarettenrauch in den Himmel. »Ich schätze, nachdem Eden euch verschlungen hat, werde ich mir wohl einen anderen Namen zulegen.« Sie stand auf, ging in einem weiten Kreis um sie herum und sah ihnen bei der Arbeit zu.

Nur eine halbe Stunde nachdem der Pilot seine Maschine gelandet und sie auf der alten Straße abgesetzt hatte, war er überraschend wieder eingestiegen und hatte sich davongemacht. Jenn hätte gedacht, dass er vorher zumindest das Flugzeug überprüfen würde, doch er schien es ziemlich eilig zu haben. Poke, die aus den Bäumen aufgetaucht war, sobald sie ausgestiegen waren, hatte gesagt, dass seine Maschine beschlagnahmt werden würde, wenn man ihn erwischte, und sie sei seine einzige Einkommensquelle. Denn er schmuggelte nicht nur Menschen.

Sie hatte sie durch den Wald zu einer Lichtung geführt, wo sie alles für ihre Ankunft vorbereitet hatte. Der Eintopf über dem Lagerfeuer ließ Jenn das Wasser im Mund zusammenlaufen und sie freute sich schon darauf, dass er die morgendliche Kälte vertreiben würde. Sie hatte sich entschlossen, nicht nachzufragen, was für ein Fleisch darin war.

»Fünfundzwanzig Minuten«, sagte Poke.

»Es ist eine sechsstündige Wanderung zur Grenze«, entgegnete Cove.

»Und?« Poke blieb bei Cove stehen und versuchte, ihren Zigarettenstummel anzuzünden. Sie schielte auf die Flamme, die die Spitze küsste.

»Warum der Countdown?«

Poke musterte ihn von oben bis unten, grinste dann nur und umkreiste ohne Antwort weiter die Gruppe. Cove warf Jenn einen fragenden Blick zu. Er war derjenige unter ihnen, der am meisten auf Ausrüstung vertraute. Auf seiner Kleidung, dem Rucksack und seinen restlichen Sachen prangten teure Labels und er hatte für diese Expedition wahrscheinlich mehr ausgegeben als der Rest von ihnen zusammen. Sie wollte Poke sagen, wie erfahren Cove war, doch es war nicht ihre Aufgabe, ihn zu verteidigen. Normalerweise fiel es ihm nicht schwer, sein eigenes Lob zu singen.

»Poke hat einen straffen Zeitplan für uns«, sagte Jenns Vater. »Hört auf sie. Sie weiß, was sie tut.«

Jenn bemerkte, dass Poke stehen geblieben war und sie anstarrte.

»Was?«, fragte Jenn.

»Nichts.« Poke trat ihre Kippe aus und zog eine weitere Zigarette aus ihrer Hemdtasche. »Hab mich nur gefragt, wo der Rest eurer Ausrüstung ist.«

»Lucy heult bereits ihren kostbaren Gadgets hinterher«, grinste Gee. Lucy warf ihm von dort, wo sie neben dem kleinen Stapel Ausrüstung stand, den sie zurückließen, einen wütenden Blick zu. Eden war ein unbefleckter Ort, die älteste und wildeste der dreizehn unberührten Zonen der Welt, und Dylan hatte darauf bestanden, dass sie ihn mit angemessenem Respekt behandelten. Diese Expedition war so weit auf das Wesentliche reduziert, wie sie es noch nie gewagt hatten – keine Tablets oder Netzimplantate, kein GPS, keine Satellitentelefone, überhaupt keine elektronischen Geräte. Es hieß sie gegen Eden und darin lag eine Reinheit, die Jenn überaus verführerisch fand.

»Du weißt schon«, sagte Poke. »Wissenschaftszeug. Messinstrumente und so ’n Scheiß.«

»So was haben wir nicht«, erklärte Selina.

»Waagen und Reagenzgläser. Probenbeutel. Dieser ganze Mist.«

»Wir haben alles, was wir hier brauchen.« Gee war wie immer als Erster fertig. »Ausrüstung zum Wandern, Rennen und Klettern. Trockennahrung. Wasserreiniger. Sonnenschutzmittel und Erste-Hilfe-Kasten. Ein paar kleine Zelte, Messer, Regenschutz, falls der Wetterbericht falsch ist, und Wechselkleidung. Aber nicht viel, weil wir es so lieben, streng zu riechen.«

»Und ihr wollt euch Essen suchen?«

»Ja, Früchte und Nüsse, aber wir werden nichts töten, um es zu essen, außer wir müssen. Wir laufen auf einem Kaloriendefizit und wenn man zwölftausend pro Tag verbrennt, kann man einfach nicht genug Proviant mitschleppen.« Gee nickte zu Cove. »Und einige von uns können es sich auch leisten, etwas Speck zu verlieren.«

Cove zeigte ihm den Mittelfinger und Gee lachte. Der Kanadier, ein dünner, kleiner Mann, war wahrscheinlich die entschlossenste Person, die Jenn kannte. In den sechs Jahren, die er mit ihrem Vater und ihr reiste, hatte sie nie erlebt, dass er sich vor einer Herausforderung gedrückt oder aufgegeben hatte. Sie hatte gesehen, wie er als Einziger von ihnen frei eine Felswand hinaufgeklettert war und wie er sich auf einem Boot in Frankreich drei rassistischen Mistkerlen entgegengestellt hatte. Sie waren weggegangen und er weggehumpelt, doch in Jenns Augen hatte er dennoch gewonnen. Er war zwar nur zwei Jahre jünger als ihr Vater, dennoch kam ihr Gee wie eine Art Bruder vor. Seine Entschlossenheit oder positive Einstellung hatte jedoch nichts mit der Tatsache zu tun, dass er nur eine Hand hatte. Er hatte nie angedeutet, dass er es überhaupt als Behinderung empfand. Tatsächlich schien er es sogar zu mögen. In einem hohlen Finger hatte er zwei Joints versteckt.

»Wie zum Teufel siehst du denn aus?«, fragte Poke.

»Wie dein Stecher«, antwortete Gee. Er trat einen Schritt näher.

»Ich versohl dir den Arsch«, schoss Poke zurück.

Gee zuckte grinsend mit den Schultern. Keiner von ihnen zweifelte an ihren Worten. Sie zündete sich ihre Selbstgedrehte an und inhalierte den Rauch.

»Ich habe Ihnen doch erklärt, warum wir hier sind«, sagte Dylan.

»Ich hab nicht geglaubt, dass jemand so dämlich ist.« Wieder sah sie zu Jenn und runzelte die Stirn.

»Tja, wir schon«, erwiderte Dylan.

»Und gegen wen tretet ihr an?«, fragte Poke.

»Noch niemanden. Wir wollen die Ersten sein. Sie kennen diesen Ort, Sie wissen, warum.«

Poke blinzelte ihn nur durch eine Rauchwolke hinweg an.

»Statistisch und historisch gesehen ist Eden die gefährlichste Zone der Welt«, erklärte Dylan. »Sie hat im Laufe der Jahre schon viele Menschen verschluckt.«

»Ja.«

Als Dylan weitersprach, sah er sich um und schien erfreut, jedermanns Aufmerksamkeit zu haben. Sie hatten diese Geschichte alle schon mal gehört, aber noch nicht von jemandem wie Poke. Jemandem, der die Dinge, die er sagte, bestätigen konnte.

»Andere Abenteurer haben es versucht. Einige verschwanden. Andere sind aus Eden geflohen und haben versucht, sich wieder in die Gesellschaft einzugliedern. Es ist, als hätte ihnen dieser Ort ihre Abenteuerlust genommen. Mit der Zeit hat er den Ruf als einer der atemberaubendsten Orte der Erde bekommen, absolut menschenfeindlich.«

Die Brise ließ nach, selbst die Blätter und Vögel verstummten und lauschten.

»Solange mir nichts anderes geraubt wird«, scherzte Gee, um die Stille zu vertreiben.

»Ihr wollt also die erste Gruppe Arschlöcher sein, die Eden durchquert.« Poke schüttelte den Kopf.

»Rennend, kletternd, schwimmend, gehend, selbst kriechend, wenn wir müssen«, bestätigte Cove. »Man nennt es ein Adventure Race.«

»Abenteuer.« Sie sprach das Wort aus, als würde es einen seltsamen Geschmack in ihrem Mund hinterlassen.

»Wollen Sie uns begleiten?«, fragte Gee.

»Ich will leben«, erwiderte Poke. Zum ersten Mal klang sie ernst.

»Wir leben doch«, sagte Lucy. »Das ist das volle Leben.«

»Hast du einen Job, Kleine?«

»Ich arbeite an meiner Doktorarbeit.«

»Familie?«

»Meine Eltern leben in London.«

»Hm.« Schweigend drehte Poke eine weitere Runde um sie und rauchte dabei, während die Gruppe ihre Vorbereitungen beendete. Doch immer wieder sah die alte Frau zu Jenn.

»Was?«, fragte Jenn erneut. So langsam verlor sie die Geduld. Poke mochte die beste Führerin sein, die ihr Vater kannte, sie mochte die Expeditionsgruppe durch die Grenzkontrollen und nach Eden bringen, aber sie war auch eine ziemliche Nervensäge.

»Hab nur gedacht, wie schade es ist«, sagte Poke.

»Was ist schade?«, fragte Selina.

»Euch alle hier so zu sehen, fit und gesund, und dann soll ich euch an einen Ort bringen, der euch verschlingt und wieder ausspuckt. Oder vielleicht auch nicht ausspuckt. Ihr seid echt total irre.«

»Und warum bringen Sie uns dann hin?«, erkundigte sich Jenn.

Poke nickte in Richtung ihres Vaters. »Gute Bezahlung.« Damit trat sie ihre Zigarette aus, warf einen Blick auf ihre Uhr und nahm den Deckel vom Eintopf. »Und hier ist die gute Nachricht«, sagte sie über ihre Schulter. »Das Frühstück ist fünfzehn Minuten früher fertig. Das ist ein Puffer für alles Unvorhergesehene.«

3

Hab aus zuverlässiger Quelle erfahren, dass die veröffentlichten Todeszahlen derer, die versucht haben, die Husky-Plain-Zone zu betreten, nicht stimmen. Angeblich sind es 7. Ich hab gehört, es sind über 150. Umgebracht von den Zeds. Das sind mordende Söldner. Glaubt kein Wort von diesem Mist über die Zonenschutztruppe.

@PottyBonkers

Es gab nichts Unvorhergesehenes. Jenns Vater hatte recht. Poke war die beste Führerin, mit der sie jemals zusammengearbeitet hatten. Sie hatte ihre Route genau festgelegt und überraschte Jenn mit ihrer erstaunlichen Fitness. Sie mochte Mitte sechzig, vielleicht sogar siebzig sein, doch die nächsten sechs Stunden führte Poke sie bei ansteigenden Temperaturen und durch dichten Wald zu dem Ort, an dem sie ihrer Meinung nach die besten Chancen hatten, nach Eden zu gelangen.

Zum Teil wussten sie, was sie erwartete. Die Sicherheitsmaßnahmen um jede unberührte Zone waren streng, doch die entsprechenden Gebiete waren so groß, dass es für jene, die sich auskannten, Schlupflöcher gab. Poke kannte sich sehr gut aus. Sie trug eine moderne GPS-Smartwatch mit allen möglichen Upgrades am Arm und ein Netzimplantat hinterm Ohr und sie hatte es detailliert für ihre Route und ihre Schrittgeschwindigkeit programmiert. Jedes Summen war das Signal für irgendeine Aktion – ein schneller Marsch, in Deckung gehen und abwarten, bis eine Drohne über ihre Köpfe hinweggeflogen war, scharf nach links und durch einen Kanal unter einer Straße hindurch, nach rechts und einen kleinen, aber steilen und dicht bewachsenen Hang hinauf. Poke hatte jede Bewegung vorausgeplant und sich eingeprägt. Sie führte ein strenges Regiment, verlangsamte sie ein paarmal und trieb sie einmal an, nachdem Aaron angehalten hatte, um Wasser zu lassen.

Die Landschaft war wunderschön, mit bewaldeten Hängen und Tälern, die sich hier und dort zu mit Blumen übersäten Lichtungen öffneten, und einem Geflecht aus Rinnsalen und Bächen, die in einem weit entfernten Fluss zusammenströmten. Doch sie waren nie weit von sichtbaren menschlichen Einflüssen entfernt. Eine Zeit lang folgten sie einer alten, verwahrlosten Straße, die nur noch von den Fahrzeugen der Zed-Sicherheitspatrouillen benutzt wurde. Einst hatte sie in den Bereich geführt, der zu Eden geworden war, und wenn sie ihr weiter gefolgt wären, hätten sie schließlich die Grenze erreicht. Unkraut spross durch Löcher im Asphalt, die Kante war durch Wurzeln aufgerissen und das Laub von vielen Jahren hatte sich in eine Erdschicht verwandelt, in der Gräser, kleine Büsche und sogar Bäume gediehen. Jenn freute sich schon darauf, zu sehen, wie viel stärker sich die Straße verändert hatte, sobald sie drin waren. Ihre Aufregung war körperlich spürbar, wie eine Biene, die in ihrem Kopf summte.

Sie kamen an einem kleinen Städtchen vorbei, in dem nun nur noch Sicherheitspersonal lebte. Beim Vorbeigehen auf einem bewaldeten Hang hielten sie sich unterhalb des oberen Kamms, um keine verräterischen Silhouetten zu bieten. Sobald sie weit genug entfernt waren, um nicht mehr entdeckt zu werden, brachte Poke die Gruppe zum Stehen und reichte Jenn ein Fernglas, um sich den Ort genauer anzusehen. Einige Teile der Stadt waren verlassen und verwahrlost. Die wenigen alten Autos, die die Straßen säumten, hatten platte Reifen, Gärten hatten ihre Eingrenzungen überwunden und waren wild gewuchert und die Gebäude sahen heruntergekommen aus, mit eingeworfenen Fenstern, abblätternder Farbe und schief herunterhängenden Regenrinnen. Anhand einer Gruppe von Fahrzeugen in Tarnfarben konnte Jenn sehen, wo ein kleiner Bereich noch von Edens Grenzpersonal bewohnt wurde. Einige Häuser waren mit größeren Stahlcontainern in den Vorgärten und zwischen den Gebäuden befestigt worden Jenn nahm an, dass es sich bei den Stahlgebäuden um Waffenlager handelte.

»Haben Sie da unten jemanden?«, fragte Jenn.

»Scheiße, nein!«, erwiderte Poke. »Einem Zed würde ich nie vertrauen. Das ist ein Haufen blutrünstiger Söldner.«

»Und wie kommen wir dann rein?« Jenn wusste, dass es umfangreiche elektronische Sicherheitsmaßnahmen geben würde, sobald sie die wahre Grenze erreichten, genau wie physische, natürliche wie künstlich geschaffene, die fast unmöglich zu überwinden waren. In die anderen Zonen kamen sie normalerweise, indem ihr Führer eine Abmachung mit jemandem getroffen hatte, entweder einem Zed oder einem der vielen Wartungsleute, die sich um die riesigen und komplexen Grenzanlagen der Zonen kümmerten.

»Mach dir darüber mal keine Sorgen«, sagte Poke.

»Ich mache mir aber Sorgen.«

»Überlass das mal mir. Dafür bezahlt ihr mich ja.«

Jenn warf einen letzten Blick durch das Fernglas, bevor sie es zurückgab. Die alte Frau sah sie wieder irritiert an, etwas schien sie zu beschäftigen.

»Was zum Teufel …?«, begann Jenn, da summte Pokes Uhr. Sie warf einen Blick darauf, stand auf und winkte sie weiter.

»Siebzig Minuten, dann machen wir zehn Minuten Pause«, sagte sie. »Danach werden die Dinge kompliziert.«

»Was ist mit ihr?«, fragte Aaron, als er Jenn erreichte.

»Keine Ahnung.«

»Es ist, als ob sie dich erkennen würde.« Er legte einen Arm um ihren Hals, zog sie an sich und gab ihr einen Kuss auf die Wange, bevor sie weitergingen. Er war stark, zuverlässig und ihr eine gute Stütze beim Marathon des Sables gewesen, einem mehrtägigen Ultramarathon durch die Sahara. Am Ende des Rennens war sie auch seine Stütze geworden. Sie hatten sich am ersten Abend getroffen, als sie sich ein Zelt mit anderen Läufern geteilt und von anderen Rennen und Abenteuern erzählt hatten. Einer der Männer hatte erwähnt, wie er mal die sibirische unberührte Zone durchquert hatte, bekannt als Zona Smerti, und seine Geschichte hatte die meisten von ihnen mit offenem Mund staunen lassen. Doch nicht Aaron. So plumpe Prahlereien beeindruckten ihn nicht. Was ihn beeindruckte, war stille Entschlossenheit, die Fähigkeit, Schmerzen zu ertragen, und der Triumph des Geistes über den Körper.

Jenn würde den letzten Tag dieses harten Rennens niemals vergessen. Sie lief den finalen Abschnitt des Marathons mit vor Blasen vollkommen zerfetzten Füßen, drei fehlenden Fußnägeln, durch Sonnenbrand aufgeplatzter Haut um die Lippen, Augen und Ohren und den Folgen eines am frühen Morgen plötzlich aufgetretenen Sandsturms. Hinter der Ziellinie war sie zusammengebrochen und hatte sich geweigert, Hilfe anzunehmen, bis sie Aaron eine Stunde nach ihr ins Ziel rennen sah.

»Meine Füße«, keuchte er, als er gegen sie rannte, weil sich sein Gehirn weiter im Rennmodus befand – immer weiter vorwärts. Später hatten sie festgestellt, dass er sich in beiden Füßen Stressfrakturen zugezogen hatte.

»Ich will sie nicht sehen«, sagte sie.

»Ich will sie abschneiden. Irgendjemand soll mir die Füße abschneiden.« Er umarmte sie und die Nähe fühlte sich so natürlich an. Die gegenseitige Zuneigung zwischen ihnen war so offensichtlich wie die Hitze und der Schweiß und der Gestank ihrer ungewaschenen Körper. Beide weinten. Ihre Tränen vermischten sich wie Blut und verbanden beide auf ewig miteinander. In Jenns Erinnerung hatte dieser Moment etwas Magisches an sich. Sie hatte nie an Liebe auf den ersten Blick geglaubt, doch das hier kam dem schon sehr nah.

Genau das ist es, dachte Jenn, während Aaron und die anderen Poke den Hang entlang folgten. Es ist, als ob sie mich erkennen würde. Sie war ein Name, der Poke auf der Zunge lag, eine verschüttete Erinnerung, die langsam wieder zur Oberfläche aufstieg.

Nur ihr Vater hatte Poke schon einmal getroffen. Poke selbst hatte erwähnt, dass sie sich noch nie weit von diesem Ort entfernt hatte. Darum kannte sie ihn so gut. Der einzige Grund, warum Poke sie wiedererkennen könnte, war der, dass Jenn sie an jemand anders erinnerte.

»Eden«, sagte Poke.

Zuerst sah Jenn kaum einen Unterschied zu der Aussicht im Tal, durch das sie die letzten Stunden gewandert waren. Weitere Bäume, weitere Berge, weitere Täler. Poke hatte sie nach einem exakten Zeitplan hergebracht und selbst jetzt sah sie immer wieder auf ihre Uhr.

»Fünfundzwanzig Minuten«, erklärte ihre Führerin. »Ab hier wird es knifflig.«

»Aber Sie haben unsere Route doch durchgeplant«, sagte Dylan. Ihr Vater war heute sehr still gewesen, zweifellos weil er über die Schwierigkeit der bevorstehenden Aufgabe nachgedacht hatte. Sie waren alle ziemlich still gewesen, selbst Gee. Auch wenn sie sich gemeinsam auf einer Expedition befanden, bereitete sich doch jeder von ihnen mental auf seine eigene Art vor.

»Das habe ich«, antwortete Poke.

»Aber es ist dennoch knifflig?«, fragte Lucy.

Poke seufzte schwer, sah erneut auf ihre Uhr und lehnte sich gegen einen Baum. Sie massierte ihre Knie. Es war das erste Mal, dass sie sich eine Spur von Anstrengung anmerken ließ.

»Natürlich ist es das«, sagte sie. »Schaut doch nur. Ihr alle. Schaut genau hin.«

»Wonach suchen wir denn?«, erkundigte sich Cove, erhielt jedoch keine Antwort. Stattdessen taten sie, was ihre Führerin ihnen gesagt hatte.

Jenn und Aaron standen nebeneinander. Ihre Arme berührten sich und beide keuchten vor Anstrengung. Sie waren daran gewöhnt. Sie genossen es. Jenn konnte ihn riechen, eine vertraute Mischung aus Wärme und Schweiß.

»Es sieht so … tief aus«, sagte er grinsend und Jenn stieß ihn an. Doch er hatte recht. Auf der anderen Seite des Tals, hinter einem schmalen Fluss erstreckte sich Eden bis in die Ferne über geschwungene Hügel mit dunklen Schluchten, in denen sich alles verbergen konnte. Es war unbestreitbar tief.

Tief war das Wort, mit dem sie ihren Albtraum beschrieb. Es war ungenau, doch das passendste Wort, das ihr einfiel. Immer wenn sie krank oder erschöpft war, suchte diese Tiefe ihren Schlaf heim und ließ sie manchmal schweißgebadet aufwachen. Es war eine Ahnung unbekannter, unendlicher Weite. Sie hatte versucht, Aaron diese Albträume zu erklären, wenn sie schreiend neben ihm aufgewacht war und er sie gefragt hatte, was sie hatte. Mit einem nächtlichen Kaffee in der Hand hatte sie von den Ängsten erzählt, die ihren Schlaf heimsuchten. Wie alle schlimmen Albträume ließen auch diese sich nicht leicht erklären. Worte wurden ihnen nicht gerecht. »Es ist ein Gefühl endloser, gewaltiger Tiefe«, hatte sie gesagt. »Als ob mich das Universum verschluckt und vergessen hätte.«

Sie erinnerte sich, wie ihre Mutter sie in den Arm genommen hatte, wenn sie wieder einmal aus einer Kindheitsversion dieses Albtraums aufgewacht war. Sie hatte Jenn nie fragen müssen, was los war, und Jenn hatte es nie zu erklären versucht. Die Arme ihrer Mutter hatten gereicht. Ihre Stärke, ihr Geruch, der Trost, den sie boten, während sie sagte: »Bei mir bist du sicher.«

Als Jenn und die anderen auf die Wildnis blickten, zog ein Hauch ihres wiederkehrenden Albtraums wie ein Flüstern über die Landschaft. Ihr lief ein Schauer über den Rücken und sie schüttelte ihn ab. Der Ausblick war wunderschön, Ehrfurcht gebietend, und sie war froh, dass die Nachmittagssonne in ihrem Gesicht und die Nähe ihrer Freunde die Angst vertrieben. Sie hatte schon einige unberührte Zonen betreten, doch sie würde sich nie an das Gefühl gewöhnen, davorzustehen und darauf zu warten, hineingehen zu können. Diese Orte wirkten wie dieser Welt entrückt, so wild wie das Land bevor die Affen lernten, auf ihren Hinterbeinen zu gehen.

Und Eden war etwas Besonderes.

Wieder spürte sie diesen Schauer. Jemand beobachtete sie dabei, wie sie Eden beobachtete, und als sie dieses Mal zu Poke sah, wandte diese sich nicht ab.

Jenn legte den Kopf leicht schräg. »Gibt es hier in der Nähe Wasser?«

Poke verstand ihre Absicht. »Hier drüben.«

Jenn streckte die Hand aus und nahm die Trinkflaschen von Cove und Selina entgehen, dann entfernten sich Poke und sie von den anderen.

»Was sehen Sie?«, fragte Jenn leise, sobald sie außer Hörweite waren.

»Eine Frau, die genauso aussah wie du«, antwortete Poke. »Die gleichen Augen. Der gleiche Mund.«

Jenns Herz machte einen Sprung. »Was für eine Frau?«

Sie knieten sich an einen Bach und füllten die Flaschen.

»Ist zwei Monate her«, sagte Poke. Ohne zu blinzeln, verscheuchte sie eine Fliege von ihrer Augenbraue. »Sie kam mit einem Team, ein bisschen wie eures, aber mit mehr Ausrüstung. Nicht so organisiert. Sie hatten ein paar Waffen dabei und anderen Scheiß. Haben mich für etwas Beratung und ein paar Karten bezahlt. Für ein paar Stunden meiner Zeit. Dann betraten sie Eden.«

»Und kamen sie auch wieder raus?«, fragte Jenn.

Poke starrte sie mit eiskaltem Blick an. Sie witterte Betrug und wollte damit nichts zu tun haben. »Du verschweigst deinem Team etwas«, sagte sie. »Das ist nicht cool. Es ist gefährlich. Da drin müsst ihr euch aufeinander verlassen können.«

»Ich habe meine Gründe«, beharrte Jenn. »Bitte, kamen sie wieder raus?«

»Nicht dass ich wüsste.« Poke legte den Kopf schräg und der Zigarettenrauch ließ sie blinzeln. »Ihr Name war Katherine, aber sie nannte sich …«

»Kat. Meine Mutter.« Jenn warf einen Blick zur Gruppe. Ihr Vater stand mit dem Rücken zu ihnen und starrte auf Eden. Sie spürte das Gewicht unausgesprochener Dinge und wie immer gab es eine Gravitation, die sie zusammenhielt, und eine Barriere, die sie auseinanderzwang.

4

»Hiermit erkläre ich Eden, die weltweit erste unberührte Zone, für versiegelt. Vor menschlicher Einmischung versiegelt. Versiegelt vor dem schädlichen Einfluss, den wir seit Jahrhunderten auf unseren Planeten hatten. Wir geben diesen Ort der Natur zurück, in der Hoffnung, dass sich die Natur wiederfindet und uns irgendwann unsere Sünden vergibt.«

Auszug aus der Rede von Ekow Kufuor, dem Obersten Vorsitzenden des Vereinten Zonenrats, am offiziellen Gründungstag von Eden

»Siebzehn Minuten«, sagte Poke. Eine Nachmittagsbrise wehte durch die Bäume und kühlte den Schweiß auf ihren Körpern. Kleine Zweige wiegten sich, Blätter raschelten. Dylan fragte sich, was das Land wohl über sie tuschelte.

Wie in solchen Momenten voller Erwartung auf das bevorstehende Abenteuer und der daraus folgenden Anspannung üblich, dachte er an Kat. Vor langer Zeit hatten sie solche Momente miteinander geteilt. Abgesehen von Jenn war es die wichtigste Sache gewesen, die sie miteinander verbunden hatte.

Er vermisste es. Er vermisste seine Frau.

Dylan hatte Kat seit fast neun Jahren nicht mehr gesehen und seit sechs nicht mehr mit ihr gesprochen. Ein Grund, warum er das alles hier tat, war die Suche nach ihr. Es war eine passive Suche, eine vergebliche Hoffnung darauf, dass er ihr irgendwo – in einem abgelegenen Bahnhof, einem Basislager, einer durchnässten Hütte mitten in einem der wenigen verbliebenen Dschungel dieser schrumpfenden, vergifteten Welt – zufällig in die Arme laufen würde. Ab und an erfuhr er davon, dass sie durch ein kleines Andendorf oder eine Siedlung in Alaska gereist war oder auf dem Weg zu diesem oder jenen Ort gesehen worden war, ein aus absolut nicht zusammenpassenden Leuten bestehendes Team von Athleten oder Entdeckern im Schlepptau. Ihre Gemeinschaft aus Extremsportlern und Adventure Racern war zwar über den ganzen Globus verteilt, aber überraschend klein. Eine Leidenschaft für das Abenteuer hatte Kat und ihn zusammengebracht und ganz egal was sie auseinandergetrieben hatte – ein weiteres Element von Dylans Suche war auch, sich damit abzufinden –, es freute ihn, dass sie sich diese Liebe bewahrt hatte.

Der Tag, an dem Kat ihn und Jenn verlassen hatte, blieb der schlimmste seines Lebens. Manchmal hasste er sie immer noch für den Schmerz, den sie ihm und seiner Tochter zugefügt hatte. Doch der Hass saß unbehaglich neben der Liebe, die immer bestehen bleiben würde.

»Es ist wunderschön«, sagte Jenn, als sie sich neben ihn stellte.

»Das ist es immer«, erwiderte er. »Was wollte Poke?«

»Poke?«

»Sie hat dich seltsam angesehen.«

»Sie ist eine seltsame alte Frau. Denkst du an Mum?«

Dylan seufzte. »Natürlich.« Es kam selten vor, dass sie über Kat sprachen, doch Momente wie dieser fühlten sich persönlich und voller Potenzial an. Wie eine Zeit, um sich zu öffnen.

Er war davon überzeugt, dass seine Tochter im Laufe der Jahre mit Kat kommuniziert hatte, doch er wusste nicht genau, ob sie wusste, dass er es wusste. Wenn Jenn es ihm sagen wollte – und wenn es etwas Erwähnenswertes gäbe –, hätte sie es getan. Das Schweigen bereitete ihr bestimmt ein schlechtes Gewissen und er wollte das nicht verschlimmern. Seine Beziehung zu Jenn war ihm kostbar. Er liebte sie zu sehr, um sie auch noch zu verlieren. Kats Weggang hatte ihn schon hart genug getroffen. Nur ungern dachte er darüber nach, wie es Jenn als Jugendliche beeinflusst haben musste, dass ihre Mutter sie verlassen hatte und untergetaucht war. Sie war zu einer klugen und fähigen Frau herangewachsen, einer der stärksten, die er kannte. Doch innerlich musste die Erinnerung an diese Zeit wie Glut lodern.

Jenn schien angespannt zu sein, mehr als gewöhnlich zu Beginn einer Expedition. Vielleicht war es dieser Ort. Eden schien etwas Unheimliches auszustrahlen, ein Gefühl von Fremdartigkeit, das ihrer Umgebung eine Schärfe und Reinheit verlieh, die er nur selten zuvor erlebt hatte. Die Luft war so klar, als wäre sie noch nie von Menschen geatmet worden.

»Also was ist es?«, fragte er.

Doch es war nicht Jenn, die antwortete.

»Es gibt etwas, das ihr wissen solltet«, sagte Poke. »Ihr alle.«

Als sich Dylan zu ihr umdrehte, bemerkte er, wie ihn Jenn mit weit aufgerissenen Augen ansah. Was beunruhigt mein Mädchen so?, dachte er. Dann sah er Poke an und ihm wurde klar, dass doch etwas zwischen ihnen stand.

»Sie haben es versprochen«, protestierte Jenn.

»Nein. Du hast gefragt. Ich habe nichts versprochen.«

»Es ist Kat, nicht wahr?«, fragte Dylan, weil ihm nichts anderes einfiel, das Jenn so beunruhigen könnte.