Erziehungswissenschaft und Lehrerbildung

Ewald Terhart

Erziehungswissenschaft und Lehrerbildung

Waxmann 2013

Münster / New York / München / Berlin

Inhalt

Vorwort

„Bildungswissenschaften“: Verlegenheitslösung, Sammeldisziplin, Kampfbegriff ?

Theorie der Schule: Auf der Suche nach einem Phantom?

Lehranstalt und Lernwerkstatt zugleich? Anforderungen an das Bildungsprofil von Schule heute

Professionalität im Lehrerberuf: Wandel der Begrifflichkeit - Neue Steuerung als Herausforderung

Auf den Lehrer kommt es an: Personalauswahl, Personaleinsatz und Personalentwicklung an Schulen

Widerstand von Lehrern gegen Schulreformen: Zwischen Kooperation und Obstruktion

Guter Unterricht: Die Perspektiven empirischer Unterrichtsforschung und allgemeiner Didaktik

Fachdidaktik aus der Sicht der Erziehungswissenschaft: Probleme, Bedingungen, Perspektiven

Hat John Hattie tatsächlich den Heiligen Gral der Schul- und Unterrichtsforschung gefunden?

Universität und Lehrerbildung: Perspektiven einer Partnerschaft

Wie wirkt Lehrerbildung? Forschungsprobleme und Gestaltungsfragen

Nachweise zum Ort der Erstveröffentlichung

Vorwort

Natürlich: auf den Lehrer kommt es an! Auf diese Formel stößt man in wissenschaftlichen Texten zu Schule, Unterricht und Lehrerberuf immer wieder. Lehrerverbände hören sie nur allzu gerne, wird dadurch doch die Bedeutung des Lehrerberufs unterstrichen und der allzu oft gekränkte Berufsstolz genährt. Wenn sich Eltern schulpflichtiger Kinder oder Schüler über Schulthemen und ‚die Lehrer‘ austauschen, ist diese Formel durchaus auch zu hören; es mischt sich dann allerdings nicht selten ein besorgter, manchmal resignativer Ton ein.

Das öffentliche Bild des Lehrerberufs ist insofern von Ambivalenzen und Uneindeutigkeiten geprägt. Auf der Prestigeskala der verschiedenen Berufe rangiert der Lehrerberuf zwar noch immer ziemlich weit oben, zugleich jedoch sind öffentliche Lehrerschelte und eine allgemeine Herabwürdigung dieses Berufs ebenso stabil und weit verbreitet. Unterhalb dieser Auseinandersetzung um pauschale Bilder, Bewertungen und Mythen, die den Lehrerberuf überlagern, wird bei näherer Betrachtung sowie bei Bezugnahme auf konkrete, einzelne Lehrerinnen und Lehrer, die man kennt, das Bild deutlich differenzierter, ausgewogener und entspannter. Dann wird nämlich durchaus konzediert, dass es sich beim Lehrerberuf um einen ebenso wichtigen wie schwierigen Beruf handelt, der Respekt und Unterstützung verdient. Eines der Probleme dieses Berufs ist eben, dass er von außen betrachtet sehr leicht aussieht – vor allem dann, wenn man ihn gut kann. In Wirklichkeit ist er jedoch äußerst herausfordernd, schwierig und sicherlich zeitweise auch belastend. Aber ist das nicht jeder halbwegs anspruchsvolle Beruf?

Seitdem die Arbeit der Lehrer ihre äußere Form als definierter, von anderen Tätigkeiten und Einflüssen klar abgegrenzter eigenständiger Beruf gefunden hat, wird über den geeigneten Weg zur Bildung bzw. Ausbildung für diesen Beruf debattiert. Allein die Wortwahl – Bildung oder Ausbildung – ist hier Programm. In modernen Gesellschaften sind sehr unterschiedliche Ausbildungsmuster und -systeme anzutreffen, von denen das System der Lehrerbildung in Deutschland sicherlich eines der anspruchsvollsten und aufwendigsten ist. Zugleich ist die Verortung des Lehrerberufs in Deutschland innerhalb der staatlichen Ämterhierarchie recht prominent, die Bezahlung hoch, die staatliche Regulation der Ausbildungsund Zulassungsmodalitäten sogar sehr hoch. Auf der Ebene des Handelns wiederum können sich die deutschen Lehrerinnen und Lehrer durchaus noch einer vergleichsweise großen Autonomie erfreuen. Aus der Sicht der Lehrkräfte wird die hierin liegende Logik des Vertrauens aufgrund verstärkter Rechenschaftspflichten jedoch zunehmend durch eine Logik des Misstrauens seitens der Administration ersetzt. In eine ähnliche Richtung gehen die gestiegenen Ansprüche der Eltern an die Arbeit der Lehrer; schließlich will man ja nur das Beste für sein Kind – und fordert es nachdrücklich ein.

Entgegen der Wahrnehmung in der Öffentlichkeit spielen in der Ausbildung für den Lehrerberuf pädagogische bzw. erziehungswissenschaftliche Inhalte, Themen und Elemente eine klar untergeordnete Rolle; dies trifft vor allem für die erste Phase, das universitäre Studium zu. Immerhin ist es hier zu einer gewissen Annäherung der Ausbildungswege für die verschiedenen Lehrämter gekommen: Der Weg zum Volksschul- bzw. Grund- und Hauptschullehrerberuf wurde in den letzten einhundert Jahren zunehmend verwissenschaftlicht und verfachlicht, wohingegen umgekehrt der Weg zum Gymnasiallehrerberuf eine deutliche Anreicherung mit pädagogischen und didaktischen Elementen erfahren hat. Mittlerweile gibt es sogar einen klaren Trend zur Vereinheitlichung der formalen Studiendauer. Das längere, zum gymnasialen Lehramt führende Muster markiert zunehmend den Standard für alle Lehramtsstudiengänge. Es ist wirklich nicht mehr zu begründen, dass für die Lehrer kleiner Kinder eine kürzere Ausbildung angemessen ist als für die Lehrer Heranwachsender bzw. junger Erwachsener. Die Gehaltsfrage ist gesondert zu betrachten.

Weiterhin ist in der Ausbildung zum Lehrer das Studium der Fächer bzw. der fachlichen Grundlagen absolut dominierend. Die Notwendigkeit sehr guter fachlicher Grundlagen soll und kann auch gar nicht bestritten werden; zu dieser Notwendigkeit gehört übrigens auch eine ebensolche fachdidaktische Grundlegung. Die pädagogischen Anteile, früher etwa als „pädagogisches Begleitstudium“ bezeichnet und damit auch begrifflich an den Rand verwiesen, sind insbesondere in der Ausbildung für Sekundarstufen- bzw. Gymnasiallehrer in den letzten Jahrzehnten alles in allem deutlich erweitert worden. Sie werden heute zunehmend unter der Bezeichnung „Bildungswissenschaften“ zusammengefasst. Früher wie heute richten sich große Hoffnungen auf dieses immer noch vergleichsweise schmale Studienelement. Zwar wird es im Grundsatz von fast allen Beteiligten zumindest nach außen hin für wichtig gehalten. Seine allgemeine Ausrichtung und konkrete curriculare Gestaltung jedoch wird von den verschiedenen Interessengruppen in Schule, Bildungsadministration, Universitäten, Lehrerverbänden, Elternvertretungen, Medien etc. durchaus kontrovers gesehen. Experten innerhalb der Lehrerbildung sind diesbezüglich deutlich konsensfähiger. Auf allgemeiner Ebene jedoch führen unterschiedliche, naturgemäß immer normativ aufgeladene Lehrerbilder in aller Regel zu sehr unterschiedlichen Vorstellungen über Lehrerbildung – insbesondere auch: der pädagogischen Teile der Lehrerbildung.

Zu dieser Diskussion über die pädagogischen, erziehungswissenschaftlichen, bildungswissenschaftlichen Anteile der Lehrerbildung gehört allerdings auch die Kritik an ihrem (zu hohen) Umfang, an ihrem (zu niedrigem) Niveau und schließlich an ihrer (nicht nachgewiesenen) qualifizierenden Bedeutung für die spätere Berufstätigkeit der Lehrer. Manche halten dieses Element gar für entbehrlich, andere wiederum versprechen sich von seiner sorgfältigeren Ausgestaltung und ggf. auch Ausweitung eine bessere Qualifizierung für den Lehrerberuf. Bei der Verfolgung einer solchen Strategie ergeben sich jedoch zwei Probleme: Weil – erstens – Einflüsse und Wirkungen von Ausbildungen aus sachlichen und methodischen Gründen sehr schwer nachzuweisen sind, kann bei der Beantwortung der Wirkungsfrage, über erste, begrenzte Einsichten hinaus, gegenwärtig noch nicht auf breite empirische Evidenzen zurück gegriffen werden. Die Ausweitung eines Elementes innerhalb der Lehrerbildung muss – zweitens – immer mit dem hartnäckigen Widerstand aller anderen Elemente rechnen, denn der zur Verfügung stehende curriculare Raum ist jederzeit vollständig verteilt bzw. ausgeschöpft, so dass die Ausweitungen eines Elements unausweichlich zu Lasten anderer Elemente geht.

Die Frage nach der Bedeutung der Erziehungswissenschaft in der Lehrerbildung ist von doppelter Brisanz: Aufgrund von Veränderungsprozessen innerhalb des disziplinären Gefüges zwischen Pädagogik, Erziehungswissenschaft und Bildungsforschung bzw. in den Bildungswissenschaften insgesamt ist nicht mehr klar, welches denn nun die zentralen Inhalte dieser Studien in der Lehrerbildung sind bzw. sein sollten. Traditionell waren und sind hieran die Disziplinen Erziehungswissenschaft, Psychologie, Soziologie, Philosophie, Politologie u.a. beteiligt. Im Zuge eines erfreulichen Booms der empirischen Bildungsforschung, insbesondere auch der Forschung zu den Bedingungen erfolgreichen Lehrerhandelns und kompetenzfördernder Formen der Lehrerbildung, üben Inhalte, Konzepte, Methoden und Forschungsergebnisse aus der Unterrichtsforschung sowie der Pädagogischen Psychologie bzw. Unterrichtspsychologie einen zunehmenden Einfluss auf die Definition von erfolgreichem Lehrerhandeln und Lehrerbildung aus. Die Erziehungswissenschaft sieht sich dadurch in ihrem mühsam erarbeiteten Deutungs- und Gestaltungsmonopol für die pädagogischen Anteile in der Lehrerbildung, vielleicht sogar für den Lehrerberuf insgesamt, sehr deutlich herausgefordert. Zugleich wird auf der Ebene der Struktur der Lehrerbildung die Frage gestellt, wann und in welchem Umfang welche bildungswissenschaftlichen Elemente zum Zuge kommen sollen, wie man sie koordiniert, wie man die dort erworbenen Kompetenzen prüft etc.

Die Erziehungswissenschaft ist als Disziplin sowohl von der Inhaltsfrage als auch von der Strukturfrage betroffen: Einerseits muss sie ihrem Forschungsauftrag intensiv, vielleicht sogar intensiver als bisher nachkommen, ohne dabei andererseits ihre Leit-Rolle als für pädagogische Berufe ausbildende Disziplin zu vernachlässigen. Die Frage nach den aus welchen Disziplinen und Wissenskontexten auch immer kommenden Inhalten mit qualifizierender Funktion für pädagogische Berufe allgemein und für den Lehrerberuf speziell wird zunehmend drängender gestellt; entsprechende Wirkungs- oder zumindest Einflussnachweise werden gerne gesehen. Spricht man der Erziehungswissenschaft als Disziplin oder ihren jeweils thematisch relevanten Teildisziplinen, also z.B. der Schulpädagogik und Allgemeinen Didaktik, diese Ausbildungsbedeutung und -wirkung speziell für die Lehrerbildung ab und überträgt diesen Teil der Lehrerbildung verstärkt an die Pädagogische Psychologie, oder aber verzichtet man für diesen Teil der Lehrerbildung gar ganz auf Wissenschaft und verlagert ihn in die nachuniversitäre Phase des Vorbereitungsdienstes (Referendariat), so hat dies nicht nur unmittelbare Konsequenzen für die Art und Qualität der pädagogischen Studien, sondern insbesondere für das weitere universitäre Schicksal der Disziplin Erziehungswissenschaft, die den größten Anteil hieran hat. Es geht also nicht nur um wissenschaftliche Wahrheit, um behauptete, bestrittene oder bewiesene Ausbildungsbedeutsamkeit. Es geht auch um Einfluss, Ressourcen und Macht, um Größe und Repräsentanz im sozialen System Wissenschaft.

Dabei ist immer zu bedenken: Wer sich eng, sehr eng an Lehrerbildung bindet, kann sich zwar einerseits einer starken Absicherung erfreuen, denn der Staat muss die Unterrichtsversorgung sicherstellen und insofern immer Lehrerbildung betreiben. Zugleich sind die dergestalt gleichsam staatlich abgesicherten Disziplinen, Wissensbereiche und Einrichtungen auch Unsicherheiten ausgesetzt: politisch-ideologische Verschiebungen, finanzielle Krisenerscheinungen, der historisch weiterhin stabile zyklische Wechsel von Lehrermangel und Lehrerarbeitslosigkeit etc. In Zeiten hoher, anhaltender Lehrerarbeitslosigkeit etwa wollen sich die entsprechenden Disziplinen immer gerne von der Lehrerbildung ablösen – um sofort wieder ihre enge Bindung an die Lehrerbildung zu betonen, wenn aufgrund von Lehrermangel die Zeichen wieder auf Expansion gestellt werden. Insofern sind alle beteiligten Disziplinen gut beraten, ihre Position im genuin wissenschaftlichen Feld, also vor allem durch Forschung und Erkenntnisfortschritt, langfristig abzusichern.1 In diesem Zusammenhang sei erwähnt, dass die Kultusministerkonferenz für den Zeitraum ab 2018/2020 beginnend, gemessen am Bedarf eine in der Summe zu hohe Zahl von voll ausgebildeten Lehrerinnen und Lehrern prognostiziert.

Die in diesem Band versammelten Arbeiten weisen zwei inhaltliche Schwerpunkte auf. Zum einen geht es um die Frage, wie gegenwärtig und zukünftig die Rolle der Erziehungswissenschaft innerhalb der Lehrerbildung aussieht bzw. aussehen kann. Zum zweiten wird eine Übersicht über Themen gegeben, die innerhalb der bildungswissenschaftlichen Studien angehender Lehrer von Bedeutung sind. Es handelt sich bei den einzelnen Kapiteln um Fach-Aufsätze, vor allem aber um Vorträge aus den letzten Jahren, die in unterschiedlicher Weise um die Frage kreisen, welche Bedeutung erziehungswissenschaftliche Forschung mit Blick auf Schule, Unterricht und Lehrerberuf insbesondere im Kontext der Ausbildung für den Lehrerberuf zukommt.

Der Band wendet sich an alle, die beruflich oder aus sonstigen Gründen direkt oder mittelbar mit dem Lehrerberuf und der Lehrerbildung befasst sind bzw. sich für dieses Berufsfeld interessieren: an Lehrerinnen und Lehrer selbst, an Lehrerausbildner in Universitäten und Studienseminaren, an Vertreter von Lehrerverbänden, an Verantwortliche in Bildungsverwaltungen und Universitäten sowie an interessierte Eltern und Elternvertreter.

Die Beiträge machen deutlich, dass seit etwa einem Jahrzehnt der Umfang und die Qualität der Forschung zum Lehrerberuf und zur Lehrerbildung deutlich zugenommen haben. Wie üblich muss jedoch auch konstatiert werden, dass ein Mehr an vorläufig gesichertem Wissen nicht ohne weiteres zu einer Reduktion von Entscheidungsproblemen bzw. anders formuliert: zu klaren Handlungsoptionen und eindeutigen Praxisempfehlungen führt. Erziehungswissenschaft, Bildungspolitik und Lehrerbildung werden also beim Blick auf Lehrerberuf und Lehrerbildung auch weiterhin mit Unsicherheiten und Kontingenz leben müssen.

Münster, Dezember 2012

Ewald Terhart

1    Eine breite Übersicht über den aktuellen Forschungsstand vermittelt das „Handbuch der Forschung zum Lehrerberuf“, hrsg. von E. Terhart, H. Bennewitz und M. Rothland, Münster: Waxmann 2011; 2., erweiterte Auflage 2014 (i. Vorb.).