Vorwort

Entdecken,

dass jeder Jahreskreis einmalig ist,

dass die Übersicht immer besser wird,

dass nie alles gesehen und gesagt ist,

dass nichts wirklich zu Ende ist,

dass immer Advent ist,

immer Weihnachten,

Ostern, Himmelfahrt,

Pfingsten, Ewigkeitssonntag,

dass ich mitgenommen werde,

dass Gott nicht geht, sondern kommt,

von der Krippe bis zum

Jüngsten Tag seiner Wiederkunft.

Hans-Rudolf Teichen

„Entdecken“ – mit diesem Wort beginnt Hans-Rudolf Teichen, einer der Teilnehmer am Schreibprojekt „Kirchenjahr“ des Referats 3./4. Lebensalter im Bischöflichen Ordinariat Limburg, sein persönliches Resümee des Projekts.

Wie wurden kirchliche Feiertage vor fünfzig, vor sechzig oder vor siebzig Jahren begangen? Welche persönlichen Erinnerungen verbinden Menschen mit ihnen? Das waren die Ausgangsfragen. Ein Jahr lang, vom ersten Advent 2011 bis zum Totensonntag 2012, trafen sich sieben Frauen und zwei Männer, um ihnen nachzugehen und ihre persönlichen Feiertagsgeschichten zu Papier zu bringen. Anneliese Wohn hatte die Autorinnen und Autoren zusammengebracht, Stefan Kappner begleitete sie und lektorierte die Texte, die nach und nach entstanden. Zu den entsprechenden Feiertagen wurden sie auf der Homepage des Referats veröffentlicht. Hier sind sie nun in einem Band versammelt.

Während der Projekttreffen erinnerten sich die Teilnehmenden gemeinsam, dann spürte jede/r für sich dem Vergangenen nach. Im Schreiben verdichteten sich die Erinnerungen. So entdeckten die Autorinnen und Autoren – und wir durften es mit ihnen entdecken –, wie eng die Feiertagserlebnisse mit ihren Biografien verflochten waren und sind: Flucht und Vertreibung, Leben in der Diaspora und das selbstverständliche Eigenleben im katholischen Milieu brachen alte Traditionen und ließen neue Traditionen entstehen.

Wir danken allen Autorinnen und Autoren für ihre Offenheit und ihr Engagement und wünschen Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, dass Sie in diesem Bändchen ebenso viel entdecken werden wie die Schöpfer der Werke und wir. Dabei werden sicherlich auch Ihre eigenen Erinnerungen wach. Vielleicht verspüren Sie Lust, sie aufzuschreiben?

Limburg, im Dezember 2013

Anneliese Wohn und Stefan Kappner

Besondere Kerzen

Karin Schachl

Mitte Oktober 1945 wurden wir aus Österreich ausgewiesen. Seit Februar galten wir als Flüchtlinge, jetzt stiegen wir in einen Viehwaggon, unsere Mutter und wir vier Mädchen. Vor und hinter uns andere Frauen, andere Kinder, weinende Babys, Alte und Kranke: gefangen im muffigen Halbdunkel, in der schwarzen Nacht. Halbwüchsige Buben spielten Mundharmonika. Die fröhlichen Töne lenkten uns Kleinere ein wenig ab. Die Fahrt war lang. Schließlich erreichten wir Breitenbach in Oberhessen. Als der Flüchtlingszug hielt, standen zwei oder drei Pferdefuhrwerke bereit, um unser spärliches Gepäck aufzunehmen.

Wir sollten auf einen Bauernhof ins zehn Kilometer entfernte Lingelbach. Der Bauer musste uns ein Zimmer überlassen. Arbeitskräfte für seine Landwirtschaft wären ihm lieber gewesen. Eine junge Frau mit vier Töchtern: In seinen Augen war das nichts als eine zusätzliche Belastung. Denn außer uns war schon seit Jahren eine weitere vaterlose Familie bei ihm einquartiert. Eine Frau mit drei Buben, die in Hamburg ausgebombt worden waren.

Von dieser Familie sprechen wir bis heute mit Ehrfurcht, wenn es ums Teilen geht: Ihren gesamten Wintervorrat, das Holz, die Kartoffeln, den eingekochten Rübensirup, das Dörrobst und die getrockneten Pilze teilten sie mit uns. Von allem bekamen wir die Hälfte.

Schnell wurden aus diesen Nachbarn Freunde. Die Buben waren in unserem Alter, unsere Mütter konnten ihre Sorgen miteinander teilen und wohl auch Erinnerungen an die verlorene Zeit, als wir alle noch ein richtiges Zuhause gehabt hatten.

November verging, Advent und bald schon Weihnachten standen vor der Tür. Zum ersten Mal ohne unseren Vati. Die Nachricht von seinem Tod hatte uns wenige Tage vor unserer Flucht erreicht.

Würden wir in dieser Not wenigstens einen Adventskranz haben? Das Tannengrün für den Kranz durften wir uns im nahen Wald besorgen, doch was wäre ein Adventskranz ohne Kerzen? Auch dafür wussten unsere neuen Freunde Rat. Den ganzen Sommer über hatten sie Kerzenstummel und Wachsreste gesammelt. Nun schmolzen sie das Wachs in einer Blechbüchse und füllten es in zwei Gläser. Je ein gehäkelter Baumwollfaden diente als Docht. Zwar reichte es nicht für acht Kerzen, vier für jeden Kranz, doch jede Familie hatte auf diese Weise eine etwas größere, die an allen vier Adventssonntagen Licht spenden sollte.

Das größte Geschenk, das uns die Freunde in diesem Advent machten, war eine weiße Tischdecke. Aus Dankbarkeit hütete sie unsere Mutter noch Jahrzehnte später. Mit dieser Tischdecke, dem Tannenkranz und der Kerze, mit Liedern und Geschichten und mit dem Duft von Bratäpfeln wurde aus unserem ungemütlichen Zimmer ein Zuhause.

Hat meine Vorliebe für Kerzen ihren Ursprung in dieser Erinnerung?

Am Bollerofen

Peter Hecker

Es ist widerlich da draußen, nass, kalt. Mein Bruder Bernhard und ich hatten Flötenstunde, durchgefroren kommen wir heim. In der Küche glüht der Herd, wir halten die Finger drüber. Es gibt Abendessen: Kakao und Brötchen, die wir eintunken.

Nebenan, im Wohnzimmer, feuern wir den Ofen an – ich bin ganz stolz: Aus dem Küchenherd habe ich mit der Kohlenschaufel Glut geholt und die Dreckschaufel aus Blech daruntergehalten, damit nichts auf den Boden fällt – ich darf das schon, ich bin ja schon zehn!

Unsere Oma legt die gestickte Weihnachtsdecke auf den Tisch, mitten drauf kommt der Adventskranz, mit roten Kerzen wie immer, andere Farben gab es nicht. Am letzten Sonntag war der erste Advent.

„Kommt“, sagt die Mama, „wir setzen uns ein bisschen um den Kranz herum, ihr zwei könnt ja was spielen, habt ihr was geübt in der Stunde?“ „Wir können schon zweistimmig“, sage ich. Ben spielt die zweite Stimme auf seiner F-Flöte.

Da sitzen wir, die Mama, die Oma, der Ben und ich – Papa kommt erst viel später nach Hause, er muss mit der Straßenbahn durch die halbe Stadt. Der Ofen bollert, ich schütte Eierkohlen auf die Glut und ein Brikett quer oben drüber.

Die Mama macht das Licht aus, nur noch die Kerze brennt, die erste Kerze. Der Kranz duftet. Wir spielen „Maria durch ein’ Dornwald ging“, „Es kommt ein Schiff geladen“. Oma singt viel zu hoch.

Ich knicke Nadeln vom Adventskranz und halte sie in die Flamme, das riecht gut beim Verqualmen.

„Du sollst das doch sein lassen“, sagt die Mama, „pass auf, dass der Kranz nicht anfängt zu brennen!“

Acht Uhr: Jetzt ist Schluss. Wir müssen ins Bett, morgen ist Schule, aufstehen um halb sieben. Die Oma stellt jedem von uns ein heißes Bügeleisen ins Bett.

Als wir die Kerze ausblasen, mischt sich ihr Geruch unter den des Tannengrüns.

Ist schon Fasching?

Ruth-Inge Rolke

Es ist jetzt über siebzig Jahre her, dass ich mit meiner Mutter in unserer mollig warmen Küche stand und ihr helfen durfte, Weihnachtsplätzchen zu backen.

In Wiesbaden war es kalt geworden. Auf der Straße oder im Hof durfte ich nicht mehr spielen.

Meine Mutter hatte alle Zutaten gekauft: Zucker, Honig, Butter und auch Schokolade. Es war herrlich, den Teig zu kneten, auszurollen und die Plätzchen auszustechen. Meine Arme waren bis zu den Ellbogen mit Mehl bestäubt. Der Teig klebte an meinen Fingern, die sorgfältig abgeleckt wurden.

Wir begannen mit Butterplätzchen, dekorierten sie mit „Liebesperlen“ und „Hagelzucker“. Dann kamen die anderen Sorten. Am liebsten mochte ich Haselnussplätzchen und Mandelmakronen auf Oblaten. Wenn wir fertig waren, legten wir alle sorgfältig in blecherne Dosen, die Mutter bis Weihnachten versteckte.

Anfang Dezember fuhr mein Vater mit mir nach Biebrich, wo die Großeltern wohnten. Sie besaßen einen Schrebergarten und schnitten Zweige vom Kirschbaum, „Barbarazweige“, die wir mit nach Hause nahmen. Warum wir das taten, erzählte mir niemand.

Zu Hause standen die Zweige in einer chinesischen Vase. Jeden Tag beobachtete ich, wie sich die Knospen weiter öffneten. Am Heiligen Abend würden die Zweige in voller Blüte stehen. Das war etwas ganz anderes als der Adventskranz mit seinen dünnen roten Kerzen, die ich nacheinander anzünden durfte. Wenn ich die Tannennadeln in die Flamme hielt, duftete das Zimmer, als wäre es schon Weihnachten. In der Woche aber wurde der Kranz zugedeckt auf den Balkon gestellt, damit er nicht so schnell nadelte.

Im Wohnzimmer der Großeltern befand sich ein riesiger schwarzer Ofen. Durch kleine Fenster an der Vorderseite konnte man die Flammen sehen. Vor diesem Ofen zu sitzen und den Rübezahlgeschichten von Tante Käthi zu lauschen war für mich das Schönste.

Das Allerschönste jedoch war es, gemeinsam zu singen, während meine Mutter uns am Klavier begleitete. Wir probten die Weihnachtslieder, manchmal sogar zweistimmig. „Leise rieselt der Schnee“ und „Schneeflöckchen, Weißröckchen“ gehörten dazu. Wir sangen uns warm und wurden übermütig. Schon gingen wir zu Schlagern über, die wir aus vollem Halse schmetterten, als mein Vater nach Hause kam. Erstaunt fragte er: „Haben wir nicht Advent, oder ist schon Fasching?“

Herr Krause, der Nikolaus

Isolde Kraus

1946, am Nikolausabend. Drei Jahre schon lebten meine Mutter und ich in einem Dorf bei Limburg an der Lahn. Nach einem Bombenangriff in Frankfurt hatten wir etliche Möbel retten können, darunter das Klavier, an dem meine Mutter gerade saß. Sie spielte und wir sangen: „Lasst uns froh und munter sein und uns recht von Herzen freu’n!“

Da klopfte es an der Küchentür. Die meisten Häuser im Dorf hatten keine Klingel. Die Haustür wurde nur in der Nacht abgeschlossen. Wer uns besuchen wollte, kam einfach herein und klopfte.

Doch heute war es kein gewöhnlicher Besuch: Da stand doch wahrhaftig der Nikolaus vor der Tür! Das war noch nie passiert! Aus dem Kindergarten wusste ich freilich, dass der Nikolaus den braven Kindern etwas brachte, also schaute ich gespannt auf den großen Mann mit weißem Bart und den Sack, den er bei sich trug. Er begrüßte uns und kam in die Küche. Würde er mich nun fragen, ob ich artig gewesen sei? Aber nein, er unterhielt sich mit meiner Mutter. Bald bemerkte ich, dass dieser Nikolaus niemand anderer war als Herr Krause, der Vater von Margot und Roswitha, mit denen ich oft spielte.

Er fragte meine Mutter, wie es ihr gehe. „Es ist schon sehr kalt geworden. Haben Sie genug Kohlen im Keller für den Winter?“ Er erzählte, dass es seiner Frau besser gehe. Doch Margot habe Schnupfen bekommen. Schließlich kam er zum eigentlichen Anlass seines Besuches: „Im Namen des Gesangvereins Cäcilia möchte ich mich ganz herzlich bei Ihnen bedanken“, sagte er. Mit den Mitgliedern dieses Vereins hatte meine Mutter im vergangenen Jahr das Singspiel „Die Winzerliesel“ einstudiert. „Für Ihre musikalischen Dienste, für Ihre Freundlichkeit und Geduld“, sagte Herr Krause und überreichte ihr den ganzen Sack. „Und das ist Ihr Honorar, liebe Frau Gebhard!“

„Honorar“: Dieses Wort kannte ich. Honorar bekam meine Mutter auch von den Eltern ihrer Klavierschüler. Honorar war Geld! Aber gleich ein Sack voll Geld? Das konnte wohl nicht sein. Und selbst wenn der Sack voller Geld wäre: Was sollten wir damit anfangen? In den Geschäften gab es nicht viel zu kaufen.

Herr Krause, unser Nikolaus, trank noch eine Tasse Tee, dann verabschiedete er sich. Erst jetzt durfte ich dabei helfen, den Sack aufzubinden. Er war mit einer dicken, roten Schleife verschnürt, in der ein Tannenzweig steckte. Vorsichtig knotete ich die Schleife auf. Wenn man sie bügelte, wäre sie wie neu. Dann würde sie in den Kasten gelegt, in dem wir Bänder und Schleifen aufbewahrten.