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Der Paritätische Gesamtverband

Ulrich Schneider ist Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes in Berlin. Er ist Autor verschiedener Publikationen zu den Themen Armut in Deutschland, Verantwortung des Sozialstaates und soziale Gerechtigkeit. Im Westend Verlag erschien von ihm 2010 das Buch Armes Deutschland.

Ulrich Schneider

MEHR MENSCH!

Gegen die Ökonomisierung des Sozialen

 

eBook Edition

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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

 

 

ISBN 978-3-86489-568-5
© Westend Verlag GmbH, Frankfurt/Main 2014
Umschlaggestaltung: Buchgut, Berlin
Umschlagabbildung: Der Paritätische Gesamtverband
Satz: Publikations Atelier, Dreieich
Druck und Bindung: CPI – Clausen & Bosse, Leck
Printed in Germany

Inhalt

Vorwort: Worum es (mir) geht

Von Schuberts Unvollendeter, kleiner Wäsche und Ökonomie

Von Größenordnungen und der Systemrelevanz des Sozialen

Der Weg in die Ökonomisierung

Von der Liebestätigkeit zum Mehrwert

Massenarbeitslosigkeit, Ratlosigkeit und Visionen

Der Fall der Mauer und der Durchbruch des Neoliberalismus

Aufstiegsversprechen, Volksaktien und Privatisierungshype

Gutmenschen, Bedenkenträger und andere Kampfbegriffe

Neue Hohepriester und glücklose Tippgemeinschaften

Die Ökonomisierung des Sozialen

Von Eroberungen, Preiskampf und der Geburt der Minutenpflege

Kalter Zeitgeist und smarte Typen

»Wirtschaftssprech« und ein absurder Kundenbegriff

Social Profits und unnütze Arbeitslose

Mensch versus Mehrwert

Von käuflicher Liebe, Preisfindung und echter Beziehungsarbeit

Der allgegenwärtige Zahlenfetisch: Von Schulnoten und anderen Schein-Kennziffern

Die Wirkungsmessung der Analysten und ein schlauer Kaplan

Mut zur Menschlichkeit: Mehr Mensch statt Mehrwert

Anmerkungen

Für alle Gutmenschen, Bedenkenträger und Sozialromantiker

Es ist nicht richtig, wenn ein imperialer Ökonomismus einen pflegebedürftigen Menschen in einen Minutentakt zerlegt: »große Wäsche«, »kleine Wäsche«, »Kämmen«, »Hilfe bei der Nahrungsaufnahme«, »Ausscheiden«. Marktlogik, Wettbewerb und Kosten-Nutzen-Vergleiche sind beim Autokauf oder im Supermarkt berechtigt, in der Sphäre sozialer Dienste verletzen sie die Würde von Kranken, Kindern und Arbeitsuchenden. Der Geschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtsverbands kennt den Wahn der Effizienz, der Indikatoren und Kennziffern von innen und außen, er nennt jene Experten und Denkfabriken beim Namen, die kreative Beziehungen in Geldrechnungen verzaubern. Und die in Krankenhäusern, Schulen und Pflegeheimen einen Keil zwischen smarte Geschäftsführer und die Berufsbilder der Belegschaften treiben. Wer sich in einer Sackgasse verrannt hat, muss umkehren und nicht darauf warten, bis die Häuserreihen in die Luft fliegen.

Friedhelm Hengsbach SJ

Der Sozialstaat befindet sich nicht nur in einer Finanzkrise, sondern vor allem in einer Kulturkrise. Mit dem »homo oeconomicus« ist kein Sozialstaat zu machen. Ulrich Schneider beschreibt den Vormarsch der Vorteilssuche und den Rückzug der Solidarität. Das Geld unterwandert alle Sozialbeziehungen und verwandelt sie in Geschäfte. Das Buch ist eine alarmierende Beschreibung der sozialpolitischen Entwicklung unseres Landes.

Norbert Blüm

Vorwort: Worum es (mir) geht

»With all those things we treat as eternal, that we assume will always be there – our mother’s love, true friendship, sociality, humanity, belonging, the existence of the cosmos – no calculation is necessary, or even ultimately possible; insofar as there is give and take, they follow completely different principles.«1

David Graeber

Es sind zwei Anlässe, die sich glücklich fügten und mich zu diesem Buch bewegten. Der eine ist David Graebers Werk Schulden – die ersten 5 000 Jahre, das mir vor einiger Zeit in die Hände fiel.2 Das Buch des amerikanischen Professors und Mitbegründers der Occupy-Bewegung fesselte mich sofort und gab mir wie kaum ein anderes in den letzten Jahren das Gefühl, dass ich als Leser nicht nur neue Fakten erhalte, sondern wirklich neue Sichtweisen kennenlerne und Einsichten gewinne. In seinem Versuch, die Bedeutung von Schuld und Schulden für die Menschen heute und in ihrer Geschichte zu begreifen, setzt Graeber sich mit Freundschaft, mit Herrschaft, mit Gewalt, mit Sex, mit Glauben, mit Sitten und Gesetzen, mit Menschen und mit Märkten auseinander. Seine Erzählweise ist faszinierend, da er als Anthropologe niemals abstrakt wird. Auch wenn er von Ideen, Theorien und Formen des Zusammenlebens spricht, bleibt er immer ganz nahe bei den Menschen selbst, wie sie denken und leben. Es gibt keine Wirklichkeiten und Strukturen außer denen, die von Menschen tagtäglich neu geschaffen werden, so die wichtige Botschaft zwischen den Zeilen. Es gibt keine Gesetze außer denen, die immer wieder aufs Neue befolgt oder durchgesetzt werden. Es gibt nichts außer Leben.

Graeber formuliert eine radikale Kritik an kapitalistischen Märkten und bietet Alternativen an: Formen des Zusammenlebens und gemeinsamen Wirtschaftens, die der menschlichen Natur, so wie er sie sieht, gerecht werden können; ein Zusammenleben, das darauf verzichtet, alles und jedes in Äquivalenzen umzurechnen.

Es waren Gedanken Graebers zur Natur menschlicher Beziehungen, zu Charakteristika und zur Organisation marktwirtschaftlichen Austausches, bei denen es sich geradezu aufdrängt, sie weiterzudenken für das Feld sozialer Arbeit und sozialer Dienstleistungen – oder das Feld der Sozialwirtschaft, wie es heute heißt und wo ich als Hauptgeschäftsführer eines Wohlfahrtsverbandes beruflich zu Hause bin. Das Buch des Anarchisten Graeber macht Mut, vermeintlich Gegebenes und Alternativloses radikal in Frage zu stellen. Mich hat es dazu ermuntert, in diesem Licht die letzten Jahrzehnte im Sozialen – drei davon als Pädagoge, Sozialmanager und Lobbyist – Revue passieren zu lassen. Dabei ist dieses Buch entstanden.

Der andere Anlass war die Einladung, auf einem renommierten Kongress der Sozialwirtschaft, der jährlich in Nürnberg stattfindenden ConSocial, die Auftaktrede zu halten. Und zwar zu einem verlockenden Thema: »Zwischen Grundsatz und Umsatz«. Mit diesem Titel war für mich ein ebenso nachdenklich stimmendes wie ergiebiges Spannungsfeld skizziert, durchaus mit reichlich Potential zur selbstkritischen Reflexion. Immerhin standen die letztjährigen Konferenzen des Veranstalters an der Schnittstelle zwischen Profit- und Non-Profit-Sektor doch eher unter Überschriften wie »Märkte für Menschen«, »Wertschöpfung durch Wertschätzung« oder auch gleich »Mehrwert des Sozialen«. Die Einladung kam mir nach der Lektüre Graebers sehr recht. Gern sagte ich zu.

Von Schuberts Unvollendeter, kleiner Wäsche und Ökonomie

Spontan ruft ein Titel wie »Zwischen Grundsatz und Umsatz« im Sozialen das Bild eines schwer auszuhaltenden Spagats hervor: hier die Ethik, da der Mammon. Er regt an nachzudenken über ethische Grundsätze einerseits und ökonomische Zwänge andererseits. Er lädt auch zu Klagen ein über Kostenzwänge, die den hohen fachlichen und sozialen Ansprüchen die Luft abschnüren. Bei einem solchen Titel könnte man auch versucht sein, ethischen Verfehlungen in der Unternehmensführung nachzugehen, seien ihre Symbole nun Luxusdienstwagen vor Obdachlosenunterkünften, wie in Berlin geschehen und wochenlang als »Maserati-Affäre« in den Gazetten ausgeschlachtet (siehe das Kapitel »Kalter Zeitgeist und smarte Typen«), oder Luxusbadewannen, bronzene Fensterrahmen und Koibecken wie in der Limburger Bischofsresidenz, finanziert ausgerechnet aus einer Stiftung für bedürftige Familien.3

Jedem dieser Gedankenstränge zu folgen, wäre ein lohnenswertes Unterfangen. Doch ist es etwas anderes, was mich seit der Lektüre von Graebers Buch umtreibt. Ich möchte das mithilfe einer kleinen Glosse erzählen, auf die ich bereits vor Jahrzehnten in einer Sonntagszeitung stieß.

»Der Direktor eines Großunternehmens erhielt eines Tages eine Gratis-Eintrittskarte für ein Konzert von Schuberts ›Unvollendeter‹. Er konnte das Konzert selber leider nicht besuchen und schenkte deshalb die Karte seinem Prokuristen. Nach zwei Tagen erhielt der Unternehmer von diesem ein Memo mit folgendem Kommentar:

Sehr geehrter Herr Direktor,

noch einmal darf ich mich ganz herzlich für die Überlassung Ihrer Eintrittskarte bedanken. Gleichwohl möchte ich festhalten:

Während längerer Zeit waren vier Flötisten nicht beschäftigt. Die Zahl der Bläser sollte deshalb reduziert werden. Die Arbeit könnte stattdessen auf die übrigen Musiker verteilt werden, um eine gleichmäßigere Auslastung zu gewährleisten.

Alle zwölf Geiger spielten, ich konnte es von meinem Platz aus genau beobachten, identische Noten. Dies stellt eine ineffiziente Doppelspurigkeit dar. Die Zahl der Geigenspieler sollte deshalb ebenfalls drastisch gekürzt werden. Für intensivere Passagen könnte gegebenenfalls ein elektronischer Verstärker eingesetzt werden.

Es wurde zu viel Mühe zum Spielen von Halbtonschritten verwendet. Empfehlung: nur noch Ganztonschritte spielen! Dadurch könnten auch billigere Anlernkräfte und sogar Auszubildende eingesetzt werden.

Es macht überhaupt keinen Sinn, mit Hörnern die gleichen Passagen zu wiederholen, die kurz zuvor bereits mit Trompeten gespielt wurden.

Wenn in diesem Sinne alle überflüssigen Passagen entfernt würden, könnte das Konzert von zwei Stunden auf zwanzig Minuten gekürzt werden. Hätte Herr Schubert solche Empfehlungen frühzeitig bekommen und sie beherzigt, hätte er seine Sinfonie wahrscheinlich auch vollenden können.«

Wir empfinden diese Geschichte als heiter angesichts des großartigen Banausentums, dem wir in der Figur des Prokuristen begegnen. Der Vermerk erscheint uns absurd und skurril. Die Komik dieser Geschichte lebt von dem Aufeinandertreffen zweier Welten, die eigentlich überhaupt nichts miteinander zu tun haben, sie lebt von dem tiefen Miss- und Unverständnis, das der gesamten Situation zugrunde liegt.

Aber warum eigentlich nicht? Versuchen wir doch einmal, die Geschichte in all ihrer Absurdität weiterzuspinnen: Ein Symphonieorchester umfasst in voller Besetzung in Berlin beispielsweise 43 Geigen, 16 Bratschen, 13 Celli – und in diesen Größenordnungen spielt sich das Ganze bereits seit Mitte des 18. Jahrhunderts ab. Birgt der unstreitig an der Sache völlig vorbeigehende Vermerk unseres Prokuristen nicht zumindest insoweit einen wahren Kern, als man, wenn denn nötig, unter Kostengesichtspunkten durchaus auf fünf oder zehn Geigen verzichten könnte? Was sollte an einer vernünftigen Verkleinerung von Symphonieorchestern Komisches sein?

Und weiter: Ist es nicht so, dass bei unseren heutigen Hörgewohnheiten sehr gut aufgenommene und abgemischte CDs tatsächlich eine sogar noch bessere Klangqualität erreichen als ein live spielendes Orchester? (In der Schlagerbranche hat sich dieses Prinzip des Playback ja durchaus bewährt.) Muss man wirklich siebzig gut bezahlte, studierte Musiker im Orchestergraben sitzen haben? Und könnte man mit dem Playbackverfahren nicht in der Tat sogar auch jenen Menschen zu einer Beschäftigung verhelfen, die andernfalls niemals die Chance hätten, in einem Orchester zu spielen?

»Satirischer Unsinn«, wird jeder denken, der das liest. (Zumindest hoffe ich es.) Aber lassen Sie uns diesen Unsinn noch ein letztes Stück weitertreiben. Stellen wir uns nun einen Wissenschaftler vor, der uns darüber belehrt, dass man mittels Messungen zuverlässig nachweisen könne, dass sich der Klang einer CD im Orchestersaal in nichts unterscheide vom Klang einer Orchesteraufführung. Und nehmen wir an, dass dieser Wissenschaftler uns außerdem erklärt, dass mit diesem Playbackverfahren im Konzertsaal nachweisbar nicht nur mehr Effizienz, sondern zugleich auch mehr Qualität und Kundenzufriedenheit erreicht werden könne, dann sind wir gar nicht mehr weit entfernt von denjenigen Diskussionen, denen wir uns im Sozialen, bei der Arbeit mit Menschen tagtäglich ausgesetzt sehen. Und das ist dann leider – im Unterschied zum Lesen einer kleinen Satire – gar nicht mehr komisch.

Stellen Sie sich vor, Sie hätten es mit einem hilfebedürftigen Menschen zu tun. Sie wollen ihm helfen, ihn pflegen. Und nun kommt jemand auf die Idee, Ihnen zu erklären, dass Sie dies am besten so tun, dass Sie diese Pflege (und damit im Grunde den Menschen selbst) erst einmal aufteilen in »kleine Wäsche«, »große Wäsche«, »Nahrungsaufnahme«, »Absonderung und Ausscheidung«, »Lagern und Betten«, und so weiter. Schließlich wird Ihnen noch vorgerechnet, wie viele Minuten Sie pro Arbeitsgang verwenden sollten. So zerlegt und berechnet, könnten Sie, so erklärt man Ihnen, ganz prima, soll heißen auf die notwendigsten Verrichtungen beschränkt und damit wirtschaftlich sehr effizient, aber zugleich qualitativ hochwertig pflegen.

Weit weg ist diese Vorstellung von der Orchesterposse nicht. Es gibt durchaus Parallelen. Der Hauptunterschied zwischen beiden Szenarien ist der, dass wir diese Diskussion im Sozialen ganz real und ernsthaft führen (müssen). Und das mittlerweile mit einer Selbstverständlichkeit, die uns allzu häufig gar nicht mehr darüber nachdenken lässt, was uns hier zugemutet wird und wo wir überall über unseren eigenen fachlichen und ethischen Schatten springen und gegen unsere Überzeugungen handeln sollen.

Konkret heißt das: So wie die Vergütungssysteme derzeit gestrickt sind, darf ein ambulanter Pflegedienst für die Körperpflege des hilfebedürftigen Menschen tatsächlich nicht mehr als eine halbe Stunde aufwenden, will er nicht »draufzahlen«. Für die »Hilfe bei der Nahrungsaufnahme« (gemeint ist Hilfe beim Essen) bleiben gerade mal 15 Minuten, genauso viel wie zum Einkaufen. Um aus dem Eingekauften dann eine warme Mahlzeit zuzubereiten, bleiben etwa 25 Minuten.4 15 Minuten, um einem hilflosen Menschen zu helfen, sein Mittagessen zu sich zu nehmen: Es bleibt ein Rätsel, wie das gehen soll, ohne an der Menschenwürde zu kratzen.

Hierzu passt sehr gut, dass man uns erklärt, wir könnten die Güte von Pflegeeinrichtungen beurteilen, indem wir 59 »Einzelindikatoren« auf Skalen von eins bis zehn »messen«. Die Indikatoren reichen von der Erfassung des individuellen Sturzrisikos des pflegebedürftigen Menschen über die Frage, ob der Speiseplan in »lesbarer Form« bekannt gegeben wird, bis hin zum Beschwerdemanagement der Einrichtung. Aus den Einzelergebnissen wird sodann ein Mittelwert gebildet, der wiederum einer Note von 1 bis 5 zugeordnet wird. Und weil ein solches System selbstverständlich ständig weiterentwickelt und verfeinert wird, darf sich die geneigte Öffentlichkeit gelegentlich über Mitteilungen der Pflegekassen wie diese wundern: »Die Skalenwerte für die Zuordnung einer Note wurden angepasst für alle fünf Noten. Man benötigt nun einen höheren Wert (das heißt einen besseren Erfüllungsgrad), um eine gute Note zu bekommen. Ein Beispiel: Bisher gab es bereits ab Skalenwert 8,7 ein ›sehr gut‹, nun braucht man 9,31. Ein ›mangelhaft‹ gibt es bis zum Skalenwert 5,1, vorher nur bis 4,5.«5

Es ist skurril, man fühlt sich an Schuberts Unvollendete erinnert. Ein Außenstehender mit unverstelltem sogenanntem »gesunden Menschenverstand« dürfte den Kopf schütteln und sich fragen: »Was um Himmels willen treiben diese Experten da? Warum fragen die nicht einfach die pflegebedürftigen Menschen selbst?« Das wird sogar getan, mittels neun weiterer sogenannter Indikatoren: von der Frage, ob ein schriftlicher Pflegevertrag abgeschlossen wurde, bis dahin, ob die Mitarbeiter der Einrichtung höflich und freundlich seien. Allerdings fließen die Antworten nicht in die Bewertung mit ein, sind es doch »lediglich« subjektiv gefärbte Meinungsäußerungen von Betroffenen, die mit vermeintlich objektiver Messung nichts zu tun haben …

Vieles, was dem Sozialen zugemutet wird, würde man einem Orchester niemals antun. Eher würde man es schließen. Doch ein Pflegeheim ist nun mal kein Konzertsaal. Und nicht nur das Pflegeheim, auch die Beratungsstelle, der Kindergarten, die Behinderteneinrichtung oder die Beschäftigungsinitiative sind alles andere als Orchestergräben. Vergütung nach Minuten oder nach messbaren »Stückzahlen«, öffentliche Ausschreibungen von sozialen Dienstleistungen, die sich kaum unterscheiden von denen von Bauleistungen, knallharte Kalkulationen, ein »Herunterbrechen« von Leistungsbeschreibungen sozialer und pädagogischer Tätigkeiten, so dass sie auch dem größten Banausen betriebswirtschaftlich gefällig werden – für viele ist all das mittlerweile wie selbstverständlich erlebter, nicht mehr ernsthaft hinterfragter Alltag im Sozialen. Dass das überhaupt nicht zueinanderpassen will, löst keinerlei Empörung mehr aus, sondern bestenfalls noch ein diffuses Unbehagen. Stattdessen macht man sich auch bei Sozialunternehmen vielfach von »pädagogischen Allüren« frei und begreift die scheinbar objektiven Effizienzkriterien des »modernen Marktes« als Ausdruck einer neuen Professionalität; als unbefriedigende, aber nun einmal notwendige und respektable Gratwanderung zwischen den Welten. Tatsächliche, kompromisslose Alternativen liegen mittlerweile außerhalb jeglicher Vorstellungskraft, will man meinen.

Wie konnte es so weit kommen? Was brachte uns dazu, eine Arbeit mit Menschen auf bizarre Weise völlig menschenfremd zu zerlegen in »kleine Wäsche«, »große Wäsche« oder »Hilfe bei der Nahrungsaufnahme« (um beim Beispiel der ambulanten Pflege zu bleiben)? Meine These, die ich in diesem Buch erläutern und begründen werde, ist die, dass diese Taylorisierung der Arbeit mit Menschen eine Konsequenz der ökonomistischen Bestrebungen im Sozialen seit Anfang der 1990er Jahre ist. Es ist der fast zwangsläufig zu nennende Ausfluss einer immer radikaleren Ökonomisierung, der wir uns ausgesetzt sehen.

Ich kritisiere nicht die gute, wichtige und notwendige betriebswirtschaftliche Unterlegung der Sozialunternehmen. Geschenkt. Ich meine vielmehr jenen Prozess, in dessen Verlauf ökonomische Standards alternative Handlungslogiken immer weiter verdrängen und schließlich zum mehr oder weniger einzigen Maßstab sozialer Arbeit und Erziehung werden. Wenn auch in diesem Bereich Menschenbilder, Methoden und Qualität ökonomisch geprägt sind, dann läuft in unserer Gesellschaft etwas schief. Das Wesen sozialer Arbeit und Erziehung droht »auf der Strecke zu bleiben«, mindestens jedoch ökonomistisch zu mutieren und den Menschen aus den Augen zu verlieren.

Von Größenordnungen und der Systemrelevanz des Sozialen

Es geht mir in diesem Buch um die Arbeit in Pflegeheimen und Kindergärten, aber auch in Schuldnerberatungsstellen, Frauenhäusern oder Obdachlosenunterkünften, um Hilfen für Familien, um Schulsozialarbeit und Behindertenwerkstätten. Es geht – mit einem Wort – um Wohlfahrtspflege. Und dieses Feld der Wohlfahrtspflege ist enorm weit: Fünf Millionen Erwerbstätige zählt der Sektor Gesundheits- und Sozialwesen, 2,5 Millionen sind es im Bereich Bildung und Erziehung.6 Zum Vergleich: In der gesamten verarbeitenden Industrie – ob Automobile, Chemie oder Nahrungsmittel – sind ebenfalls »nur« 7,9 Millionen Menschen tätig. Gemessen an den Erwerbstätigenzahlen ist das Gesundheits- und Sozialwesen damit der drittgrößte Wirtschaftszweig Deutschlands.7

Das Sozialwesen umfasst beispielsweise über 50 000 Kitas, die von über 2,5 Millionen Kindern besucht werden. Dazu gehören aber auch rund 12 000 Pflegeheime und ebenso viele ambulante Pflegedienste, die zusammen weit über eine Million Menschen pflegen. Wohlfahrtspflege reicht tatsächlich von der sprichwörtlichen Wiege bis zu Bahre.

Allein die sechs großen Wohlfahrtsverbände, unter deren Dächern sich die Arbeit im Wesentlichen abspielt – der Paritätische Wohlfahrtsverband, die beiden kirchlichen Verbände Caritas und Diakonie, die Arbeiterwohlfahrt, das Rote Kreuz und die Zentralwohlfahrtsstelle der Juden – repräsentieren zusammen über 100 000 Sozialeinrichtungen und Dienste mit über 1,6 Millionen Angestellten. (Das sind mehr Erwerbstätige als in der Land- und Forstwirtschaft.) Hinzu kommen einige Millionen Ehrenamtliche. Sie besuchen pflegebedürftige Menschen, sie helfen bei den Hausaufgaben, sie sitzen an Sorgentelefonen oder organisieren Lebensmittelhilfen bei den Tafeln.

Wohlfahrtspflege ist damit alles andere als ein Nischenphänomen in dieser Gesellschaft. Wohlfahrtspflege hat Gewicht. Es geht dabei viel um Erziehung und Bildung, vor allem aber um Hilfen; um Hilfen, die für viele Menschen existenziell sind. Die Anlässe sind dabei so vielfältig wie die Fußangeln des Lebens selbst. Man wird von einem Partner verlassen, auf den man angewiesen ist, und gerät in eine Krise. Man ist einsam im Alter oder arm, weil die Rente nicht reicht. Man wird pflegebedürftig, oder eine schwere Krankheit ereilt einen. Man hat ein Alkohol- oder Drogenproblem oder eine psychische Erkrankung. Man ist arbeitslos und findet keinen neuen Job. Man hat den Schulabschluss nicht geschafft. Oder man kommt als Ausländer einfach nicht klar in der neuen Gesellschaft. Es sind in vielen Fällen persönliche Verstrickungen, Lebenskrisen, bei denen es müßig ist, die Schuldfrage zu stellen. Häufig genug sind es aber auch Anlässe, bei denen der sogenannte freie Markt in der Regel nicht nur nichts zu bieten hat, was wirklich hilfreich wäre (und was man sich auch noch leisten kann), sondern bei denen unser auf Leistung und Erfolg getrimmte Markt seine ganze Brutalität zeigt; Anlässe, bei denen diejenigen, die schwächeln und aus welchen Gründen auch immer nicht mehr mithalten können, straucheln. Schneller, als viele es sich vorstellen können, stehen sie auf der Straße, haben kein Job mehr, zu wenig Geld und am Ende nicht einmal mehr eine Wohnung.

In der Theorie so mancher Soziologen sollten sie sich eigentlich prima ergänzen, dieser auf Verwertung und Gewinn getrimmte Markt, jene auf unbestechliche Ordnung und Regelhaftigkeit gerichtete Verwaltung und schließlich diese Wohlfahrtspflege, die sich um den Menschen kümmert, wenn er nicht mehr so recht kann, und sein Menschsein wieder ganz in den Mittelpunkt rücken muss, wenn ihm wirklich geholfen werden soll.8 Es ist die vielbeschworene soziale Marktwirtschaft, die aus diesem Mix von sich eigentlich wiedersprechenden Prinzipien resultieren soll. Marktwirtschaft schon, aber irgendwie gebändigt.9 Wie auch immer man diese soziale Marktwirtschaft bewerten mag, als Glücksfall für die Menschheit oder nur als besonders raffinierte Form kapitalistischer Ausbeutung – die Geschichte ist voll von Beispielen, die uns zweifelsfrei lehren: Der freie Markt braucht die von ihm unabhängige öffentliche Verwaltung und das Soziale zwingend, will er nicht in kurzer Zeit an seiner eigenen Härte und seiner Gier scheitern und Chaos und Revolution gebären.

Das Soziale ist daher, zusätzlich zu seiner schlichten Größe, für das gesamte Funktionieren dieses marktwirtschaftlich durchdrungenen Systems in Deutschland von größter Bedeutung. Die Akzeptanz dieses Systems hängt neben anderem entscheidend davon ab, dass es einer großen Mehrheit der Menschen relativ gut geht: Unter welchen Bedingungen arbeiten sie? Haben sie überhaupt eine Arbeit? Wie sind Ressourcen, sprich Geld und Reichtum, verteilt? Wie ist es um Bildung und Gesundheit bestellt? Und die Akzeptanz hängt davon ab, wie gut Wohlfahrtspflege funktioniert: Ist sie da, wenn es darauf ankommt? Kümmert sie sich wirklich? Kommt der Mensch wenigstens hier zu seinem Recht, Mensch zu sein? So zynisch es klingen mag: Konsequentes Streben nach dem persönlichen Vorteil bis hin zur Gier (und der entsprechenden Menschenvergessenheit), wie es der kapitalistischen Marktwirtschaft nun mal eigen ist, kann als gesellschaftliches Prinzip nur überleben, wenn ihm ebenso konsequente Menschlichkeit gegenübersteht (und eine ebensolche Ordnung, denn auch oder gerade die konsequente Menschlichkeit neigt zum Ungehorsam, zum Regelverstoß und zur Anarchie). Insofern ist das Soziale weit mehr als das bloße barmherzige Anhängsel eines ansonsten von der Wirtschaft dominierten Systems. Es ist seine Voraussetzung, ein echtes Gegenüber mit eigenen Handlungsprinzipien und -logiken. Wo das Soziale diesen eigenständigen Charakter verliert und sich dem Markt anpasst, verliert es zwangsläufig seine Korrektur- und Ausgleichsfunktion. Das System gerät aus dem Gleichgewicht.