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Katharina Gerwens

Kegeltour

Ein Krimi aus Westfalen

hockebooks

21. Kapitel

Horst Toplischek kniff nervös beide Augen zu und riss sie wieder auf. Er hatte das Empfinden, etwas Wichtiges wahrgenommen zu haben, konnte aber schon jetzt nicht mehr sagen, was. Es war wie eine Art Blitz gewesen, der für den Bruchteil einer Sekunde ein Bild offenbarte, das wiederum eine Kette von einschneidenden Erkenntnissen ausgelöst hatte; aber nun war es wieder dunkel, das Bild verschwunden und die Erleuchtungen ebenso. Der Kriminalhauptmeister und oberste Spurensicherer der Kalveroder Polizei blies sich in die eiskalten Hände. Draußen begann es erneut zu schneien. Dieser Tag wurde nicht mehr hell. Ebenso wenig wie der aktuelle Fall. Mist aber auch! Er stand auf und schaltete das Deckenlicht ein. Neben dem Elektronenmikroskop leuchteten in zwei durchsichtigen Petrischalen die gelben Blütenblätter ein und derselben Pflanze.

Nur: Wo befand sich diese Pflanze? Und war inzwischen nicht alles, was draußen herumstand, tief verschneit?

Er steckte sich ein Pfefferminzbonbon in den Mund und tigerte unruhig in seinem Labor auf und ab. Immer wieder an den Petrischalen vorbei. Ein hübsches Gelb war das, dieses Hauswurzblütengelb. Postautogelb, Sonnenblumengelb, Eidottergelb. Überhaupt war Gelb eine schöne und aufmunternde Farbe. Was hatte die Uhlenbrock bloß dagegen? Und während er grübelte, blitzte eine Erinnerung in ihm auf: Hatte der alte Brandt in seinem Vortrag über Aberglauben nicht auch von Farben gesprochen? Horst Toplischek stellte sich ans Fenster, sah in den düsteren Vormittag hinaus und strich sich über den grauen Bart. Da war doch was gewesen, … genau: Hatte der einstige Schuldirektor nicht erzählt, Gelb sei die Farbe des Feuers und wer gelb blühende Königskerzen pflücke, dürfe sich nicht wundern, wenn der Blitz in sein Haus einschlüge? Der Kriminalhauptmeister schüttelte den Kopf über diesen Schwachsinn. Alles dummes Zeug! Aber seine Frau hatte an den Lippen des Walter Brandt gehangen, der mit total ernster Miene auch noch von Zwergen zu berichten wusste, die bevorzugt in gelber Kleidung zu erscheinen pflegten. Also er, Horst, war noch nie einem Zwerg im gelben Overall begegnet; wenn er ganz ehrlich war, überhaupt noch keinem Zwerg. Das hatte er auch seiner Frau gesagt. Aber die fand den Vortrag des Aberglaubenforschers unglaublich interessant und schimpfte ihn einen Banausen! Ob Annalena Brandt Abend für Abend von ihrem Vater solche Geschichten hören musste? Das würde erklären, warum sie manchmal so durch den Wind war. Wie schrecklich: In allem und jedem Zeichen zu sehen. Wenn er bei jedem gelben Hund gleich daran denken müsste, dass dieser die tragische Wiedergeburt eines Verstorbenen sei, der nun in Gestalt eines Vierbeiners unerledigte Dinge zu regeln hätte, da würde selbst ihm übel.

„Gelb, gelb, gelb … was für ein Gedöns um diese nervige Farbe“, fluchte er nun. Und was für verrückte Aberglauben, die damit zusammenhingen. Gegen Nervenleiden, Melancholie und Besessenheit half angeblich die goldgelbe Zwiebel eines Türkenbundes, jedoch nur, wenn man sie wie ein Amulett ständig bei sich trug. Gab es diese Lilienart überhaupt in Kalverode? Man sollte einen derart mystischen Quatsch polizeilich verbieten. Horst Toplischek, der in seinem über fünfzigjährigen Leben noch nie an Melancholie oder gar Selbstzweifeln gelitten hatte, erinnerte sich jäh an ein weiteres Detail dieses Vortrages, den er Annalena und seiner Frau zuliebe besucht hatte und auf den hin Maria Toplischek voller Begeisterung das Aberglaubenbuch des einstigen Lehrers gekauft hatte. Reine Geldverschwendung!

Hatte der alte Brandt nicht auch warnend von der Farbe Gelb gesprochen und mahnend verkündet, gelb eingepackte Geschenke brächten nichts als Unglück? Auf jeden Fall war Maria Toplischek gleich beim Heimkommen in die Vorratskammer gestürzt und hatte das dort gelagerte Geschenkpapier mit aufgemalten Strahlesonnen in die Papiertonne geworfen. Horst stutzte. Vielleicht hatte ja die Uhlenbrock von einer oder sogar von all ihren Kegelschwestern mal was Gelbes mitgebracht bekommen, das ihr kein Glück gebracht hatte. Ein gelbes Tuch, eine gelbe Blumenvase?

Oder lag das Ganze noch weiter zurück? Die Ehe der Uhlenbrock sollte ja auch eine mittelschwere Katastrophe gewesen sein, eine der ersten Scheidungen der Stadt. Gelbe Blumen bei Hochzeiten bedeuten Unglück, gelbe Flecken am Finger bringen Verdruss, erinnerte er sich kopfschüttelnd und beschloss somit spontan, der Sache auf den Grund zu gehen. In der Diele des Alten Amtshauses zwängte er sich in seine dicken Schnürstiefel und griff nach dem blauen Polizeianorak an der Garderobe. Darunter hing ein gelber Schal. Horst Toplischek erschauderte.

„Bin mal kurz weg“, informierte er die überrascht schauende Hedwig und schon fiel die Tür hinter ihm zu.

*

Breitbeinig stand er etwa viereinhalb Minuten später vor der Holztheke des Fotoladens, unter dessen Glasplatte sehr kleine Digitalkameras mit sehr hohen Preisen lagen. „Ich muss mal ins Archiv.“

Der Besitzer des Fotostudios schüttelte den Kopf. „Da kann ja jeder kommen. Es gibt das Recht am eigenen Bild. Schon mal davon gehört?“

Horst hatte mit diesem Protest gerechnet. Der Kalveroder Promifotograf neigte dazu, jede Art der Konversation in aufmüpfigem Ton zu führen und erst einmal alles infrage zu stellen und abzuwehren. Dennoch liefen ihm die Leute die Bude ein, denn er war ein guter Fotograf und hatte den richtigen Blick. Auf seinen Bildern fühlte sich jeder als etwas Besonderes.

Horst zückte seinen Polizeiausweis und verkündete den magischen Satz: „Gefahr in Verzug! Ich brauche die Hochzeitsbilder von der Uhlenbrock, Nicole Uhlenbrock. Und zwar sofort!“

„Was, das ist doch schon fast fünfundzwanzig Jahre her!“

„Ebend. Und vor allem brauch ich die in Farbe.“

„Klar doch, Farbfotografie gibt es schon seit den Dreißigerjahren des letzten Jahrhunderts“, belehrte der Meisterfotograf ihn und zog die Stirn kraus. „Die Ehe hat ja nicht so lang gehalten, wenn ich mich recht erinnere?“

„Nicht mal ein Jahr“, bestätigte Horst und fügte ungewöhnlich vertraulich hinzu: „Der Grund dafür könnte auf den Bildern zu sehen sein.“

„Da bin ich aber mal gespannt!“ Der Fotograf ging Richtung Archiv und tippte sich vielsagend an die Stirn. Dieser Toplischek wurde auch immer komischer.

„U …“ hörte der Kriminalhauptmeister den Ladenbesitzer murmeln. „Na ja, zum Glück fangen nicht allzu viele Leute mit U am. Bei V hätten wir es schon schwerer gehabt, mit den ganzen holländischen vans und vens und den unsrigen Vortkamps und Vennhoffs.

„U … Na so was, da haben wir’s ja schon.“ Er kam in den Verkaufsraum zurück „Was hab ich gesagt, sechsundzwanzig Jahre ist das schon her.“ Er öffnete den Umschlag. „Was für ein schönes Paar!“

Die damals neunzehnjährige Nicole sah wirklich fantastisch aus, sie strahlte im weißen Kleid und bedeckte mit der rechten Hand ihr kleines aber unübersehbares Bäuchlein. Offensichtlich trug sie ihren einzigen Sohn Sebastian unter dem Herzen. Neben ihr stand, im gleichen Maße steif wie stolz, der schon damals kahlköpfige Norbert Uhlenbrock, der die werdende Mutter nicht lange nach der Hochzeit verlassen hatte und ins Ruhrgebiet gezogen war.

Horst Toplischek war nur an einem Detail auf den Fotos interessiert: Die Braut hielt einen Strauß aus sieben Sonnenblumen und anderen gelben Blüten in der Hand. Der war offensichtlich schwer. Horst sah ihr an, dass sie viel Kraft brauchte, um ihn aufrecht in die Kamera zu halten.

„Ich nehme das Foto mit, als Beweis“, erklärte er in amtlichem Ton und ließ es in der Innentasche seines Anoraks verschwinden.

„Meinetwegen“, der Fotograf hob die Schultern. „Wenn’s der Wahrheitsfindung dient. Ich hab ja noch die Negative. – Aber da du schon mal hier bist: Stimmt das, was die Leute so sagen, ist Thekla Wissing wirklich tot? Ich will das gar nicht glauben!“

„Keine Zeit!“ Horst stürzte aus dem Laden.

*

Was für ein Glück, dass sie immer noch offiziell krankgeschrieben war. So bekam niemand aus der Arbeit mit, dass sie von der Polizei vorgeladen worden war. Ausgerechnet sie, eine unbescholtene Bürgerin, die sich noch nie etwas hatte zuschulden kommen lassen! Judith Kottig zog sich die pelzverbrämte Kappe tiefer ins Gesicht, ging in den Zeitungsladen und kaufte sich mit Todesverachtung eine Schachtel Zigaretten und ein Feuerzeug. Die brauchte sie nun einfach, egal was ihr nichtrauchender Verlobter dazu sagen würde. Was für eine nervige Fragerei! Dabei hatte sie denen doch schon alles erzählt. Sie biss sich auf die Lippen.

Es war einfach nur furchtbar gewesen, mit ihren Kegelschwestern an einem Tisch zu sitzen. Glücklicherweise war jeweils ein Beamter zwischen sie gesetzt worden, als ginge in der Inspektion das Gerücht um, sie könnten sich jederzeit gegenseitig die Augen auskratzen oder gar verprügeln. Na ja, wenn sie ganz ehrlich war: so abwegig war das ja nun auch nicht.

,Wenn es möglich wäre‘, dachte Judith nun und verbot es sich, bereits auf der Straße zu rauchen, also wenn es möglich wäre, würde sie die Zeit zurückdrehen und vor allem diesen einen Moment löschen, in dem sie schreckerstarrt gesehen hatte, dass da oben eine Kamera lief. Wer verdammt noch mal hatte das Ding da installiert? Etwa eine der Sterntalerinnen, die damit „reich und glücklich bis an ihr Lebensende“ werden wollte, wie es dem Motto ihres Clubs entsprach? Mit genau diesem Film und auf Kosten der anderen? Sobald sie daran dachte, stieg kalte Wut in ihr hoch und bestürzt wurde ihr bewusst, dass sie es jeder Einzelnen der noch Übriggebliebenen zutraute. Alles Verräterinnen. Und die schlimmsten Verräterinnen waren Iris und Thekla. Die Erste hätte ohne Rücksicht auf Verluste alles an die große Glocke gehängt, sobald sie ein Glas zu viel getrunken hatte – was eigentlich immer der Fall war – und Thekla als Zweite neigte von Haus aus dazu, selbst die ungeheuerlichsten Dinge unter dem Siegel der Verschwiegenheit weiterzutratschen und eine Peinlichkeit nach der anderen in die Welt zu setzen.

Eigentlich ganz gut, dass die beiden nun nicht mehr mitmischten.

Judith hielt sich an ihrer Zigarettenschachtel fest und atmete tief durch. Wie konnte sie nur so etwas denken? Thekla wäre doch niemals auf die Idee gekommen, dort in Italien eine Kamera zu installieren und selbst wenn: Sie hätte es gar nicht gekonnt. Sie war in technischen Dingen ein Kretin und konnte nach eigener Aussage nichts als putzen und leidlich kochen. Deswegen war ihr ja wohl auch der schmucke Kriminalhauptmeister mit der Elvis-Presley-Tolle weggelaufen.

Und die anderen? Oder gar die Männer der anderen? Mechthilds Kalle wäre ein solch infames Spiel, zumindest unter technischen Gesichtspunkten, zuzutrauen, doch der konnte nichts damit zu tun haben, da der ja an jedem Wochenende mit seiner Band auf Tournee ging und viel Energie darauf verschwendete, in ländlichen Tanzdielen selbst die schrägsten Heavy-Metal-Stücke auf einen erträglichen Foxtrottrhythmus umzufrisieren, damit auch die Generation über sechzig die Tanzfläche betrat. Und außerdem: Wenn Mechthild tatsächlich diese Sache inszeniert hätte, würde sie sich jetzt nicht gar so sehr aufregen. Sie neigte zwar dazu, alles total zu dramatisieren und in hysterischen Anfällen gipfeln zu lassen, aber lügen, richtig lügen, das konnte sie nicht.

Judith stapfte durch den Schnee und ging die Ehemänner ihrer weiteren Kandidatinnen durch. Nein, Freddy Feldkamp kam keinesfalls infrage. Der hatte eine große Klappe, konnte aber nur an Autos herumbasteln. Der hatte es ja bisher noch nicht einmal geschafft, Sandra ein Kind zu machen, dieser großmäulige Nebendarsteller des Lebens. Der hatte seine blasse Ehefrau in einer immerwährenden Warteschleife abgelegt – das hatte Iris wirklich gut gesagt! – und verfügte, außer in seiner Funktion als Gebrauchtwagenhändler, über keinerlei kriminelle Energien.

Was aber war mit Hildes Mann? Judith wäre fast auf einem Stück Glatteis ausgerutscht. Ingo Möllensiep? Niemals. Der kochte doch gedankenlos auf seiner Ölplattform vor sich hin, ließ währenddessen die Gattin emotional verhungern und blickte sowieso nichts. Wenn Judith mit einer Sterntalerin aus ihrem Verein Mitleid hatte, dann war das Hilde Möllensiep. Der wünschte sie wirklich ein bisschen Glück: so verloren und unglücklich, wie die in letzter Zeit aussah.

Sie erinnerte sich an den Konferenztisch der Polizeistation und daran, dass ausgerechnet Isabella Höhler ihr direkt gegenüber gesessen hatte. Wie von zwei Schutzengeln hatte die sich rechts von Kriminalhauptkommissarin Melanie Dierks und links von Hedwig Hagenkötter einrahmen lassen und wirkte mal wieder absolut perfekt. Da konnte kommen was wollte: Der Höhler sah man nichts an, nicht mal damals, als ihr Chef ermordet wurde, hatte die einen Hauch an Blässe gezeigt. Aalglatt war die. Solche wie Isabella funktionierten immer, als Sparkassendirektorin, als Freundin und als Komplizin in finsteren Geschäften. Und solche wie die machten garantiert auch immer, was andere von ihnen verlangten.

Judith stellte sich vor, dass Isabella zu diesen Filmaufnahmen erpresst worden war und die plötzliche Erkenntnis, dass das nicht ganz von der Hand zu weisen war, machte ihr Angst. Bei der Höhler hätte ja nur irgendein Kerl aufzutauchen und diesen Verrat an ihren Kegelschwestern zu verlangen brauchen: Sie funktionierte immer. Hatte sie selber zugegeben. Angeblich konnte sie nicht anders. Weil sie ja ein missbrauchtes Kind war. Und mit so was spaßte man ja nun wirklich nicht.

Judith Kottig beschloss, sich vor Isabella zu schützen und nie wieder ein Wort mit der zu reden, was ihr letztlich selbst unlogisch erschien, denn sie hatte ja sowieso fest vor, mit keiner von denen jemals wieder zu sprechen.

Mit gesenktem Kopf ging sie nun am Kindergarten vorbei, aus dessen verschlossenen Fenstern das übliche Geschrei und Gezeter zu hören war. Sie wünschte sich auch Kinder. Die sähen dann aus wie kleine Ennos. Am besten gleich auf einmal drei oder vier, die sich miteinander beschäftigten und sich gegenseitig erzogen. Dann gäb es nur einmal den Stress des Gebärens.

Wie die Uhlenbrock heute wohl ihr morgendliches Fernbleiben aus dem Kindergarten begründet hatte? Die Uhlenbrock … Judith Kottig blieb mitten auf der Straße stehen. Was wäre, wenn die ihren Sohn zu dieser absolut gemeinen und hinterhältigen Aktion überredet hätte und nun lächelnd und grinsend im Verwaltungszimmerchen ihres Kindergartens saß und in ihrer Arbeitszeit Erpresserbriefe schrieb? Vielleicht lag ja schon einer in ihrem Briefkasten?

Judith Kottig merkte, dass ihr übel wurde und sie switchte in Gedanken zu ihrer nächsten Kegelschwester: Maren Lisowski? Ach Gott, diese Transuse gab es ja auch noch. Das war eine, die immer nur mitlief, die selber gar nicht aktiv werden konnte. Wie ein Trüffelschwein schnüffelte sie an den Leben anderer, ließ sich Gefühle aus Büchern und Filmen liefern, um überhaupt mitreden zu können. Tat ja auch nicht so weh. In Büchern konnte frau weiterblättern, beim Film auf Schnelldurchgang schalten. Dann blieb die erzählte Geschichte ein Bogen aus Licht. Schattenlos. Die Geschichte mit ihrem längst verschwundenen Prinzen hatte ihr keine der Sterntalerinnen abgenommen.

Was hatte sie, Judith Kottig, eigentlich mit all diesen schrägen Weibern zu tun? Nichts, beschloss die Fremdsprachenkorrespondentin und steckte den Schlüssel in die Haustüre. Ihre Wohnung lag im zweiten Stock und war durch ein ungelüftetes und kaltes Treppenhaus mit vier Blechbriefkästen zu erreichen. Sie blickte durch den Schlitz hinter ihrem Namen. Da war nichts. Keine Post. Weder von Freunden noch von Erpressern.

In wenigen Monaten würde sie heiraten und dann in einen Bungalow ziehen. Mit ihrem Enno, der an der Universität in Enschede Textildesign unterrichtete und dessen Studenten immer noch keine besonders ausgefallenen Vorhänge für Judiths Bungalow entworfen hatten. Ein Skandal war wirklich das Letzte, was sie brauchte. Wäre sie nur niemals mitgefahren in dieses Hotel.

Wie Enno geguckt hatte wegen ihres Permanent-Make-ups. Ganz komisch. Als suche er nach Gründen, sich vor der Hochzeit zu drücken, dieser Feigling. Also wenn der nun die Geschichte von Montegrotto erführe und dann auch noch den Film sähe, dann hätte er einen Grund zum Rückzug. Und was für einen.

Zu blöd, dass Markus Wissing nicht mehr ermittelte. Wenn sie dem schöne Augen gemacht hätte, hätte der ihr sicher einige Details verraten, was ihrer Strategie zugutegekommen wäre. Sie hatte aber auch ein Pech.

Gestern noch hatte sie sich gewünscht, dieser Wissing möge sich nicht mit dem Fall befassen und schon gar nicht mit ihr. Sie hatte seine Blicke gespürt und sein Interesse. Aber dass es so kommen würde, hatte sie wirklich nicht gewollt. Thekla Wissing lebte nicht mehr. Wer ihr das wohl angetan hatte? Ob Markus Wissing um sie weinte?

*

„Guck dir das mal an, wie findest du das?“ Horst Toplischek war ganz nah an Annalena herangetreten und wedelte ihr das Hochzeitsbild von Nicole und Norbert Uhlenbrock unter die Nase. Instinktiv lehnte Annalena sich zurück. Eine Zeit lang hatte sie gedacht, es sei mit Horsts Mundgeruch vorbei, aber jetzt und in dieser Sekunde wurde sie eines Besseren belehrt.

„Was soll ich damit?“ Sie schüttelte den Kopf. „Und komm mir bitte nicht so nahe. Wo warst du eigentlich die ganze Zeit? Und warum diese Mail wegen der Blüten und dann bist du weg? Was ist eigentlich los?“

„Die gelben Blüten sind jetzt Nebensache“, behauptete Horst. „Die sind identisch und damit basta. Aber das hier ist viel interessanter.“ Er hielt ihr erneut das Foto vor die Augen und tippte mit dem Zeigefinger auf die Braut. Guck mal da. Siehst du was? Fällt dir was auf?“

„Meine Güte, komm erst mal wieder zu dir. Was soll mir denn da auffallen? Ein Hochzeitsbild ist wie das andere.“

„Der Blumenstrauß“, zischte Horst und seine Speicheltröpfchen verteilten sich wie ein feiner Regen auf Annalenas Computertastatur.

Sie schüttelte sich.

„Dass dein Vater die nicht gewarnt hat“, sagte Horst vorwurfsvoll. „Der hätte was machen müssen. Echt! Unbedingt! Damals schon!“

„Mein Vater, was hat der denn damit zu tun?“

„Der forscht doch in Sachen Aberglauben. Der weiß doch, dass das Unglück bringt, so, wie die da aussieht auf dem Bild.“

Annalena wusste immer noch nicht, was er wollte und griff nach seinem Arm. „Horst, bitte, beruhige dich erst mal. Und setz dich hin. Und dann noch mal ganz von vorn. Was um Himmels willen ist denn ausgerechnet an diesem Bild so besonders?“

„Ja siehst du das denn nicht?“ Er starrte sie ungläubig an.

„Das Einzige, was ich sehe, ist ein glückliches Brautpaar.“ Die Kommissarin bemühte sich um Fassung.

„Und der Blumenstrauß?“, sein Einwurf klang lauernd.

„Sehr schön. Wenn ich jemals heiraten sollte, so wäre das auch im Sommer, allein wegen der Sonnenblumen.“ Sie dachte an Friedemann, der sicher einer Meinung mit ihr wäre, und alles war wieder gut. Horst wunderte sich über ihr Lächeln.

„Bloß nicht, Annalena, versprich es mir. Gelbe Blumen bringen Unglück. Jetzt weiß ich es. Und dein Vater hat es immer schon gewusst. Und er hat die Nicole nicht gewarnt. Das nehme ich ihm übel. Kannste ihm ruhig ausrichten.“ Er schnaufte dramatisch und ließ sich dann auf den Stuhl fallen.

„Davon weiß ich nichts.“ Annalena sah auf das Datum der Eheschließung. „Das war vor meiner Zeit. Gelbe Blumen bringen also Unglück?“

„Ja, und was für eines!“ Toplischek nickte.

Annalena stützte ihr Kinn auf die Handfläche und sah ihn lange an. „Was willst du mir damit genau sagen?“

„Dass die gelben Blüten ein Zeichen sind. Jemand züchtet gelbe Blumen, nee, eigentlich ist es andersrum: Jemand züchtet Unglück und verteilt es hier in Kalverode.“

Die Kommissarin schüttelte den Kopf. „Sag mal, hast du was getrunken? Oder zu wenig Schlaf gehabt? Ich mach mir wirklich Sorgen. Bist du bei irgendjemandem in der Hexenküche gelandet, wer hat dir welche Drogen gegeben?“

Horst schwieg.

„Du solltest Fakten sammeln, Material analysieren, entsprechende Schlüsse ziehen und immer wieder neue Fragen stellen. Stattdessen tauchst du ins Mystische ab, ausgerechnet du. Bisher hielt ich dich für den größten Zweifler.“

Während sie sich reden hörte, dachte sie, dass noch vor wenigen Monaten der Kriminaloberrat die gleichen Worte in genau dem gleichen Ton an sie gerichtet hatte. Und, verdammt noch mal, er hatte recht gehabt. Bewusst bemühte sie sich seitdem, dem Metaphysischen aus dem Weg zu gehen. Aber da gab es diesen Spökenkieker namens Friedemann. Dem wollte sie nicht aus dem Weg gehen. Den riss sie sich nicht aus dem Herzen. Der brachte Licht in diese dunklen Tage.

„Schau mal Horst“, dozierte sie weiter und ihre Stimme klang weich: „Wir dürfen uns da nicht verrennen, verstehst du, wir sollten unseren gesunden Menschenverstand nutzen, um diesen Fall so schnell wie möglich zu lösen. Und du willst mir ja wohl nicht sagen, dass die Uhlenbrock was mit den Morden an zwei ihrer Freundinnen zu tun hat. Sie spinnt vielleicht ein bisschen mit der Farbe Gelb, aber das geht uns nichts an. Wir sollten Polizeiarbeit machen und keine Fotos von Hochzeiten ausgraben, die mehr als fünfundzwanzig Jahre zurückliegen. Kümmer dich lieber um die Hauswurz. Wo verdammt noch mal steht der Topf dazu?“

Horst strich sich durch den grauen Bart und hob die Schultern.

„Und überhaupt: Mein Vater hat definitiv nichts mit dem Unglück der Uhlenbrock und deren gescheiterter Ehe zu tun“, legte Annalena nach. „Er beschäftigt sich erst seit fünf Jahren mit der Aberglaubenforschung. Wenn da was schief ging bei Nicole, damals konnte er sie noch nicht warnen.“

„Versprich mir“, murmelte Horst und klang besorgt, „dass du weder in Gelb heiratest noch einen gelben Blumenstrauß trägst.“

Seine Chefin lächelte: „Versprochen.“ Und dabei ertappte sie sich bei dem Gedanken, Cornelia Schmidt-Hövelhoff einen fetten gelben Blumenstrauß zu schenken, damit sie sich ein Bein bräche und nicht mehr ins Haus des Vaters kommen könne. Das tat gut!

*

Melanie Dierks kannte sich schon so gut aus, dass sie kein Navi mehr brauchte, um zu den Zollhäusern zu fahren. Das Schneetreiben wurde dichter und dichter. ‚Jetzt also die Siebert‘, dachte sie, an der sich alle auf der Inspektion die Zähne ausbissen. Kitty Siebert, einstige Puppensammlerin und nun Architektin und Produzentin filigraner Miniaturlandschaften, die auf der Modelleisenbahn von Albert Hagenkötter ins Licht der Welt traten.

„Die ist schwierig“, hatte Hedwig ihr noch mit auf den Weg gegeben, aber Melanie kannte sich aus mit schwierigen Leuten. Sie selbst war ja auch nicht gerade einfach gestrickt. Und „schwierig“ – was hieß das schon?

Die Frau, die ihr öffnete, starrte sie an, als sei sie eine lästige Vertreterin von Dingen, die der Siebertsche Haushalt noch nie benötigt hatte, wie beispielsweise Ballettschuhe, Musikanlagen, Katzenkratzbäume, Klaviere, Kinderschaukeln oder Himmelbetten.

„Was ist?“ Die Stimme rau, die Stirn kraus. Der personifizierte Unwille.

„Ich komme von der Polizei. Bin eine Kollegin von Hedwig Hagenkötter. Sie haben mich sicher schon mal gesehen.“

Die Siebert nickte unwillig. „Ja und?“

„Vielleicht können Sie mir mit einigen Informationen aushelfen.“

„Das glaube ich nicht!“

„Kann ich trotzdem reinkommen?“

Umständlich entfernte Kitty Siebert die Sicherheitskette und seufzte demonstrativ. „Wenn’s sein muss.“ Ihr Haar war zu einem unordentlichen Dutt auf dem Hinterkopf festgesteckt, lange Strähnen fielen bis zur Rückenmitte.

Melanie schwieg und fasste sich an den Zopf, während die Siebert mit eiserner Hand nach ihr griff, sie in den dunklen Flur zog und die Türe hinter ihnen verriegelte. Dann angelte sie sich einen Stock von der hölzernen Garderobe und humpelte vor Melanie in ihre Küche. „Hab tagsüber nur hier den Ofen an“, rechtfertigte sie sich und wies auf einen eisernen Küchenherd sowie einen Korb mit gespaltenem Holz.

„Das ist aber gemütlich hier“, versuchte Melanie ein Gespräch, sah sich interessiert um und setzte sich, nachdem auch die Siebert saß.

Auf dem Küchentisch lagen Unmengen von Plastikteilchen verschiedener Größen, Formen und Farben, mehrere Klebstofftuben und winzige Schraubzwingen. „Ich habe schon gehört, dass Sie für die Infrastruktur auf der Eisenbahnlandschaft des Herrn Hagenkötter zuständig sind.“

„Jetzt kommen Sie schon zur Sache. Ich habe nicht viel Zeit.“ Die Siebert seufzte demonstrativ.

„Frau Wissing wollte Sie besuchen“, sagte Melanie.

Kitty Siebert schüttelte den Kopf. „Davon weiß ich nichts. Die war ja noch nie hier!“ Ihre Stimme hatte einen schrillen Unterton.

„Sie sagte dem Busfahrer, dass sie zu Ihnen wollte. Und sie ist nicht hier angekommen?“ Melanie tat erstaunt. „Oder waren Sie da vielleicht grad nicht zu Hause?“

„Ich bin immer zu Hause! Wo soll ich denn hingehen bei dem Wetter!“, fuhr Kitty sie an. „Klar, dass ihr euch jetzt um Thekla Wissing kümmert, aber dass ich bedroht werde von meinen Nachbarn, von den beiden verrückten Büschers, der eine steht immer am Fenster, guckt und raucht, und der andere macht nachts Feuerchen und Lärm, das interessiert euch nicht. Ich war schon bei euch und hab’s gemeldet, aber man muss wohl erst tot sein, bevor ihr ermittelt.“ Sie redete sich in Rage.

„An den Büschers sind wir dran“, log Melanie. „Annalena hatte die auch schon vorgeladen.“

„Und hat es was gebracht?“

„Das wird gerade von einem anderen Kollegen bearbeitet.“

„Kann ich mir schon denken, ihr wollt es ja gar nicht wissen. Wahrscheinlich habt ihr es der größten Trantüte von allen gegeben!“

Melanie fragte sich, wer wohl in Kittys Augen diese Trantüte sein mochte, hakte aber nicht nach. Stattdessen fragte sie: „Frau Wissing hat also weder bei Ihnen angerufen noch hat sie Sie besucht. Kann ich das so festhalten?“

„Sag ich doch die ganze Zeit. Und warum sollte die zu mir kommen? Hier kommt nie einer rein. Außer Friedemann.“

„Naja“, Melanie lächelte. „Ich bin ja jetzt auch drinnen.“

Sie sah, wie ihr Gegenüber schluckte. „Aber nicht mehr lange. Dort ist die Tür.“

Beim Aufstehen streifte sie mit ihrem Jackenärmel die Fensterbank, auf der Unmengen von Blumen in Töpfen überwinterten, und nahm aus den Augenwinkeln heraus eine gelb blühende Hauswurz wahr. Blitzschnell riss sie eine Blüte ab und ließ sie in ihrer Tasche verschwinden. „Wir sehen uns sicher bald wieder“, sagte sie ernst und bemühte sich, es nicht wie eine Drohung klingen zu lassen.

„Ist mir doch egal“, sagte Kitty, knallte die Tür hinter ihrer ungebetenen Besucherin zu, stellte den Gehstock an die Garderobe zurück und verschwand in ihrer Küche, um augenblicklich ihre Idee eines Gefängnisses mit Hochsicherheitstrakt im Miniaturformat zu realisieren.

22. Kapitel

Mit hängenden Schultern stand Kriminalhauptmeister Markus Wissing vor seiner gut zwanzig Jahre jüngeren Chefin. „Mir fällt beim Alleinsein die Decke auf den Kopf. In der einen Wohnung bin ich nicht daheim, und das Haus an der Mühlenstiege ist mir nun so was von fremd.“

„Warum erzählst du mir das?“, fragte Annalena.

„Lasst mich wieder mitmachen, bitte! Ihr braucht doch jetzt jede Hilfe.“ Markus schluckte.

„Die Tote ist deine Frau“, widersprach Annalena kopfschüttelnd und fragte sich, warum ihre Stimme so vorwurfsvoll klang.

„Wir waren schon lange getrennt“, entgegnete Markus. „Was uns verband, waren Streitereien und monatliche Rechnungen. Da kann ich nur von Glück reden, dass wir keine Kinder hatten.“

Annalena sah ihn lange an und unterdrückte den Impuls, auf ihn zuzugehen und ihn zu umarmen. Das hatte sie noch nie gekonnt: spontane Umarmungen, Herzlichkeit oder gar Freundschaftsküsse. Aus den Augenwinkeln nahm sie wahr, dass er sich instinktiv dagegen wappnete und erleichtert aufzuatmen schien, weil sie an ihrem Platz blieb.

„Also, was kann ich tun, gib mir eine Aufgabe“, forderte er bestimmt.

„Geh erst mal in dein Zimmer und an deinen Rechner und lies dir die Protokolle der letzten vierundzwanzig Stunden durch. Dann bist du auf dem gleichen Informationsstand wie wir“, schlug Annalena vor und suchte verzweifelt nach Worten des Trostes, auch wenn sie wusste: Theklas Tod war noch nicht wirklich zu ihm vorgedrungen und es gab keinen Trost. Was tot war, blieb tot. Da sollte man sich nichts vormachen!

Markus schob in Zeitlupe seine schwarz glänzende Elvis-Tolle zurück. Annalena vermeinte, darin ein erstes graues Haar zu entdecken. „Ja, und dann schick mich gleich irgendwohin, wo ich was prüfen kann oder so. Ich muss was tun, verstehst du?“

„Das geht nicht!“ Die Kommissarin schüttelte den Kopf. „Jeder weiß, dass Thekla deine Frau ist. Da kannst du nicht gleich am nächsten Tag in die Ermittlungsarbeit einsteigen, also wenn du was machen kannst, dann ist das einzig und allein reine Schreibtischarbeit.“ Sie sah ihn nachdenklich an. „Hast du eigentlich die Kontoauszüge deiner Frau durchgeguckt, ihre Sparbücher kontrolliert? Möglicherweise wurde sie erpresst.“

Er neigte den Kopf. „Wer sollte die denn schon erpressen? Nein, nein, da ist alles in Ordnung. Die hat keinen Pfennig zu viel ausgegeben, jeden Cent gespart, aber warum sie plötzlich alle Heizungen aufgedreht hat? Keine Ahnung. Übrigens hat sie sich in den letzten Wochen lauter Prospekte von Französischen Bulldoggen und Möpsen ins Haus schicken lassen. Ob die sich einen Hund zulegen wollte?“ Er überlegte laut und murmelte dann: „Na ja, vielleicht haben ihre Kegelfreundinnen was davon erzählt. Was meinst du?“

„Vielleicht in einem Nebensatz?“ Annalena hob die Schultern. „Aber du kannst dir gern noch mal die Audiodateien von heute Morgen anhören. Liegen alle im Zentralordner.“

„Mach ich.“ Markus nickte.

Annalena sah ihm nach. Frau Wissing und ein Mops! Ausgerechnet ein Mops. Der hatte die gleichen Speckfalten im Nacken, wie auch Thekla sie gehabt hatte. Ihr war schon oft aufgefallen, dass Hunde und Hundebesitzer sich irgendwie ähnlich sahen. Oder hatte Thekla etwa geplant, in ihrem großen Haus und Garten mit einer Mopszucht zu beginnen, und war dabei mit finsteren Gestalten zusammen gekommen, vielleicht sogar mit einer Tierzuchtmafia?

Sie griff zum Telefon und wählte Markus’ Nummer. „Sag mal, hast du auch ihre Korrespondenz der letzten sechs Monate durchgeguckt?“

Er schien zu nicken. „In den Ordnern war nichts Besonderes und auf dem Schreibtisch lag auch nichts Wichtiges rum – bis auf die komischen Hundebilder.“

„Und die elektronische Post?“

„Noch nicht. Aber das wär eine Idee: Ich hol mir ihren Rechner her und mach mich hier ans Werk.“ Er hörte sich schon wieder um einiges munterer an.

Anschließend wählte die Hauptkommissarin die Telefonnummer ihres Ersten Spurensicherers. „Sag mal Horst, was ist mit der Blüte, die Melanie von der Siebert mitgebracht hat? Gleiche Quelle?“

„Was würdest du denn gerne hören?“, meinte Horst süffisant und ergänzte in dramatischem Ton: „Leider nein. Definitiv nicht.“

*

Sie hatte sich ganz fest vorgenommen, keine ihrer Kegelschwestern anzusehen, und sie hatte durchgehalten. Zusätzlich war es ihr gelungen, mit den Mitarbeitern der Polizeistation Kalverode nicht in Blickkontakt zu treten. Wozu auch? Was bildeten die sich eigentlich ein? Waren bisher zuständig gewesen für Falschparker, Sachbeschädigungen, Jagdwilderei und Denunziantentum und nun führten sie sich auf, als seien sie in der Lage, einen Mord aufzuklären, nein, nicht nur einen, sondern gleich zwei. Die doch nicht! Alles Schwachmaten! Nicole Uhlenbrock atmete tief durch. Das Schlimmste war ja hoffentlich geschafft. Jetzt würde sie da wohl nicht noch einmal antreten müssen, in diesem Verein voller Versager und Schwächlinge. Sie kannte jeden einzelnen von ihnen, entweder als Kindergartenkind oder als Elternteil eines ihrer Schützlinge. Und sie hatte von keinem eine hohe Meinung, wie sie überhaupt dazu neigte, grundsätzlich immer nur vom Schlimmsten auszugehen. So konnte sie nicht enttäuscht werden.

Seufzend gestand sie sich nun ein, dass ihr Lebensgefühl seit einigen Monaten in einer kontinuierlichen Spirale nach unten wies, und zwar beginnend mit dem Moment, als sie den Sterntalern beigetreten war. ‚Zu viel Unglück auf einem Haufen‘, dachte sie nun. Und anstatt sich gegenseitig davon zu befreien, hatte sich eine nach der anderen an der Schwere ihrer Schwestern angesteckt, um dann ausgerechnet in Montegrotto auf die Illusion eines Befreiungsschlags hereinzufallen. Befreit war seitdem keine von ihnen. Das hatte sie heute Morgen genau gespürt. Um das zu erkennen, brauchte sie die anderen gar nicht mal anzuschauen. Sie saßen nun alle im gleichen Boot und mussten sich gegenseitig vertrauen. Auf Gedeih und Verderb. Immerhin waren die beiden größten Schwätzerinnen schon ausgestiegen. Wenigstens das.

Mit finsterer Miene stapfte Nicole Uhlenbrock nun an ihrem Kindergarten vorbei. Nein, diese kleinen Ungeheuer mit ihren schrillen Stimmen wollte sie sich heute nicht auch noch antun. Sie griff nach dem Handy und rief ihre Stellvertreterin an.

„Schon wieder Migräne?“, fragte die.

„Ja“, log Nicole Uhlenbrock und merkte im gleichen Moment, dass sie lange nicht mehr einen so klaren Kopf gehabt hatte.

Keine von ihnen hatte das Format jener Promi-Frauen, die wie Wanderpokale von einem erfolgreichen Mann zum nächsten weitergereicht wurden und mal an der Seite eines Fußballprofis, mal neben einem erfolgreichen Popstar glänzten und immer und in allen Belangen perfekt, kompetent und allwissend schienen. Sie und die anderen Sterntaler zählten eher zur Gattung der Dutzendware, aber das hieß noch lange nicht, dass sie nicht auch ein Recht auf Glück hatten.

Nicole schloss die Tür zu ihrem schiefergrauen Häuschen auf und fegte resolut den schweren Windfang aus dunkelrotem Samt zur Seite. Dann stellte sie die feuchten Moon Boots auf ein Abtropfrost, schälte sich aus Mantel und Mütze und schaltete den Wasserkocher ein. Anschließend das Deckenlicht ihrer Küche. Sie brühte sich einen grünen Tee auf, stellte sich ans Fenster und wärmte sich die kalten Hände an der heißen Tasse.

Wie konnte die Benkhoff nur ein Hotel buchen, in dem es gelbe Sitzgruppen gab! Die wusste doch von ihrer Gelb-Phobie.

Aber egoistisch wie Mechthild nun mal war, hatte sie allein den Sonderrabatt und die wunderbare Wellnesslandschaft im Auge gehabt und konsequent alle Informationen von und über ihre Kegelschwester Nicole ausgeblendet. Andere waren der eben egal! Ganz anders dagegen Iris: Die hatte verdammt gut Bescheid gewusst über jede einzelne von ihnen und Nicole fragte sich immer noch, woher die all diese Infos hatte und warum Iris gleich am ersten Abend so vom Leder ziehen musste. Keine Ahnung, welcher Teufel die geritten hatte, doch es war einfach nur furchtbar gewesen.

Während acht Sterntalerinnen mit einem Glas Prosecco in der Hand und begossenen Pudeln gleich in der Sitzgruppen-Landschaft saßen, war die neunte – Iris Zentner – furiengleich vor ihnen auf- und abgeschritten und hatte jeder einzelnen von ihnen das um die Ohren geknallt, was sie als Wahrheit bezeichnete. Warum? Und hatten sie sich das wirklich anhören müssen?

„Nein“, sagte Nicole nun laut zu ihrer schiefergrauen Küche und ihre Stimme hörte sich kindergartenstreng an. Keine einzige von ihnen hatte das nötig gehabt, aber niemand hatte widersprochen. Und es wäre garantiert nicht passiert, wären da nicht diese knallgelben Sitzgruppen gewesen. Darauf würde Nicole heute noch wetten. „Hysterientusse“, hatte Iris zu ihr gesagt und: „Du bist doch ein Kontrollmonster.“ Nicole biss sich auf die Lippen. Ihre Hände zitterten. So eine Frechheit! Die Zentner hatte keine Ahnung. Was die Kontrolle nannte, war doch nichts als liebevolle Fürsorge.

Und dann war Iris noch mit der Uhlenbrockschen Ehe gekommen, ausgerechnet die Zentner, die zwei vaterlose Kinder großzog und die für den heiligen Bund der Ehe nur unerträgliche Verachtung übrig hatte. Nicole fasste sich an den Kopf, als könne sie erneut Iris’ vorwurfsvolle Stimme hören: „Dein Norbert hat es ja auch nicht bei dir ausgehalten!“ Nicole biss wütend auf den Tassenrand. Woher wollte die das denn wissen? Die hatte Norbert Uhlenbrock doch gar nicht gekannt, als der ging, war die doch noch ein Kind. Obwohl, jetzt im Nachhinein und wenn sie ganz ehrlich zu sich war, dachte Nicole auch ab und zu, dass es ein bisschen übertrieben gewesen war, alle zwei Stunden bei ihrem Mann anzurufen. Damals. Aber sie war jung gewesen und sie war verliebt und sie trug sein Kind unter ihrem Herzen, und sie wollte doch nur immer wieder von ihm hören, dass er pünktlich heimkam, dass er sie absolut und total liebte und dass er immer bei ihr bleiben würde. „Du bist dem viel zu sehr auf die Pelle gerückt“, hatte Iris vor allen anderen verkündet. „Deswegen ist er gegangen. Das hält ja keiner aus! Der konnte doch kein freies Leben führen. Hätte es damals schon so was wie ein Navi gegeben, du hättest ihn wie einen Sender ausstaffiert und von morgens bis abends jede seiner Bewegungen am Computer verfolgt, am besten auch noch jeden Satz abgehört. Gib zu, dass das verrückt ist! Big Mother is watching you! Das ist doch krank! Und geheilt bist du davon immer noch nicht.“

Zu dem Zeitpunkt hatte die Zentner die Prosecco-Flasche bereits gegen einen bauchigen Grappa-Flakon getauscht, aus dem sie tiefe Schlucke nahm.

Als Nicole erneut daran dachte, schwitzte sie noch einmal vor Scham und Wut. Okay, jede einzelne von ihnen hatte auf diese Art von Iris die Leviten gelesen bekommen, und deswegen waren sie auch kurz darauf schweigend in ihren Einzelzimmern verschwunden. Nicole hatte sich die ganze Nacht geärgert und sich dann zum Permanent-Make-up eine Einzelkabine gebucht. Nur, um den anderen aus dem Weg zu gehen. Und all die anderen hatten die gleiche Idee gehabt. Sogar Iris.

Es gab zwölf Kabinen im Centro di Benessere und neun davon waren mit schweigenden Sterntalerinnen belegt, denen zunächst die Augenbrauen gezupft und dann in einem dunkleren Ton nachtätowiert wurden, deren Lippenlinien dezent verbessert und befüllt wurden und deren Wimpern auf kleinen Wattepads lagen und in schwarzer Tusche schwammen, und alle von ihnen hatten die Behandlung schweigend über sich ergehen lassen, nicht einmal gehustet oder sich geräuspert, als müssten sie sich voreinander verstecken. Aus dem italienischen Radio plärrte im gleichen Verhältnis Musik und Werbung.

Beim Abendessen dann gespieltes Erstaunen über die jeweiligen Verwandlungen, aber kein fröhliches Gelächter, keine Albernheiten, kein Gekicher. Nicole fragte sich nun, ob sie falsche Erwartungen gehabt hatte. War es naiv von ihr gewesen, sich ein Wochenende voller Lachsalven und verdrehtem Gekreische vorzustellen, bei dem ein Wort das andere gab, alles zweideutig schien, hintersinnig, absurd und komisch und sich alle grölend auf die Schenkel klopften und wie auf Kommando losprusteten?

Noch sehr gut konnte sie sich an Nachmittage ihrer Kindheit erinnern, Namenstags- und Geburtstagskränzchen ihrer Mutter und ihrer Tanten, an denen die Erwachsenen prustend über Witze gelacht, jedes Wort auf die Spaßwaage gelegt, rotgesichtig nach Luft geschnappt und dabei Kaffee verschüttet hatten. Eine solche Stimmung hatte sie sich auch von ihrer Tour nach Montegrotto erhofft. Einmal so unhinterfragt sinnlos albern zu sein wie ihre Kindergartenkinder.

Doch an diesem Abend, als sie mit geschwollenen Gesichtern vor ihren Penne arrabiata saßen und mit zitternden Händen nach den Weißweingläsern griffen, war es schon zu spät gewesen; sie hätten abreisen müssen und nicht verzweifelt nach Auswegen suchen dürfen.

Klar, dass sich da die netten Herren vom Nachbartisch anboten. Auch die auf Kegeltour, auch sie zu neunt, alle aus Hannover. Gediegene Herren. Neun Sterntalerinnen trafen auf neun Niedrige Sachsen! Das passte doch! Und warum auch nicht? Vermutlich hatte das jede von ihnen gedacht. Bloß nicht mehr alleine sein mit den Schwestern, denen noch der Schreck des gestrigen Abends ins Gesicht geschrieben stand, mit einer immer derber werdenden Iris und der Gewissheit, dass jede einzelne von ihnen Dinge über die anderen erfahren hatte, die sie besser nicht wusste.

Nicole erinnerte sich, dass sie einfach dichtgemacht hatte. Keine Wünsche mehr, keine Erwartungen, einfach nur noch die Zeit totschlagen. Jetzt fragte sie sich, warum sie nicht nach Padua gefahren und einen Zug genommen hatte. Gut, es wäre umständlich gewesen, aber sie hätte sich sehr viel erspart und würde sich heute um einiges besser fühlen. Vermutlich hatte sie an jenem Freitagabend keine Zeit für diesen Gedanken gehabt, denn Mechthild Benkhoff als selbst ernannte Kegelmutter hatte sich der Kontaktaufnahme der Hannoveraner nicht widersetzt, ihre Schwestern mit einem kritischen Blick gestreift und interessiert behauptet: „Klar freuen wir uns über ein bisschen Gesellschaft, zumal, wenn es eine so nette ist.“

Bei der Erinnerung daran schüttelte Nicole nun den Kopf. Ehe sie sich versahen, hatten sie dort in Italien dann genauso dagesessen, wie heute auf der Polizeistation, immer abwechselnd: eine Kegelschwester und ein sportlich gekleideter Herr aus Hannover. Ob ihnen das Hotel gefiele, wurden sie gefragt, und was sie vom Wellnessbereich hielten. „Ach ja, dieses Norditalien! Da muss man mit Textilien in die Sauna gehen.“ Nicole erinnerte sich schaudernd an das laute Lachen von Iris. Das war jetzt verstummt.

„Sie müssen nicht unbedingt in diesem Hotel bleiben“, sagte derjenige der Herren, der den Vorsitz zu haben schien.

„Ich weiß nicht.“ Mechthild zierte sich naturgemäß. „Wir haben dieses Hotel gebucht. Hier ist es doch schön.“

„Es gibt Plätze ganz in der Nähe, da ist es noch viel schöner“, wurde ihr versprochen.

In der Lobby des Bellavista erklang Tangomusik.

Zum ersten Mal seit mehr als einer Woche dachte Nicole an die neun Männer zurück und schüttelte sich. Erfolgreiche Geschäftsleute, alle zwischen fünfzig und sechzig. Auf die mussten die bis zu zwanzig Jahre jüngeren Sterntalerinnen wie eine leicht beeinflussbare Kindergartengruppe gewirkt haben. In all ihren Reden vermittelten sie den Frauen zwischen den Zeilen: „Nur wer erfolgreich ist, kann sich ein solches Wochenende leisten.“ Und die kleinstädtischen Sterntalerinnen hatten sich aufgewertet gefühlt.

„Hey, hört mal“, hatte einer von ihnen dann gesagt und sie alle wie selbstverständlich geduzt, denn offensichtlich entstammte er wie die anderen Herren der Klasse der Schönen und der Reichen. „Wir könnten euch was anderes zeigen, etwas viel Aufregendes. Absolut exklusiv.“ Ein Freizeitcenter, das man in Norditalien nicht vermuten würde und ausgerechnet Thekla, die brave und biedere Thekla, hatte zustimmend gerufen: „Ja, warum nicht? Her damit.“

Inzwischen wusste Nicole, dass Thekla keinen Alkohol gewohnt war. Die zwei Glas mit dem perfekt gekühlten Weißwein waren ihr ohne Umwege in den Kopf gestiegen. „Meine Damen, wir würden uns freuen, wenn wir Sie einladen dürften“, hatte einer der Herren getönt, während alle anderen ermutigend nickten.

Nicole fragte sich, ob eine von ihnen wirklich „Ja“ gesagt hatte. Sie konnte sich nicht erinnern, aber ehe sie sich versah, parkten auch schon sechs Taxen vor der gläsernen Flügeltür des Bellavista und sie stiegen jeweils zu dritt in die Wagen und ließen sich an einen außergewöhnlichen Ort fahren, von dem Nicole sich jetzt wünschte, sie wäre niemals dort gelandet und könne alle Bilder, die seitdem ihre Träume verschmutzten, für immer vergessen. Dabei waren dort weder Teppiche, Sessel, Kissen oder Vorhänge durch die Farbe Gelb entstellt gewesen.

*

Markus Wissing hörte sich bereits zum zweiten Mal die Stelle an, an der Judith Kottig bei der Besprechung am Vormittag gefragt hatte: „Wo ist Markus?“ Worauf ausgerechnet der besserwisserische Horst in einem pseudovertraulichen Ton verkündet hatte: „Der ist befangen. Thekla war ja seine Frau. Auch wenn sie nicht mehr zusammengelebt haben. Deswegen ist der grad außen vor.“

Judith hatte nicht nach dem Kriminalhauptmeister gefragt und auch nicht nach Herrn Wissing, sondern allein nach Markus, als seien sie schon sehr vertraut miteinander und als sei es bereits ausgemacht, dass sie ihn nach Italien begleiten würde, falls es dazu käme.

Krampfhaft überlegte er nun, wie er es drehen und wenden könne, damit man ihn nach Montegrotto schickte. Ihm fiel nichts ein. Er spielte sich das Band noch einmal vor. So einsilbig kannte er die Damen gar nicht. Vor allem die Friseuse Mechthild Benkhoff, die laberte einen doch sonst in Grund und Boden. Und Isabella Höhler als knallharte Geschäftsfrau fuhr grundsätzlich jedem erst einmal über den Mund, das hatte er selbst erlebt, als er mal wegen eines Kredites bei ihr vorstellig geworden war.

Aber nicht bei dieser frühmorgendlichen Befragung. Er wusste nicht, wie er die Stimmung deuten sollte: bedrückt oder verstockt – möglicherweise auch beides? Frauen …, er verstand sie einfach nicht. Erzählten, dass sie sich ein schönes Wochenende machen wollten, und flackten dann nur im Schönheitssalon rum. Billig war es auch nicht gewesen. Er hatte sich in Theklas Bankauszüge hineingeloggt. Da war ganz schön was abgebucht worden von diesem Centro di Benessere. Also die, die nahmen es wirklich von den Lebenden. Das würde ihm nun an seinem Erbe fehlen, denn alles was Thekla gehörte, gehörte, da sie noch nicht geschieden waren, nun ihm. Er fragte sich, was er damit machen sollte.

Ob Judith zu ihm in die Mühlenstiege ziehen würde? In Theklas Haus? Er hatte keine Ahnung, ob sie gebunden war oder nicht. Ihre Stimme hatte so besorgt geklungen, als sie bei der Vormittagsbesprechung wissen wollte, wo er stecke. Erneut spielte er sich die Frage vor. Das klang wunderbar.

Die gute Hedwig Hagenkötter hatte, perfekt wie sie nun einmal war, von allen Befragten die Personalien aufgenommen, und Markus Wissing öffnete nun die Anlage mit Judith Kottigs Namen. „Ledig“ stand dort unter „Familienstand“ und „keine Kinder“, dazu der Name ihres Arbeitgebers, die telefonische Durchwahl zu ihrem Büro, Judiths Adresse nebst Privatanschluss sowie die Nummer, unter der sie mobil zu erreichen war. Mit leichtem Herzklopfen schielte er auf ihr Geburtsdatum und registrierte, dass sie Sternzeichen Schütze war. Er selbst war im Zeichen Krebs zur Welt gekommen. Ganz früher, lange vor Thekla, hatte er eine Schützefrau gekannt, die sich ihm mit dem Satz vorgestellt hatte: „Mit beiden Füßen fest in den Wolken.“ Und die ganz wunderbar lachen konnte. Auch, wenn die Zeit mit ihr anstrengend gewesen war – dafür hatte er sich nicht eine Sekunde lang gelangweilt. Jetzt, so dachte er zuversichtlich, war er reifer und könne es daher durchaus mit einer Schützefrau aufnehmen. Wenn nicht er, wer sonst. Mit durchgedrücktem Kreuz trat er an den Spiegel und strich sich die schwarz gelockte Elvis-Tolle zurück. Zufrieden betrachtete er seinen Zweitagebart, sein markantes Kinn, die zusammengewachsenen Augenbrauen, und er fand, dass er eigentlich doch ein ganz attraktiver Kerl sei, und nun auch noch verwitwet. Das gab ihm garantiert einen tragischen Touch.

*

‚Kaum denkt man an den Teufel, schon ruft er bei einem an‘, schoss es Judith durch den Kopf, als sie Markus’ Stimme hörte. „Wie, Sie haben noch Fragen?“, reagierte sie unwillig. „Sie waren doch heute früh nicht dabei, weil Sie befangen sind und jetzt rufen Sie an? Versteh ich nicht. Und überhaupt: Es kann gar keine Fragen mehr geben, weil nämlich alles schon gesagt ist.“

Markus räusperte sich. „Ach, Sie wissen doch. Der Toplischek kann viel erzählen, weil er nämlich nichts zu sagen hat. Tatsache ist, dass der Kriminaloberrat und die beiden Hauptkommissarinnen mich gebeten haben, sie zu unterstützen.“ Er übertrieb weiter und vermittelte absolute Dringlichkeit: „Die brauchen jetzt jeden Mann. Da ist für Gefühle keine Zeit. Außerdem waren wir, also meine Frau und ich, also wir waren schon getrennt,“ und während er sich selbst zuhörte, fragte er sich, warum er ihr das alles so ausführlich erzählte? Sollte sie wissen, dass er von heute auf morgen wieder zu haben war? „Also“, fuhr er dann fort und legte eine dramatische Kunstpause ein, „ich habe mir das Band noch mal in aller Ruhe reingezogen. Sie wissen, was ich meine. Da gibt es durchaus Fragen. Und nicht nur eine.“

Judith wurden die Knie weich. Was meinte er mit „Band“? War der Polizei in Kalverode etwa schon die Aufnahme zugespielt worden, die von der italienischen Kamera gemacht worden war? Sie musste sich festhalten und Zeit gewinnen. Mit heiserer Stimme krächzte sie ins Telefon: „Sorry, ich hab mir grad ein Teewasser aufgesetzt, da muss ich Sie mal schnell zur Seite legen.“

Sie trank einen großen Schluck Wasser, lehnte sich gegen die Tischkante und versuchte, ihre Gedanken zu ordnen. Keine Chance.

Welche von den Frauen hatte den Film weitergereicht? Und vor allem: Wer hatte ihn ihr gegeben? Sie würde sie anrufen, eine nach der anderen, und ihnen so was von die Hölle heißmachen! Es war doch hoch und heilig ausgemacht gewesen, dass niemand jemals etwas davon erfahren dürfe. Und nun das! Eine Katastrophe.

Die rettende Strategie konnte in diesem Fall nur Freundlichkeit und Verbindlichkeit sein. Sie riss sich zusammen.

„Fragen?“, hauchte sie nun mit rauer Stimme ins Telefon und sah auf ihre zitternden Hände. „Da bin ich aber neugierig, welche Fragen Ihnen jetzt noch einfallen.“

Der Überraschungsangriff schien zu wirken. Er druckste herum. „Ja, es ist so, also eigentlich, ich meine, hat Thekla vielleicht was zu Ihnen gesagt am letzten Wochenende?“

Sie schüttelte den Kopf. Ein Wunder, dass er nicht gleich hinzugefügt hatte, „an ihrem letzten Wochenende“. Sie gewann langsam wieder Oberwasser. Der wusste offensichtlich doch von nichts. „Ach, Sie kennen ja Ihre Frau. In der Gruppe macht sie kaum den Mund auf, aber sobald man zu zweit nebeneinander auf dem Sofa sitzt, ja, dann erzählt sie schon mal was. Aber ich hab nun mal nicht neben ihr gesessen“, und während sie das behauptete, kam ihr die rettende Idee. „Wissen Sie, Thekla war eigentlich die ganze Zeit mit Iris zusammen.“

Jetzt war es Markus Wissing, der aufhorchte. „“