77 mal Freude

Rainer Haak

77 mal Freude

Die schönen Seiten des Lebens

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Inhaltsübersicht

Über Rainer Haak

Rainer Haak wurde in Hamburg geboren. Nach dem Theologiestudium und einigen Semestern Medizin war er u. a. als Jugendpfarrer für über 80 Gemeinden aktiv. Seit 1990 ist er hauptberuflich als freier Schriftsteller tätig. Die Gesamtauflage seiner Bücher liegt bei über neun Millionen Exemplaren.
www.rainerhaak.de

 

1. Ein buntes Haus

Das war wieder ein Tag! Es gab so vieles, worüber sie sich ärgern musste! Sie kochte innerlich vor Wut. Jetzt brauchte sie jemanden, der sie verstehen würde und bei dem sie sich alles von der Seele reden könnte. »Geh doch rüber zum Ärger«, riet ihr jemand, »er wohnt gleich da vorne, in dem großen Haus an der Hauptstraße. Ich weiß allerdings nicht, in welchem Stockwerk du ihn findest.«

 

Während es immer noch in ihr kochte, lief sie hinüber. Das Haus war bunt angemalt. »Hier darf gelacht werden«, so stand es groß und deutlich am Hauseingang. Wie sonderbar, dachte sie unsicher, ob ich hier überhaupt richtig bin?

Die Haustür war nicht verschlossen. Sie ging hinein. Im selben Augenblick öffnete sich im Erdgeschoss eine Wohnungstür. »Humor« stand auf dem Klingelschild. Der Hausherr selbst schien vor ihr zu stehen, denn ihr Gegenüber lachte übers ganze Gesicht. »Herzlich willkommen, bitte komm herein! Ich hoffe, du fühlst dich bei uns wohl. Wir alle sind ein wenig verrückt.«

Bei wir alle zuckte sie kurz zusammen. Dann trat sie vorsichtig ein. Ob sie den Ärger hier treffen würde? Aus dem Wohnzimmer waren viele Stimmen zu hören. »Wir sitzen gerade zusammen und erzählen uns lauter lustige Sachen. Setz dich gern dazu. Dann wird es sicher noch lustiger.«

Sie wusste nicht, ob das eine gute Idee war. Trotzdem verbrachte sie eine Weile unter den ungewöhnlichen, fröhlichen Typen.

 

Dann verabschiedete sie sich mit einem Lächeln. »Es war schön bei euch. Aber ich muss noch weiter. Ich will jemanden besuchen, der mich gut versteht. Er soll auch hier wohnen.«

Der Humor verabschiedete sich und flüsterte: »Du musst unbedingt gleich ein Stockwerk über mir klingeln. Mein Nachbar dort wird dich bestimmt verstehen.«

Sie stieg die Treppe hoch in den ersten Stock. »Spaß« stand groß an der Wohnungstür. Sie klingelte. Der Spaß öffnete sofort. »Schön, dass du da bist. Der Humor hat dich schon angekündigt. Komm doch herein!« Auch hier war eine große, fröhliche Runde versammelt. Sie waren alle gerade dabei, von ihren Plätzen aufzustehen.

Musik erklang. »Lasst uns tanzen!«, rief der Spaß in die Runde. Schon wirbelten alle fröhlich durcheinander. Die verdutzte Besucherin sah sich unsicher um, dann lächelte sie und stürzte sich ebenfalls ins Gewühl.

 

Als die Musik verstummt war und die Gäste wieder Platz nahmen, ging die Besucherin zum Spaß. »Das hat Spaß gemacht. Vielen Dank! Ich muss jetzt leider weiter. Ich suche noch jemanden, der hier im Haus wohnen soll. Vielleicht kannst du mir sagen, wo ich ihn finde. Er heißt Ärger.«

Der Spaß ging mit ihr zum großen Fenster. »Siehst du dort das Nachbarhaus? Da wohnt der Ärger. Gleich neben der Wut.«

Sie musterte das Haus. Es war nicht bunt wie dieses, sondern grau und schmucklos und ein wenig verkommen. Die Fenster waren leer und dunkel.

»Soll ich dich hinüberbringen?«, fragte der Spaß.

Sie schüttelte den Kopf. »Ach nein, das ist nicht mehr nötig. Wenn ich darf, würde ich lieber noch eine Weile bei euch bleiben.«

2. Abenteuerlust

Leon und Johannes kannten sich seit Jugendtagen. Damals waren die Freunde oft zusammen ein Wochenende auf der Hütte am Berg, wo sie viel erlebt und wenig geschlafen haben. Sie tranken dort ihr erstes Bier und grillten ein Huhn am Lagerfeuer. Manches war ihnen inzwischen eher peinlich – aber die gemeinsamen Unternehmungen gehörten zu den Höhepunkten ihrer Jugend. »Das Leben ist ein Abenteuer!«, hatte Johannes damals bei jeder Gelegenheit verkündet.

Inzwischen waren fast 20 Jahre vergangen und immer noch waren die beiden befreundet. Wie sie es sich damals versprochen hatten, trafen sie sich einmal im Jahr, um gemeinsam etwas zu unternehmen.

 

Kürzlich rief Leon bei Johannes an: »Mein Onkel hat eine kleine Wohnung an der Ostsee. Er hat mir angeboten, dort eine Woche Urlaub zu machen. Wie sieht’s aus, hast du Lust mitzukommen?«

Natürlich hatte Johannes Lust, und wie! »Endlich mal wieder raus aus allem! Und vielleicht erleben wir ja das eine oder andere Abenteuer, so wie damals. Ich freu mich drauf!«

 

Es wurden abwechslungsreiche Tage am Wasser, die sie mit Schwimmen und Segeln und langen Wanderungen am Steilufer verbrachten. »Da kommen alte Erinnerungen hoch!«, sagte Johannes mehrmals begeistert.

Am vorletzten Abend stand keine Wolke am Himmel. Leon streckte seine Arme übermütig nach oben. Dann rief er aufgekratzt: »Nachher setzen wir uns ans Ufer und schauen dem Sonnenuntergang zu, einverstanden?«

So kam es, dass sie um Viertel nach neun im Sand saßen und der Sonne bei ihrem langsamen Abschied von diesem Tag zuschauten. Sie waren nicht die einzigen. Überall saßen Grüppchen herum und genossen das Schauspiel. In der Nähe spielte jemand Gitarre, einige sangen mit. »Ein Angebot der örtlichen Tourist-Information«, flüsterte Leon ein wenig sarkastisch.

 

Es war fast Mitternacht, als den beiden Freunden langsam kalt wurde. »Jetzt schnell zurück und morgen ordentlich ausschlafen!«, stöhnte Johannes lachend. »Ich freu mich schon auf das gemütliche Bett.«

Doch Leon war anderer Meinung. »Ich finde, wir bleiben heute Nacht draußen!«

Johannes blickte den Freund ungläubig an.

»Lass uns schnell die Schlafsäcke holen. Dann legen wir uns einfach an den Strand. Ich weiß allerdings nicht, ob das erlaubt ist.« Dabei grinste er verwegen. »Dann sitzen wir in der ersten Reihe und schauen zu, wie die Sonne aufgeht.«

Johannes nickte heftig mit dem Kopf. »Genau, und anschließend machen wir uns ein Feuer und kochen Kaffee, das ist bestimmt auch verboten.« Dabei grinste er so wie eben Leon. »Das Leben ist ein Abenteuer!«

© Shutterstock / Kenna Perry

3. Siebenmal blinzelt keck die Freude

Das erste Mal:

Langsam öffne ich die Augen,

habe lang genug geschlafen.

Freue mich auf Abenteuer,

freu mich auf den neuen Tag.

 

Das zweite Mal:

Erstes helles Sonnenlicht

blinzelt durch den Vorhang keck.

Gleich beginne ich zu strahlen,

freu mich auf den Sonnenschein.

 

Das dritte Mal:

Jetzt weht durch das große Fenster

frische Luft zu uns herein.

Frische, kühle Winde tragen

frische Freude im Gepäck.

 

Das vierte Mal:

Jetzt fällt auch in deine Augen

kurz ein heller Sonnenstrahl.

Deine Augen lächeln fröhlich

und du blinzelst keck mir zu.

 

Das fünfte Mal:

Dann weht schon der Duft von Kaffee

durch die Wohnung so verlockend.

Deine Augen, meine Augen

treffen sich am Frühstückstisch.

 

Das sechste Mal:

Wir genießen die Minuten,

und wir denken an den Tag,

freuen uns auf dies und jenes

und du blinzelst keck mir zu.

 

Das siebte Mal:

Wenig später voller Freude

geht es in die Welt hinaus.

Im Winde weht das bunte Leben –

und ein wunderschöner Tag.

4. So wie damals

Michael saß ungeduldig im Büro und telefonierte. Angespannt trommelte er mit den Fingern auf die Tischplatte. Es wartete noch so viel Arbeit auf ihn. Als das Gespräch endlich beendet war, wurde ihm schwindelig. Benommen sah er sich im Raum um. Sein Blick fiel auf ein Bild, das seine Tochter vor ein paar Jahren für ihn gemalt hatte: Die ganze Familie lag im Gras unter einem Apfelbaum. Er, der Vater, lachte fröhlich. Michael stutzte. Wann hat er zum letzten Mal im Gras gelegen? Wann hat er zum letzten Mal fröhlich gelacht?

Er dachte zurück an seine eigene Kindheit. Bilder von unbeschwerten Nachmittagen im Garten tauchten aus der Erinnerung auf. Ihm fielen die kleinen Expeditionen zu den Fröschen am Bach ein, die spannenden Abenteuergeschichten, die er nachts heimlich mit der Taschenlampe las, und seine ersten zaghaften Versuche, Gitarre zu spielen. Er hatte endlos Zeit zum Spielen, Träumen und Forschen, damals.

 

Michael stand auf und ging im Raum herum. Ich hatte endlos Zeit. Und heute? Ich tu immer häufiger mehrere Dinge gleichzeitig. Ich kann zur selben Zeit etwas notieren, ein Gespräch führen und auf den Bildschirm blicken. Ich kann essen und dabei Zeitung lesen. Ich kann mit den Kindern spielen und gleichzeitig über die Steuererklärung nachdenken.

Michael setzte sich erschöpft an seinen Schreibtisch. Er kam sich plötzlich vor wie ein Roboter, der immer nur funktioniert. Wann hatte er sich zum letzten Mal Zeit genommen für romantische Augenblicke, für die Kinder, für den Platz unter dem Apfelbaum?

 

Er nahm ein leeres Blatt Papier und schrieb mit seinem alten Füller langsam in schöner Schrift: Ich will meine Begeisterung und Lebensfreude zurück. Ich will nur eine Sache zur selben Zeit tun. Ich will Gespräche, ohne dabei an tausend andere Dinge zu denken. Ich will Musik hören, einfach so. Ich will, dass die Lebensfreude zurückkehrt, dass ich wieder lachen kann und dass ich mir wieder Zeit für Ausgelassenheit und Romantik nehme.

Als er am Abend nach Hause kam, strahlte er seine Frau an. »Lass uns einen Spaziergang machen, ganz in Ruhe. Und wenn wir zurückkommen, dann lese ich dir etwas vor.«