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Annika Domainko

Ungefähre Tage

ROMAN --- C.H.BECK

Zum Buch

Seit fast zwanzig Jahren arbeitet Grün als Pfleger auf der geschlossenen Station einer Psychiatrie. Manche Patienten kommen immer wieder, andere verschwinden, bevor er ihre Namen kennt. Aber sie fällt ihm auf. Wer ist diese Frau?

Sie leidet an Wahnvorstellungen, hört Stimmen, doch dann gibt es wieder diese Momente völliger Klarheit. Grün ist wie gebannt von dieser Frau. Durch sie scheint er seinen stumpfen Routinen zu entkommen und wagt es sogar, sich der eigenen Vergangenheit zu stellen. Endlich kann er sprechen, von sich, von dem, wofür er zuvor keine Worte hatte. Und auch wenn der Halt, nach dem er greift, lose ist, könnte diese Frau doch seine Rettung bedeuten. Wäre es denn so fatal, sich näherzukommen? Und wie groß ist die Gefahr, in einem fremden Leben zu verschwinden?

Annika Domainko erzählt die aufwühlende Geschichte zweier haltloser Menschen, sie erzählt von der Angst vor dem Zusammenbruch, von Kontrollverlust und Macht. «Ungefähre Tage» ist das Psychogramm zweier Menschen im Ausnahmezustand – wie unter einem Brennglas leuchtet diese Geschichte Macht, Manipulation und menschliche Abgründe aus. Ein Roman, der auf der Suche nach Gewissheit jede Sicherheit infrage stellt.

Über die Autorin

Annika Domainko, geboren 1988, studierte Latinistik und Klassische Archäologie in Heidelberg und Cambridge. Seit 2018 arbeitet sie als Sachbuch-Lektorin. «Ungefähre Tage» ist ihr Debüt.

Inhalt

ERSTER TEIL

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ZWEITER TEIL

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Nachweise

für a. w.;

«… und was mir besonders gefiel, war der Gedanke,
dass die Arbeit an Luftschlössern nicht umsonst sein müsse,

weil Luftschlösser in die Luft gehörten und es nur darum gehe, die Fundamente darunter zu errichten.»

Norbert Gstrein, Eine Ahnung vom Anfang

In der Psychoanalyse gibt es das Konzept der Angst vor dem Zusammenbruch. Verschüttete Vergangenheiten, das Gefühl ewigen Fallens, Zeitlosigkeit, endlose Wiederholung, brüchige Haut, ein Ich, das nicht mehr aus dem Spiegel, sondern aus fremden Mündern zu einem spricht, dem die Zunge bricht. Bei mir fängt es an wie ein Schauer, der dich Deckung suchen lässt, ein Kribbeln an den Rändern wie sprudelndes Wasser. Geschichten, die nur für den lesbar sind, der weiß, wo er graben muss, Zusammenbrüche brauchen Archäologen. Ich weiß nicht, ob ich zu ihnen gehöre, aber in meinen Träumen wasche ich mir die Erde ungefährer Tage von den Händen.

ERSTER TEIL

1

Als ich erwachte, wusste ich nicht, wo ich war, der Boden vor dem Fenster lag in sattem Licht, ich selbst tauchte ohne Zeitgefühl und Orientierung aus einem randlosen Zustand an die Oberfläche. Es war früher Abend, stellte ich nach einer Weile fest, er fiel senffarben ins Zimmer, und ich hatte den Nachmittag verschlafen.

Meine Schläfen pochten und Unwille erfasste mich, körperlich und schwer und endgültig, ein Gefühl, das mich seit Monaten anfiel, wann immer ich unvorbereitet war, nach dem Aufwachen, im Nachtdienst, betrunken. Ich stand auf, dehnte den verkrampften Nacken, legte die Wolldecke zusammen und öffnete das Fenster. Das Haus lag still, Josefine war mit der Kleinen bei ihrer Schwester geblieben. Die Luft, die durch das offene Fenster hereinströmte, war kühl und roch erdig nach dem verwelkenden Laub, das die Bäume seit drei Wochen in den Hof warfen und auf unsere Fensterbank im dritten Stock fallen ließen. Mein rechtes Auge, unter dessen Lid die Kleine gestern ihren winzigen Zeigefinger geschoben hatte, tränte und legte einen milchigen Schleier über meinen Blick.

Der Himmel war hoch und klar und ich lehnte mich aus dem Fenster. Kein einziger grauer Fleck zwischen den aufragenden Altbauten verhieß, dass etwas hereinbrechen könnte, alles lag porös und offen da, die aufgebrochene Gartenerde unten im Hof, das Brennholz unter dem Unterstand der Nachbarn, das Laub auf der Fensterbank. Ich griff mit beiden Händen hinein und schob es zu einem Haufen zusammen. Genauso hatten sich die Blätter in ihrem Haar gestern angefühlt, dachte ich. So brüchig, dass sie mir zwischen den Fingern zerfielen und wie Konfetti auf ihre Schultern und den ausgetretenen Parkettboden gerieselt waren. Sie hatte nicht geläutet, und dass ich sie bemerkt hatte, genau in dem Moment, als sie wie auf Kommando in sich zusammenfiel, war Zufall gewesen. Ich hatte ihren taumelnden Schatten hinter dem Milchglas gesehen, sie fiel so leicht, dass kein Laut durch die verschlossene Tür drang. Als ich aufschloss, musste ich ihren Körper mit der Tür über den Boden schieben. Es gab ein heiseres, wischendes Geräusch. Der Widerstand hallte in meinem Muskel nach.

Das Foyer war leer gewesen, die Frau vom Empfang nirgendwo zu sehen. Die automatische Schiebetür am Eingang hatte sich lautlos geöffnet und wieder geschlossen, ohne dass jemand eingetreten wäre. Ich hatte mich hingekniet, die Hand an ihren Hals gelegt, um den Puls zu messen, und sie angesprochen. Sie hatte nicht reagiert, die Augen nicht geöffnet, ihr Körper war ohne Spannung gewesen. Ich hatte lauter gesprochen, ihre Stirn befühlt, leicht mit der flachen Hand auf ihre Wange geschlagen. Als ich sie hatte hochheben wollen, um sie auf die Station zu tragen und den Dienstarzt zu rufen, hatte sie die Augen aufgerissen und mich angesehen. Sie hatte sich nicht gewehrt, aber eine unvermittelte Spannung war durch ihren Körper gelaufen. Etwas Fragendes muss in meiner Geste mitgeschwungen sein, als ich sie hochhob, denn sie nickte kurz, die Antwort in einem stummen Gespräch, das mich noch immer irritierte, weil ich es nicht verstand, und vor allem, weil es eigentlich nie vorkam, dass mich diese Dinge über die unmittelbare Situation hinaus interessierten. Ich hatte die spaltoffene Tür mit dem Fuß aufgedrückt und sie über die Schwelle getragen, die ganze Zeit über hatte ich ihren Blick auf meinem Gesicht gespürt. Sie war wärmer gewesen, als ich nach dem Befühlen ihrer Wange vermutet hätte, ihr Körper spitz, aber unerwartet schwer auf meinem Arm.

Ich packte den Haufen trockenen Laubs, den ich auf der Fensterbank zusammengeschoben hatte, presste ihn zu einem Knäuel und warf ihn in den Hof. Die Blätter wurden vom Wind erfasst und ein Stück mitgetragen. Ich mochte das Knistern, das sie von sich gaben, wie das Knacken eines Feuers. Mit jedem Schritt war sie wärmer und weicher geworden auf meinem Arm, dachte ich. Laub war von uns herabgefallen und hatte eine Spur hinterlassen, von Milchglas zu Milchglas, quer über den Flur bis zum Behandlungszimmer, ich hatte es später mit dem Besen aufgekehrt.

Ich schloss das Fenster. Die kalte Luft hatte den Schlaf aus dem Arbeitszimmer vertrieben. Wir nannten es noch immer so, obwohl ich es schon lang nicht mehr zum Arbeiten nutzte. Das Fernstudium ruhte, seit die Kleine auf der Welt war, ich las hier, wenn auch immer seltener, schrieb E-Mails, telefonierte, kam meistens nach der Schicht hierher, wenn ich für mich sein wollte. Anders als Josefines Homeoffice, mit Teak, bodentiefen Regalen voller Gesetzestexte, Marcel-Breuer-Stühlen und Tecto-Leuchte im Fenster, strömten hier noch immer meine Studentenjahre aus jeder Pore, nicht einmal von den Postern hatte ich mich getrennt, auf dem rauen Wollteppich hatte ich schon mit Mira geschlafen. Am liebsten wäre ich auch nachts hier, mit der Kleinen neben mir und ihren leisen Schmatzgeräuschen im Schlaf, ganz für mich und ohne einen fremden Blick.

Mit steifen Beinen schlüpfte ich in die Jeans, die ich beim Heimkommen am Boden hatte liegen lassen, zog einen Kapuzenpullover über das T-Shirt, in dem ich geschlafen hatte, und ging in die Küche, um mir einen Kaffee zu kochen. Ich füllte den Wasserkocher, zog die Blechdose mit dem gemahlenen Kaffee vom Regal und kippte zwei Löffel in die French Press. Als ich das Wasser auf das Pulver goss, beobachtete ich die braunen Moorblasen, die träge aufstiegen. Während mir der Kaffee in die Nase stieg, packte ich Tabakbeutel, Filter und Zigarettenpapier auf den Tisch und begann zu drehen. Das Pochen in meinen Schläfen wurde lauter. Mit dem Daumennagel kratzte ich die Klebstoffreste vom Tabakbeutel.

Ich goss mir den schwarzen Kaffee ein, steckte mir die Zigarette zwischen die Lippen, ging zur Balkontür und drückte die schwere Klinke mit dem Ellbogen nach unten. Ich gab der Tür einen Stoß mit der Hüfte, quietschend schwang sie ins Freie, wie jedes Mal, Handgriff nach Handgriff, die Routine der kleinen Dinge. Ich setzte mich auf die Bank neben der Tür, mit Blick auf Tomatensträucher und Gräser, die Füße auf den kalten Holzpaneelen, und öffnete Spotify, um eine Folge des archäologischen Podcasts zu hören, dem ich seit einigen Wochen folgte. Reminiszenz an frühere Zeiten, das erste Studium, das ich vor über zwanzig Jahren kurz vor dem Abschluss abgebrochen hatte. Das nächste Fremde hatten sie ihn genannt, wenig originell, wie ich fand, die alte Leier von der Antike als fremd und vertraut zugleich, als das Andere im Eigenen und umgekehrt. Aber die Themen waren gut, die beiden Organisatoren, die wechselnde Gäste einluden, jünger im Ton, als der Titel hätte vermuten lassen. Ich legte das Smartphone hinter mir auf die Fensterbank und zündete die Zigarette an. Der Rauch mischte sich in meinem Kopf mit der Musik des Intros.

Ich hatte ihr auch eine Zigarette gedreht, dachte ich, als ich den ersten Zug nahm, weil es ihr nicht gelungen war, das Papier um die Tabakfäden zu schlingen. Es hatte ausgesehen wie der ungelenke Bastelversuch eines Kindes. Dabei hatte sie ihre Hände die ganze Zeit im Blick gehabt, den Tabak schließlich auf ihrem Schoß liegen lassen, das zerrissene Papier daneben wie ein Stillleben. Wir hatten uns stockend unterhalten. Kurz davor, nachdem ich sie ins Behandlungszimmer getragen und auf der Liege abgelegt hatte, hatte ich ihr noch das Laub aus den Haaren gepflückt, ihr die Jacke ausgezogen, wie einem Kind, die Schuhe, die merkwürdigerweise vollkommen durchnässt waren. Sie war dehydriert gewesen, und ich hatte ihren Kopf mit einer Hand gestützt, während ich ihr mit der anderen aus einem Plastikbecher Wasser einflößte. Die ganze Zeit über war sie still gewesen, mir ausgewichen. Ich hatte ihr den Ärmel hochgeschoben, um den Blutdruck zu messen. Da war ein Pflaster in ihrer Armbeuge, darunter ein Wattepad, wie auch wir es verwenden. Da erst war mir überhaupt in den Sinn gekommen, dass sie sich vielleicht gar nicht zu uns verirrt hatte, nicht vom Himmel gefallen, sondern zurückgekommen war.

Wollen Sie mir Ihren Namen sagen?

Sie hatte ihn genannt. Ich hatte in der Datenbank nachgesehen. Sie war tatsächlich bereits seit acht Tagen auf Station. Ich hatte keinerlei Erinnerung an ihr Gesicht.

Ich zog an der Zigarette und hielt den Rauch für einen Moment in der Lunge. Das Pochen in den Schläfen wurde weniger. Ich ging mit der brennenden Zigarette zurück in die Küche, um mir eine zweite Tasse Kaffee einzuschenken, auf dem Rückweg fischte ich ein Stück Kuchen von der Anrichte, die Apfelstücke im Teig kribbelten sauer auf der Zunge. Von der Fensterbank tönte der Podcast. Ein Apotropaion sei ein Gegenstand oder ein Symbol, dem man die magische Fähigkeit zusprach, Unheil abzuwehren. Aus dem Altgriechischen, trepein, wenden, abwenden. Ein Beispiel aus dem griechischen und römischen Kulturkreis sei der Kopf der Medusa, der, zu einem Emblem geronnen, dem sogenannten Gorgoneion, nicht nur auf dem Schild des Zeus und dem Mantel der Athena und einiger mythologischer Helden prangte, sondern auch in der Realität über zahlreichen Schwellen, Eingängen, an Tempeln angebracht wurde. Ein versteinernder Blick für neuralgische Punkte, ein Marker für Innen und Außen, ein Riss im Raum, die Norm hier, das Andere dort. Ich trank den Kaffee aus und balancierte die leere Tasse auf der Handfläche. Medusa, sprödes Schlangenhaar.

2

Als ich am nächsten Morgen vor der Klinik vom Fahrrad stieg, hatte es nach der wochenlangen Trockenheit endlich zu regnen begonnen. Ich schob das Rad unter den vorkragenden Dachvorsprung, zog die Kapuze ins Gesicht und lief mit großen Schritten zum Seiteneingang neben der Pforte. Der Wind blies mir den Regen ins Gesicht, und ich war froh, als ich die schwere Tür hinter mir zuziehen konnte. Ich ging die Treppe hinunter, meine Schuhe quietschten auf dem Linoleum, warf meinen Rucksack in den Spind und tauschte Kapuzenpullover gegen Kittelhemd, die nassen Boots gegen Turnschuhe, meine tägliche Rüstungsszene, die Jeans behielt ich an, entgegen den Vorschriften. Von der Innenseite der Spindtür sah mir mein Spiegelbild zu, nicht mehr blonder Bart, die Stirn in Falten, graue Stoppeln auf dem rasierten Kopf, die die zurückweichende Haarlinie nicht verbargen, nicht alt, aber auch nicht jung, eine Beobachtung, die an Sinnlosigkeit kaum zu überbieten war, vor allem, wenn sie das eigene Gesicht betraf, dachte ich. Ich fasste an meine Unterlippe und überlegte zum wiederholten Mal, ob es an der Zeit war, den schwarzen Ring, den ich seit mehr als zwanzig Jahren darin trug, herauszunehmen. Ich zog eine Grimasse, schlug die Spindtür zu und lief die Treppe zur Station hoch, drei Stufen auf einmal nehmend.

Im Stationszimmer schlug mir der vertraute Geruch entgegen, Desinfektionsspray, Bodenreiniger, frische Wäsche, Kaffee, verbrauchte Luft, die davon zeugte, dass die Fenster hier nur gekippt und nie weit aufgerissen wurden. Ich nahm eine Tasse aus dem Regal, sie hatte einen kleinen Sprung am Rand, goss ein und ließ mich neben Kroh auf die Tischplatte sinken. Mit dem Finger fuhr ich die stumpfe Bruchkante entlang.

Morgen, Grün, sagte er, ohne von den Akten aufzublicken, du bist knapp dran. Stress gehabt daheim?

Geht.

Mir war nicht nach einer Unterhaltung zumute. Kroh schob die Akten auf einen Haufen und hob ihn mit Schwung vom Tisch. Er schaute mich an, prüfend, und ließ den Stapel laut auf den Rollwagen neben mir fallen. Im Vorbeigehen legte er mir die flache Hand mit weit gespreizten Fingern auf die Brust, er hatte etwas von einem großen Vogel, dachte ich, und wie passend doch der Name war, Kroh, die Krähe. Er zwang mich zu einer halben Drehung und schob mich vor den Dienstplan, der auf einem großen Whiteboard an der Wand hing.

Die Michaels hat gerade angerufen und sich krankgemeldet, sagte er. Du springst bei der Visite ein. Und schau mal, wie viele von ihren Patienten du übernehmen kannst.

Er wischte die Einträge mit dem Handrücken von der Tafel und trug die Änderungen in den Plan ein.

Sind eh nicht viele, zwei, glaub ich, oder drei.

Kroh schaute die Akten durch.

Nein, zwei. Die zweitoberen hier. Zimmer 124 ist bei dir eh besser aufgehoben.

Er strich mir flüchtig über den Oberarm, wie mit der Spitze eines gespreizten Flügels, dachte ich erneut, und schob mir den Rollwagen hin, bevor er mit langen Federschritten im Flur verschwand.

Es war sieben Uhr in der Früh, die Station war still, der Flur lag im Halbdunkel und auch das Stationszimmer war nur punktuell erleuchtet, wo die Kollegen Schreibtischlampen und Unterlichter hatten brennen lassen. Ich zog die beiden Akten aus dem Stapel, musste ein Gähnen unterdrücken und begann zu lesen. Daniel Rother, 53 – ich schlug die Akte zu. Den kannte ich besser, als mir lieb war. Rother war, seit ich als Pfleger auf der geschlossenen Station arbeitete, mindestens zum fünfzehnten Mal hier, lebte eigentlich in einer betreuten WG, aber machte sich alle paar Monate aus dem Staub, setzte die Medikamente ab und wurde mit akuten Wahnvorstellungen von der Polizei aufgelesen und uns zur Verwahrung übergeben, wo alles von vorn losging. Rother war der Stein, den man wochenlang den Hang nach oben schob, nur damit er einen auf dem Abwärtsweg mit Schwung über den Haufen rollte und einem die Absurdität des eigenen Tuns in den Leib stempelte.

Ich zog die zweite Akte aus dem Stapel, deutlich dünner als Rothers, ein Lichtblick. Es war ihre. Sie war seit gut einer Woche hier, von einer Bekannten gebracht worden, zu Ort und Zeit desorientiert, konnte aber Namen und Adresse nennen. Felber war der behandelnde Arzt, ICD-10-F33.3, rezidivierende depressive Störung, gegenwärtig schwere Episode mit psychotischen Symptomen, dahinter ein großes Fragezeichen in Klammern, ein merkwürdig blinder Fleck in einem System, das sich eigentlich der Illusion lückenloser Erfassung verschrieben hat. Seit der Aufnahme habe sie fast die ganze Zeit in ihrem Zimmer verbracht, kaum gesprochen. Auffällige Schwankungen in der Orientierung, hatte Felber zudem notiert, und Identitäts- und Schuldkonflikt, wieder mit Fragezeichen, und: scheint sich in wahnhafter Weise in schuldig gewordenen Personen des öffentlichen Lebens wiederzuerkennen, die ihr in den Medien begegnen, in Klammern: weiter beobachten, fernhalten von Zeitungen und Fernseher, Ausrufezeichen. Akustische Halluzinationen, Stimmen, die nicht klar als innere Stimmen identifiziert werden können, Gedankenausbreitung. Anzeichen riskanten Verhaltens, möglicher Suizidversuch in der Vergangenheit. Darüber hinaus: guter Allgemeinzustand, guter Ernährungszustand; nach kürzlichen Vorkommnissen: kein Ausgang. Ganz unten stand mein Eintrag. Am 5. Oktober um 16 Uhr 45 in desorientiertem Zustand am Stationseingang aufgegriffen, Notfallmedikation mit Tavor nach Rücksprache mit Dienstarzt. Gespräch nicht möglich, Patientin schlief gleich nach Medikation ein, mein Kürzel.

Ich blätterte langsam durch die restlichen Seiten der Akte. Gespräch nicht möglich, das stimmte nicht ganz. Kurz nach diesem Eintrag hatte sie plötzlich im Aufenthaltsraum vor der Tür zum Garten gestanden. Sie hatte die Stirn ans Glas gepresst, wo sie einen fettigen Abdruck hinterließ, die Hände in den Taschen der langen Bluse, die sie über einer Leggings trug, deren Naht in der Mitte des einen Oberschenkels zu einem schmuddeligen Loch aufgeplatzt war. Als ich sie ansprach, hatte sie gelächelt, im nächsten Moment war jede Mimik verschwunden, wie schon am Mittag zuvor, und sie hatte stumm nach draußen geblickt. Ich war eigentlich hergekommen, um in meiner Pause im Garten eine Zigarette zu rauchen. Also hatte ich ihr den Tabak in einigem Abstand vors Gesicht gehalten, wollen Sie?, und die Tür aufgeschlossen. Sie hatte gezögert und dann genickt und sich anschließend von mir durch die spaltoffene Tür dirigieren lassen. Wir hatten uns auf die Bank neben der Tür gesetzt, und ich hatte mir und ihr eine Zigarette gedreht. Ihre Hände hatten gezittert, ich hatte ihr Feuer geben müssen. Über Musik hatten wir gesprochen, über das Buch, das ich in ihrer Hand erst nicht gesehen hatte. Über das Wetter. Sie hatte gesagt, dass das ihre Schuld war, mittags zuvor, und sich entschuldigt. Ich wusste noch immer nicht, was sie damit meinte. Nach zehn Minuten hatte sie zurück in ihr Zimmer gewollt, ich hatte ihr aufgeschlossen, und das Dämmerlicht im Aufenthaltsraum hatte sie geschluckt, nur die roten Haare hatten kurz aufgeblitzt.

Morgen, Grün, sagte Felber, der mit einem Tross Menschen ins Stationszimmer kam.

Sein Gesicht war fahl. Ich blickte über die Schulter auf den Dienstplan. Er hatte eine Nacht Bereitschaft hinter sich.

Bist du dabei nachher? Ich will die Visite heute schon während des Frühstücks anfangen, sagte er. Schreibst du? Und gibt’s noch Kaffee?

Felber gähnte mit weit aufgerissenem Mund und warf mir einen fragenden Blick zu.

Ja und ja, Planänderung. Die Michaels ist krank. Und noch mal ja, die rote, antwortete ich und schob ihm die Kanne entgegen, die die Krähe vorhin aufgefüllt hatte.

Er trank die Tasse in einem Zug aus, nahm die Brille ab, die ihm wie ein feingliedriges Insekt im Gesicht saß, und rieb sich die rot gemaserten Augen.

Hast du deinen Bericht über Zimmer 129 schon geschrieben?, fragte er mich. Mich würde wirklich interessieren, was du davon hältst. Wir kommen nicht weiter, deine Beobachtungen aus dem Alltag, den ich ja nicht sehe, wären in schriftlicher Form eine große Hilfe für mein Gespräch mit der Oberärztin nachher.

Kriegst du zu Mittag, ich bin noch nicht dazu gekommen.

Danke, er klatschte in die Hände.

Ich nickte leicht, schob den Rollwagen mit den Akten in den Flur, und der Tross folgte mir zum ersten Zimmer, wo ich mit drei lauten Schlägen an die Tür klopfte.

Ich war inzwischen seit über achtzehn Jahren auf Station, und die Dinge hatten längst die Angewohnheit, sich zu wiederholen. Die Visite, die Medikamente, die Betten, die Angst, die Stimmen, die Abgründe, Akten, Gespräche, Wutausbrüche, die Krisen, Karriereambitionen, die jungen Ärzte von der Uni, die im Nachtdienst ratlos, aggressiv oder heulend vor mir standen und sich trösten oder aufbauen ließen, je nach Temperament und Ausdauer, die Rothers dieser Welt, die Typen Anfang zwanzig, die nach zu vielen Drogen in Flashbacks festhingen, Magersüchtige, die bei uns zwangsernährt wurden, während sie auf einen Therapieplatz warteten, bipolare Existenzverluste, die Klischees, das Unverständnis, die Häme, die Selbstgerechtigkeit und der Zynismus, die Kluft zwischen uns und ihnen, die dünne Haut der Normalen und die brüchige der Anderen. Dieser Ort war wie gemacht für alle, die mit dem Fuß auf der Schwelle festhingen und einander darin so ähnlich waren wie Schauspieler, während das wirkliche Leben hinter einem Vorhang stattfand, den wir ihnen schützend um die Betten zogen. Ich fragte mich, ob irgendwer von ihnen mitbekommen würde, wenn die Welt in Flammen aufging, ohne Zeitung, und wenn die Abendnachrichten anfingen, wechselte einer von uns, der Aufsicht führte, den Sender.

Grün, kann ich die Akte sehen?

Ich schreckte auf und blickte in Felbers Gesicht, der mit ungeduldig ausgestreckter Hand vor mir stand. Ich brummte eine Entschuldigung und reichte ihm die oberste Mappe. Während er die Medikation prüfte, ließ ich den Blick durchs Zimmer schweifen. Ich war nicht bei der Sache, bei keiner, um genau zu sein. Stumpf getretenes Parkett, dunkelblaue Holzvertäfelungen rund um die Betten, ein Tisch, zwei Stühle, Plastiklehnen, abwaschbare Sitzfläche, Fenster mit Schloss drinnen und Gitter draußen, keine Gardinen, keine Kleiderhaken, kein abnehmbarer Duschkopf.

Was denken Sie, fühlen Sie sich ruhiger, seit wir die Dosis erhöht haben? Wie ist es mit dem Schlaf?

Keine Antwort.

Können Sie schlafen in der Nacht?

Ich sah ein Nicken aus dem Augenwinkel.

Besser als vorher?

Erneutes Nicken.

Gut. Und die Gedanken? Das Grübeln, Sie müssten sich was antun?

Keine Antwort.

Unverändert?

Sie saß mit angezogenen Beinen auf ihrem Bett, den Rücken an die Wand gelehnt, das Gesicht hinter einem Vorhang aus fettigem roten Haar.

Aber Sie können sicher sagen, dass diese Gedanken von Ihnen kommen? Keine Stimmen mehr, die Ihnen das eingeben? Noch irgendwas von außen?

Ihre Schultern zuckten. Felber holte tief Luft.

Okay, dann versuchen wir’s doch noch ein bisschen höher. Hören Sie? Ich schreibe Ihnen jetzt eine höhere Dosis auf von dem Neuroleptikum, das Sie schon länger bekommen. Das Medikament zum Schlafen lassen wir so. Und über ein zusätzliches Antidepressivum reden wir, wenn die Gedanken klarer sind.

Zögerliches Nicken.

Einverstanden?

Felber, Fragezeichen, streckte ihr die Hand hin. Sie sah feindselig aus, als sie die Augen hob, schaute uns an und griff dann die ausgestreckte Hand.

Machen Sie’s gut. Bis Montag.

Ich sah, wie sie Felber mit ihrem Blick fixierte, und hatte das unmittelbare Bedürfnis, mich dazwischenzuwerfen, als Felber mich leise sprechend aus meinen Gedanken riss.

Sprich mal mit einer Kollegin, sagte er, dass sie ihr beim Duschen und Haarewaschen hilft, ja?

Ich schluckte und nickte, und der Tross wandte sich ihrer Zimmernachbarin zu. Ich gab Felber deren Akte, während ich in ihren Unterlagen die neuen Dosierungen eintrug und die frischen Notizen überflog. Sie saß reglos auf ihrem Bett. Ich fragte mich, ob sie Besuch gehabt hatte, seit sie aufgenommen worden war. Es gab keine Blumen auf dem Nachttisch, kein Obst, keinen Süßkram, nur ihre metallene Brille, deren Gläser das Licht der Nachttischlampe in einen Regenbogen zerbrachen. Ihr Schrank stand offen und war bis auf eine nicht ausgepackte Sporttasche und ein Paar Boots leer. Auf dem Boden davor lag ein Stapel Bücher, auch neben ihr lag ein aufgeschlagenes Buch mit gebrochenem Rücken. Ansonsten schien sie unbestimmt wie eine Leinwand, etwas passte nicht, und das war tatsächlich ein seltener Befund in all der Wiederholung. Sie trug noch immer die verwaschene Leggings mit der aufgeplatzten Naht und war barfuß. Das Haar vor ihrem Gesicht sah aus wie gestern, als ich es vom Laub befreit hatte.

Ich hörte, wie die Aktenmappe zugeschlagen wurde, nahm sie entgegen und schob sie unter den Stapel. Wie ein vielkörpriges Wesen schoben wir uns an ihrem Bett vorbei und in den Flur. Als ich mich kurz umdrehte, um die Tür ins Schloss zu ziehen, taxierte sie mich mit einem Blick, den ich nicht einordnen konnte.