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ÜBER DEN AUTOR

Sir Arthur Conan Doyle wurde am 22. Mai 1859 in Edinburgh geboren. Er studierte Medizin und praktizierte von 1882 bis 1890 in Southsea. Reisen führten ihn in die Polargebiete und nach Westafrika. 1887 schuf er Sherlock Holmes, der bald seinen »Geist von besseren Dingen« abhielt. 1902 wurde er zu Sir Arthur Conan Doyle geadelt. In seinen letzten Lebensjahren (seit demTod seines Sohnes 1921) war er Spiritist. Er starb 1930 in Crowborough/Sussex.

ÜBER DAS BUCH

In Arthur Conan Doyles viertem Roman Das Tal der Angst erreicht Sherlock Holmes eine verschlüsselte Botschaft. Für ihn und Dr. Watson ist klar: Sie steht in Zusammenhang mit ihrem Erzfeind Professor Moriarty. Doch ehe die beiden handeln können, geschieht ein grausamer Mord.

INHALTSVERZEICHNIS

TEIL I
Die Tragödie von Birlstone

Die Warnung

Mr. Sherlock Holmes doziert

Die Tragödie von Birlstone

Dunkelheit

Die Personen des Dramas

Ein Licht dämmert herauf

Die Lösung

TEIL II
Die Scowrers

Der Mann

Der Logenmeister

Loge 341, Vermissa

Das Tal der Angst

Die dunkelste Stunde

Gefahr

Eine Falle für Birdy Edwards

Epilog

TEIL I

Die Tragödie von Birlstone

DIE WARNUNG

»Ich denke …« sagte ich.

»Das wäre ratsam«, bemerkte Sherlock Holmes unwillig.

Ich glaube, ich bin einer der langmütigsten Sterblichen; dennoch muß ich gestehen, daß mich diese hämische Unterbrechung ärgerte.

»Also wirklich, Holmes«, sagte ich unwirsch, »manchmal ist es mit Ihnen kaum auszuhalten.«

Er war zu sehr in seine Gedanken versunken, um meinen Vorwurf unverzüglich zu erwidern. Vor ihm stand sein nicht angerührtes Frühstück; auf eine Hand gestützt, starrte er auf einen Zettel, den er soeben aus einem Umschlag gezogen hatte. Dann nahm er den Umschlag selbst, hielt ihn vor das Licht und musterte sehr sorgfältig Vorderseite und Falzklappe.

»Das ist Porlocks Handschrift«, sagte er nachdenklich. »Wenn ich sie auch erst zweimal zu Gesicht bekommen habe, hege ich doch keinen Zweifel daran, daß das Porlocks Handschrift ist. Das griechische ›e‹ A1 mit dem eigenartigen Schnörkel oben ist bezeichnend. Wenn das Schreiben jedoch von Porlock kommt, dann muß es eine Sache von äußerster Wichtigkeit sein.«

Er sprach eher mit sich als mit mir, aber mein Ärger verschwand hinter dem Interesse, das seine Worte in mir erweckten.

»Wer ist denn dieser Porlock?« fragte ich.

»Porlock ist ein nom de plume, Watson, ein reines Erkennungszeichen, hinter dem sich allerdings eine gerissene, schwer faßbare Persönlichkeit verbirgt. In einem früheren Brief hat er mir frank und frei mitgeteilt, daß das nicht sein richtiger Name sei und er mir nicht zutraue, ihn unter den wimmelnden Millionen dieser großen Stadt jemals aufzuspüren. Porlock ist wichtig, nicht seinetwegen, sondern wegen des großen Mannes, mit dem er in Verbindung steht. Stellen Sie sich den Lotsenfisch neben dem Hai vor, den Schakal neben dem Löwen – irgend etwas Unbedeutendes verbündet mit etwas Furchtbarem. Nicht nur etwas Furchtbarem, Watson, nein, Unheilvollem – im höchsten Grad Unheilvollem. Daher gehört er in meine Interessensphäre. Habe ich Ihnen gegenüber schon einmal Professor Moriarty A2 erwähnt?«

»Den berühmten wissenschaftlichen Verbrecher? In Ganovenkreisen ebenso berühmt wie …«

»Sie machen mich schamrot, Watson«, murmelte Holmes abwehrend.

»Ich wollte sagen, ›wie er der Öffentlichkeit eine unbekannte Größe ist.‹«

»Touché – eindeutig touché!« rief Holmes. »Sie entwickeln einen gewissen Hang zu pfiffigem Humor, den ich Ihnen nicht zugetraut hätte; ich muß lernen, mich dagegen zu wappnen. Aber wenn Sie Moriarty einen Verbrecher nennen, sprechen Sie in den Augen der Justiz eine Verleumdung aus, und da liegen Glanz und Gloria der Sache. Der größte Ränkeschmied aller Zeiten, der Organisator jedweder Teufelei, das Zentralgehirn der Unterwelt – ein Gehirn, das die Geschicke ganzer Nationen im Guten wie im Schlechten lenken könnte: das ist unser Mann. Aber er ist über jeden gemeinen Verdacht so erhaben – so gefeit gegen jede Kritik – und so bewundernswert in seiner Fähigkeit, die Fäden in der Hand und sich selbst im Hintergrund zu halten, daß er Sie schon für die Worte, die Sie eben geäußert haben, vor Gericht zerren könnte und Ihre Jahresrente A3 als Schmerzensgeld für seine verletzte Ehre einstriche. Immerhin ist er der gepriesene Verfasser von Dynamik eines Asteroiden – einem Buch, das solch luftige Höhen der reinen Mathematik erklimmt, daß man behauptet, es habe sich in der gesamten Fachpresse kein Kopf gefunden, der imstande wäre, das Werk zu rezensieren. Ist das ein Mann, den man verleumdet? Der schandmäulige Doktor und der verunglimpfte Professor – so sähe die Verteilung Ihrer Rollen aus. Das ist eben Genie, Watson. Aber solange mich die kleineren Ganoven am Leben lassen, ist gewiß noch nicht aller Tage Abend.«

»Möge ich es miterleben!« rief ich inbrünstig aus. »Aber Sie haben vorhin von diesem Porlock gesprochen.«

»Ah, ja – der sogenannte Porlock ist ein Glied in der Kette, in kleinem Abstand allerdings von dem großen Brocken, an dem sie hängt. Unter uns gesagt, Porlock ist nicht gerade ein starkes Glied. In jener Kette stellt er sogar die einzige Schwachstelle dar, soweit ich das bisher überprüfen konnte.«

»Aber keine Kette ist stärker als ihr schwächstes Glied.«

»Genau, mein lieber Watson. Daher die außerordentliche Bedeutung von Porlock. Verlockt von rudimentären Anwandlungen eines Bedürfnisses nach Recht und ermutigt durch das klug dosierte Stimulans einer gelegentlichen Zehn-Pfund-Note, die ihn auf Umwegen erreichte, hat er mir ein- oder zweimal Vorabinformationen zukommen lassen, die von Wert waren – und zwar von jenem höchsten Wert, der es möglich macht, einem Verbrechen zuvorzukommen und es zu verhindern, statt es zu rächen. Gewiß würden wir feststellen, daß diese Nachricht von der erwähnten Art ist, hätten wir nur den Schlüssel dazu.«

Erneut strich Holmes das Stück Papier auf dem unbenutzten Teller glatt. Ich erhob mich, beugte mich über ihn und starrte auf die merkwürdige Mitteilung, die folgendermaßen lautete:

534 K2 13 127 36 31 4 17 21 41

DOUGLAS 109 293 BIRLSTONE

26 127 171

»Werden Sie daraus schlau, Holmes?«

»Es ist offensichtlich der Versuch, eine Geheiminformation zu übermitteln.«

»Aber welchen Nutzen hat eine verschlüsselte Nachricht ohne den Schlüssel?«

»In diesem Fall überhaupt keinen.«

»Wieso betonen Sie ›in diesem Fall‹?«

»Weil es viele Geheimschriften gibt, die ich mit der gleichen Leichtigkeit lese, mit der ich die Apokryphen der Seufzerspalte zu entziffern pflege. Solche durchsichtigen Spielereien ergötzen die Intelligenz, ohne sie zu erschöpfen. Aber das hier ist etwas anderes. Es handelt sich ganz klar um einen Hinweis auf die Wörter einer Seite in irgendeinem Buch. Solange ich allerdings nicht weiß, welche Seite und welches Buch, bin ich machtlos.«

»Aber weshalb ›Douglas‹ und ›Birlstone‹?«

»Weil dies offensichtlich Wörter sind, die nicht auf der fraglichen Seite stehen.«

»Warum hat er denn das Buch nicht angegeben?«

»Der Ihnen eigene Scharfsinn, mein lieber Watson, jene angeborene Schlauheit, die Ihre Freunde so sehr entzückt, würde Sie doch gewiß davon abhalten, Schlüssel und Nachricht in denselben Umschlag zu stecken. Gerät er in die falschen Hände, ist es um Sie geschehen. So aber muß schon beides sein Ziel verfehlen, um Schaden anrichten zu können. Unsere zweite Post ist bereits überfällig, und ich wäre sehr überrascht, wenn sie uns nicht entweder einen weiteren Brief mit einer Erklärung oder, was wahrscheinlicher ist, eben jenes Buch brächte, auf das sich diese Ziffern beziehen.«

Nur ein paar Minuten später erwies sich Holmes’ Berechnung als richtig, denn Billy, der Hausbursche, erschien tatsächlich mit dem Brief, den wir erwartet hatten.

»Dieselbe Handschrift«, bemerkte Holmes, als er den Umschlag öffnete, »und sogar unterschrieben«, fügte er frohlockend hinzu, nachdem er den Brief entfaltet hatte. »Na also, wir kommen vorwärts, Watson.«

Seine Stirn umwölkte sich jedoch, als er den Inhalt überflog.

»Meine Güte, das ist aber sehr enttäuschend! Ich fürchte, Watson, all unsere Hoffnungen werden zunichte gemacht. Ich hoffe nur, daß unserem Porlock nichts zustößt.

›Lieber Mr. Holmes‹, schreibt er, ›ich werde diese Angelegenheit nicht weiter verfolgen. Es ist zu gefährlich. Er verdächtigt mich. Ich kann sehen, daß er mich verdächtigt. Er ist ganz unerwartet bei mir aufgetaucht, nachdem ich eben diesen Umschlag adressiert hatte, um Ihnen den Kodeschlüssel zu schicken. Ich konnte ihn gerade noch wegstecken. Wenn er ihn bemerkt hätte, wäre es mir schlecht ergangen. Aber ich habe Argwohn in seinen Augen gelesen. Bitte verbrennen Sie die verschlüsselte Nachricht, die Ihnen jetzt nicht mehr von Nutzen sein kann. – FRED PORLOCK.‹«

Eine kurze Zeit lang saß Holmes da, den Brief zwischen den Fingern biegend, und starrte mit gerunzelter Stirn ins Kaminfeuer.

»Trotzdem«, sagte er schließlich. »Vielleicht hat das gar nichts zu bedeuten. Vielleicht meldet sich nur sein schlechtes Gewissen. Da er selber weiß, daß er ein Verräter ist, hat er vielleicht deshalb die Anschuldigung in den Augen des anderen gelesen.«

»Der andere ist vermutlich Professor Moriarty?«

»Kein Geringerer. Wenn einer aus dieser feinen Gesellschaft von einem ›Er‹ spricht, weiß man sofort, wer damit gemeint ist. Für sie alle gibt es nur einen allesbeherrschenden ›Er‹.«

»Aber was kann er denn tun?«

»Hm! Das ist eine weitreichende Frage. Wenn man einen der ersten Köpfe Europas zum Gegner hat, hinter dem die versammelten Mächte der Finsternis stehen, gibt es unendlich viele Möglichkeiten. Immerhin ist Freund Porlock offensichtlich von Sinnen vor Angst. Vergleichen Sie doch gütigerweise einmal die Handschrift der Nachricht mit der auf dem Umschlag, der laut Porlock vor diesem unheilschwangeren Besuch beschriftet worden ist. Da ist die Schrift klar und fest; im Brief dagegen ist sie kaum lesbar.«

»Warum hat er denn überhaupt geschrieben? Warum hat er die Sache nicht einfach fallenlassen?«

»Weil er befürchten mußte, daß ich in diesem Falle Nachforschungen über ihn anstellen und ihn dadurch möglicherweise in Schwierigkeiten bringen würde.«

»Zweifellos«, sagte ich. »Es ist allerdings« – ich hatte die eigentliche verschlüsselte Nachricht in die Hand genommen und beugte den Kopf darüber – »fast zum Verrücktwerden, wenn man bedenkt, daß dieser Zettel vielleicht ein wichtiges Geheimnis birgt und es außerhalb des Menschenmöglichen ist, es zu ergründen.«

Sherlock Holmes hatte das unangetastete Frühstück weggeschoben und seine unappetitliche Pfeife A4 entzündet, die Gefährtin seiner tiefsten Gedankengänge.

»Das ist die Frage!« sagte er; er lehnte sich zurück und starrte zur Zimmerdecke. »Vielleicht gibt es doch noch einige Punkte, die Ihrem eines Machiavelli würdigen Intellekt entgangen sind. Lassen Sie uns das Problem im Licht der reinen Vernunft betrachten. Der Hinweis dieses Mannes gilt einem Buch. Das ist unser Ausgangspunkt.«

»Der ist aber reichlich vage.«

»Dann wollen wir mal sehen, ob wir ihn nicht schärfer eingrenzen können. Nun, da ich mich darauf konzentriere, erscheint mir die Sache eigentlich weniger unergründlich. Welche Anhaltspunkte haben wir, was dieses Buch angeht?«

»Keine.«

»Na, na, ganz so schlimm steht es doch sicherlich nicht. Die verschlüsselte Nachricht beginnt mit einer dicken 534, nicht wahr? Als erste Arbeitshypothese können wir annehmen, daß 534 die betreffende Seite bezeichnet, die als Schlüssel dient. Somit ist aus unserem Buch schon ein dickes Buch geworden, was uns sicherlich ein Stück weiterbringt. Welche weiteren Anhaltspunkte haben wir hinsichtlich der Beschaffenheit dieses dicken Buches? Das nächste Zeichen lautet K2. Was folgern Sie daraus, Watson?«

»Zweifellos das zweite Kapitel.«

»Das wohl kaum, Watson. Ich bin sicher, Sie werden mir zustimmen, daß durch die Angabe der Seitenzahl die Bezeichnung eines Kapitels unerheblich geworden ist. Und daß die Länge des ersten Kapitels, wenn wir uns auf Seite 534 erst im zweiten befänden, geradezu unerträglich gewesen sein müßte.«

»Kolumne!« rief ich.

»Brillant, Watson. Sie sprühen heute früh vor Geist. Ich müßte mich sehr täuschen, wenn es nicht Kolumne bedeutet. Wie Sie sehen, beginnt vor unserem geistigen Auge nun ein dickes Buch zu erstehen, zweispaltig, wobei die Spalten eine beträchtliche Länge aufweisen müssen, da eines der Wörter in dem Schriftstück als das zweihundertdreiundneunzigste bezeichnet wird. Haben wir damit die Grenzen dessen, was uns vernünftige Überlegung liefert, schon erreicht?«

»Ich fürchte, ja.«

»Sie tun sich bestimmt Unrecht. Lassen Sie es noch einmal sprühen, mein lieber Watson. Noch ein Geistesblitz. Wenn es ein seltenes Buch wäre, dann hätte er es mir geschickt. Er hatte aber – bevor seine Pläne durchkreuzt wurden – die Absicht, mir den Schlüssel in diesem Umschlag zu übersenden. So schreibt er jedenfalls in seinem Brief. Dies scheint darauf zu deuten, daß er angenommen hat, ich würde es mir ohne Schwierigkeiten beschaffen können. Er besitzt es und stellt sich vor, daß auch ich es besitze. Kurz gesagt, Watson, es handelt sich um ein sehr verbreitetes Buch.«

»Was Sie da sagen, klingt allerdings einleuchtend.«

»Somit haben wir das Feld unserer Suche auf ein dickes, zweispaltiges und weitverbreitetes Buch eingeengt.«

»Die Bibel!« rief ich triumphierend.

»Gut, Watson, gut! Aber, wenn ich so sagen darf, noch nicht gut genug. Auch wenn ich das als Kompliment für mich selbst gelten ließe, könnte ich Ihnen schwerlich ein Buch nennen, das mit geringerer Wahrscheinlichkeit bei einem von Moriartys Helfershelfern in Griffnähe läge. Überdies gibt es die Heilige Schrift in so zahlreichen Ausgaben, daß er kaum annehmen kann, daß auch nur zwei Exemplare die gleiche Paginierung aufweisen. Hier dagegen handelt es sich zweifellos um ein Standardwerk. Er weiß ganz genau, daß seine Seite 534 mit meiner Seite 534 vollkommen übereinstimmt.«

»Das würde aber nur auf wenige Bücher zutreffen.«

»Genau. Darin liegt unsere Rettung. Unsere Suche beschränkt sich auf Standardwerke, die jedermann zu besitzen pflegt.«

»Das Kursbuch!«

»Da gibt es ein paar Schwierigkeiten, Watson. Der Wortschatz des Kursbuches ist zwar kräftig und knapp, aber beschränkt. Sein Wortvorrat wäre zur Übermittlung einer allgemeinen Nachricht kaum ausreichend. Das Kursbuch können wir also streichen. Ich fürchte, aus dem gleichen Grund ist auch ein Wörterbuch nicht zulässig. Was bleibt dann noch übrig?«

»Ein Almanach.«

»Hervorragend, Watson! Ich müßte mich sehr irren, wenn Sie damit nicht den Punkt getroffen hätten. Ein Almanach! Prüfen wir nach, ob Whitaker’s Almanack A5 unseren Ansprüchen genügt. Er ist weitverbreitet. Er hat die erforderliche Seitenzahl. Er ist zweispaltig gedruckt. Sein Wortschatz ist zwar anfangs etwas zurückhaltend, wird aber, wenn ich mich recht entsinne, gegen Ende ziemlich verschwatzt.« Er nahm den betreffenden Band vom Schreibtisch. »Hier haben wir Seite 534, Spalte zwei, ein ansehnlicher Block Gedrucktes; er schildert, wie ich feststelle, Handelswesen und Rohstoffbestände von Britisch-Indien. Notieren Sie kurz die Wörter, Watson. Nummer dreizehn lautet ›Mahratta‹ A6. Kein besonders verheißungsvoller Anfang, fürchte ich. Nummer hundertsiebenundzwanzig ist ›Regierung‹, was immerhin einen Sinn ergibt, wenn auch wenig in bezug auf uns und Professor Moriarty. Nun, probieren wir weiter. Was macht die Mahratta-Regierung? O weh! Das nächste Wort lautet ›Schweinsborsten‹. Wir sind erledigt, mein guter Watson! Es ist aus.«

Er hatte in scherzhaftem Ton gesprochen, aber das Zucken seiner buschigen Augenbrauen verriet seine Enttäuschung und Verärgerung. Ich saß hilflos und betrübt da und starrte ins Kaminfeuer. Die lange Stille wurde durch einen plötzlichen Ausruf von Holmes unterbrochen, der zu einem Schrank stürzte, von dem er mit einem weiteren Band in gelbem Leinen zurückkehrte.

»Das ist der Preis dafür, Watson, daß wir zu sehr auf dem neuesten Stand der Dinge sein wollen«, rief er. »Wir sind unserer Zeit voraus und müssen dafür wie üblich büßen. Da heute der siebte Januar ist, haben wir uns schon den neuen Almanach zugelegt. Es ist aber mehr als wahrscheinlich, daß Porlock seine Nachricht der alten Ausgabe entnommen hat. Das hätte er uns zweifellos mitgeteilt, wenn der Brief mit der Erklärung geschrieben worden wäre. Sehen wir einmal nach, was die Seite 534 für uns hat. Nummer dreizehn lautet ›Dort‹, das klingt schon vielversprechender. Nummer einhundertsiebenundzwanzig heißt ›ist‹ – ›Dort ist‹« – Holmes’ Augen glänzten vor Erregung, und seine dünnen, nervösen Finger zuckten, als er die Wörter auszählte – »›Gefahr‹. Ha! Ha! Ausgezeichnet! Schreiben Sie das auf, Watson. ›Dort ist Gefahr – kann – sehr – bald – geschehen – gewisser‹. Dann haben wir ja den Namen ›Douglas‹ – ›reich – Landgut – Birlstone – Überzeugung – ist – dringend‹. Na also, Watson! Was halten Sie nun von der reinen Vernunft und ihren Früchten? Wenn unser Gemüsehändler so etwas wie Lorbeerkränze hätte, würde ich Billy danach schicken.«

Ich starrte auf die seltsame Nachricht, die ich, während er sie entschlüsselte, über dem Knie auf einen Bogen Kanzleipapier gekritzelt hatte.

»Was für eine sonderbare und ungereimte Art, sich mitzuteilen!« sagte ich.

»Im Gegenteil, er hat seine Sache bemerkenswert gut gemacht«, sagte Holmes. »Wenn man eine einzelne Druckspalte nach Wörtern absucht, mit deren Hilfe man das ausdrücken will, was man zu sagen hat, kann man kaum erwarten, auch jedes gewünschte Wort zu finden. Zwangsläufig muß man dann einiges der Intelligenz des Empfängers überlassen. Der Sinn ist doch vollkommen klar. Irgendeine Teufelei ist im Gange gegen einen gewissen Douglas, wer immer das sein mag, der, soweit hier steht, als reicher Gutsherr auf dem Lande lebt. Außerdem ist er sicher – ›Überzeugung‹ kommt dem beabsichtigten ›überzeugt‹ so nahe wie möglich –, daß es dringend ist. Womit wir unser Ergebnis hätten – nach einem kleinen Musterstück fachmännischer Analyse.«

Bei seinen guten Leistungen empfand Holmes die unpersönliche Freude des echten Künstlers; ebenso grämte er sich finster, wenn er unter dem hohen Niveau blieb, das er anstrebte. Er schmunzelte noch immer über seinen Erfolg, als Billy mit Schwung die Tür öffnete und Inspektor MacDonald von Scotland Yard in den Raum geleitete.

In jenen frühen Tagen gegen Ende der achtziger Jahre hatte Alec MacDonald noch längst nicht den landesweiten Ruhm errungen, den er heute genießt. Er war ein junges, aber schon angesehenes Mitglied der Kriminalpolizei und hatte sich in verschiedenen Fällen, die ihm anvertraut worden waren, bereits ausgezeichnet. Seine hochgewachsene, starkknochige Gestalt ließ auf außerordentliche Körperkräfte schließen, während der große Schädel und die tiefliegenden, glänzenden Augen nicht weniger deutlich auf seinen schneidenden Verstand hinwiesen, der unter den buschigen Augenbrauen hervorblitzte. Der Mann war schweigsam, akkurat, ein wenig stur und sprach mit hartem Aberdeen-Akzent. Schon zweimal in seiner Laufbahn hatte ihm Holmes zu Erfolgen verholfen, wobei sein eigener Lohn einzig in der intellektuellen Freude am jeweiligen Problem bestanden hatte. Aus diesem Grund waren Zuneigung und Respekt des Schotten gegenüber seinem Amateurkollegen tiefempfunden, und das ließ er auch offen erkennen durch die Freimütigkeit, mit der er Holmes in jeder schwierigen Lage konsultierte. Mittelmaß kennt nichts Erhabeneres als sich selbst, Talent jedoch erkennt Genie sofort, und MacDonald hatte genügend Talent zu seinem Beruf, daß er keine Demütigung erblickte in der Bitte um die Hilfe eines Mannes, der in Hinsicht auf seine Gaben und Erfahrungen in Europa bereits einzig dastand. Holmes neigte nicht zu Freundschaften, aber dem großgewachsenen Schotten gegenüber war er duldsam, und er lächelte jetzt, als er ihn sah.

»Sie sind offenbar mit den Hühnern aufgestanden, Mr. Mac«, sagte er. »Ich wünsche Glück auf Ihrer Jagd nach fetten Würmern. Aber ich fürchte, es bedeutet wohl, daß etwas Ungutes im Gange ist.«

»Wenn Sie statt ›fürchten‹ ›hoffen‹ gesagt hätten, käme das wohl der Wahrheit näher, würd ich meinen, Mr. Holmes«, erwiderte der Inspektor mit wissendem Grinsen. »Na gut, ein winziges Schlückchen würde die rauhe Morgenkälte vielleicht vertreiben. Nein danke, so früh rauche ich noch nicht. Ich muß mich gleich wieder auf den Weg machen, weil ja die ersten Stunden eines Falles die kostbaren sind, was niemand besser weiß als Sie. Aber – aber …«

Der Inspektor hatte plötzlich innegehalten und starrte absolut fassungslos ein Blatt Papier auf dem Tisch an. Es war der Bogen, auf den ich die rätselhafte Botschaft gekritzelt hatte.

»Douglas!« stammelte er. »Birlstone! Was ist denn das, Mr. Holmes? Menschenskind, das ist ja Hexerei! Wo, um alles in der Welt, haben Sie diese Namen her?«

»Es ist eine verschlüsselte Botschaft, die Dr. Watson und ich mal eben entziffert haben. Aber warum – was stimmt nicht mit den Namen?«

Der Inspektor blickte uns nacheinander wie betäubt vor Verblüffung an.

»Nur so viel«, sagte er, »daß Mr. Douglas von Birlstone Manor House heute früh auf schreckliche Weise ermordet worden ist.«

MR. SHERLOCK HOLMES DOZIERT

Es war einer jener dramatischen Augenblicke, für die mein Freund lebte. Gleichwohl wäre es übertrieben zu behaupten, die erstaunliche Mitteilung habe ihn aus der Fassung gebracht oder auch nur aufgeregt. Nicht, daß in seinem einzigartigen Wesen eine Spur von Grausamkeit gelegen hätte; aber die langjährige Überreizung hatte ihn zweifellos abgehärtet. Seine Gefühlsregungen waren abgestumpft; seine intellektuelle Wahrnehmungskraft blieb jedoch außerordentlich rege. Folglich gab es bei ihm keine Anzeichen des Grausens, welches ich bei dieser knappen Erklärung verspürt hatte, sondern seine Miene zeigte eher die ruhige und interessierte Gelassenheit eines Chemikers, der das Ausfallen der Kristalle in einer übersättigten Lösung beobachtet.

»Bemerkenswert!« sagte er; »bemerkenswert!«

»Sie scheinen gar nicht überrascht zu sein.«

»Interessiert, Mr. Mac, aber kaum überrascht. Warum sollte ich auch? Von einer mir als wichtig bekannten Quelle erhalte ich eine anonyme Nachricht mit der Warnung, daß einer bestimmten Person Gefahr droht. Im Verlauf einer Stunde erfahre ich, daß diese Gefahr tatsächlich Gestalt angenommen hat und daß die Person tot ist. Ich bin interessiert; aber, wie Sie bemerken, nicht überrascht.«

In ein paar kurzen Sätzen erläuterte er dem Inspektor, was es mit dem Brief und der Geheimschrift auf sich hatte. MacDonald saß da, das Kinn auf den Händen, und seine dichten, sandfarbenen Augenbrauen zogen sich zu einem gelben Büschel zusammen.

»Ich wollte noch heute früh nach Birlstone runter«, sagte er. »Eigentlich bin ich hergekommen, Sie zu fragen, ob Sie mich begleiten möchten – Sie und Ihr Freund hier. Aber nach dem, was Sie sagen, könnten wir hier in London vielleicht mehr erreichen.«

»Das glaube ich eigentlich nicht«, sagte Holmes.

»Zum Henker, Mr. Holmes!« rief der Inspektor. »In ein oder zwei Tagen sind die Zeitungen voll mit Berichten über das Rätsel von Birlstone; bloß, was ist daran rätselhaft, wenn es in London einen Mann gibt, der das Verbrechen vorher schon groß ankündigt? Wir brauchen uns doch nur diesen Mann zu greifen, und alles übrige ergibt sich von selbst.«

»Ohne Zweifel, Mr. Mac. Aber wie haben Sie sich die Ergreifung des sogenannten Porlock vorgestellt?«

MacDonald drehte den Brief um, den Holmes ihm überreicht hatte.

»Aufgegeben in Camberwell – das hilft uns nicht viel weiter. Der Name ist nur angenommen, sagen Sie. Wahrhaftig nicht viel für den Anfang. Haben Sie nicht gesagt, Sie hätten ihm mal Geld geschickt?«

»Zweimal.«

»Und wie?«

»Banknoten, postlagernd Camberwell.«

»Haben Sie sich nie bemüht zu erfahren, wer sie abgeholt hat?«

»Nein.«

Der Inspektor sah überrascht aus und ein wenig empört.

»Warum nicht?«

»Weil ich mein Wort zu halten pflege. Nach seinem ersten Brief hatte ich versprochen, ich würde nicht versuchen, ihm nachzuspüren.«

»Sie glauben, es steht jemand hinter ihm?«

»Ich weiß es.«

»Dieser Professor, den Sie mir gegenüber mal erwähnt haben?«

»Genau.«

Inspektor MacDonald lächelte, und ein Augenlid zwinkerte, als er mir einen raschen Blick zuwarf.

»Ich will Ihnen nicht verhehlen, Mr. Holmes, daß wir vom C. I. D. A7 glauben, daß Sie sich mit diesem Professor eine klitzekleine Grille in den Kopf gesetzt haben. Ich habe in der Sache persönlich einige Nachforschungen angestellt. Er scheint zu einer ausgesprochen ehrbaren, gelehrten und talentvollen Sorte Mensch zu zählen.«

»Es freut mich, daß Sie immerhin sein Talent erkannt haben.«

»Menschenskind, das muß man doch erkennen! Nachdem ich Ihre Meinung über ihn gehört hatte, bin ich von Berufs wegen mal zu ihm gegangen. Wir haben über Sonnenfinsternisse geplaudert. Keine Ahnung, wie wir gerade darauf gekommen sind; aber er hat ’ne Lampe mit Reflektor geholt und einen Globus, und in ’ner Minute hat er mir alles klargemacht. Er hat mir auch ein Buch geliehen; aber das war dann doch ein bißchen zu hoch für mich – trotz meiner guten Aberdeen-Ausbildung; das kann ich ja ruhig zugeben. Er hätte ’n guten Pfaffen abgegeben, mit seinem schmalen Gesicht und dem grauen Haar und der feierlichen Art, wie er spricht. Beim Abschied hat er mir sogar die Hand auf die Schulter gelegt  – das war wie Vaters Segen, bevor man in die kalte grausame Welt zieht.«

Holmes kicherte und rieb sich die Hände.

»Großartig!« sagte er; »großartig! Sagen Sie, Freund MacDonald; diese erbauliche und rührende Unterhaltung hat, wie ich annehme, im Studierzimmer des Professors stattgefunden?«

»So ist es.«

»Ein feines Zimmer, nicht wahr?«

»Sehr fein – wirklich, Mr. Holmes, sehr hübsch.«

»Sie saßen vor seinem Schreibtisch?«

»Ganz recht.«

»Sie die Sonne im Gesicht und er im Schatten?«

»Tja, es war Abend; aber ich erinnere mich, daß die Lampe auf mich gerichtet war.«

»Ganz bestimmt war sie das. Haben Sie über dem Kopf des Professors zufällig ein Bild bemerkt?«

»Mir entgeht so leicht nichts, Mr. Holmes. Höchstwahrscheinlich habe ich das von Ihnen gelernt. Ja, ich hab das Bild gesehen – eine junge Frau mit dem Kopf auf den Händen, die einen so von der Seite anguckt.«

»Dieses Gemälde ist von Jean Baptiste Greuze A8

Der Inspektor bemühte sich, ein interessiertes Gesicht zu machen.

»Jean Baptiste Greuze«, fuhr Holmes fort, während er seine Fingerspitzen aneinanderlegte und sich in den Stuhl zurücklehnte, »war ein französischer Maler, dessen Blütezeit zwischen den Jahren 1750 und 1800 lag. Damit beziehe ich mich natürlich auf seine Schaffensperiode. Die moderne Kunstkritik hat die hohe Wertschätzung, die seine Zeitgenossen ihm entgegenbrachten, mehr als bestätigt.«

Die Augen des Inspektors nahmen einen abwesenden Ausdruck an.

»Sollten wir nicht lieber …« sagte er.

»Wir sind gerade dabei«, unterbrach ihn Holmes. »Alles, was ich sage, hat einen sehr unmittelbaren und wichtigen Bezug zu dem, was Sie das Rätsel von Birlstone genannt haben. In der Tat könnte man es in gewissem Sinne geradezu als sein Zentrum bezeichnen.«

MacDonald lächelte schwach und sah mich flehend an.

»Ihre Gedanken bewegen sich ein bißchen zu schnell für mich, Mr. Holmes. Sie lassen ein oder zwei Glieder aus, und ich kriege die Lücke nicht zusammen. Was in aller Welt soll der Zusammenhang sein zwischen diesem toten Herrn Maler und der Sache in Birlstone?«

»Jeder Wissenszweig ist für den Detektiv von Nutzen«, bemerkte Holmes. »Besonders die triviale Tatsache, daß im Jahre 1865 ein Bild von Greuze mit dem Titel La Jeune Fille à l’Agneau bei der Portalis-Auktion nicht weniger als viertausend Pfund A9 erzielt hat, dürfte doch in Ihrem Kopf eine Reihe von Überlegungen in Gang setzen.«

Das tat sie ganz offensichtlich. Der Inspektor machte ein unverhohlen interessiertes Gesicht.

»Ich darf Sie daran erinnern«, fuhr Holmes fort, »daß das Gehalt des Professors sich aus mehreren zuverlässigen Nachschlagewerken ermitteln läßt. Es beträgt siebenhundert Pfund im Jahr.«

»Wie kommt er dann in den Besitz …«

»Ganz recht. Wie kommt er dazu?«

»Tja, das ist bemerkenswert«, sagte der Inspektor gedankenvoll. »Sprechen Sie weiter, Mr. Holmes. Die Sache gefällt mir. Das klingt gut.«

Holmes lächelte. Aufrichtige Bewunderung ließ ihn immer auftauen – ein Kennzeichen des wahren Künstlers.

»Und was ist mit Birlstone?« fragte er.

»Wir haben noch Zeit«, sagte der Inspektor; er warf einen schnellen Blick auf seine Uhr. »Mein Wagen steht vor der Tür, und zur Victoria Station brauchen wir keine zwanzig Minuten. Aber nochmal zu dem Bild – mir war, Mr. Holmes, als ob Sie mir mal erzählt hätten, daß Sie Professor Moriarty noch nie begegnet sind.«

»Nein, noch nie.«

»Woher wissen Sie dann über seine Wohnung Bescheid?«

»Oh, das steht auf einem anderen Blatt. In seiner Wohnung bin ich bereits dreimal gewesen; zweimal habe ich unter verschiedenen Vorwänden auf ihn gewartet und bin vor seiner Rückkunft wieder fortgegangen. Einmal – tja, davon dürfte ich einem Kriminalbeamten eigentlich gar nicht erzählen. Beim letzten Mal habe ich mir nämlich die Freiheit genommen, rasch seine Unterlagen zu überfliegen, was zu höchst unerwarteten Resultaten geführt hat.«

»Sie haben etwas Kompromittierendes gefunden?«

»Absolut nichts. Das war ja das Verblüffende. Wie auch immer, Sie haben jetzt den springenden Punkt bezüglich des Gemäldes erkannt. Es weist ihn als sehr vermögenden Mann aus. Aber wie kommt er zu diesem Vermögen? Er ist unverheiratet. Sein jüngerer Bruder ist Bahnhofsvorsteher A10 im Westen von England. Sein Lehrstuhl bringt ihm siebenhundert im Jahr. Aber er besitzt einen Greuze.«

»Und weiter?«

»Die Schlußfolgerung ist doch wohl einfach.«

»Sie meinen, er hat hohe Einkünfte und muß sie sich auf illegale Weise verschaffen?«

»Ganz genau. Selbstverständlich habe ich noch weitere Gründe zu diesem Verdacht – Dutzende dünnster Fäden, die kaum wahrnehmbar zum Zentrum des Netzes hinführen, wo die giftige, regungslose Kreatur auf der Lauer liegt. Ich erwähne den Greuze auch nur, weil er die Sache in den Bereich Ihrer eigenen Beobachtungen rückt.«

»Tja, Mr. Holmes, ich gebe zu, was Sie da sagen, ist interessant. Mehr als interessant – es ist geradezu wunderbar. Aber lassen Sie uns ein wenig deutlicher werden, wenn möglich. Handelt es sich um Fälscherei, Falschmünzerei oder Einbrüche? Woher kommt das Geld?«

»Haben Sie schon mal was über Jonathan Wild A11 gelesen?«

»Naja, also der Name kommt mir vertraut vor. Jemand aus ’nem Roman, oder? Ich mach mir nicht viel aus Detektiven in Romanen – diese Burschen kriegen immer alles raus und lassen einen nie dahinterkommen, wie sie’s anstellen. Bei denen ist alles bloß Eingebung und keine solide Arbeit.«

»Jonathan Wild war kein Detektiv, und er kommt auch nicht in einem Roman vor. Er war ein meisterlicher Verbrecher und hat im vorigen Jahrhundert gelebt – so um 1750 herum.«

»Dann nützt er mir nichts. Ich bin ein Mann der Praxis.«

»Mr. Mac, das Beste, was Sie für Ihre Praxis im Leben je tun könnten, wäre, sich zwölf Monate lang einzuschließen und täglich zwölf Stunden Kriminalhistorie zu studieren. Alles wiederholt sich in Zyklen, selbst Professor Moriarty. Jonathan Wild war die verborgene Kraft hinter der Londoner Verbrecherwelt, an die er seine Intelligenz nebst seiner Organisation für einen fünfzehnprozentigen Anteil verkauft hatte. Das alte Rad dreht sich weiter, und dieselbe Speiche kommt zum Vorschein. Alles ist schon einmal dagewesen und kehrt immer wieder. Ich will Ihnen ein paar Einzelheiten über Moriarty erzählen, die Sie interessieren dürften.«

»Und ob die mich interessieren!«

»Zufällig weiß ich nämlich, wer das erste Glied in seiner Kette ist – dieser Kette mit dem fehlgeleiteten Napoleon am einen Ende, am anderen hundert gebrochenen Schlägern, Taschendieben, Erpressern und Falschspielern, und dazwischen jeder nur erdenklichen Sorte von Verbrechen. Sein Stabchef ist Colonel Sebastian Moran A12, ein Mann, der es ebenso wie Moriarty selbst versteht, sich abseits zu halten, auf der Hut zu sein und sich dem Zugriff des Gesetzes zu entziehen. Was glauben Sie, wieviel er dem bezahlt?«

»Lassen Sie hören.«

»Sechstausend im Jahr. Ein gutes Hirn hat seinen Preis, wie Sie sehen – amerikanisches Geschäftsprinzip. Dieses Detail habe ich ganz zufällig erfahren. Das ist mehr, als der Premierminister verdient. A13 Jetzt haben Sie einen Begriff von Moriartys Einkünften und vom Ausmaß seiner Geschäfte. Und noch etwas. Kürzlich habe ich es mir angelegen sein lassen, einigen von Moriartys Schecks nachzugehen – ganz gewöhnlichen, harmlosen Schecks, mit denen er seine Haushaltsrechnungen begleicht. Sie waren auf sechs verschiedene Banken ausgestellt. Gibt Ihnen das einen Eindruck?«

»Das ist natürlich sonderbar. Aber was folgern Sie daraus?«

»Er will nicht, daß sich sein Reichtum herumspricht. Kein einzelner Mensch darf erfahren, wieviel er besitzt. Ich hege keinen Zweifel daran, daß er zwanzig Bankkonten unterhält – wobei der Großteil seines Vermögens wohl im Ausland lagert, wahrscheinlich bei der Deutschen Bank oder dem Crédit Lyonnais. Sollten Sie irgendwann einmal ein paar Jahre überschüssige Zeit haben, empfehle ich Ihnen ein Studium des Professor Moriarty.«

Im Verlauf des Gesprächs hatte Inspektor MacDonald sich mehr und mehr beeindruckt gezeigt. Sein Interesse hatte ihn gänzlich in Anspruch genommen. Nun aber beförderte ihn sein praktischer schottischer Verstand mit einem Schlag zurück zu den laufenden Ereignissen.

»Das hat jedenfalls Zeit«, sagte er. »Sie haben uns mit Ihren interessanten Anekdoten auf Abwege gebracht, Mr. Holmes. Was für mich wirklich zählt, ist Ihre Bemerkung, daß zwischen dem Professor und diesem Verbrechen irgendeine Verbindung besteht. Das schließen Sie aus der Warnung, die Sie von diesem Porlock erhalten haben. Ist für uns da sonst noch was praktisch Brauchbares drin?«

»Zunächst können wir uns eine Vorstellung hinsichtlich der Motive des Verbrechens machen. Soviel ich Ihren anfänglichen Bemerkungen entnehme, handelt es sich um einen unerklärlichen oder zumindest ungeklärten Mord. Einmal angenommen, der Ausgangspunkt des Verbrechens läge dort, wo wir ihn vermuten, dann kämen zwei verschiedene Motive in Betracht. Zunächst darf ich vorausschicken, daß Moriarty seine Leute mit eiserner Rute regiert. Seine Disziplin ist fürchterlich. Und seine Gesetze kennen nur eine Strafe: den Tod. Wir dürften also annehmen, der Ermordete – dieser Douglas, von dessen herannahendem Schicksal einer der Untergebenen des Erzverbrechers Wind bekam – habe den Chef in irgendeiner Weise verraten. Es folgte seine Bestrafung, von der alle erfahren werden – und sei es nur, um ihnen Todesangst einzujagen.«

»Schön, das wäre die eine Möglichkeit, Mr. Holmes.«

»Die andere ist, daß Moriarty die Sache im Zuge eines ganz gewöhnlichen Geschäftsganges durchgeführt hat. Ist denn etwas geraubt worden?«

»Nicht daß ich wüßte.«

»Wenn ja, so spräche das natürlich gegen die erste Hypothese und zugunsten der zweiten. Moriarty könnte demnach gegen Zusicherung eines Beuteanteils mit der Durchführung betraut worden sein, vielleicht hat man ihm aber auch vor der Vollstreckung einen hohen Vorschuß gezahlt. Beides ist möglich. Aber welches davon es auch immer sein mag, oder falls eine dritte Kombination vorliegt – die Lösung müssen wir in Birlstone suchen. Ich kenne unseren Mann zu gut, um damit zu rechnen, daß er hier irgendeine Spur hinterlassen hat, die uns zu ihm führen könnte.«

»Dann auf nach Birlstone!« rief MacDonald; er schnellte aus dem Stuhl. »Meine Güte! Es ist schon später, als ich gedacht habe. Meine Herren, ich kann Ihnen fünf Minuten geben, um sich fertig zu machen, mehr nicht.«

»Die genügen uns reichlich«, sagte Holmes, während er aufsprang und hastig aus dem Hausrock in seinen Mantel schlüpfte. »Unterwegs, Mr. Mac, sind Sie bitte so freundlich, mir alles zu erzählen.«

›Alles‹ erwies sich als enttäuschend wenig, und doch war es genug, uns davon zu überzeugen, daß der vorliegende Fall sehr wohl die gespannteste Aufmerksamkeit eines Experten verdiente. Holmes’ Miene erhellte sich, und er rieb sich die dünnen Hände, während er den spärlichen, aber bemerkenswerten Einzelheiten lauschte. Hinter uns lag eine lange Reihe unersprießlicher Wochen, und hier bot sich endlich wieder einmal ein angemessenes Objekt für jene bemerkenswerten Fähigkeiten, die, wie jede Spezialbegabung, ihrem Besitzer zur Last werden, solange sie brachliegen. Bei längerer Untätigkeit stumpfte dieser rasiermesserscharfe Verstand ab und rostete vor sich hin. Dagegen glitzerten Sherlock Holmes’ Augen, die bleichen Wangen nahmen einen wärmeren Farbton an, und sein ganzes gespanntes Gesicht erstrahlte von einem inneren Feuer, wenn ihn der Lockruf der Arbeit erreichte. Während der Fahrt im Wagen lauschte er vornübergebeugt und aufmerksam MacDonalds kurzer Skizzierung des Problems, das uns in Sussex erwartete. Der Inspektor seinerseits war, wie er uns erklärte, angewiesen auf einen hingekritzelten Bericht, der ihm in den frühen Morgenstunden mit dem Milchzug zugesandt worden war. Mit White Mason, dem für die Grafschaft zuständigen Kriminalbeamten, verband ihn eine persönliche Freundschaft, und daher war MacDonald sehr viel schneller in Kenntnis gesetzt worden, als dies bei Scotland Yard der Brauch ist, wenn man dessen Hilfe in der Provinz benötigt. In allgemeinen verfolgt der aus der Metropole herbeigerufene Experte eine schon reichlich kalte Spur.

»Lieber Inspektor MacDonald«, begann der Brief, den er uns vorlas, »der offizielle Antrag auf Ihren Einsatz befindet sich im separaten Umschlag. Das hier ist für Sie persönlich. Geben Sie mir telegraphisch Nachricht, welchen Zug nach Birlstone Sie heute vormittag nehmen können; ich hole Sie dann ab – oder lasse Sie abholen, falls ich zu beschäftigt sein sollte. Der Fall ist ein Knaller. Verlieren Sie keinen Augenblick, und machen Sie sich auf den Weg. Wenn Sie können, bringen Sie bitte Mr. Holmes mit, er wird hier nämlich was finden, das ganz nach seinem Geschmack ist. Man könnte meinen, das Ganze sei eine effektvoll gestellte Szene fürs Theater, wenn es da nicht mittendrin einen Toten gäbe. Ich sag’s Ihnen, wirklich ein Knaller!«

»Ihr Freund scheint kein Dummkopf zu sein«, bemerkte Holmes.

»Nein, Sir; White Mason ist sehr auf Draht, wenn ich nicht ganz danebenliege.«

»Schön, haben Sie noch etwas?«

»Nur, daß er uns alle Einzelheiten am Treffpunkt mitteilen wird.«

»ß«