Das Flüstern der Raben

 

 

 

Für meine Mutter, die fantastische Geschichten liebt.

Teil I Der Rand des Himmels

Von Süden die Sonne,

des Monds Gesell,

schlang die Rechte

um den Rand des Himmels:

die Sonne kannte

ihre Säle nicht;

die Sterne kannten

ihre Stätte nicht;

der Mond kannte

seine Macht noch nicht.

Völuspá

(Die Weissagung der Seherin)

10. Jahrhundert

Prolog

Ich konnte schon immer die Vergangenheit sehen. Und gerade befand ich mich in einer Vision.

Obwohl ich barfuß war und spürte, wie die Winterkälte meine Beine hinaufkroch, wusste ich, dass ich eigentlich nicht dort war.

Ein Mädchen ging dicht an mir vorbei. Ihr Gesicht war hinter einem Vorhang aus verfilzten Haaren verborgen, die im schwachen Mondlicht hellgrau aussahen. Normalerweise fürchte ich mich nicht, wenn ich Ereignisse aus der Vergangenheit sehe. Ich kann sie ohnehin nicht ändern, und sie tun mir nichts. Doch diese Vision ließ mein Herz gegen die Rippen hämmern, und ich bekam kaum Luft vor Angst.

Ich stand am Rand eines Waldes. Der kräftige Geruch der Fichtennadeln stieg mir in die Nase, und durch die vorderen Baumreihen erahnte ich schneebedeckte Felder, die kalt im Mondschein leuchteten.

Ein Mann lief durch mich hindurch.

Was zur Hölle?

Der Mann folgte dem Mädchen, und mit jedem Schritt zerknickten die trockenen Zweige unter seinen Stiefeln. Das Mädchen reagierte nicht auf das Geräusch, sondern lief weiter geradeaus wie eine Schlafwandlerin. Das Kleid, das sich um ihren Körper schmiegte, war aus einem dünnen, beinahe durchsichtigen Stoff in Weiß und einer dunklen, gräulichen Farbe.

Die Kleidung des Mannes war zeitlos. Er trug dunkle Hosen und eine helle Jacke mit hochgezogener Kapuze, weshalb ich auch sein Gesicht nicht erkennen konnte.

Da fiel mein Blick auf die Lederschnur in seiner Hand.

Er rief etwas, das ich nicht hören konnte, doch es brachte das Mädchen dazu, neben einer dürren Birke stehen zu bleiben. Es war die einzige zwischen den kräftigen Fichten ringsherum. Die Birke war nur wenig größer als das Mädchen und hatte einen zarten Stamm, der sich dem dunklen Himmel entgegenreckte. Der schlanke Hals des Mädchens war über dem Ausschnitt des Kleides entblößt und schimmerte beinahe weiß im Mondlicht.

Ein Strom eiskalter Angst fuhr durch meine Brust, als der Mann das andere Ende der Schnur griff und sie straff vor sich gespannt hielt.

»Pass auf!«, rief ich, obwohl es zwecklos war. Sie konnte mich ja doch nicht hören. Ich war gar nicht dort, und das alles war bereits geschehen, vielleicht vor ein paar Monaten oder vor Hunderten von Jahren.

Der Mann trat dicht an den Rücken des Mädchens und berührte ihr Haar mit seiner Wange.

Sie reagierte nicht.

Er flüsterte ihr etwas ins Ohr, dann legte er die Lederschnur um ihren Hals. Ganz sanft, beinahe wie eine Liebkosung. Der Mann zog zu, doch das Mädchen wehrte sich weder, noch regte es sich.

Gleichzeitig schrie ich, wieder und wieder, dass sie fliehen solle, treten oder um sich schlagen. Dass sie etwas tun solle. Irgendetwas.

Nach einigen endlos scheinenden Sekunden sank das Mädchen auf die Knie und landete mit dem Gesicht auf dem Waldboden, der mit trockenen Fichtennadeln bedeckt war. Der Mann sank mit ihr nieder, und sie bewegte schwach die Arme, schaffte es jedoch nur, ein wenig von dem Schnee neben sich wegzufegen.

Schließlich lag das Mädchen still.

In gekrümmter Haltung kniete der Mann über ihrem schmächtigen Körper und stieß einen verzweifelten Schrei aus, während er ihr Kleid mit beiden Händen zerriss. Sein Arm bewegte sich in einigen merkwürdig ruckartigen Bewegungen über ihr, dann stand er auf und griff nach dem Stamm der kleinen Birke, um sich abzustützen. Sie brach in der Mitte, sodass die Spitze nur noch an einer dünnen Faser herabhing. Auf wackligen Beinen stakste der Mann aufs Feld hinaus und verschwand.

Das Mädchen lag auf dem Bauch. Ein Arm war in einem unnatürlichen Winkel vom Körper abgespreizt. Das Gesicht war von mir weggedreht und von ihren Haaren verdeckt.

Ein entsetzter Schrei stieg meine Kehle hinauf und drang über meine Lippen, bevor ich ihn stoppen konnte.

Auf dem Rücken des Mädchens war ein Zeichen eingeritzt. Es glich einem verzerrten F, bei dem die beiden sonst waagerechten Striche schräg nach unten deuteten. Rund um das Zeichen schimmerten verschmierte dunkelrote Flecken. Ich wollte davonlaufen, rührte mich jedoch nicht. Der entstellte Rücken des Mädchens war das Einzige, was ich wahrnahm.

»Hilfe«, schrie ich. »Helft mir!«

Da stieß mich etwas hart in die Seite, und ich stürzte auf den Waldboden.

Ein riesiger haariger Kopf versetzte mir einen weiteren Stoß.

Kapitel 1

Monster stupste mich mit der Schnauze an. Er legte keine Kraft hinein, trotzdem rollte mich jeder Schubs beinahe auf den Bauch. Auf allen vieren stand er neben meinem Bett und schaute auf mich herab, was viel über seine Größe aussagt.

Wenn ich gefragt werde, was für eine Rasse mein Hund ist, antworte ich normalerweise, er sei eine Mischung mit irischem Wolfshund. Dass er ganz sicher nicht mir gehört, sondern in höchstem Maße sich selbst, und ich den Verdacht hege, dass er nur zu einem Bruchteil Irischer Wolfshund ist und der Rest von ihm aus Grizzlybär, vermengt mit Mammut, besteht, behalte ich meist lieber für mich.

»Habe ich im Schlaf geschrien, Monster?« Mit einer müden Bewegung tätschelte ich seinen großen Kopf.

Er nickte.

Nein, verbesserte ich mich. Natürlich nickt ein Hund nicht.

Die Augustmorgensonne warf ihre Strahlen durchs Fenster, und die Uhr zeigte halb acht. Oh nein! Ich hatte noch eine halbe Stunde, bis mein erster Schultag begann. Wenn die Oberstufe am Gymnasium so ähnlich war wie meine Jahre in der Realschule, würde es nicht leicht werden.

Ich streckte mich, atmete kräftig aus und kramte im Schrank nach einer schwarzen Jeans und einem schwarzen Kapuzenpullover.

Monster legte seine Pfoten auf den Stuhl, auf dem ich ein gelbes T-Shirt bereitgelegt hatte, damit ich der Welt zur Abwechslung mal nicht komplett in Schwarz begegnen würde. Er legte den Kopf schief.

»Ich kann doch nicht«, sagte ich zu ihm.

Er seufzte. Dieser Hund hatte offenbar ein ziemlich unhundehaftes Interesse an meiner Kleidung. Vielleicht schrieb ich ihm aber auch ein paar Eigenschaften zu, die er unmöglich besitzen konnte.

»Ein andermal«, versprach ich, während ich mir die Klamotten überzog. Dann legte ich mich auf den Boden und machte Liegestütze. Ich schaffte nur fünfzig, bevor die Zeit knapp wurde.

Wir eilten in die Küche, was nur wenige Schritte waren, denn alles außer der Toilette und dem Bad befand sich im selben Raum. Ich öffnete eine Rolle mit Schokokeksen und gab Monster einen. Resigniert sah er den Keks an, machte sich aber dennoch laut schmatzend darüber her.

Ich nahm auch einen Bissen, legte den Keks aber schnell wieder zurück. In meinem Bauch machte sich schon jetzt ein beklommenes Gefühl breit. Stattdessen ging ich ins Bad. Wie immer erschien mir mein Spiegelbild ein bisschen fremd. Das Mädchen, das mir entgegensah, hatte rabenschwarzes Haar, bleiche Haut, große, ein wenig hervorstehende blaugrüne Augen, eine lange spitze Nase und kräftige, dunkle Augenbrauen – die eine war von einer Narbe durchzogen.

Was mein Äußeres anging, hatte ich kein Glück gehabt. Auch damit nicht.

Aus Gewohnheit ließ ich den Finger über die lange, verzerrte Narbe gleiten, die von der Mitte meines Brustkorbs zwischen den Brüsten hindurch nach unten verläuft und kurz über dem Nabel endet. Ich hatte keine Ahnung, woher sie stammte. Wer für die an meiner Augenbraue verantwortlich war, wusste ich dafür umso besser.

Ich kaschierte meine hässlichen Züge mit schwarzem Eyeliner und Mascara, dann stapfte ich aus dem Badezimmer. Mit der Tasche in der Hand rief ich Monster »Kommst du?« zu.

Er lief den ganzen Weg bis zum Gymnasium neben meinem Fahrrad her, aber ich wusste nicht, was er tun würde, während ich den ganzen Tag dort drinnen zubrachte. Als ich das Rad abstellte, rannte er weiter auf den Kraghede Skov zu, den Wald hinter den Fußballfeldern der Schule. Ich schaute ihm nach und fragte mich wie immer, ob es wohl das letzte Mal war, dass ich ihn sah. Am Waldrand drehte er sich noch einmal um und bellte laut, ehe er zwischen den Bäumen verschwand.

 

Das Ravnssted-Gymnasium gleicht einer Handvoll gigantischer rotbrauner Legoklötze, die ein Riesenbaby wahllos zusammengesteckt hat. An das Schulgelände grenzt eine der beiden Grund- und Realschulen von Ravnssted. Beide habe ich für eine jeweils kurze Zeit besucht. Auf der anderen Seite liegt der Kraghede Skov. Irgendwann hatte ich mal einen Stadtplan in den Händen gehabt und fand, dass der Wald von oben aussieht wie ein Arm, der die Stadt in einem Halbkreis fest umklammert. Der breite Oberarm des Waldes schirmt Ravnssted nach Osten hin ab, wird im Norden immer dünner und sieht aus wie ein Finger, der anklagend nach Westen zeigt. Dahinter kommt nichts anderes mehr als das Große Vildmose-Moor, Geisterstädte und Ferienhäuser, bevor man die Westküste und die Stadt Jagd erreicht.

 

Drinnen las ich den Brief mit praktischen Informationen und enthusiastischen Willkommensgrüßen, den mir das Gymnasium geschickt hatte.

Die anderen machten einen Bogen um mich – abgesehen von dem Mädchen, dessen Schulter schmerzvoll gegen meine stieß. Ich war mir nicht sicher, ob es mit Absicht passiert war oder ob sie mich nur nicht bemerkt hatte. Die wenigen, die in meine Richtung sahen, rümpften die Nase wegen meines schwarzen Outfits und des dunklen Make-ups. Oder vielleicht taten sie es auch einfach bloß meinetwegen.

Ich drückte mich an die Wand und versuchte, die anderen Schüler zu ignorieren. Als Erstes musste ich den Klassenraum 20 im Orangen Gang finden.

Nachdem ich mithilfe der dem Schreiben beigelegten Karte ein Stück gegangen war, fand ich heraus, woher der Orange Gang seinen Namen hatte. Oh mein Gott. Noch nie in ihrer Geschichte war diese Farbe derart missbraucht worden. Wände, Türen und Decke waren in verschiedenen Orangetönen gestrichen. Selbst der Acrylteppich leuchtete wie eine Apfelsine. Die Bilder an den Wänden waren offensichtlich aus demselben Farbspektrum ausgewählt worden. An die Tür zum Raum 20 hatte jemand ein kariertes Blatt Papier geklebt, auf dem in bunten Buchstaben Willkommen 11B stand. Das Letzte, was diesem farbenmäßig beanspruchten Gang fehlte, waren noch mehr knallige Farben.

Ich betrat das Klassenzimmer, das zu meiner Überraschung halb leer war. Obwohl ich verschlafen hatte, war es mir gelungen, um zehn vor acht da zu sein. Die wenigen anderen, die schon im Raum saßen, steckten flüsternd ihre Köpfe zusammen, ohne Hallo zu sagen.

Nette Begrüßung.

Die Tische waren in einem Hufeisen aufgestellt, und ich wählte einen mittleren Platz an einer der Längsseiten, mit so vielen freien Plätzen daneben wie möglich. Mit einem Gefühl, als würde mir die Brust eingeschnürt, setzte ich mich auf die Stuhlkante und richtete den Blick auf meine Hände, die ich auf dem Tisch ineinander verschränkte.

Je mehr sich der Klassenraum füllte, desto stärker fühlte ich die Vergangenheit. Oder besser gesagt die Vergangenheiten. Ich spüre von fast allen Menschen ein wenig. Von manchen mehr als von anderen. Nur bei wenigen kann ich die Vergangenheit gar nicht sehen. Das gilt zum Beispiel für meinen einzigen Freund Arthur. Aber häufig nehme ich die Gefühle einer Person mit einer Verzögerung von einer Sekunde wahr, und ich erkenne die Grundstimmung der meisten. Also die Gefühle, die in ihrem Leben überwiegen. Man kann sie Auren nennen, obwohl ich keine Regenbogen um Leute herum sehe. Bei manchen empfange ich auch Bilder, die kurzen Filmen ähneln. Wenn ich eine Person berühre, kann ich einen Flash aus ihrer Vergangenheit hervorrufen, daher vermeide ich Körperkontakt. Das Gleiche geschieht, wenn andere mich berühren, und das vermeiden sie eigentlich immer.

Klein-Mads saß auf der Längsseite mir gegenüber und redete ebenfalls mit niemandem. Wir hatten es beide schwer gehabt in der Schule, in dem Jahr, in dem ich in Vringelby wohnte, dennoch taten wir uns nie zusammen. Aus der Entfernung hatte ich seine schmerzvolle Wandlung von einem riesigen Kind zu einem riesigen Teenager miterlebt. Sein Wachstum hatte offensichtlich nicht aufgehört seit meinem Weggang von der Dorfschule in Vringelby vor etwas mehr als drei Jahren, und mit einer Größe von deutlich über zwei Metern war er der Inhaber des ironischsten Spitznamens der Gegend. Hier oben sind Spitznamen eine Art Sport. So viel anderes gibt es nicht zu tun. Ich selbst habe gar nicht wenige gehabt. Psycho ist der, der hängen geblieben ist.

Peter kam in den Klassenraum, und mit einem Schlag war mein Körper kampfbereit. Aus dem Jungen, der mir beigebracht hatte, sich zu prügeln – lasst uns einfach sagen, als Sparringspartner –, war ein junger Mann geworden, doch sein Blick war derselbe geblieben. Boshaft und kriegerisch. Oder vielleicht war er das nur, wenn er mich ansah.

Ich dachte daran, wie er und zwei andere Jungen mich durch den Kraghede Skov verfolgt hatten. Es hatte mich eine gespaltene Augenbraue, vier geprellte Rippen und ziemlich viel Stolz gekostet, dass ich es nicht geschafft hatte, ihm und seinem Schlägertrupp zu entkommen.

Ich sah auf die leicht flache Nase, die sein ansonsten hübsches Gesicht entstellte. Er war nicht mehr so cool gewesen, nachdem ich ihm den Baseballschläger abgenommen hatte, an diesem Tag etwa drei Jahre nach dem Überfall im Wald. Es war dumm von ihm gewesen, allein auf mich loszugehen. Jetzt trafen sich unsere Blicke, und ich rieb über meinen eigenen, geraden Nasenrücken. Das muss man sich mal vorstellen: Er verprügelt und tyrannisiert mich jahrelang, und ich zertrümmere seine Nase ein Mal mit einem Baseballschläger, und dann bin ich diejenige, die im Jugendknast landet.

Peter hielt meinem Blick stand und tippte mit dem Finger auf die Stelle über seinem Auge, wo in meiner Augenbraue die Narbe aufleuchtete.

Die anderen im Klassenzimmer kannte ich flüchtig. Minna Østergaard glitt aristokratisch in den Raum. Außerdem sah ich Niller, Suzuki-Ib, Johnny-Bum aus Rakkeby und Alice mit den langen roten Haaren. Von dem halben Jahr, in dem ich in Nørre Lyngby mit ihr in eine Klasse gegangen war, kannte ich Alice als ruhiges Mädchen. Sie hatte nie mit mir geredet oder mich belästigt. Ich schätzte beides sehr.

Die Plätze füllten sich, doch diejenigen auf meiner Längsseite waren am wenigsten beliebt. Zum Schluss gab es nur noch zwei freie Plätze.

Genau.

Ein dicker Junge steckte seinen Kopf in den Klassenraum und sah sich nach einem freien Platz um. Er machte ein paar zögerliche Schritte in Richtung der leeren Stühle rechts und links neben mir.

»Thomas, du kannst dich hierhersetzen.«

Die Erleichterung in seinem Gesicht war beinahe mit Händen zu greifen, als er seinem Retter entgegentrottete und sich ans Ende des Hufeisens setzte, in unbequemer Haltung, mit einem Bein zu jeder Seite des Tischbeins.

Mit gesenktem Blick widerstand ich dem Drang, meinen Kopf auf die Tischplatte zu knallen.

»Darf ich hier sitzen?«, fragte eine melodische Stimme.

Ich sah hoch und blickte in ein paar leuchtend blaue Augen, von langen Wimpern umsäumt, im perfektesten Gesicht, das ich je gesehen hatte. Die Nase war schnurgerade, und die tief liegenden Augen saßen über hohen Wangenknochen. Die Lippen waren wohlgeformt und füllig, die Zähne perlweiß, und das Gesicht wurde von goldenem Haar umrahmt. Das war mit Abstand der schönste Junge, den ich in meinem Leben gesehen hatte.

Er lächelte, aber genauso gut hätte er mir auch einen Faustschlag in den Solarplexus verpassen können. Mir war, als hörte ich sämtliche Mädchen im Klassenzimmer gleichzeitig aufseufzen. Ich merkte, dass er mich immer noch abwartend ansah, also nickte ich kurz und deutete auf den Stuhl.

»Ich heiße Mathias. Bin gerade erst hergezogen. Wie heißt du?« Er nahm Platz.

Wie hieß ich denn eigentlich? Ich sah ihn mit zusammengezogenen Augenbrauen an. Er fragte sich sicher, ob ich ganz normal war. Die Antwort lautet zwar Nein, stumm bin ich allerdings nicht.

»Anne Sakarias«, brachte ich heraus.

Mathias gab mir die Hand, was mir ein wenig altmodisch vorkam, aber wenn so ein Typ einem die Hand reicht, dann nimmt man sie.

Ich empfing die eigenartigsten Bilder von ihm, als unsere Hände sich berührten. Seine Vergangenheit glich einer Menge Fotos, bei denen die Reihenfolge durcheinandergekommen war. Ich sah die üblichen kurzen Filme, aber dann waren dort plötzlich tote Winkel und fehlende Glieder in der Kette. Die Handlung stoppte abrupt, und ich wurde ausgeschlossen.

»Ich habe mich schon darauf gefreut, das Mädchen zu treffen, das dem größten Schlägertyp der Stadt eine Abreibung verpasst hat, das Haus ihrer Pflegefamilie abgefackelt hat und mit einem Mörderhund zusammenwohnt.« Er rollte dramatisch mit den Augen.

Ich wusste nicht, was ich darauf entgegnen sollte. Die Geschichte mit Peter und dem Baseballschläger hatte sich zu einer lokalen Legende entwickelt, sodass aus einer lächerlichen gebrochenen Nase im Volksmund eine lange Foltersitzung geworden war. Das Haus war abgebrannt, korrekt, aber nicht ich hatte es in Brand gesteckt. In Wahrheit hatte ich die gesamte Familie noch rechtzeitig nach draußen gebracht, inklusive ihres alten Hamsters. Und Monster hatte niemanden getötet. Zumindest nicht in der Zeit, die er bei mir wohnte. Glaubte ich jedenfalls.

»Voilà«, war das Einzige, was mir zu sagen einfiel. Ich zeigte mit dem rechten Daumen auf mich, als ob ich meinen Ruf damit bestätigen wollte.

Beeindruckt zog Mathias seine perfekt geformten Augenbrauen nach oben. Etwas in der Türöffnung ließ sein Gesicht zu einer überraschten Grimasse werden, die ihm nicht weniger gut stand.

Ich folgte seinem Blick und sah ein Mädchen hereingehen. Nein. Gehen ist das falsche Wort. Sie kam wiegend in den Raum, goldbraun und mit einer Wolke aus dunklen Korkenzieherlocken um den Kopf. Ihre Augen waren groß und rund und hatten die Farbe von Ahornsirup. Die Lippen waren weich, und ihr Körper war an den richtigen Stellen schmal und breit. Ihr enger Rock in Neongrün und Royalblau saß wie angegossen, und eine Kette mit großen lila Steinen baumelte fast bis zur Taille herab. Sie trug eine kreischend orange Tasche, deren Gurt die Vertiefung zwischen ihren wohlgeformten Brüsten betonte. Noch nie hatte ich eine so fürchterliche Farbkombination mit einem so guten Resultat gesehen.

Mathias’ Mund stand halb offen.

Sie kam direkt auf uns zu, und als sie an unseren Plätzen ankam, tat sie etwas, das mich total überrumpelte.

Sie umarmte mich.

Kapitel 2

Ich saß steif wie eine Puppe da, als das fremde Mädchen seine schlanken, dunklen Arme um mich schlang. Niemand, absolut niemand, gibt mir Umarmungen. Ich bin Körperkontakt nicht gewohnt, und ihre – nennen wir es einfach Aura – rammte mich wie ein Güterzug. Sie war knisternd, elektrisch, kreativ und sprudelnd.

Das Mädchen nahm meine Hände, als es sich setzte. »Du bist Anne.«

Es war keine Frage, also nickte ich nicht.

»Ich bin Luna.« Sie hätte ebenso gut noch ein Tadaaa hinzufügen können.

Ich sah sie ausdruckslos an.

»Ich bin die Luna.«

»Sollte ich wissen, wer du bist?« Ich gab mir Mühe, meine Verwirrung zu verbergen, während ich diskret versuchte, die Hände aus ihrem Griff zu winden.

Das Mädchen hielt sie nur umso fester. »Meine Eltern sind die besten Freunde deiner Eltern.«

Mein Gesicht erstarrte ungläubig.

Luna wollte noch etwas sagen, doch in diesem Moment kam unser Lehrer herein. Er stellte sich als Jan vor und stürzte sich in eine langatmige Erläuterung der Lerninhalte, der Stundenpläne und der Lehrbuchausleihe im Keller. Dann versicherte er uns, dass wir immer zu ihm kommen könnten, falls wir Probleme hätten. Hätte ich für jedes solcher Versprechen von einem Erwachsenen einen Fünfer bekommen, wäre ich jetzt wohlhabend. Ich wäre reich, würde ich die Male dazuzählen, die es nicht gestimmt hat. Wann immer sein Blick auf mich fiel, schaute er hastig wieder weg. Ich bemerkte es kaum. So ist es meistens, wenn mich die Leute ansehen.

Meine Eltern. Mein einziges Verhältnis zu ihnen bestand darin, dass sie mich damals vor nicht ganz achtzehn Jahren ins Leben hinausgeworfen und hier zurückgelassen hatten. Ich war nicht die Einzige, die Jan nicht zuhörte. Zu meiner Rechten starrte Luna mich hemmungslos an. Zu meiner Linken tat Mathias sein Bestes, um einen Blick auf Luna zu erhaschen.

Jan begann, unsere Namen aufzurufen.

»Mathias Jarl Hedskov.«

Mathias reckte einen muskulösen Arm in die Höhe, ohne die Augen von Luna zu nehmen.

Als Jan bei Luna ankam, stockte er und musste den Namen zunächst leise für sich lesen. »Luna Asfrid Villum Sekibo.«

Dann kündigte Jan eine kurze Pause an, ehe wir uns alle der Klasse vorstellen sollten.

Luna wollte etwas sagen, doch ich stand auf. Es kommt selten vor, dass ich mit vielen Menschen zusammen bin, und noch seltener, dass jemand mit mir spricht. Dieser Tag war bisher eine unglückliche Kombination aus beidem gewesen, und es war erst neun Uhr. Ich stürmte hinaus auf den Orangen Gang.

Hinter mir ergriff Mathias die Gelegenheit beim Schopf, stahl meinen Platz und fing an, mit Luna zu reden.

Als ich aus dem Klassenzimmer kam und auf den Gang bog, lief ich geradewegs in einen dunkelhaarigen Typ hinein. Es fühlte sich an, als wäre ich mit Vollkaracho gegen eine Betonmauer geprallt, und ich verlor um ein Haar das Gleichgewicht. Mit einem festen Griff um die Schultern hielt er mich auf den Beinen. Ein kräftiger Geruch nach Wald und frischer Luft und etwas, das ich nicht einordnen konnte, schlug mir entgegen. Er sah mich mit durchdringenden dunklen Augen an. Ich empfing keine Bilder von ihm, doch ich spürte, dass er eine wichtige Aufgabe hatte. Ein Mann mit einer Mission.

»Tut mir leid«, murmelte ich und versuchte, mich loszumachen. Er sah mich unwirsch an, entließ mich jedoch nicht aus seinem eisernen Griff. Er starrte mir ins Gesicht und riss die Augen auf, als würde er mich wiedererkennen. Ich war heute wirklich unfreiwillig weltberühmt in Ravnssted. War mir mein Ruf echt so weit vorausgeeilt?

»Varnar!« Preben, der Hausmeister, stand ein Stück weiter den Gang hinunter. Wer Preben war, wusste ich. In dieser Kleinstadt kannte jeder jeden. Aber den jungen Mann hatte ich noch nie zuvor gesehen.

Er ließ mich los und ging mit gleitenden, katzengleichen Schritten davon.

Erst da sah ich die grüne Arbeitshose.

»Sie stellen jedes Jahr einen Kriminellen als Hilfshausmeister ein.« Peter lehnte am Türrahmen. »Als ich dich hier gesehen habe, dachte ich eigentlich, du hättest den Job gekriegt.«

»Ob ich wohl deiner Nase ihre normale Form wiedergeben kann, wenn ich sie noch mal zertrümmere?«, überlegte ich laut.

»Ob du wohl weniger abstoßend wärst, wenn ich deiner anderen Augenbraue eine passende Narbe hinzufügen würde?«, feuerte er zurück, schüttelte dann aber den Kopf. »Aber nein, du bist so potthässlich, dass nicht mal deine eigenen Eltern deinen Anblick ertragen konnten.«

Er wollte noch mehr sagen, doch seine Stimme brach mit einem Mal und ging in ein Husten über.

Hinter ihm stand Luna mit herabhängenden Armen.

Peter sah über die Schulter und lächelte. Seine Miene änderte sich und nahm schlagartig einen beinahe freundlichen Ausdruck an.

»Du bist neu hier in der Stadt, deshalb will ich dir einen Rat geben«, sagte er zu Luna. »Halt dich fern von der hier, und häng lieber mit uns normalen Leuten ab.«

Sie schaute ihn mit ihren hübschen hellbraunen Augen an. Wenn Blicke töten könnten, hätte Peter mausetot auf dem orangefarbenen Acrylteppich gelegen.

»Lieber würde ich mit einem Haufen perverser Bauern Pisse in einem Schweinestall trinken«, erwiderte sie.

Sein Lächeln erstarrte, und er hustete wieder, als bekäme er nur schwer Luft.

»Das lässt sich bestimmt einrichten«, meinte unser Klassenkamerad Niller grinsend, als er in diesem Moment an uns vorbeikam.

Peter hustete immer noch, als Jan uns zurück in die Klasse rief.

»Statt euch selbst vorzustellen, sollt ihr euch in Dreiergruppen unterhalten und von euch erzählen. Anschließend stellt ihr euch dann gegenseitig den anderen in der Klasse vor«, sagte er.

Mathias und Luna lehnten sich beide zu mir herüber, und so einfach war unsere Gruppe gegründet. Es war ein merkwürdiges Gefühl, nachdem mein ganzes Leben lang diverse Lehrer verzweifelte Gruppen dazu überredet hatten, mich aufzunehmen.

»Wer ist dieser Idiot?«, wollte Luna wissen.

»Ein alter Freund.« Ich starrte auf die Tischplatte.

»Wenn das einer deiner Freunde ist, möchte ich echt keinem deiner Feinde begegnen.«

Mathias kniff die Augen zusammen. »Ich bin verwirrt. Du kennst Anne, aber sie kennt dich nicht?«

»Ich verstehe es nicht. Wieso hast du nie von mir gehört?«, fragte Luna. »Haben Mie und Jens dir nichts von mir erzählt?«

Ich hob jäh den Kopf. Woher kannte sie meine erste Pflegefamilie?

»Sie haben mich vor dreizehn Jahren rausgeschmissen. Seitdem habe ich sie nicht mehr gesehen.«

»Warum haben sie dich rausgeworfen?«, fragte Luna. Ich merkte, dass Mathias sie unter dem Tisch zu treten versuchte, doch sie fuhr fort: »Es war ausgemacht, dass du bei Mie und Jens wohnst, bis entweder meine Eltern oder deine Mutter dich holen kommen.«

Sie schürzte ihre vollen Lippen und trommelte mit einem pinken Fingernagel dagegen.

Ich senkte wieder den Blick und holte tief Luft.

Gott sei Dank wechselte Mathias das Thema. »Was ist mit dir, Luna?«

Sie lehnte sich zurück. »Ich bin siebzehn. Meine Eltern haben bis etwa ein halbes Jahr vor meiner Geburt hier in der Stadt gewohnt. Meine Mutter kommt aus Ravnssted. Mein Vater stammt aus Westafrika, hat aber den Großteil seines Lebens in Frankreich verbracht. Sie sind Entwicklungshelfer, daher sind wir in der ganzen Welt herumgereist. Jetzt, wo ich aufs Gymnasium sollte, wollte meine Mutter gern zurück nach Hause.«

Wow. Ich war anscheinend nicht die Einzige, die schon an einem Dutzend verschiedener Orte gelebt hatte. Aber Luna hatte wenigstens ihre Eltern an ihrer Seite gehabt.

Da es nicht den Anschein machte, als ob Luna mehr zu sagen hätte, schauten wir beide Mathias an.

»Ich bin aus Kopenhagen«, begann er.

»Dass du nicht von hier bist, ist ziemlich offensichtlich«, grinste Luna.

Er starrte einen Augenblick fasziniert auf ihren lächelnden Mund, ehe er in der Lage war fortzufahren. »Meine Mutter hat immer in Friseursalons gearbeitet, konnte es sich aber nie leisten, einen eigenen zu eröffnen. Vor etwa drei Monaten hat uns dann ein Mann aus der Gegend kontaktiert. Er hatte einen alten Salon gekauft und meine Mutter gefragt, ob sie ihn führen will. Es kam uns ein bisschen suspekt vor, aber wir haben beschlossen, die Chance zu ergreifen. Und bis jetzt hat sich der Typ ferngehalten, also scheint es okay zu sein.«

»Wo ist dein Vater?«, fragte Luna.

Mir kam der leise Verdacht, dass sie nicht gerade das weltbeste Situationsgespür besaß.

Mathias’ Miene verdüsterte sich, und er verschränkte die Arme. »Ich habe keine Ahnung, wer er ist.«

»Hast du deine Mutter nicht gefragt? Weißt du auch nicht, wie er heißt?«, bohrte Luna weiter.

Ich war kurz davor, ihr den Mund zuzuhalten, denn Mathias’ Gesichtsausdruck war kaum zu ertragen. Mein eigener hatte vor etwa fünf Minuten wahrscheinlich ähnlich ausgesehen. Ich sprang ihm zur Seite.

»Wer stellt wen vor?«, fragte ich.

Mathias und ich tauschten einen Blick. Keiner von uns beiden hatte große Lust, von Luna präsentiert zu werden. Die Götter wussten, was sie sich einfallen ließ.

»Soll ich nicht einfach uns drei vorstellen?«, schlug Mathias vor.

Ich wollte liebend gern darum herumkommen, aufstehen zu müssen, und Luna zuckte nur mit den Achseln und nickte.

Kichernd und mit roten Backen begannen die Leute mit der Präsentationsrunde. Ein sauertöpfisch aussehendes Mädchen namens Maja stellte Klein-Mads vor, was ihr körperliche Schmerzen zu bereiten schien. Als Mathias an die Reihe kam, sagte er über mich, dass ich von hier käme und superlieb sei, und Luna bezeichnete er als Globetrotterin.

Ich glaube, mich hat noch nie jemand superlieb genannt.

 

Den Rest des Tages versuchte ich, für mich zu bleiben, doch Mathias und Luna waren ständig in meiner Nähe. Sie gaben nicht auf und machten auch nicht den Eindruck, als würden ihnen meine einsilbigen Antworten auf den Keks gehen. Als ich endlich das Schulgebäude verließ, saß Monster auf dem Parkplatz und erwartete mich. Mathias und Luna, die mir dicht auf den Fersen folgten und sich unterhielten, blieben abrupt stehen, als sie den riesigen Hund sahen.

»Alter Schwede«, rief Mathias aus.

Ich tätschelte Monsters Kopf und ging zu meinem Fahrrad.

»Kommst du nicht mit zu Frank’s Diner?«, rief Luna mir nach. Sie schloss ein ramponiertes Lastenrad auf.

Ich hatte sie zwar darüber reden hören, dass sie noch was trinken gehen wollten, aber ich wäre nie auf den Gedanken gekommen, diese Pläne könnten mich einschließen.

»Und wenn du nicht mitwillst, könntest du dich wenigstens kurz verabschieden«, fügte Luna hinzu.

Ach ja, richtig. Normale Menschen verabschieden sich brav, wenn sie gehen.

Schade, dass ich nicht normal bin.

Ohne ein Wort radelte ich davon, während Monster neben mir hergaloppierte.

 

Am nächsten Morgen standen wir auf dem Braunen Gang und warteten darauf, dass unsere erste Geschichtsstunde begann.

Kleiner Tipp. Falls du jemals den Auftrag erhältst, ein Gymnasium zu gestalten, und auf die Idee kommst, das Ganze nach einem von vornherein fragwürdigen Farbkonzept aufzubauen, dann lass um Gottes willen die Farbe Braun aus.

Mir fiel es derweil schwer, mich auf die braune Umgebung zu konzentrieren, und ich rieb mir die Augen, um etwas wacher zu werden.

Diese Nacht hatte ich erneut die Vision von dem Mädchen gehabt, das stranguliert und am Rücken gezeichnet wird, und wieder war ich weinend und zitternd vor Angst aufgewacht. Es war das erste Mal, dass ich ein und dieselbe Vision mehrfach hintereinander gehabt hatte.

Luna in ihrem orangen Top, einer grünen Hose und lila Schuhen lief dem Braunen Gang an der Farbfront eindeutig den Rang ab.

»Du kommst heute mit zu mir nach Hause.« Es war ein Kommando, keine Einladung.

Mathias trippelte um uns herum.

»Hab schon was vor«, murmelte ich.

Luna verdrehte die Augen.

Mathias begann hektisch von irgendetwas zu reden, das ich kaum aufnahm, und versuchte mit einem angestrengten Lächeln unsere Aufmerksamkeit zu erhaschen.

Luna ließ nicht locker. »Meine Eltern wollen dich treffen.«

Ich schaute auf meine schwarzen Schuhspitzen und zählte im Stillen bis zehn.

»Sie machen Abendessen.«

Ich schnitt eine Grimasse. »Machen Eltern das nicht jeden Abend?«

»Sie möchten dich gern kennenlernen. Sie möchten dir helfen. Sich um dich kümmern.«

Mit jedem von Lunas Sätzen war es, als würde ein Ballon in meinem Inneren immer weiter aufgeblasen. Der letzte Satz brachte ihn zum Platzen.

»Du kannst deinen Eltern sagen«, fuhr ich sie an, »dass ich keinen Bedarf für weitere eigene, Stief-, Zieh-, Pflege- oder Ersatzeltern habe! Das ist das Allerletzte, was ich gebrauchen kann. Sag ihnen, dass sie zu spät kommen. Siebzehn Jahre zu spät.« Und bevor ich mir selbst zum längsten Redefluss gratulieren konnte, den ich seit Monaten an einen anderen Menschen gerichtet hatte, stürmte ich den Braunen Gang hinunter. Aus dem Augenwinkel sah ich, dass Luna versuchte, mir zu folgen, Mathias sie jedoch zurückhielt. Ich lief auf den Ausgang zu, der wie ein kleiner Tunnel geformt war, und zog an der ersten Tür, doch ehe ich hinaus in die Freiheit gelangte, öffnete sich die zweite Tür und der junge Hilfshausmeister kam herein. Zum zweiten Mal stieß ich mit ihm zusammen.

Der kleine Gang wurde von seinem Duft erfüllt.

»Wo willst du hin?« In seiner Stimme schwang ein leiser Akzent mit, der nach einer nordischen Sprache klang.

»Das geht dich gar nichts an.« Ich versuchte, mich an ihm vorbeizudrücken, doch er versperrte mir den Weg. Ich trat zur anderen Seite, er blockierte mich erneut.

»Lass mich durch«, knurrte ich.

»Es ist am sichersten, wenn du hierbleibst.« Er sprach leise, doch seine Worte kamen mit Nachdruck.

Ich stieß ihn mit beiden Händen, aber er rührte sich keinen Millimeter. Ich schubste ihn erneut und spürte wie beim ersten Mal, als ich mit ihm zusammengestoßen war, eine Mauer von einem Körper. Er war nur einen Kopf größer als ich und schlank, aber ich konnte ihn nicht von der Stelle bewegen. Jetzt sah ich, dass sein schwarzes T-Shirt stramm über seinen muskulösen Oberkörper gespannt war. Er fing meinen Blick mit seinen durchdringenden Augen. Das dunkle, halblange Haar rahmte sein Gesicht ein.

Während ich ziemlich sicher war, dass ich mit Peter und den meisten Männern fertigwerden oder ihnen zumindest eine würdige Gegnerin sein konnte, war ich mir hundertprozentig sicher, dass ich gegenüber diesem Varnar – mir fiel ein, dass Hausmeister Preben ihn so genannt hatte – völlig chancenlos war. Es war sein Blick. In Varnars Augen konnte ich eine Willenskraft erkennen, die meiner sehr ähnelte, doch er war stärker. Das bedeutete allerdings nicht, dass ich vorhatte aufzugeben. Wenn ich ihn schon nicht besiegen konnte, konnte ich ihn wenigstens beleidigen.

»Seit wann bist du Ordnungshüter? Ich dachte, du wärst bloß Hilfshausmeister?«

Ein Lächeln huschte über Varnars Lippen, und für eine Millisekunde änderte sich unverkennbar sein Gesichtsausdruck. Es war, als würde ich von einem flüchtigen Sonnenstrahl getroffen.

»Stimmt, derzeit bin ich Hilfshausmeister.« Er sagte das Wort, als sei es fremd in seinem Mund. Seine Augen wurden noch dunkler als zuvor. »Geh zurück.«

Er machte einen Schritt auf mich zu und baute sich vor mir auf. Es kostete mich einige Überwindung, nicht zurückzuweichen oder den Blick niederzuschlagen.

In diesem Augenblick erschien Mathias. Er sah Varnar an, der mir den Weg nach draußen versperrte.

Auch wenn ich jederzeit mein gesamtes Geld auf Varnar setzen würde, falls es zu einem echten Kampf zwischen den beiden käme, senkte Varnar den Blick zum Zeichen, dass er sich zurückzog. Gleichzeitig entschied Mathias, dass Varnar meine Flucht verhindert hatte und sie dementsprechend Verbündete waren. Gegen mich natürlich. Er streckte die Hand aus.

»Mathias.«

Varnar ergriff sie und nannte seinen Namen.

»Anne, komm mit zurück. Die Stunde hat gerade erst angefangen. Du schaffst es noch rechtzeitig, ohne dass es dir als Fehlzeit eingetragen wird.« Mathias flüsterte, was in dem kleinen Durchgang vollkommen sinnlos war. »Luna wollte dich nicht ärgern. Sie möchte nur deine Freundin sein.«

»Ja, Anne. Mathias hat recht. Geh zurück«, sagte Varnar und warf Mathias einen Du-übernimmst-ab-hier-Blick zu, ehe er sich umwandte und in die Richtung verschwand, aus der er gekommen war.

»Ich bin es nicht gewohnt, Freunde zu haben.« Ich presste die Lippen zusammen. Warum ließen sie mich nicht einfach in Ruhe?

»Keiner kann ohne Freunde durchs Leben gehen«, erwiderte Mathias sanft.

»Ich bin bis jetzt prima zurechtgekommen.« Ich ließ den Blick auf einem Punkt weit außerhalb der Glastür ruhen.

»Nur weil du es nicht gewohnt bist, Freunde zu haben, heißt das nicht, dass wir nicht gut für dich sein können. Und du für uns.«

Ich sah ihn an, als er uns sagte.

Er knuffte mich in die Schulter. »Komm schon, Anne. Was kann denn passieren?«

»Sobald ich anfange, euch zu mögen, wollt ihr nicht länger meine Freunde sein.« Die Worte waren heraus, ehe ich sie stoppen konnte, und meine Stimme brach ein winziges bisschen.

Der neckende Ton war völlig verschwunden, als Mathias sagte: »Oh, Anne … Das wird nicht passieren.«

Ich straffte den Rücken und sah ihm direkt in die blauen Augen. »Ich kapiere echt nicht, wieso ihr mit mir befreundet sein wollt.«

Mathias lächelte sein charmantestes Lächeln, und meine Knie wurden weich. Dieser Fuchs wusste genau, was er tat.

»Luna, weil sie Luna ist, und ihr in ihrem Kopf bereits Freunde wart, bevor ihr überhaupt geboren wurdet. Sie ist fantastisch, Anne. Du solltest ihr wirklich eine Chance geben.«

Okay. Hier war eindeutig jemand verknallt.

Mathias lachte. »Und ich, weil du anders bist und mich neugierig machst. Du bist wild, du lässt nicht zu, dass dir irgendjemand dumm kommt, und dann hast du diesen total irren Hund. Du sagst nicht viel, aber wenn du es tust, dann bist du schlagfertig, witzig und sarkastisch. Und du redest nicht wie die anderen. Hou a hou a hou.« Er ahmte den schweren nordjütländischen Dialekt nach.

Ich musste ebenfalls lachen, und das ließ meine Entschlossenheit bröckeln. Mathias öffnete die Tür zur Schule, und ich trottete ihm hinterher zum Braunen Gang und der Geschichtsstunde, die bereits begonnen hatte.

 

In der langen Zehn-Uhr-Pause saßen wir im Café der Schule, das »Die Insel« genannt wurde. Wir hatten ein rotes Dreier-Plüschsofa erobert, das schon bessere Tage gesehen hatte.

Luna rührte weiter in der Wunde. »Ist schon gut. Du brauchst heute nicht mit zu mir nach Hause zu kommen, aber darf ich dir wenigstens erzählen, was ich über deine Eltern weiß?«

Mathias, der als Vermittler zwischen uns saß, lehnte sich zurück und blätterte plötzlich sehr interessiert in einer Zeitschrift.

»Ich will nichts davon wissen.« Ich versuchte, entschlossen zu klingen, ohne hysterischen Unterton. »Es gibt keinen Grund dafür. Sie sind weg.«

»Okay.« Luna sah aus, als hätte sie eine dicke, fette Kröte geschluckt. »Gut. Aber es ist nicht meine Schuld, dass unsere Eltern es verkackt haben. Ich weiß nicht, warum wir nicht schon viel früher hierhergekommen sind. Meine gesamte Kindheit habe ich immer wieder gehört ›Vielleicht fahren wir nächstes Jahr nach Hause und holen Anne. Vielleicht im Sommer.‹ Aber aus irgendeinem Grund ist es nie dazu gekommen.«

Sie beugte sich über Mathias und nahm meine Hand. Ich ließ sie gewähren, auch wenn es sich merkwürdig anfühlte. Wieder spürte ich diese elektrische Kreativität und auch eine gewaltige Stärke, die von ihr ausging.

»Aber wir können doch trotzdem Freunde sein. Ich habe dir nie etwas getan. Ich fühle, dass wir Freunde sein müssen. Wir müssen einfach.«

Zugegebenermaßen hatte sie mir tatsächlich nie etwas getan. Was war so schlimm daran, eine Freundin zu haben? Oder auch zwei Freunde? Normale Menschen haben Freunde. Normale Menschen schätzen sie sogar und suchen die Gesellschaft anderer Menschen.

Aber ich bin ja nicht normal.

Luna drückte meine Hand, und meine Entschlossenheit geriet ins Wanken. Auf einmal war es unmöglich, Nein zu sagen. Danke, kein Bedarf. Die Worte klebten auf meiner Zunge fest. Nein danke. Na los, sag es einfach, Anne.

Luna lächelte unschuldig. »Magst du nach der Schule mit zu Frank’s?«

Ich wollte Nein sagen. Nein, nein, nein und nochmals nein.

»Okay«, sagte ich und war erstaunt, das Wort aus meinem eigenen Mund kommen zu hören.

Mathias schmunzelte hinter seiner Zeitschrift.

 

Es war das erste Mal, das ich Frank’s Bar & Diner betrat, das in Rekordzeit zu einer Institution in der Stadt geworden war. Es hatte vor etwa drei Jahren eröffnet. Zu diesem Zeitpunkt war ich in Wohngruppe Nummer zwei untergebracht. Kurz zuvor hatte ich bei Pflegefamilie Nummer sieben ausziehen müssen, nachdem ihr Haus abgebrannt war. Sie glaubten, ich hätte das Feuer gelegt. Damals versuchte ich noch, die Leute von meiner Unschuld zu überzeugen. Inzwischen hatte ich den Punkt erreicht, wo ich es nicht mal mehr probierte.

Die gesamte Einrichtung des Frank’s bestand aus Edelstahl, Chrom und Leder. Entlang der Wände reihten sich Nischen mit roten Ledersitzen zu beiden Seiten der Metalltische. Der Bartresen glänzte ebenfalls metallen, und daneben stand eine Jukebox, aus der 50-er-Jahre-Musik in den Raum dudelte.

Ich hatte keinen Zweifel, dass es sich bei dem Mann hinter dem Tresen um Frank handelte. Sein dunkelgraues Pomadenhaar war zurückgekämmt, die Ärmel seines schwarzen T-Shirts waren hochgerollt, und Seemannstätowierungen bedeckten seine beiden Arme. Er hatte etwas Jugendhaftes, obwohl er bereits in den Fünfzigern sein musste. Ich mochte auf Anhieb die Wärme in seinen Augen.

Luna lief zum Tresen und umarmte ihn. Er erwiderte die Geste mit einem Arm, während er mit dem anderen einer Frau augenzwinkernd ein Bier über den Tresen reichte, ehe er seine Aufmerksamkeit Luna zuwandte.

Die Frau sah mich nicht und stieß beinahe mit mir zusammen, als sie sich umdrehte, doch ich sprang routiniert zur Seite, bevor einer von uns mit Bier überschüttet wurde.

»Ich dachte, ihr wärt zum ersten Mal hier?«, flüsterte ich Mathias zu.

»Sind wir auch. Sie schafft es sogar, sich mit einem Holzschuh anzufreunden. So was habe ich noch nie erlebt.«

Wir gingen zum Tresen, wo Mathias Frank die Hand gab.

Frank kratzte seine breiten Koteletten, ehe er auch mir die Hand reichte. Ich ergriff sie und empfing eine Schwingung aus Intelligenz und Freundlichkeit. Außerdem sah ich einen kleinen Jungen von etwa fünf Jahren und spürte eine heftige Welle aus Liebe, Sehnsucht und einer ganzen Menge Traurigkeit. Bitter für Frank. Doch er war nicht der erste Vater in der Geschichte, der nicht mit seinem Kind zusammen war. Oder, ich musterte ihn von Kopf bis Fuß, vielleicht eher seinem Enkelkind.

»Und wer bist du, Schätzchen?«

Ich ließ augenblicklich seine Hand los. »Anne. Und ich bin ganz bestimmt nicht Ihr Schätzchen.«

Mit wütender Miene wartete ich darauf, dass Frank die Nase rümpfen und einen Schritt zurücktreten würde. Doch er lächelte mich nur an.

Wenn ich nur wüsste, warum mich auf einmal so viele Leute bemerkten.

»Oha, die Dame ist scharfzüngig.« Frank riss mich aus meinen Gedanken und zog an Luna gerichtet seine Brauen hoch, die in gespielter Ohnmacht nickte – wie eine Mutter, die mit dem ungezogenen Benehmen ihres Kindes konfrontiert wird.

»Wir wissen nicht, was wir noch tun sollen.« Sie legte Mathias den Arm um die Schulter.

Er umfasste hastig ihre Taille und strahlte wie ein Honigkuchenpferd.

Luna fuhr fort: »Wir haben alles versucht. Homöopathische Medikamente, Musiktherapie, Bewegung und frische Luft.«

Frank tippte sich mit dem Zeigefinger ans Kinn und legte das Gesicht in Falten. »Es liegt am Mittel. Ich verordne umgehend einen Milchshake und einen Chiliburger mit Pommes.«

Ich verdrehte die Augen. Schön, dass sie sich auf meine Kosten amüsierten. Ehe er in die Küche ging, nickte er Luna zu. »Denk dran, dass du morgen anfängst.«

Wir drehten uns ihr zu, und sie grinste verlegen. »Wir haben es gestern ausgemacht. Ich brauchte ohnehin einen Job und dachte, hier zu arbeiten macht sicher Spaß.«

Wir setzten uns in eine der Nischen. Die anderen bestellten nur Milchshakes, da sie zu Hause essen würden. Sie hatten ja Familien.

Mathias gluckste. »Luna, du beeindruckst mich echt. Gestern hast du in nur einem Tag eine neue Klasse, zwei neue Freunde und einen neuen Chef bekommen. Ich wüsste gern, was du alles in einem Jahr fertigbringst.«

Sie legte ihre Hand auf seine, und er erstarrte. »Ich habe einen Chef und eine neue Freundin bekommen. Was du für mich wirst, weiß ich noch nicht.«

Seine Wangen glühten, und ein glückliches Grinsen breitete sich auf seinem hübschen Gesicht aus. Mir kam es auf einmal ziemlich heiß in der kleinen Nische vor.

Zum Glück erschien Frank in diesem Moment mit dem Essen und den Getränken, und die Stimmung wechselte. Luna stürzte sich auf ihren Milchshake und plapperte drauflos. Mathias sah verliebt und glücklich aus, und ich spürte einen Stich schlechten Gewissens, weil ich hier saß und zubereitetes Essen aß. Ich beschloss, mein spärliches Budget zu sprengen und auch etwas für Monster zu kaufen, das ich ihm mitbringen konnte.

Anschließend ließ ich Mathias und Luna allein nach draußen gehen und trat zu Frank an den Tresen.

»Ich hätte gern noch einen Burger zum Mitnehmen.«

Er drehte sich um und musterte mich.

»Immer noch hungrig?« Er betrachtete mich von oben bis unten, ehe er sein graues Pomadenhaar zurückstrich. »Wie viel wiegst du? Viel mehr als fünfundfünfzig Kilo können es nicht sein.«

Ich schüttelte den Kopf. »Es ist nicht für mich.«

»Wer ist der Glückliche, wenn man fragen darf?« Frank beugte sich mit einer Hand unter dem Kinn über den Stahltresen.

»Mein Hund«, antwortete ich. »Er weigert sich, Hundefutter zu fressen, und ich kann nicht kochen. Ich habe nur Schokokekse zu Hause.«

Frank brach in schallendes Gelächter aus, und tiefe Falten umkränzten seine Augen.

Er pfiff in Richtung der Küche, und ein Kampfhund kam angetrottet, der in meinen Augen recht klein und harmlos aussah, aber ich war ja auch Monster gewohnt. Für andere war er mit Sicherheit ein großer und möglicherweise sehr gefährlicher Hund.

»Der hier rührt auch kein Hundefutter an. Nein, tust du nicht, nein, tust du nicht.« Der letzte Satz klang, als spräche Frank mit einem Baby.

»Weißt du was«, sagte er. »Wir haben immer jede Menge Reste, und mein Hund schafft nicht alles, auch wenn er es versucht. Wenn du mir fünfzig Kronen die Woche gibst, lasse ich meinen Koch jeden Tag etwas davon für dich beiseitestellen. Du kannst das Essen einfach abholen, wann es dir passt. Was für einen Hund hast du?«

Ich warf einen Blick durch die Glastür und sah Monster geduldig auf der anderen Straßenseite warten. Wie er mich wohl gefunden hatte? An der Stelle, wo er saß, war ein Hundehaken in der Hauswand, sodass es aussah, als wäre er angebunden.

»Schauen Sie selbst«, sagte ich und zeigte in Monsters Richtung.

Frank sah hinaus und riss überrascht die Augen auf. »Sagen wir lieber, hundert Kronen.«

 

Ich verließ das Frank’s mit einer Tüte Essen. Als ich zu Hause ankam, entdeckte ich zwischen den vermischten Pommes-, Brot- und Frikadellenresten ein sorgfältig eingepacktes Hühnchensandwich und ein Stück Kuchen. Man trifft selten auf Freundlichkeit ohne Hintergedanken, und während ich später am Abend das Sandwich aß, überlegte ich, was Frank wohl im Gegenzug von mir wollte. Nicht dass er es bekommen würde.

Monster war glücklich. Kein einziges Mal in der Zeit, die er bei mir wohnte, hatte er so gut gespeist. Ich richtete ihm einen Teller auf dem Tisch, denn die Male, als ich ihm das Essen auf den Boden gestellt hatte, war er stets tödlich beleidigt gewesen. Er ist groß genug, um auf dem Boden zu sitzen und an meinem Mini-Tisch zu essen. Er futterte den gesamten Inhalt der Tüte, und anschließend sahen wir fern.

Monster legte seinen riesigen Kopf auf meinen Schoß. Es lief irgendein alter Schinken, aber ich glaube, Monster folgte der Handlung mehr, als ich es tat.

Freunde. Ich kannte das Wort, wusste aber nicht genau, was es bedeutete. Mathias und Luna schienen entschieden zu haben, dass ich ihre Freundin sein sollte. Aber wusste ich überhaupt, wie man das machte? In meinem Leben hatte es nur sehr wenige Konstanten gegeben. Arthur und Grethe waren im Grunde die einzigen stabilen Menschen in meiner Welt, und Grethe war meine Sozialarbeiterin beim Jugendamt, also konnte sie wohl kaum als meine Freundin bezeichnet werden. Damit war Arthur der Einzige, den ich jemals in diese Kategorie stecken würde. Wobei er fast schon zu merkwürdig dafür war.

Ich legte den Kopf auf Monsters Schulter und schloss die Augen. Als ich sie wieder öffnete, stand ich im Wald.

Der Mann legte die Schnur um den Hals des Mädchens, und ich bereitete mich auf das vor, was ich nun sehen würde. Was ich gezwungen war zu bezeugen. Ich fluchte darüber, dieses schreckliche Ereignis miterleben zu müssen. Und dann auch noch mehrmals.

Warum sah ich es immer wieder?

Ich betrachtete die Szene so ruhig, wie ich es vermochte, und versuchte, etwas wiederzuerkennen. Aber Fichtenwälder gleichen sich sehr. Durch die Bäume sah ich ein Feld. Es folgte einer Aufwärtskurve und endete auf einer Hügelkuppe. Auf der Kuppe stand ein kleines weißes Haus.

Der Mann zog die Schnur straffer um den Hals des Mädchens, und sie gab einen gurgelnden Laut von sich.

Instinktiv rief ich, dass sie aufpassen solle. Dummkopf, Anne. Doch auch wenn mich mein kühler Verstand daran erinnerte, dass es ebenso zwecklos war, wie einer Person in einem Film zuzurufen, konnte ich mich nicht zurückhalten.

Das Mädchen sank auf die Knie. Ihre Arme baumelten an den Seiten herab, und sie prallte mit einem dumpfen Laut auf der Erde auf.

Ich begann zu schreien. In meinem Kopf, oder vielleicht auch laut, flehte ich: Weck mich, Monster, bitte! Bevor er das Messer zieht.

Eine kalte Schnauze stupste mich an.

Mit einem Ruck erwachte ich in derselben Stellung, in der ich eingeschlafen war. Ich trocknete mir mit dem Handrücken die Wangen.

Irgendetwas an dieser Vision stimmte ganz und gar nicht. Um den Kopf frei zu kriegen, griff ich nach der Fernbedienung und zappte zum Nachrichtensender.

Die gelbe Grafik auf dem Bildschirm zeigte an, dass Breaking News liefen. Ich wollte gerade zu dem Film zurückschalten, doch als ich hörte, wie der Sprecher den Namen der Stadt Hjallerup erwähnte, verharrte mein Finger über der Taste. Dort hatte ich in dem Jahr gelebt, als ich in Wohngruppe Nummer eins untergebracht war. In dieser Ecke passierte selten etwas, und der Name der Stadt klang fremd im Mund des Nachrichtensprechers.