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© für die Originalausgabe: 1996 LangenMüller in der
F.A. Herbig Verlagsbuchhandlung GmbH, München
© für das eBook: 2014 LangenMüller in der
F.A. Herbig Verlagsbuchhandlung GmbH, München
Alle Rechte vorbehalten
Umschlagmotiv: Max Beckmann »Die Synagoge«, 1919.
© VG Bild-Kunst, Bonn 1996. Mit freundlicher Genehmigung der Städtischen Galerie im Städtischen Kunstinstitut Frankfurt.
Satz: Filmsatz Schröter GmbH, München
eBook-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 978-3-7844-8197-5

Widmung

Meinem Bruder Max

1

Am 15. April 1947 war der Eilzug mit einer Fahrzeit von nur knapp neunzehn Stunden trotz seines zweistündigen Aufenthalts am Kontrollpunkt zwischen der britischen und der amerikanischen Besatzungszone ungewöhnlich schnell von Osnabrück nach Frankfurt am Main gelangt. Die Reisenden in den Abteilen und Gängen rechneten nicht mit der eher als abrupt denn erlösend empfundenen Ankunft. Noch betäubt von der Kälte der Nacht und der ungewöhnlichen Wärme der Morgenstunden beraubten die Pappverkleidungen an den glaslosen Fenstern des Zuges sie ihrer Orientierungsfähigkeit, und die Sinne verweigerten ihnen einige Minuten lang die so lange ersehnte Gewißheit des Ziels.

Sie zögerten, Rucksäcke, Taschen und Koffer auf den Boden zu stellen und sie so den Gefahren auszusetzen, die bedauerlich typisch für die neue Zeit waren, die auf so empörende Art ohne die intakten Moralbegriffe der trotz allen Leids immerhin überschaubaren Kriegsjahre auskam. Schon gar nicht wollten die Glücklichen, die ihre Bequemlichkeit robust, aber durchaus auf eine Art erkämpft hatten, die sie als gerecht und zeitgemäß demokratisch empfanden, durch einen zu frühen Aufbruch ihre Sitz- oder Stehplätze in den Gängen des Abteils aufgeben.

Nur die wegen ihrer körperlichen Konstitution beneideten Reisenden auf den Trittbrettern und Dächern des Zugs erkannten sofort, daß die verkohlten Balken in der offenen Halle, die lose herabhängenden Drähte, die in der Sonne funkelnden Scherbenhaufen zwischen den Gleisen und die aus den Trümmern aufgeschichteten Steine tatsächlich das Herz des Frankfurter Hauptbahnhofs bildeten. Zunächst wagten es also nur wenige, den Zug zu verlassen. Fast so rasch kletterten die Männer mit Rucksäcken von den Dächern; die Frauen mit Kopftüchern und entschlossenen, rußschwarzen Gesichtern sprangen von den Trittbrettern.

Sie alle hatten einen weitaus günstigeren Ausgangspunkt, um Frankfurt in Besitz zu nehmen, als die aus dem afrikanischen Exil heimkehrende Familie Redlich im letzten Waggon. Der war von außen verriegelt und mußte erst von einem auffallend wohlgenährten, zu langsamen Bewegungen in den Beinen und zu schnellen in den Kiefern neigenden amerikanischen Corporal geöffnet werden.

Walter in einem schweren grauen Mantel, den er drei Tage zuvor in London bei der Entlassung vom Militär als letzte Zuwendung der britischen Army erhalten hatte, stieg zögernd aus dem Zug. Er trug die beiden Koffer, die noch aus Breslau stammten und zehn Jahre zuvor den deutschen Boden verlassen hatten und ihn nun vor ihm berührten. Ihm folgte Jettel in einem Kleid, das sie sich eigens für die Rückreise in die fremde Heimat von einem indischen Schneider in Nairobi hatte nähen lassen. Sie hielt in einer Hand das in der langen Nacht durchnäßte Taschentuch und in der anderen die Hutschachtel, von der sie sich bei keiner Reise in den zehn Jahren ihrer Emigration in Kenia hatte trennen können.

Regina, deren vierzehnjähriger Körper Mühe hatte, ein für sie umgeändertes Kleid ihrer molligen Mutter auszufüllen, konzentrierte sich beim Aussteigen auf die Aufgabe, nicht wie ihre Mutter zu weinen, und sie schon gar nicht zu verärgern, indem sie den Anflug jenes hoffnungsvollen Lächelns in ihr Gesicht ließ, das ihr Vater von ihr erwartete. Sie trug ihren einjährigen Bruder Max, der den entscheidenden Moment der Ankunft in seiner neuen Heimat verpaßte. Er hatte sich von den Strapazen der Reise und den durch die ungewohnte Kost von Salatblättern zwischen Weißbrotschnitten hervorgerufenen Blähungen durch anhaltendes Schreien befreit, das die ganze Nacht nichts von seiner Vehemenz verloren hatte. Nun schlief er, auf Reginas Bauch schaukelnd, mit dem Kopf an ihrer Schulter. Als der erste Hauch Frankfurter Luft sein Gesicht streifte, ballte er nur leicht die Faust, wachte jedoch nicht auf.

Die British Army war der Verpflichtung, einen Soldaten in die Heimat zu entlassen, umsichtig und verantwortungsvoll nachgekommen. Bei der Ankunft in Hoek van Holland waren die Redlichs mit einem Jeep bis Osnabrück gebracht und dort eine Nacht in einem Flüchtlingslager untergebracht worden – mit der Ermahnung, Kontaktaufnahme zu den feindlichen Deutschen nach Möglichkeit zu vermeiden.

In Osnabrück waren Walter, Jettel, Regina und das Baby, versehen mit den Rationen, die einem Soldaten als Proviant für einen Tag ohne besondere körperliche Anstrengung zustanden, in den geschlossenen Wagen gesetzt worden. Mitreisende waren ein englischer Major und ein kanadischer Captain, die beide den Zug mit je zwei Whiskyflaschen bestiegen und sehr bald die eine davon ausgetrunken hatten. Abgesehen von dem in regelmäßigen Abständen wiederholten Befehl »Shut up« an das »bloody baby« und der gelegentlich geäußerten Feststellung »Fucking Germans«, wenn Jettel zu laut schluchzte oder Max zu selbstbewußt für ein Kind auf der Verliererseite brüllte, kam es zu keinen weiteren Kontakten. Der Major und der Captain hatten den Zug bereits verlassen, als Walter sich zum erstenmal in Frankfurt umsah.

»Wir sollten hier abgeholt werden«, sagte er, »das haben sie mir doch noch nach London geschrieben.« Es war, zehn Minuten nach Ankunft, sein erster Satz in der Stadt, die er als Heimat begehrte.

»Ich dachte, die Deutschen sind pünktlich«, erwiderte Jettel, »das war doch immer das Beste an ihnen.«

»In Afrika hat auch keiner den roten Teppich ausgerollt, als wir ankamen. Und hier können wir uns wenigstens verständigen. Laß uns Zeit, Jettel.«

»Die lassen sich Zeit«, schniefte Jettel. »Ich kann nicht mehr. Das arme Kind. Wie lange soll so ein unschuldiges kleines Kind solche Strapazen aushalten? Ich kann ihm gar nicht in die Augen gucken.«

»Mußt du ja nicht. Das arme Kind schläft nämlich«, sagte Walter.

Regina starrte auf ihre Schuhe. Sie versuchte, sich darauf zu konzentrieren, weder Hunger, Durst noch die Angst zu spüren, die ihren Körper steif gemacht hatten, seitdem sie bei der Überschreitung der deutschen Grenze die ersten zerstörten Häuser und auf dem Bahnhof in Osnabrück die einbeinigen Männer auf Krücken gesehen hatte. Sie rieb ihr Gesicht an der warmen Haut ihres Bruders und widerstand der Versuchung, ihm jene paar Worte in der Sprache der Jaluo ins Ohr zu flüstern, die ihr Kraft gegeben hätten, den Kampf gegen die Angst aufzunehmen. Es war nicht gut, das Kind einer Mutter zu wecken, die ihre eigenen Augen nicht trocken halten konnte. Erst als Regina merkte, daß ihre Eltern aufgehört hatten, sich zu streiten, und beide in eine Richtung blickten, gestattete sie ihren eigenen Augen die Erlösung und schaute sich um.

Ihr Vater stand nicht mehr neben ihr; ihre Mutter hatte die Hutschachtel abgestellt, den rechten Arm vorgestreckt und rief laut: »Mein Gott, der Koschella. Was macht der denn hier? Der war doch auf unserer Hochzeit.«

Regina sah, daß ihr Vater rannte, vor einem Mann in einem grauen Anzug stehenblieb, einen Moment seinen Kopf schüttelte, beide Arme ausstreckte und plötzlich wieder fallen ließ. Es war der Fremde, der Walters Hand ergriff. Er hatte eine tiefe Stimme, und Regina hörte noch aus der Ferne, daß diese Stimme zu reisen gewohnt war.

»Walter Redlich«, sagte der Mann, »ich hab’s nicht geglaubt, als man mir gestern sagte, ich soll Sie abholen. Ich kann immer noch nicht glauben, daß einer verrückt genug ist, in dieses Land zurückzukehren. Wo in aller Welt kommen Sie her? Ach was, ich weiß es ja. Die ganze Justiz redet seit Tagen nur noch von dem Verrückten, der die Fleischtöpfe Afrikas im Stich läßt, um hier als Richter zu hungern. Du lieber Himmel, sagen Sie nur, das Baby gehört auch Ihnen.«

Regina beobachtete genau, wie der Mann ihrer Mutter die Hand reichte und diese mit einemmal das Lächeln der gestorbenen Tage im Gesicht hatte, als sie in Nairobi noch nichts von der Rückkehr nach Deutschland gewußt hatte. Danach versuchte Regina, dem Mann die Hand entgegenzustrecken, die Bewegung gelang ihr jedoch nicht, weil ihr Bruder, der immer schwerer wurde, von ihren Hüften zu rutschen begann. Sie bemühte sich sehr, gleichzeitig den Namen Koschella in ihrem Mund zu formen und den aufgeregten Reden ihrer Eltern und den hastig gesprochenen, immer ein wenig scharf klingenden Sätzen des Mannes zu folgen; und sie ließ sich zu lange Zeit mit der Grübelei, was das Wort Oberstaatsanwalt wohl bedeutete und ob es wichtig für sie alle wäre.

So beschränkte Regina schließlich die Freude, die ihre Eltern von ihr erwarteten, auf die regelmäßige Bewegung ihrer Beine und die Herausforderung, mit den Männern und ihrer Mutter Schritt zu halten. Ihr ging auf, daß ihr Vater so ganz anders lief als in Afrika. Sie hörte seine Schuhe und sah den Staub, den sie vor sich herstießen, aber er war dunkel und dicht, nicht mehr hell und durchsichtig wie in den guten Tagen der Wärme. Die Gruppe verließ das Grau des Bahnhofs und trat in die Helligkeit des Frühlings, überquerte eine Straße, die von beiden Seiten von zerstörten Häusern gesäumt war und auf der alte Frauen hoch beladene Schubkarren schoben. Auf Pappkoffern und grauen Decken saßen kleine Kinder. Sie hatten die glanzlosen Augen, die Regina von den leprakranken Bettlern in den Markthallen von Nairobi kannte. Eine hellgelbe Straßenbahn klingelte in hohen Tönen. Ihre Türen standen offen; die Menschen, dicht aneinandergepreßt auf den Trittbrettern, wirkten wie die alten Bäume auf der Farm in Ol’ Joro Orok, die der Wind hatte zusammenwachsen lassen. Auf den Schuttbergen der toten Häuser wuchsen kräftige Büsche gelber Pflanzen. Die Vögel zwitscherten. Walter sagte: »Selbst die Vögel singen hier anders als in Afrika.« Koschella lachte und schüttelte den Kopf.

»Immer noch der alte Witzbold«, sagte er.

Regina wurde von ihrem Vater in einen großen, sauberen Raum geschoben, der sehr dunkel war und nach der scharfen Seife roch, die sie an ihre Schule am Nakurusee erinnerte. Einen Moment lang vergaß sie, daß sie die Schule gehaßt hatte, und lächelte bei dem Gedanken, daß sie schon war wie ihre Mutter und die guten mit den bösen Erinnerungen verwechselte. Sie sah aber dennoch die Flamingos hochfliegen und mußte ihren Augen verbieten, in die rosa Wolke einzutauchen.

Hinter einem langen Tisch saß eine junge, sehr blonde Frau mit sehr roten Lippen. Ihr blaues Kleid hatte einen weißen Kragen. Ihr Kopf mit dem in gleichmäßigen Wellen gelegten Haar erreichte die höchste der gelben Rosen in einer blauen Vase.

Koschellas kräftige Stimme wurde noch eine Spur lauter, als er: »Oberstaatsanwalt Doktor Hans Koschella« sagte und nach einer kleinen Pause, die die Frau zu einem unwilligen Blick nutzte, hinzufügte: »Dies ist Amtsgerichtsrat Doktor Walter Redlich aus Nairobi. Ich habe gestern für ihn und seine Familie zwei Zimmer reserviert.«

Die Frau fuhr sich mit einem Finger durch die unterste Haarwelle. Obwohl sie kaum ihre roten Lippen bewegte, vernahm man sehr deutlich: »Bedauere. Das Hotel Monopol ist für Deutsche off limits.«

»Was soll das heißen? Das hätten Sie mir gestern sagen sollen, als ich die Zimmer bestellte.«

»Dazu«, sagte die Frau und lächelte so lange, bis die obere Reihe ihrer Zähne zu sehen war, »bin ich ja gar nicht gekommen, Herr Doktor Koschella. Sie haben die Zimmer bestellt und gleich aufgehängt.«

»Dann verweisen Sie mich an ein anderes Hotel. Glauben Sie, die Justiz kann es sich leisten, einen Richter aus Afrika kommen zu lassen und ihm kein Quartier zu verschaffen? Wie stellen Sie sich das denn vor?«

»Es gibt keine Hotels in Frankfurt für Deutsche. Das müßten Sie doch wissen, Herr Oberstaatsanwalt. Sie sind alle von der amerikanischen Militärregierung beschlagnahmt.«

»Dann verlange ich sofort, Ihren Direktor zu sprechen.«

»Das Monopol gehört zu den Hotels, die direkt von der Militärregierung verwaltet werden. Wir haben keinen Direktor. Ich muß Sie auch darauf hinweisen, daß ich mich strafbar mache, wenn ich Deutsche in der Hotelhalle sitzen lasse.« Doktor Hans Koschella sah eine Zeitlang die Frau und noch länger seine Uhr an. Er machte eine winzige Bewegung in Richtung des Babys auf Reginas Bauch; sie hielt ihm das Kind hin, das mit ihren Haaren spielte, damit er es streicheln konnte, aber er nahm die Hand zurück, schaute Walter an und sagte, nicht mehr so bestimmt wie zuvor, aber noch immer mit einer Stimme, die gewöhnt ist, gehört zu werden: »Tut mir entsetzlich leid, Redlich. Das ist irgendwie dumm gelaufen. Leider hab ich einen dringenden Termin und kann mich nicht weiter um Sie kümmern. Na, das werden Sie ja bald selbst erleben, daß man die paar Juristen, die heute noch arbeiten dürfen, ganz schön herumhetzt.«

»Aber was sollen wir denn machen?«, fragte Jettel leise. »Auf alle Fälle machen Sie sich keine Sorgen, Frau Jettel. Ihr Mann fährt am besten gleich zum Wohnungsamt und läßt sich eine Wohnung zuweisen. Er hat ja wohl die entsprechende Dringlichkeitsbescheinigung von der Justiz. Kommen Sie, Redlich, schauen Sie nicht so unglücklich drein. Ich begleite Sie zur Straßenbahn. Die Zeit nehm ich mir einfach. Und lassen Sie sich bloß von den Beamten dort nicht ins Bockshorn jagen. Die sind verpflichtet, Rückwanderer bevorzugt zu behandeln. Man darf heute nicht mehr zu zurückhaltend sein.« Regina begleitete Walter zur Tür. Ihre Füße waren schwer und der Mund trocken. Sie wußte, daß ihre Mutter sie beobachtete, und so traute sie sich nicht, ihren Vater zu fragen, wo Jettel, sie und Max auf ihn warten sollten. Sie sah ihm und Koschella so lange nach, bis die Silhouetten sich in dem hellen Sonnenlicht auflösten, und kehrte so langsam, wie es ihre Füße zuließen, zu ihrer Mutter zurück. Sie kam gerade an dem Tisch mit den Rosen an, als die blonde Frau auf eine Lederbank in der dunkelsten Ecke des Zimmers wies und zu Jettel sagte: »Setzen Sie sich dahin, bis Ihr Mann zurückkommt. Aber halten Sie um Himmels willen das Kind ruhig. Wenn einer Sie hier entdeckt, bin ich dran und muß Sie auf die Straße schicken.« Die Straßenbahn war so voll, daß Walter erst nach der zweiten Haltestelle vom Trittbrett in den Wagen gelangte. Obwohl er seit der Abfahrt von Osnabrück kaum etwas gegessen hatte, um die Militärrationen für Regina und Max zu sparen, und ihm schwindlig und übel war, empfand er die Anstrengung als durchaus willkommene Gelegenheit, ihn von seinem Zustand, einer verwirrenden Mischung aus Empörung, Beklommenheit und Schock, abzulenken.

Er hatte, als er gegen Jettels Widerstand und Reginas nie ausgesprochene Verzweiflung den Entschluß zur Rückkehr nach Deutschland durchgesetzt hatte, sich keine Illusionen gemacht und gewußt, daß die Heimkehr ihn vor Probleme stellen würde, die er sich in Afrika selbst in Stunden von größtem Pessimismus nicht ausmalen konnte. Nie aber war ihm in den Sinn gekommen, die Ironie des Schicksals könnte ihn sofort mit der gleichen Scham belasten wie im Januar 1938, als er mittellos und verzweifelt in Kenia angekommen war. Die Scham hatte sein Selbstbewußtsein in dem Moment zerlöchert, da er Jettel, Regina und Max nun allein im Hotel hatte zurücklassen müssen. Die Erfahrung der Vergangenheit gab ihm die Gewißheit, daß diese neue Demütigung ihn sehr lange begleiten würde. Walter rechnete damit, daß er viel Zeit brauchen würde, um das von Koschella beschriebene Haus zu finden, und stieg bedrückt an der Haltestelle aus. Schon der erste Mann jedoch, den er nach dem Weg fragte, zeigte auf ein graues Gebäude mit notdürftig verkleideten Fenstern und einer hölzernen Eingangstür. Auf einem mit Reißnägeln befestigten Pappschild stand »Städtisches Wohnungsamt«.

Von einem alten Mann mit einer schwarzen Augenklappe wurde Walter in einen Raum mit dem Schild »Zuzug« geschickt; von vier jüngeren Männern, deren Bewegungen denen des ersten Manns ähnelten, verblüfft angestarrt, abgewiesen und mit sehr knappen Sätzen umdirigiert. Bei keinem gelang es ihm, mehr als seinen Namen zu nennen und zu erzählen, daß seine Frau und seine Kinder in einer Hotelhalle saßen, in der sie nicht sitzen durften.

An der fünften Tür stand »Flüchtlingsbetreuung«. Der Beamte saß an einem kleinen Holztisch, auf dem Akten, drei kurze Bleistifte und eine angerostete Schere lagen. Daneben stand ein Blechbecher mit einer dampfenden Flüssigkeit. Walter glaubte sich erinnern zu können, daß so Kamillentee roch. Schon an das Wort hatte er mehr als zehn Jahre nicht gedacht. Das beschäftigte ihn auf eine Weise, die er als unwürdig für diesen Moment äußerster Anspannung empfand. Der Mann blätterte in einem Stapel aus grauem Papier, als Walter auf ihn zuging, und kaute an einer dünnen, auffallend gelben Brotscheibe. Er wirkte nicht anders als seine Kollegen, und Walter stellte sich auf die Müdigkeit der abweisenden Bewegung ein, doch der Mann sagte überraschenderweise erst: »Guten Morgen«, und dann: »Nehmen Sie erst einmal Platz.«

Seine Stimme hatte den singenden Klang, der Walter sofort an seinen Freund Oha in Gilgil erinnerte. Er sträubte sich abermals gegen die Willkür seines Gedächtnisses, bis ihm aufging, daß die Menschen in Frankfurt wohl alle wie Oha sprechen würden, der ja schließlich aus Frankfurt stammte. Sein Magen, der sich verkrampft hatte, als er den Beamten sein Brot kauen sah, beruhigte sich etwas. Walter lächelte und genierte sich seiner Verlegenheit.

Der Beamte hieß Fichtel, war heiser, trug ein graues Hemd, das ihm am Hals sehr viel zu weit war, und hatte trotz seines großen Adamsapfels und der eingefallenen Wangen die Andeutung einer Gutmütigkeit im Gesicht, die Walter Mut machte.

»Nun erzählen Se mal«, sagte Fichtel.

Als er hörte, daß Walter soeben aus Afrika angekommen war, pfiff er mit einem langen, geradezu absurd jugendlichen Ton, und sagte: »Kerle, Kerle«, was Walter nicht verstand. Ermuntert durch den wachen Ausdruck, der Fichtels Gesicht mit einem Mal belebt hatte, begann er, ausführlich von den letzten zehn Jahren seines Lebens zu berichten.

»Und ich soll Ihnen glauben, daß Sie freiwillig in dieses Drecksland gekommen sind? Mann, ich würde lieber heute als morgen auswandern. Das wollen alle hier. Was hat Sie zurückgetrieben?«

»Die wollten mich nicht in Afrika.«

»Und wollen die Sie hier?«

»Ich glaube schon.«

»Na, Sie müssen es ja wissen. Heutzutage ist alles möglich. Haben Sie wenigstens Kaffee von den Negern mitgebracht?«

»Nein«, sagte Walter. »Oder Zigaretten?«

»Ein paar. Aber die hab ich schon aufgeraucht.«

»Kerle, Kerle«, sagte Fichtel. »Und ich dachte immer, die Juden sind schlau und kommen überall durch.«

»Besonders durch die Schornsteine von Auschwitz.«

»So hab ich das nicht gemeint, ganz bestimmt nicht. Das können Sie mir glauben«, versicherte Fichtel. Seine Hand zitterte ein wenig, als er die Stempel von einer Seite des Tisches zur anderen schob. Seine Stimme war unruhig, als er sagte: »Auch wenn ich Sie sofort auf die Dringlichkeitsstufe eins setze, bekommen Sie bei mir in Jahren noch keine Wohnung. Wir haben gar keine. Die meisten Wohnungen sind entweder zerbombt oder von den Amis beschlagnahmt. Für Sie ist die Judengemeinde im Baumweg viel besser. Es heißt, daß die Wunder tun kann und ganz andere Möglichkeiten hat als unsereins.«

Der Satz verwirrte Walter so, daß er sich keine Zeit für die Empfindungen nahm, die ihn bedrängten.

»Sie wollen doch nicht sagen, daß es hier in Frankfurt eine Jüdische Gemeinde gibt?«, fragte er.

»Klar«, sagte Fichtel, »da sind doch aus den Lagern, von den’ heut draußen alle Welt redet, genug zurückgekommen. Und wie man hört, geht es denen nicht schlecht. Bekommen ja die Schwerarbeiterzulage. Steht Ihnen ja auch zu. Kommen Sie, ich schreib Ihnen die Adresse auf, Herr Rat. Sie werden sehen, morgen können Sie schon in der eigenen Wohnung sitzen. Ich sag’s ja immer. Die eigenen Leute lassen einen nicht im Stich.« Es war nach vier, als Walter ins Monopol zurückkehrte. Er hatte bei der Jüdischen Gemeinde nur eine Frau angetroffen, die ihn für den nächsten Tag bestellt hatte, und er erwartete, Jettel, wenn überhaupt, in Tränen vorzufinden. Er sah sie von weitem und glaubte, die Halluzinationen, die ihn seit dem Abschied von Koschella bedroht hatten, hätten ihn endgültig erbeutet.

Jettel saß in einem Jeep neben einem Soldaten in amerikanischer Uniform, Regina mit Max auf dem Schoß hinten. Walter war ganz sicher, daß man dabei war, seine Familie wegen verbotenen Aufenthalts in dem Hotel zu verhaften, und hetzte in Panik, mit krampfendem Magen und Gesten, die ihm so absurd wie der Verlauf des ganzen Tages erschienen, auf den Wagen zu.

»Komm«, rief Jettel aufgeregt, »ich dachte schon, die bringen uns hier weg, ehe du wiederkommst. Wo um Himmels willen hast du gesteckt? Das Kind hat keine einzige trockene Windel mehr und Regina andauernd Nasenbluten.«

»Sir«, schrie Walter, »this is my wife. And my children.«

»Dann laß das nächste Mal deine schöne wife nicht in einem beschlagnahmten Hotel herumsitzen, du Trottel«, grinste der Sergeant.

Seine Sprache war unüberhörbar badischen Ursprungs; er hieß Steve Green, war ursprünglich ein Stefan Grünthal gewesen und seit der Besetzung Frankfurts bei der amerikanischen Militärregierung, seiner Sprachkenntnisse wegen, für alle Problemfälle zuständig, die Deutsche betrafen. Steve Green war von der Sekretärin des Hotels Monopol alarmiert worden, als der aufging, daß sie die jammernde Jettel, ihre schluchzende Tochter und das schreiende Baby nicht auf dem üblichen Weg der einschüchternden Arroganz würde loswerden können. Steves Eltern besaßen bis 1935 ein kleines Hotel in der Nähe von Baden-Baden. Die Mutter kochte die beste Hühnersuppe der Welt und haßte die Deutschen. Der Vater hatte sich in New York vom Nachtportier in Brooklyn zum Verkäufer in einem Schmuckgeschäft in der 47th Street hochgearbeitet, ging jeden Schabbes in die Synagoge und haßte die Deutschen auch. Steve haßte vor allem Frankfurt, die bloody Army und die deutschen Angestellten im PX-Laden, die die Waren auf dem Schwarzen Markt verschoben, ehe die GIs sie kaufen konnten.

Das alles erzählte er in einer Mischung aus fließendem Deutsch und unverständlichem Amerikanisch, während er den Jeep in rasender Fahrt und mit Flüchen, die weit gröber waren als alles, was Walter je beim britischen Militär gehört hatte, durch die von ausgebrannten Häusern gesäumten Straßen der Frankfurter Innenstadt trieb. Zwang ihn eine Straßenbahn oder Männer mit Schubkarren zum Anhalten, warf er, je nach Gegebenheit, eine Zigarette aus dem Jeep und freute sich an den Leuten, die sich um sie balgten. Oder er vergaß, daß er die Deutschen haßte, und überraschte verdutzte junge Frauen, die er entweder »Fräulein« oder »Veronika« nannte, mit einem Riegel »Hershey’s«-Schokolade.

Steve schenkte Regina ein Paket Kaugummi, verwechselte bei hoher Geschwindigkeit immer öfter Jettels Knie mit dem Schaltknüppel und beantwortete Walters Fragen nach dem Ziel der Reise augenzwinkernd mit dem Hinweis »off limits«. Eine Viertelstunde nach Beginn der Fahrt bog er von einer großen Allee mit blühenden Kastanienbäumen ab und in die schmale, auffallend guterhaltene Eppsteiner Straße ein, sprang aus dem Jeep, half Jettel galant aus dem Wagen, drängte in eiliger Grobheit Walter und Regina mit dem Baby auf dem Arm zum Aussteigen, nahm eine Pistole aus der Hosentasche, stürmte in den Hausflur, rannte in den zweiten Stock und drückte auf eine Klingel.

Eine grauhaarige Frau machte zögernd die Tür auf und rief erschrocken: »Ach!«

»Beschlagnahmt«, brüllte Steve in Richtung der erschrockenen Frau und »okay« hinunter ins Treppenhaus. Die Frau wurde blaß, wischte sich immer wieder die Hände in einer geblümten Schürze ab und jammerte mit geschlossenen Augen: »Ich hab ja nur noch zwei Zimmer.«

»Eins zuviel«, schrie Steve, »die Leute bleiben hier. Einquartierung für eine Woche.«

Die Frau machte ihren Mund auf, aber gleich wieder zu, als Steve »Shut up« sagte und sie fragte: »Hab ich den Krieg verloren oder du? Und was zu essen rückst du auch raus. Sonst komme ich wieder. In Begleitung.«

Danach streichelte er Jettel über das Haar, klopfte Walter auf die Schulter, schob Regina beiseite und steckte Max einen Kaugummi in den Mund, den Jettel ihm in Panik entriß und selbst zu kauen begann. Max fing an zu brüllen. Die Frau stöhnte und sagte, sie heiße Reichard, hätte selbst nichts zu essen und bis zur Besetzung von Frankfurt in einer Fünf-Zimmer-Wohnung gewohnt.

Ihr Haar war im Nacken zu einem Knoten geflochten, der ihr ein strenges, einschüchterndes Aussehen gab, und ihre Arme hielt sie vor dem Bauch verschränkt; einen Moment schien es so, als wolle sie eine Bewegung machen, um Jettel aus der Tür zu drängen, aber da sagte Walter: »Es tut mir sehr leid, wenn wir Ihnen Ungelegenheiten machen.«

»Ich zeig Ihnen Ihr Zimmer«, seufzte Frau Reichard, »aber, daß Sie es gleich wissen. Ich hab nur eine Gemüsesuppe aus Schalen. Zu mehr bin ich nicht verpflichtet.« Von den Rätseln des Tages, die später nie mehr gelöst werden konnten, blieb sie das größte. Aus der Gemüsesuppe wurde ein Eintopf, aus einem Pappkarton ein Kinderbett; es gab für jeden eine Scheibe dünnes Brot und danach aus Meißener Porzellantassen ein heißes Getränk, das Frau Reichard als Kaffee bezeichnete. Sie nannte Max »Bobbelche«, schaukelte ihn auf ihrem Schoß und weinte. Vom Dachboden holte sie ein Feldbett für Regina. Nach dem Abendessen erzählte Frau Reichard von ihrem Mann, den »die Amis geschnappt« hatten, und ihrem einzigen Sohn. Er war in Rußland gefallen. Jettel sagte, das täte ihr leid, und Frau Reichard sah sie überrascht an.

Zu viert schliefen sie in Frau Reichards Zimmer. Über dem Ehebett hing ein Bild von zwei pausbäckigen Engeln, die Regina faszinierten. An der gegenüberliegenden Wand war ein großer, heller Fleck, der ihren Vater interessierte. Er behauptete, dort habe ein Hitler-Bild gehangen. Jettel sagte: »Schade, daß du immer so schlau bist bei den Sachen, auf die es nicht ankommt«, doch ihre Stimme klang nicht bösartig, denn Walter lachte und sagte: »Das hat schon deine Mutter gesagt.«

Regina war froh, daß sie keine vergifteten Pfeile auffangen mußte, ehe sie Beute machen konnten. Sie dachte kurz an die Schokolade, die Steve den jungen Frauen zugeworfen hatte, und lange an den Duft des Guavenbaums in Nairobi, ihr Magen war jedoch nicht voll genug und ihr Kopf zu leer, um die Safari zu genießen.

Kurz vor dem Einschlafen hörte sie ihre Eltern doch noch streiten, aber es waren fast wie in den besten Stunden der verwehten Tage ein harmloser Kampf und ein schnell geschlossener Friede. Erst konnten sie sich nicht einigen, wer Koschella zur Hochzeit eingeladen hatte, und dann waren beide im gleichen Moment sicher, daß sie ihn wohl verwechselt hätten und er wahrscheinlich sein Lebtag nie in Breslau gewesen sei.

2

Samstag, 20. April Hurra. Heute bin ich zum ersten Mal in Frankfurt glücklich (fast). Endlich sind wir von Frau Reichard weg. Zum Schluß hat sie uns sehr schikaniert. Bis wir eine Wohnung zugewiesen bekommen (wird sehr lange dauern), dürfen wir in der Gagernstraße 36 wohnen. Vor drei Tagen hat Papa endlich jemanden bei der Jüdischen Gemeinde erreicht – den nettesten Mann der Welt. Er heißt Doktor Alschoff und hat dafür gesorgt, daß wir im ehemaligen jüdischen Krankenhaus unterschlüpfen dürfen. Es ist sehr kaputt und kein Krankenhaus mehr, sondern ein Altersheim. Wir haben ein Zimmer mit drei Betten, einem Tisch, drei Stühlen und einer Kochplatte. Wir waschen uns in einer Schüssel, die auf einem dreibeinigen Ständer steht, der mir sehr gut gefällt. Das Klo ist auf dem Flur. Eine Mahlzeit bekommen wir vom Koch des Altersheims, aber nur für drei Personen, weil Max eine Lebensmittelkarte für Kleinkinder hat, und da sind zu viele Marken für Milch und zu wenig für Fett. Sagt der Koch. Unsere Kleider bleiben in den Koffern. Zum erstenmal in meinem Leben bin ich froh, daß ich so wenig zum Anziehen habe. Wir wurden auf einem Lastwagen in die Gagernstraße gebracht. Eigentlich hätten wir schon am Samstag kommen können, aber das durften wir nicht, weil Juden am Schabbes nicht fahren, und das Heim ist koscher. Ich bin froh, daß ich Tagebuch führen kann. Das habe ich Doktor Alschoff zu verdanken. Er hat mir heute zum Empfang drei Hefte und zwei Bleistifte geschenkt, und nun habe ich endlich jemanden zum Reden. In diesem Tagebuch werde ich nämlich nur Englisch schreiben. Da komme ich mir vor wie zu Hause. Ich muß sehr klein schreiben und nicht jeden Tag, weil Papier in Deutschland sehr knapp ist. Wer weiß, ob ich je neues bekomme.

Von Doktor Alschoff muß ich aber doch noch was schreiben. Er war im Konzentrationslager. In Auschwitz. Als Mama das hörte, hat sie schrecklich geweint. Ihre Mutter und ihre Schwester sind ja dort gestorben. Aber er hat sie nicht gekannt. Er hat sehr traurige Augen und wollte immer wieder Max streicheln. Er sagt, außer uns gibt es nur eine rein jüdische Familie mit Kindern in der Gemeinde. Papa hat mir später erklärt, daß Juden nicht ins KZ kamen, wenn sie einen christlichen Ehepartner hatten. Wie Koschella. Mama sagte, der liebe Gott hätte ihn nicht zu retten brauchen. Papa war wütend und sagte, sie habe sich versündigt. Da haben sich beide furchtbar gestritten. Max lacht immer, wenn die Eltern laut werden. Er redet nicht mehr, seitdem wir in Frankfurt sind. Dabei konnte er zu Hause schon kula, aja, lala, toto, jambo und fast schon Owuor sagen. Heute nacht schläft Max zum ersten Mal nicht im Karton, sondern bei mir im Bett. Ich freue mich sehr.

 

Mittwoch, 24. April Hier gibt es einen großen Rasen mit vielen Bänken. Heute habe ich zum ersten Mal auf einer Bank gesessen. Eine sehr alte Frau setzte sich zu mir. Sie heißt Frau Feibelmann und hat gleich mit mir geredet. Mir war das schrecklich peinlich, aber sie hat kein bißchen gelacht, weil ich einen englischen Akzent habe. Sagte, sie habe sich das Lachen in Theresienstadt abgewöhnt. Das war auch ein Konzentrationslager. Fast alle Leute, die hier wohnen, waren in Theresienstadt. Frau Feibelmann hat Max auf den Schoß genommen und ihm was vorgesungen. Dann ist sie weggehumpelt und kam mit zwei Keksen wieder, die sie ihm in den Mund steckte. Sie hatte drei Kinder, aber nur ein Sohn lebt noch. In Amerika (deswegen hat sie ja Kekse – er schickt ihr Pakete).

Ihre beiden Töchter und fünf Enkelkinder sind umgekommen. Ich weiß gar nicht, wie ein Mensch so etwas erzählen kann, ohne zu weinen. So viel Trauriges wie in den ersten zehn Tagen in Frankfurt habe ich mein ganzes Leben noch nicht gehört. Viele Menschen hier haben eine Nummer auf dem Arm. Das bedeutet, daß sie in Auschwitz waren.

Im Garten gibt es drei Schafe. Ich beneide sie sehr, sie haben genug zu essen. Der Koch mag uns nicht. Die Portionen, die ich bei ihm abhole (wir dürfen nicht im Speisesaal essen, weil Max die alten Leute stört) sind sehr viel kleiner als die für die alten Leute. Wir sind alle schon dünner geworden. Nur Max nicht. Wir geben ihm sehr viel von unserem Essen ab.

 

Freitag, 2. Mai Heute ist Papa zum ersten Mal aufs Gericht gegangen. Jetzt ist er Amtsgerichtsrat. Er war schrecklich aufgeregt und noch blasser als sonst. Mama hat ihm zum Frühstück ihre zweite Scheibe Brot geschenkt. Er hat sie umarmt und geküßt und gesagt: »Jettel, das ist der glücklichste Tag in unserem Leben, seitdem wir aus Leobschütz fortmußten.« Schade, daß Mama dann gesagt hat: »Wie glücklich wären wir erst mit vollem Magen.« Ich dachte, Papa würde sich ärgern, aber er hat ihr noch einen Kuß gegeben. Als er nach Hause kam, hatte er ganz rote Backen und sah viel größer aus als am Morgen. Er hat erzählt, daß alle so nett zu ihm waren und ihm helfen wollen, daß er sich wieder an seinen alten Beruf gewöhnt. Wenn die wüßten, daß er seinen alten Beruf nie vergessen hat. Sonst wären wir nämlich nicht in Frankfurt, sondern in Nairobi. Oder noch besser: auf der Farm in Ol’ Joro Orok. Heute abend gehen wir alle zum Gottesdienst. Mama wollte, daß ich mit Max im Zimmer bleibe, aber Papa hat gelacht und gesagt: »Zu Hause in Sohrau haben die Frauen immer ihre Babys in den Tempel mitgenommen.« Komisch, daß wir alle was anderes meinen, wenn wir zu Hause sagen.

 

Samstag, 3. Mai Trotz Papierknappheit muß ich heute schreiben. Max redet wieder. Er hat Herta gesagt. So heißt der schwarze Schäferhund, der dem Koch gehört. Ich bin sehr glücklich und werde versuchen, mit Max nicht mehr Englisch oder Suaheli zu reden. Mama sagt, das mache ihn nur verrückt.

 

Montag, 12. Mai Seit gestern wird es erst abends um elf dunkel. Doppelte Sommerzeit. Das heißt: Wir gehen später ins Bett und müssen unseren Hunger länger aushalten. Papa nennt das die Rache der Sieger, aber ich habe gehört, das soll Strom sparen. Wer zuviel verbraucht, kommt ins Gefängnis.

 

Mittwoch, 21. Mai Papa singt seit einer Stunde »Gaudeamus igitur«, hat seinen Hunger ganz vergessen und einen Bundesbruder gefunden. Das kam so: Im Garten unterhielt er sich mit einer jungen Frau (bildschön). Sie erzählte, daß ihr Vater früher in einer Studentenverbindung war, aber austreten mußte, weil er eine nichtjüdische Frau geheiratet und seine Kinder nicht jüdisch erzogen hat. Papa wußte sofort, daß der Mann ein KCer sein muß. Er heißt Doktor Goldschmidt und ist Arzt. Jeden Mittwoch kommt er in die Gagernstraße. Als er seine Tochter im Garten suchte, begrüßte ihn Papa mit dem KC-Pfiff. Er will uns einladen. Zu einer richtigen Tasse Kaffee (bekommt er von einem Patienten).

 

Montag, 2. Juni Es ist heißer als in Nairobi. Mama stöhnt sehr, hat mich aber trotzdem nach einer Stunde Schlangestehen im Milchgeschäft abgelöst. Es gab nur einen Viertel Liter. Trotzdem kein ganz schlechter Tag. Seit heute haben wir eine Zeitung. Die »Frankfurter Rundschau«. Sie beliefert rassisch Verfolgte (das sind wir), ohne daß sie auf die Warteliste müssen. Endlich hört die Sorge um Klosettpapier auf. Schade, daß wir nicht »Die Neue Zeitung« bekommen können. Die soll viel weicher sein.

 

Donnerstag, 5. Juni Wieder eine gute Nachricht. Aus London kam der Sportwagen, den wir dort für Max gekauft haben. Er wurde ans Gericht geschickt. Jetzt muß ich Max nicht mehr schleppen, wenn wir spazierengehen.

 

Samstag, 7. Juni Die Deutschen sind sehr neugierig. Alle wollen sie wissen, woher ich den schönen Wagen habe, und wenn ich dann London sage, muß ich immer weiterreden. Von Afrika und der Rückwanderung etc. Fast jeder sagt dann: »Wie kann man nur in dieses Land kommen?«, und fragt mich weiter aus. Viele erzählen, daß sie früher jüdische Freunde hatten und immer gegen Hitler waren. Mir ist das unangenehm.

 

Sonntag, 8. Juni Papa hat nicht auf Max aufgepaßt und nicht gesehen, daß er aus dem Garten gelaufen ist. Zwei Stunden gesucht. Max saß, nur in seiner Unterhose und ohne Schuhe, in der Wittelsbacher Allee auf den Straßenbahnschienen. Zum Glück dürfen sonntags keine Straßenbahnen fahren, und es ist nichts passiert.

 

Montag, 9. Juni Mußten aufs Polizeirevier und unseren Fingerabdruck für die Kennkarten abgeben. Mama tobte: »Genau wie bei Hitler«, aber Papa sagte, die Amis sind schuld. Mama hat mir später erzählt, daß sie seit der Nazizeit Angst vor deutschen Beamten in Uniform hat. Ich fand die Männer ganz nett. Einer hat Max eine Schnitte aus echtem Weißbrot geschenkt. Komisch, wenn die Leute hier in Frankfurt Deutsch sprechen, reden sie so ganz anders als wir. Ich verstehe sie sehr schlecht.

 

Freitag, 13. Juni Riesenfreude. Haben eine Wohnung. Nuß-Zeil in Eschersheim. Drei Zimmer, Küche und Bad. Papa kam mit der Zuteilung vom Wohnungsamt an und konnte vor Freude noch nicht mal das bißchen essen, das der Koch uns gibt (wird immer weniger). Mama sagt, jetzt braucht sie ein Dienstmädchen.

 

Montag, 16. Juni Tag der Tränen. Als Papa und Mama heute früh zu der neuen Wohnung gingen, war sie besetzt. Von Herrn Hitzerot. Er ist schon Donnerstag eingezogen. Der Hauswirt hat Papa zugeflüstert, daß H. Papierhändler ist und die Leute vom Wohnungsamt bestochen hat. Papa glaubt das nicht und sagt, das Ganze muß ein Mißverständnis gewesen sein. Deutsche Beamte lassen sich nicht bestechen. Jedenfalls hat Herr H. genug Papier zum Verschenken. Ich habe fünf neue Hefte (falls ich mal in die Schule darf), aber sie machen mir keine Freude. Als wir uns alle etwas beruhigt hatten, kam der Koch und sagte, er kann uns nicht mehr lange hier behalten.

 

Freitag, 20. Juni Mamas 39. Geburtstag. Papa hat ihr ein Zigarrenkästchen (von Doktor Goldschmidt) bemalt und einen Gutschein für ein Dienstmädchen geschenkt (einzulösen, wenn wir eine Wohnung haben). Von mir bekam sie ein Schälchen Himbeeren, die ich im Ostpark gepflückt habe. Frau L. (stammt aus Breslau und ist von dort nach Frankfurt gelaufen) ist gestern extra mit mir hingegangen. Ich finde das sehr anständig, denn sie hat selbst ein Kind. Max hat zum ersten Mal seit dem Schiff wieder Mama gesagt. Hab ich ihm beigebracht.

 

Donnerstag, 3. Juli In der Schlange vor Spanheimers Laden sagte plötzlich eine Frau: »Wir müssen uns die Beine in den Leib stehen, und den Juden werfen sie alles in Rachen.« Mama schrie: »Glauben Sie, ich stehe freiwillig neben so einem verdammten Naziweib? Ich bin jüdisch. Und wenn Sie wissen wollen, wie es uns ergangen ist – unsere ganze Familie ist umgekommen.« Alle haben uns angeguckt, aber keiner hat ein Wort gesagt. Die Frau rannte weg, obwohl sie ganz vorn in der Schlange stand. Ich bewundere Mama sehr.

 

Mittwoch, 9. Juli Jetzt haben wir wirklich eine Wohnung. In der David-Stempel-Straße auf der anderen Seite des Mains in Sachsenhausen. Wieder drei Zimmer, Küche und Bad. Zur Zeit wohnt noch ein ehemaliger Nazi mit seiner Frau dort, aber bis zum 1. August muß er ausziehen.

 

Freitag, 11. Juli Heute hat Spanheimer alle, die nach mir kamen, vor mir bedient. Ich fing schon an, mich zu ärgern, aber dann hat er plötzlich meine Tasche genommen und Haferflocken, Zucker und ein Stück Käse reingelegt. Ich war so erschrocken, daß ich mich kaum bedanken konnte. Herr Spanheimer hat gesagt, daß er Mama verehrt und sie sehr mutig findet. Er hat nur noch ein Bein und haßt die Nazis. Er hat gesehen, wie man die Menschen aus dem jüdischen Krankenhaus abgeholt hat. Papa hat sich sehr über die Geschichte gefreut.

 

Sonntag, 13. Juli Habe endlich wieder ein Geheimnis mit Papa. Als ich heute ins Zimmer kam (Mama unterhielt sich im Garten), saß er auf dem Balkon mit Max auf dem Schoß und sang »Kwenda Safari«. Ich sagte »Jambo Bwana«, und dann haben wir erst lange ohne Worte miteinander geredet und danach über Kimani und Owuor und die Farm. Später hat Papa noch mal »Kwenda Safari« gesungen und gesagt: »Das braucht deine Mutter nicht zu wissen.« Ich kam mir vor wie als Kind. Nur damals wußte ich nicht, daß Liebe auch satt macht.

 

Mittwoch, 16. Juli Papa hat vom Gericht die Adresse einer Frau aus Oberschlesien mitgebracht, die in der Ostzone wohnt, in den Westen will und eine Stelle als Dienstmädchen sucht. Mama hat ihr sofort geschrieben.

 

Donnerstag, 17. Juli Bin in der Schiller-Schule angemeldet worden. Sie ist, genau wie unsere neue Wohnung, in Sachsenhausen. Habe Angst. Schließlich bin ich fast fünfzehn und kann kaum lesen. Jedenfalls nicht Deutsch.

 

Freitag, 18. Juli Vor ein paar Tagen hat Papa einem Wachtmeister erzählt, daß er mir in Afrika immer von Kirschen vorgeschwärmt hat und daß ich immer noch nicht weiß, wie sie schmecken. Es gibt ja nirgends Obst zu kaufen. Gestern brachte der Wachtmeister ihm eine Tüte Kirschen aus seinem Garten mit. Als uns Papa die Geschichte erzählte, hatte er Tränen in den Augen und sagte, in zehn Jahren Afrika sei niemand so freundlich zu ihm gewesen. Hab natürlich nicht gesagt, daß ich Kirschen sauer finde und lieber Mangos esse.

 

Montag, 28. Juli Wir bekommen die neue Wohnung nicht. Der Nazi hat eine Bescheinigung vorgelegt, daß er doch kein Nazi war, und darf bleiben. Er ist Metzger. Jetzt glaubt sogar Papa an Bestechung.

 

Montag, 4. August War die ganze Woche krank. Bauchkrämpfe und Brechen. Schwere Blinddarmreizung. Damit kann man aber nicht ins Krankenhaus, weil es zu wenig Betten gibt. Ich war froh. Mama hat mir Umschläge gemacht, und Doktor Goldschmidt kam jeden Tag. Einmal konnte er auch gleich Papa behandeln. Der war im Gericht zusammengebrochen. Unterernährung. Er hat fünfzehn Pfund abgenommen. Mama und ich nur zehn. Wir gehen sonntags immer zum Bahnhof. Da ist eine Waage.

 

Dienstag, 12. August Riesenaufregung. Das Dienstmädchen ist da. Sie heißt Else Schrell und stand plötzlich mit ihrem Koffer vor der Tür. Sie hat eine günstige Gelegenheit genutzt, um über die Zonengrenze zu gehen. Mama war glücklich.

Papa nicht. Else wird nämlich in seinem Bett schlafen und er auf dem Balkon. Zum Glück ist es so heiß. Jetzt müssen wir das Essen für drei durch fünf teilen. Aber Else hat Zwiebeln mitgebracht. Sie stammt aus Hochkretscham. Das ist ganz in der Nähe von Leobschütz. Die drei haben bis in die Nacht geredet.

 

Samstag, 16. August Gestern war mein erster Schultag. Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll. Ich hatte schreckliche Angst. Ein Wunder, daß ich überhaupt die Schule gefunden habe. Die Schiller-Schule gibt es nämlich gar nicht. Sie ist ein Trümmerhaufen. Die Schülerinnen von der Schiller-Schule müssen in die Holbein-Schule. Der Unterricht fängt erst um zwei Uhr an. Ich war eine halbe Stunde vorher da und fragte das erste Mädchen, das ich sah, nach der Obertertia. Zum Glück war das auch ihre Klasse. Sie heißt Gisela und wollte sofort wissen, ob ich katholisch oder evangelisch bin. Ich erschrak sehr und sagte: »Ich bin jüdisch.« Da wurde sie noch viel verlegener als ich und murmelte: »Oh, Verzeihung. Ich habe ja nur gefragt, weil wir jetzt Reli haben.« Ich habe sie nicht verstanden, und da sagte sie: »Religionsunterricht.« Sie war evangelisch, und ich bin mit ihr gegangen.

Die Lehrerin war sehr nett zu mir. Ganz anders als die englischen, die ja neue Schülerinnen nicht ausstehen konnten – besonders, wenn sie nicht wie die anderen waren. Sie fragte nach meiner letzten Schule. Ich sagte: »Kenya Girls’ High School Nairobi.« Es hat ewig gedauert, ehe sie kapierte, daß ich aus Kenia bin. Dann hat sie mich gefragt, ob ich dort im Internat war, und ich sagte: »Nur mein Vater war eingesperrt.« Alle haben schrecklich gelacht. Ich habe mich sehr geniert und weiß immer noch nicht, was so komisch gewesen sein soll. In der zweiten Stunde kam eine ziemlich alte Lehrerin auf mich zu. Sie heißt Fräulein Doktor Jauer und sagte: »Ich freue mich sehr, dich zu sehen.« Ich habe das gleiche gesagt, weil ich dachte, das ist in Deutschland die Übersetzung von: »How do you do.« Stimmt offenbar nicht, denn die Mädchen haben wieder gelacht, Fräulein Doktor Jauer nicht. Sie gibt Englisch und hat etwas vorgelesen, und da hätte ich fast gekichert. So ein schlechtes Englisch haben zu Hause noch nicht einmal die Refugees gesprochen.

In den anderen Stunden habe ich kein Wort verstanden. Der Deutschlehrer heißt Doktor Dilscher und war besonders freundlich. Er fragte mich nach meinen Lieblingsdichtern. Mir schien, daß er noch nie von Dickens, Wordsworth und Robert Browning gehört hat.

Die Mädchen sind unglaublich neugierig. In der Pause standen sie um mich herum und haben eine Frage nach der anderen gestellt. Sie sind alle sehr freundlich. Und sehr elegant. Viele tragen Röcke aus zwei verschiedenen Stoffen und herrliche weiße Kniestrümpfe. Die meisten haben lange Zöpfe und sehen aus wie Heidi.

 

Dienstag, 19. August Else ist wie Aja. Sie braucht Max nur auf den Schoß zu nehmen, und schon hört er auf zu weinen. Sie hat einen großen Busen und bleibt abends allein mit ihm im Zimmer, wenn wir spazierengehen wollen. Gestern waren wir sogar im Kino. Für Karten muß man länger anstehen als beim Bäcker, aber es hat sich gelohnt. Der Film hieß »In jenen Tagen« und war sehr traurig. Mama und ich haben um die Wette geweint. Ich habe wieder mal gemerkt, wie gut wir es in Afrika hatten.

 

Donnerstag, 21. August In der Schule gefällt mir am besten ein Mädchen, das Hannelore heißt. Sie wird von allen Puck genannt, weil sie die Rolle mal im »Sommernachtstraum« spielte. Sie hat wunderschöne Kleider an, weil sie eine Großmutter, eine Mutter und zwei Tanten hat, die alle nähen können. Die machen Blusen und Röcke aus alten Gardinen und sogar Schuhe aus Uniformjacken. Puck erzählt mir immer, was die Lehrerinnen früher gesagt haben. Gestern rief mich beispielsweise die Direktorin zu sich und sagte: »Du mußt mich wissen lassen, wenn ein Mädchen unfreundlich zu dir ist. Das dulde ich nicht. Die Juden haben genug gelitten.« Ich habe sie nur stumm angestarrt. In einer englischen Schule wäre keiner Lehrerin so etwas eingefallen. Ich war sehr beeindruckt und erzählte Puck sofort die ganze Geschichte. Sie bekam einen Lachkrampf und berichtete, daß die Direktorin früher jeden streng bestrafte, der »Guten Morgen« statt »Heil Hitler« gesagt hat. Ich glaube, ich werde mich nie richtig auskennen mit dem Leben hier. Es ist so schrecklich kompliziert. Hab zu Hause nichts erzählt. Papa will so etwas nicht hören, und Mama hätte ihn nur wieder einen Trottel genannt.

 

Freitag, 22. August Else kam weinend nach Hause. In der Schlange beim Metzger hat ein Mann zu ihr gesagt: »Auf euch Ostzigeuner haben wir grade gewartet. Zu Hause nichts zu beißen und uns hier das bißchen wegfressen, was uns geblieben ist.« Mama, die Else sehr gern hat, weil sie sie immer »Frau Doktor« nennt, war wütend und hat Else sehr lieb getröstet. Elses Vater war einer der reichsten Bauern in Hochkretscham. Deswegen weiß Else so gut über Pflanzen Bescheid. Sie läuft oft ganz zeitig in den Ostpark und pflückt Brennesseln, aus denen sie Salat macht. Schmeckt gar nicht so schlecht und macht sogar satt. Nur Papa sagt immer: »Gut, daß Owuor nicht sieht, daß aus seinem Bwana ein Ochse geworden ist, der Gras frißt.«

 

Samstag, den 23. August Schon wieder Ärger. Else hat die Windeln auf den Balkon zum Trocknen gehängt. Sie wußte nicht, daß man das hier am Schabbes nicht darf, und wir haben natürlich auch nicht daran gedacht. Die Frau vom Verwalter hat getobt. Papa hat zurückgetobt und geschrien: »Mein Sohn scheißt auch am Schabbes.« Das ganze Altersheim spricht darüber.

 

Montag, 1. September In der Pause bekommen wir von den Amis Schulspeisung. Meistens Nudeln in Schokoladensauce oder Tomatentunke. Ich esse nicht viel davon und bringe den Rest immer für Max mit. Papa sieht das nicht gern. Ich wiege nämlich immer weniger und Max immer mehr. Das kommt auch von dem langen Schulweg – eineinhalb Stunden hin und eineinhalb Stunden zurück. Es gibt nach Sachsenhausen nur eine Brücke, und über die muß man zu Fuß gehen. Meine Mitschülerinnen haben es gut, weil sie alle in Sachsenhausen wohnen. Das hätte ich ja auch, wenn der Nazi aus der Wohnung gegangen wäre.

 

Freitag, 5. September Papas 43. Geburtstag. Nur Else hat ihm was geschenkt (Brombeeren aus dem Ostpark). Ich war traurig, daß ich nichts hatte, aber er hat gesagt: »Du weißt gar nicht, wieviel du mir jeden Tag schenkst.« Ich glaube, er meint, daß ich nie über unser Leben hier jammere. Das macht mich glücklich. Wir haben immer noch unser Geheimnis und singen Max Lieder in Suaheli vor, wenn wir mit ihm allein sind. Hätte nie gedacht, daß Papa so viele kennt.

 

Freitag, 19. September Mein 15. Geburtstag. Von Mama ein Armband aus Elefantenhaar, das Glück bringt. Sie hat es in Nairobi extra für mich gekauft und die ganze Zeit versteckt. Von Papa »Der Antiquitätenladen«. In Englisch! Ich wußte gar nicht, daß er weiß, was mir Dickens bedeutet und erst recht dieses Buch. Er wollte nicht sagen, wie er an den Schatz gekommen ist, aber als er am Gericht war, hat es mir Mama doch verraten. Er hat das Buch von einem Richter erhalten und dafür seine Tabakration für den nächsten Monat hergegeben.