Matthias Kopp
Franziskus im Heiligen Land

Matthias Kopp

Franziskus im Heiligen Land

Päpste als Botschafter des Friedens: Paul VI. – Johannes Paul II. – Benedikt XVI. – Franziskus

Butzon & Bercker

 

„Orientierung durch Diskurs“

Die Sachbuchsparte bei Butzon & Bercker, in der dieser Band erscheint, wird beratend begleitet von Michael Albus, Christine Hober, Bruno Kern, Tobias Licht, Cornelia Möres, Susanne Sandherr und Marc Witzenbacher.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Das Gesamtprogramm von Butzon & Bercker finden Sie im Internet unter www.bube.de

ISBN 978-3-7666-1880-1

E-Book (Mobi): ISBN 978-3-7666-4264-6

E-Book (PDF): ISBN 978-3-7666-4265-3

E-Pub: ISBN 978-3-7666-4266-0

© 2014 Butzon & Bercker GmbH, Hoogeweg 100, 47623 Kevelaer, Deutschland, www.bube.de

Alle Rechte vorbehalten.

Umschlaggestaltung: Christoph M. Kemkes, Geldern

Satz: Schröder Media GbR, Dernbach

Printed in the European Union

Inhalt

Vorwort – oder: Warum noch ein Papstbuch nötig ist

I. Christen und kirchliches Engagement im Heiligen Land – ein Überblick

II. Der Heilige Stuhl und das Heilige Land – eine wechselvolle Geschichte

III. Auftakt: Papst Paul VI. 1964 im Heiligen Land

IV. Freundschaft: Papst Johannes Paul II. 2000 im Heiligen Land

V. Brüder: Papst Benedikt XVI. 2009 im Heiligen Land

VI. Perspektive: Papst Franziskus 2014 im Heiligen Land

VII. Vision für Nahost: Das Friedensgebet im Vatikan und die Perspektive danach, oder: Hoffen wider alle Hoffnungslosigkeit

Anhang

Anmerkungen

Vorwort – oder:
Warum noch ein Papstbuch nötig ist

„Erbittet für Jerusalem Frieden! Wer dich liebt, sei in dir geborgen. Friede wohne in deinen Mauern, in deinen Häusern Geborgenheit.“ (Psalm 122,6 – 7) Wer die Landkarte des Nahen Ostens aufschlägt oder die erschütternden Bilder aus der Region sieht, denkt kaum an die Friedensvision für die heilige Stadt Jerusalem, die der Psalmist vor zweieinhalbtausend Jahren schrieb. In dem „Wallfahrtslied nach Jerusalem“, wie der Psalm auch gerne genannt wird, verdichtet sich seit Jahrhunderten die Sehnsucht des Menschen, in die heilige Stadt Jerusalem zu pilgern – in der der ewige Friede zu finden ist. Von diesem Frieden sind Jerusalem und viele andere Städte des Nahen Ostens weit entfernt. Und doch ist die Hoffnung auf Frieden so groß wie selten zuvor – und ebenso oft wird genau diese Hoffnung auf Frieden erschüttert. Während Kriege und Terror, Flüchtlingsdramen und wirtschaftliche Not den Nahen Osten beherrschen, bleibt bei aller Verzweiflung oft nur als letzte Hoffnung das Gebet. So hat es Papst Franziskus eindrucksvoll gesagt, als er zur Überraschung von Israelis und Palästinensern die beiden Staatsoberhäupter während seiner historischen Reise in das Heilige Land im Mai 2014 zu einem Friedensgebet in den Vatikan einlud: „An diesem Ort, wo der Friedensfürst geboren wurde, möchte ich an Sie eine Einladung richten, gemeinsam mit mir ein intensives Gebet zu erheben und von Gott das Geschenk des Friedens zu erflehen.“ Papst Franziskus ist als Pilger in das Heilige Land gekommen, um für den Frieden zu beten und dabei nicht vor politischen Erwartungen Halt zu machen. Deshalb wirkt sein Wort bis heute, als er in Betlehem sagte: „Frieden zu schaffen ist schwierig, aber ohne Frieden zu leben ist eine Qual.“

Das vorliegende Buch zeichnet den Weg von Papst Franziskus im Heiligen Land nach. Er war der historischen Begegnung von Papst Paul VI. und dem Ökumenischen Patriarchen Athenagoras von Konstantinopel gewidmet, die sich vor fünfzig Jahren im Heiligen Land trafen, um über tausend Jahre der Trennung zu überwinden. Schon aus diesem Grund ist die Reise von Papst Franziskus keine Reise ohne Grund oder gar ohne Geschichte. Sie baut kontinuierlich auf die Vorgängerpäpste auf und setzt den Weg der Versöhnung, des Dialogs und der Ermutigung für die christliche Minderheit im Heiligen Land konsequent fort.

Um die Reise von Papst Franziskus zu verstehen und in den geschichtlichen Kontext einordnen zu können, vor allem aber auch, um zu begreifen, welche Anstrengungen und Wegstrecken in den Jahrzehnten zuvor notwendig waren, um das Programm genau dieser Reise zu ermöglichen, werden erstmals die Wege aller vier Papstreisen ins Heilige Land nachgezeichnet. Mit einer Analyse zur Nahostdiplomatie des Heiligen Stuhls und der Annäherung der römisch-katholischen Kirche an den Staat Israel sowie den Staat Palästina werden die Grundlagen aufgezeigt. Sie gehen zurück bis auf die Zeit Papst Pius’ XII., der noch vor der Gründung des Staates Israel eine diplomatische Vertretung in Form der Apostolischen Delegatur von Jerusalem errichtete. Ohne Papst Johannes XXIII. und seinen Einsatz für das Konzilsdekret Nostra aetate, das in besonderer Weise auf das Judentum und den Islam eingeht, wäre die Idee einer ersten Auslandsreise eines Papstes im 20. Jahrhundert nicht denkbar gewesen. Papst Paul VI. hielt noch während des Konzils die Zeit für gekommen, diesen mutigen Schritt zu gehen. So widmet sich das Buch ausführlich jener Reise, bei der Paul VI. in Jordanien und Israel 1964 zu Gast war.

In der Folge hat der Heilige Stuhl seine Position zum Nahen Osten wiederholt dargelegt. Darauf geht das Buch ebenso ein wie auf die großen Schritte der Annäherung von Papst Johannes Paul II. zum Judentum und zum Staat Israel. Der Besuch des Papstes 1986 in der Synagoge von Rom, wo er die Juden als „unsere älteren Brüder“ bezeichnete, gilt ohne Zweifel als ein zentraler Moment der kontinuierlichen, von Johannes Paul II. gewünschten Aussöhnung mit dem Judentum, die in der Vergebungsbitte im Heiligen Jahr 2000 ihren Höhepunkt fand. Unmittelbar nach diesem Ereignis reiste Papst Johannes Paul II. ins Heilige Land. Das Buch würdigt diese Reise, den unvergesslichen Besuch in der Holocaustgedenkstätte Yad Vashem und an der Klagemauer, vor dem Felsendom und in einem Flüchtlingslager in Betlehem. Was Papst Paul VI. grundgelegt hatte, konnte Papst Johannes Paul II. vollenden.

Gerade deshalb war es für Papst Benedikt XVI. eine besondere Herausforderung, 2009 in den Nahen Osten zu reisen. Was würde er als „deutscher“ Papst Israelis und Palästinensern sagen können? Die dritte Heilig-Land-Reise eines Papstes wird in dem Buch ebenfalls analysiert und kommentiert. Benedikt XVI. setzte den Weg der Versöhnung mutig fort – bis heute sind seine mahnenden und nachdenklichen Worte in Yad Vashem ebenso unvergessen in Israel wie seine eindringlichen Appelle an die christliche Minderheit Palästinas, das Land nicht zu verlassen. Ohne Papst Benedikt XVI. wäre der Dialog der Religionen ärmer und die katholische Kirche im Heiligen Land beiderseits des Jordans entmutigter.

Auf diesen drei Reisen seiner Vorgänger also baute Papst Franziskus auf, als er das Heilige Land besuchte. Um das Engagement der Päpste für die Region und den Frieden zu verstehen, werden in diesem Buch auch die Grundlagen zum Leben der katholischen Kirche im Heiligen Land erläutert. Wichtige Redeauszüge der Reisen werden mit Blick auf den politischen und theologischen Kontext analysiert. Das Buch bietet so erstmals einen Gesamtüberblick über vier Papstreisen und das Engagement im gegenwärtigen Pontifikat Papst Franziskus’ für den Nahen Osten.

Während das Buch fertiggestellt wurde, brach der Krieg zwischen Israel und der Hamas im Gazastreifen aus: am 8. Juli 2014, exakt einen Monat nach dem von Papst Franziskus initiierten Friedensgebet im Vatikan. Das letzte Kapitel des Buches widmet sich diesem Friedensgebet. Dabei bleibt realistisch festzuhalten, dass das Gebet um Frieden weitergehen muss, trotz Hass und Gewalt in Nahost. Auch dazu möchte diese Analyse beitragen und Anregungen geben. Deshalb bin ich dem Verlag Butzon & Bercker dankbar, dass er sich dieses drängenden Themas angenommen hat und so eine Geschichte von vier Päpsten mit in sein Programm aufnimmt. Mein Dank gilt allen, die mich auf diesem Weg zum Buch unterstützt haben. Es lebt aus den eigenen Erfahrungen, die Reisen von Papst Johannes Paul II., Papst Benedikt XVI. und Papst Franziskus selbst vor Ort in verschiedenen Aufgaben mit begleitet zu haben.

Das Buch endet – trotz des Wissens um neue Kriege in Nahost und Terrorregime von unvorstellbarer Gewalt in der Region – mit einem Wort des Papstes: „Für den Frieden braucht es Mut, eine große Seelenstärke!“ Diesen Mut wünsche ich den Menschen im Heiligen Land und allen Ländern des Nahen Ostens.

Köln im August 2014
Matthias Kopp

I. Christen und kirchliches Engagement im Heiligen Land – ein Überblick

Mit ihren knapp zwei Prozent Bevölkerungsanteil bilden die Christen in Israel und Palästina eine kleine Minderheit – mit großem Potenzial. Viele Möglichkeiten haben sich erst im Verlauf der Geschichte des 20. Jahrhunderts entwickelt, die im zweiten Kapitel genauer dargestellt wird. Im Folgenden wird die Grundlage dargestellt, auf der insbesondere die katholische Kirche heute im Heiligen Land aufgebaut ist. Diese Grundlage war und ist die Ausgangsbasis für die vier historischen Reisen der Päpste Paul VI., Johannes Paul II., Benedikt XVI. und Franziskus.

Katholische Bevölkerung im Heiligen Land in Zahlen

Es bleibt schwierig, statistisch zuverlässiges Material über den christlichen Bevölkerungsanteil im Heiligen Land zu erhalten. Insbesondere die Zahlen des Übergangs von der Mandatszeit zur Gründung des Staates Israel sind zum großen Teil widersprüchlich. Immerhin hatte die britische Regierung 1922 und 1931 Volkszählungen durchführen lassen. Diese zeigen einen Bevölkerungsanteil zwischen 9,5 Prozent Christen (1922) und 8,8 Prozent (1931) an (Muslime: 78,3 Prozent bzw. 73,3 Prozent; Juden 11,1 Prozent bzw. 16,9 Prozent). Zum Zeitpunkt der Staatsgründung werden 145.000 Christen (7,6 Prozent) angegeben, von denen 34.000 im neuen Staat Israel blieben, 60.000 zu Flüchtlingen wurden und rund 51.000 Bewohner der Westbank und des Gazastreifens wurden. Eine konfessionelle Differenzierung liegt nicht vor.1

Auch in der aktuellen Bevölkerungsstatistik widersprechen sich die Zahlen. Das Lateinische Patriarchat von Jerusalem hat 2001 in Absprache mit den anderen christlichen Konfessionen versucht, aktuelle Zahlen zu präsentieren. Diese korrelieren weitgehend mit den Forschungen von Michael Prior und William Taylor, die vor allem von Bernard Sabella aufgegriffen wurden.2 Von den 7,1 Mio. Einwohnern Israels sind knapp 1,9 Prozent Christen, was ca. 119.000 Menschen ausmacht, die sich wie folgt aufteilen:

Griechisch-katholische: 60.000
Orthodoxe: 35.000
Lateiner: 12.000
Maroniten: 9.000
Protestanten: 3.000

Der christliche Bevölkerungsanteil in den palästinensischen Autonomiegebieten liegt bei 2 Prozent (= ca. 47.500 Christen; Sabella beziffert den Anteil auf 1,4 Prozent und geht von einer höheren Bevölkerungszahl aus):

Griechisch-orthodoxe: 24.000
Lateiner: 16.000
Griechisch-katholische: 3.000
Protestanten: 2.100
Syrer und Armenier: 1.400
Kopten, Äthiopier, Maroniten: 1.000

Ein besonderes Problem hinsichtlich der Statistiken bildet Jerusalem. Eine israelische Studie kommt zu dem Schluss, dass 1944 29.350 Christen in Jerusalem gelebt haben, heute sind es nach vorsichtigen Schätzungen 11.500 Christen, und bereits vor dem Sechstagekrieg waren es nur noch 14.000 Christen.3 Die Konfessionen teilen sich heute in Jerusalem wie folgt auf:

Lateiner: 4.000
Griechisch-katholische und weitere katholische Konfessionen: 3.400
Griechisch-orthodoxe: 3.400
Protestanten: 700
Sonstige: k. A.

Insgesamt leben also westlich des Jordans knapp 178.000 Christen, wobei die lokale Verteilung höchst unterschiedlich ist. Bleibt Betlehem mit 50.000 Einwohnern und 11.000 Christen eine Stadt, in der die christliche Präsenz spürbar ist, so sind die 1.000 Christen in Gaza mit über 1 Mio. Einwohnern eine verschwindend geringe Minderheit, die kaum das öffentliche Leben prägt. In dieser Statistik sind die enormen Migrationsströme von Christen aus Afrika bzw. christlichen Gastarbeitern aus Asien noch nicht eingerechnet, da konkrete Zahlen dieses seit 2010 besonders intensiven Phänomens bisher nicht erhoben wurden. Allein aus den Philippinen gibt es schätzungsweise rund 35.000 katholische Migranten in Israel. Von rund 53.000 Asylsuchenden aus Afrika sind vermutlich rund 40.000 Christen.

Während die Lateiner (seit 1847) und griechisch-katholischen Christen (bereits 1752 wurde zunächst eine Erzdiözese in Nazaret eingerichtet, zwanzig Jahre später wurden die Jerusalemer griechisch-katholischen Christen dem Patriarchen von Antiochia unterstellt) unter den katholischen Bekenntnissen führend sind – auf beide wird noch in einem späteren Kapitel eingegangen –, bilden die anderen eine nominell meistens kleine Minderheit. Die syrisch-katholische Kirche, seit 1663 mit Rom in voller Gemeinschaft, unterhält eine eigene Jurisdiktion in Jerusalem erst seit 1980. Die armenisch-katholische Kirche, die sich 1741 von ihrer Mutterkirche trennte, hat seit 1842 einen Patriarchalvikar in Jerusalem. Das maronitische Vikariat wurde 1895 eingesetzt. Das Gesamt der katholischen Konfessionen wird in der „Assemblée d’Ordinaires catholiques de Terre Sainte“ („Konferenz der katholischen Ordinarien im Heiligen Land“) koordiniert, deren Statuten 1991 verabschiedet wurden. Diese wiederum gehört zur „Conférence des éveques latins dans les regions arabes“ (CELRA), die während des Zweiten Vatikanischen Konzils gegründet und 1967 von der Ostkirchenkongregation mit einem eigenen Statut ausgestattet wurde. Auf ökumenischer Ebene erfolgte Anfang der Siebzigerjahre die Gründung des „Middle East Council of Churches“ (MECC), dem 1990 auch die katholischen Bekenntnisse beitraten.

Sonderstellung: Hebräische Katholiken im Heiligen Land

Seit der Staatsgründung leben in Israel neben den bereits beschriebenen christlichen Minderheiten die hebräischsprechenden Katholiken des Heiligen Landes. Diese „Hebrew Speaking Community“ ist zwar eine kleine Minderheit, hat aber Ende der Neunzigerjahre – nicht zuletzt durch die Auswanderung zahlreicher russischer Juden und entsprechende Konversionen – neue Bedeutung erlangt. Neben einigen Konvertiten aus dem Judentum gehören dazu auch extrem hohe Zahlen christlicher Einwanderer vor allem aus den Philippinen und Äthiopien sowie Eritrea, die sich sprachlich in die israelische Gesellschaft einfügen, jedoch ihren christlichen Glauben behalten. Konkrete Zahlen gibt es nicht; die Gesamtzahl dieser Migranten wird auf über 65.000 Menschen im Januar 2014 geschätzt.

Um die Seelsorge für diese katholische Gruppierung zu garantieren, wurde die hebräischsprechende Gemeinde in Israel bereits 1955 kirchenrechtlich approbiert und als „Jakobuswerk“ bezeichnet. Die Leitung übernahm 1990 der französische Benediktiner-Abt aus Abu Gosh, Pater Jean-Baptiste Gourion. Besonders aufgewertet wurde das Engagement, als Papst Johannes Paul II. im Herbst 2003 Abt Gourion zum ersten Weihbischof für die Gemeinde ernannte. Gourion starb überraschend am 23. Juni 2005. Während Franziskanerkustos P. Pierbattista Pizzaballa zunächst die Seelsorge übernahm, wurde am 15. März 2009 der Jesuit David Neuhaus zum neuen Patriarchalvikar für diese Gemeinschaft durch das Patriarchat ernannt. Ihm ist es ein Anliegen, dass die christlichen Einwanderer in einem hebräischsprachigen und jüdischen Umfeld leben und so eine Brückenfunktion zur angestammten lateinisch-arabischen Bevölkerung bilden können. Offiziell wurde die Migrantenseelsorge 2011 eingerichtet und ebenfalls Pater Neuhaus unterstellt. Ihm gelang es, angesichts der teilweise dramatischen Lebensumstände von Migranten am 27. April 2014 ein eigenes Gemeindezentrum und eine kleine Kirche im Süden von Tel Aviv zu eröffnen. Neben den Migrantengemeinden gibt es in Israel derzeit fünf hebräischsprachige Pfarreien bzw. Gemeinschaften, die einige hundert Mitglieder zählen.

Herausforderung: Lebensumstände der katholischen Kirche im Heiligen Land

Seit der Staatsgründung Israels entwickeln sich die Lebensbedingungen der christlichen Minderheit weiter. Mit Blick auf die katholische Bevölkerung ist festzustellen, dass der überwiegende Teil heute auf palästinensischem Gebiet lebt, vorzugsweise in urbanen, wenn auch kleinen Zentren wie Jerusalem, Betlehem, Ramallah, Birzeit und Taybeh, um einige Beispiele zu nennen. Ähnlich ist die Situation in Israel, wo die katholische Bevölkerung vor allem in Nazaret und Haifa zu finden ist. Der überwiegende Teil der Katholiken ist in den höheren Berufsschichten zu finden, ebenso in der Industrie oder im Eigengewerbe, was häufig auf das hohe Ausbildungsniveau zurückzuführen ist. Die christliche Bevölkerung in den palästinensischen Gebieten verfügt ebenfalls über ein deutlich besseres Bildungsniveau als die restliche Mehrheitsbevölkerung, weil ihr aufgrund eines breit gefächerten Schulwesens im Lateinischen Patriarchat ein früherer und besserer Zugang zu Bildungschancen ermöglicht wird. Die Gruppe der Christen und insbesondere der Katholiken lässt sich beschreiben als „eine hoch ausgebildete, an der Mittelschicht orientierte Gemeinschaft, die wirtschaftliche Angebote und Gelegenheiten zu nutzen weiß, insbesondere für ihre junge Generation“4. Katholiken zeichnen sich in der palästinensischen und israelischen Gesellschaft durch eine starke Identifikation mit dem Staat aus, an dessen Aufbau und Wohlergehen sie nach Kräften mitwirken wollen. Dabei sind Katholiken wie alle christlichen Minderheiten der kontinuierlichen Veränderung innerhalb der Bevölkerungsstruktur unterworfen: Der stetig abnehmende Anteil von Katholiken ist zunächst durch die Geburtenrate bedingt, vor allem gegenüber den geburtenstarken arabisch-islamischen Großfamilien. Hinzu kommen aber auch kontinuierliche, seit 1988 wesentlich verstärkte und mit Beginn der al-Aksa-Intifada 2000 dramatisch zunehmende Auswanderungsbewegungen der Christen.

Die Kirche sieht es als ein besonderes Ziel an, dieser Entwicklung eines schleichenden Christenexodus entgegenzutreten. Dabei bemüht sie sich um praktische Maßnahmen, zu denen unter anderem zählen:

Diese Maßnahmen sind mittlerweile konstitutiver Bestandteil des Ausbildungsprogramms zahlreicher katholischer Institutionen, insbesondere der katholischen Universität in Betlehem. Sie hängen von den innen- und außenpolitischen Gegebenheiten ab, aber sie scheinen die einzige realistische Chance zu sein, Motivation für einen Verbleib in der eigenen Heimat und damit den Sinn für die Übernahme von Verantwortung in einer Gesellschaft zu transportieren. Hinzu kommen notwendigerweise die Überwindung von politischen Ideologien und das jeweilige bessere Kennenlernen der anderen Religionen und Konfessionen. Gerade der religiöse Hintergrund als politisch-soziale Ausflucht auf der einen Seite und als Chance des gelungenen und bereichernden Dialogs auf der anderen Seite darf nicht außer Acht gelassen werden. Dabei wird vor allem von christlicher Seite der Versuch unternommen, sich selbst als „inklusiver Gesellschaftsanteil“ zu sehen. Es bedarf dessen, was Fachleute im Heiligen Land einen Dialog des Lebens nennen, auf den vor allem die Päpste immer wieder zu sprechen kommen.5

Einheit in Vielfalt: Katholisches Engagement im Heiligen Land

Die christlichen Konfessionen eint in ihren vielfältigen Herausforderungen des täglichen Lebens vor allem der Wille, Menschen in Not und Flüchtlingen zu helfen. So unterhalten die einzelnen Konfessionen zahlreiche Hilfseinrichtungen, von denen einige beispielhaft auf katholischer Seite hier benannt werden. Innerhalb des Lateinischen Patriarchats ist es vor allem die Caritas, hinzu kommt die Kirche als wichtiger Arbeitgeber in den Gemeinden, Krankeneinrichtungen und im Tourismus.

Die größte Koordinationsaufgabe kommt bei allen Aktivitäten der am 1. Juni 1949 gegründeten „Pontifical Mission for Palestine“ („Päpstliche Mission für Palästina“) zu, die als Beitrag der Kirche die Versorgung palästinensischer Flüchtlinge sichern und als Dachorganisation weitere Aktivitäten koordinieren sollte. Allein in den ersten zehn Jahren ihres Bestehens wendete sie 34 Mio. US-Dollar für Nahrung, Kleidung, Medizin und sonstige Hilfen auf. Nach dem Sechstagekrieg errichtete die Pontifical Mission zusammen mit anderen Hilfseinrichtungen ein weit verzweigtes Netzwerk, um Schulen, Dispensarien, Krankenhäuser und Ambulanzstationen, Kindergärten und Altenheime sowie kooperative Hausbauprojekte zu unterstützen. In ihrer langjährigen Entwicklung versteht sich die Pontifical Mission heute nicht als die zentrale Hilfsorganisation, sondern sie steht im „Konzert“ der anderen Einrichtungen, die selbstständige Projekte im Heiligen Land fördern. Ein wesentlicher Aspekt ist die Flüchtlingshilfe zusammen mit der „United Nations Works and Relief Agency“ (UNWRA), durch die allein zwischen 1994 und 1999 500 Häuser wieder aufgebaut werden konnten. Aufgrund der dramatischen Veränderungen nach 1967 konzentrierte sich die Pontifical Mission verstärkt auf die Verteidigung der Menschenrechte und damit auf die Aufrechterhaltung des sozialen Lebens.6

Zu den von der Pontifical Mission unterstützten Einrichtungen gehört auf dem Gesundheits- und Rehabilitationssektor die „Atfaluna Society for Deaf Children“, die 1992 im Gazastreifen gegründet wurde. Die „Bethlehem Arab Society for Rehabilitation“, 1960 ins Leben gerufen, verfolgt heute eine hochqualitative Arbeit für Menschen mit Behinderung. Das 1986 verabschiedete und international anerkannte Programm „Community Based Rehabilitation“ bemüht sich um eine zugleich mit nicht behinderten Menschen gelebte Integration. Die Rehabilitierung von Behinderten unterstützt außerdem die „Lifegate Rehabilitation“ mit Sitz in Beit Jala, die sich auf Langfristtherapien konzentriert und eine soziale Wiedereingliederung in das arabisch-palästinensische Umfeld, vor allem die eigenen Familien, versucht. Das 1971 auf den besonderen Wunsch von Paul VI. ins Leben gerufene „Epheta Institute“ in Betlehem kümmert sich um die Rehabilitation und Integration von taubstummen Kindern. Es wird von den Dorotheen-Schwestern geleitet und bietet Früherkennungsuntersuchungen, Kindergartenplätze, Grundschulausbildung und umfangreiche Computerausbildungsplätze an.

Die wohl älteste katholische Hilfseinheit ist die „Crèche“, 1886 in Betlehem von den Ordensschwestern des heiligen Vinzenz von Paul gegründet. Knapp hundert Kindern zwischen der Geburt und dem sechsten Lebensjahr wird hier Hilfe angeboten: Vollwaisen, Kleinstkinder, die auf Müllhalden gefunden wurden, und – in den vergangenen Jahren mit extrem zunehmender Tendenz – Kinder, die aus unehelichen Beziehungen stammen und deren Mütter oftmals der Hinrichtung durch einen „Ehrenmord“ zum Opfer fielen. Hinzu kommen die beiden wichtigen Institutionen des „Bethany’s Home“ für Jungen und das „Home of Peace“ für Mädchen, die als Waisen aufwachsen oder aus zerrütteten Familien stammen. Das Caritas Baby-Hospital in Betlehem (genannt auch „Kinderhilfe Betlehem“) gehört zu den wichtigsten Einrichtungen der Region. Es entstand in Kontinuität zur Arbeit der Schweizer Caritas, die in der Region nach dem ersten israelisch-arabischen Krieg und dem daraus resultierenden Flüchtlingselend aktiv wurde. Das Achtzig-Betten-Haus enthält unter anderem eine komplette Entbindungsstation, Frühgeborenenbetreuung und jede Form der medizinischen Hilfe. Jährlich werden hier rund 3500 Kinder betreut. Hinzu kommt eine Schwesternschule, ein Trainingsprogramm für Mütter sowie eine eigene Sozialstation. Besonders wichtig ist in den vergangenen zwanzig Jahren das „Primary Health Program“ geworden: In der ländlichen Umgebung von Betlehem unterweisen Mitarbeiterinnen des Krankenhauses die Mütter in Hygiene, Krankheitsbehandlung und oft auch in sozialen Fragen.

Ältere Menschen finden auf katholisches Engagement hin eine Heimat im 1957 gegründeten „Home Notre Dame des Douleurs“ im Jerusalemer Stadtteil Abu Dis, das die Kongregation der Schwestern „Notre Dame de Douleurs“ betreut, und in einem von der Caritas unterhaltenen Altenheim in Ramallah. Die Gesundheitsversorgung wird neben den hier benannten Einrichtungen vor allem vom 1979 gegründeten „Union of Palestinian Medical Relief Committee“ garantiert: In 25 ständigen Gesundheitszentren erhalten jährlich mehr als 200.000 Menschen medizinische Unterstützung und vor allem Gesundheitsaufklärung in Schulen sowie Erste-Hilfe-Ausbildungen.

Das von der griechisch-katholischen Kirche 1982 gegründete „House of Grace“ in Haifa hilft vor allem sozial schwachen Familien, insbesondere solchen, in denen die soziale Versorgung aufgrund von Gefangenschaft des Vaters zusammengebrochen ist. Das Zentrum Al-Sadiq al-Taieb in Jerusalem, seit 1986 in Betrieb, bemüht sich um sozial gefährdete oder gebrochene Menschen, insbesondere Drogen- und Alkoholabhängige in den heutigen Autonomiegebieten. Prävention und Integration werden mit im Vergleich zu anderen nahöstlichen Ländern vorbildlichen umfangreichen Rehabilitations- und Aufklärungsprogrammen gefördert.

Um die demokratische Verantwortung in einem entstehenden palästinensischen Staat zu fördern, wurde 1993 das „Democracy and Workers’ Rights Center“ in Ramallah gegründet, das sich als unparteiische Institution versteht. Vor allem geht es um eine Stärkung der Rechte der Arbeiter auf gesetzlicher Grundlage. Dabei versucht die katholische Menschenrechtsgruppe, die Gewalt gegenüber palästinensischen Arbeitern – in Palästina genauso wie in Israel – ebenso zu bekämpfen wie Unterbezahlung und gerechte und sichere Arbeitsbedingungen bis hin zu Krankenversicherungen und Invalidenrente einzufordern. Um Rechtsfragen, vor allem Menschenrechte, kümmert sich die 1990 gegründete „Palestinian Society for the Protection of Human Rights and the Environment“. Sie zählt heute zu den führenden Menschenrechtsorganisationen in den palästinensischen Gebieten und versucht vor allem durch juristische Beratung und auch Unterstützung in Prozessen die oftmals kaum tragbaren Kosten für Betroffene zu übernehmen. Eine Sondereinheit beschäftigt sich mit Frauen- und Kinderrechten. Zur Unterstützung der Landbevölkerung wurde 1983 das „Palestinian Agricultural Relief Committee“ gegründet, das in Schulungseinheiten Farmer ebenso ausbildet wie auf eine ressourcenschonende Landwirtschaft bei gleichzeitiger Produktivitätssteigerung der in den palästinensischen Gebieten häufig ausgelaugten oder steinigen Böden achtet. Eine der jüngsten Entwicklungen ist die 1998 ins Leben gerufene arabische Frauenorganisation „Sidreh“, die insbesondere auf israelischem Gebiet Frauen in den Wüstenregionen des Negev hilft: Gesundheitsprogramme, Arbeitsprojekte für ein Grundeinkommen der Frauen und Ausbildungsangebote für Mädchen werden hier – in Zusammenarbeit mit der katholischen Kirche für eine überwiegend muslimische Halbnomadenbevölkerung – bereitgestellt.

Die hier dargestellte Arbeit wäre nicht möglich ohne das vielfältige und kaum übersichtlich darstellbare Engagement zahlreicher Ordensinstitute, seien es zum Beispiel die Rosenkranzschwestern mit Alteneinrichtungen und Gästehospizen, die Brüder Don Boscos mit Jugendausbildungsstätten oder die Gesellschaft des heiligen Vinzenz, die neben Ausbildungsprojekten und einem Büro für Menschenrechtsfragen vor allem aus einem Sozialfonds notleidende Familien unterstützt oder Schulgeld bezahlt. Die karitative Arbeit der katholischen Kirche wird anhand der genannten Institutionen insbesondere in Zusammenarbeit mit der Pontifical Mission an den Schwerpunkten Gesundheit, Erziehung und Rehabilitation sowie Menschenrechten deutlich, und zwar flächendeckend für die Bevölkerung in der Westbank und dem Gazastreifen. Folgerichtig unterstützt die Pontifical Mission bei allem Engagement darüber hinaus auch den Aufbau von drei Mutter-und-Kind-Kliniken des „Middle East Council of Churches“ und drei weitere Kliniken des „Palestinian Relief Committee“.

Ein weiterer, wesentlicher Schwerpunkt des Handelns der katholischen Kirche und damit auch der Pontifical Mission ist die Förderung der Schulen des Lateinischen Patriarchats. Heute gibt es in den Palästinensischen Gebieten 13, in Israel drei Schulen des Patriarchats. Rund 8500 Schüler werden von 717 Lehrkräften unterrichtet.7 Hinzu kommen fünf Kindergärten in Israel und 14 in Palästina. Als wesentliche Bildungsstätte in den palästinensischen Gebieten, die zu einer konstanten Perspektivvermittlung für junge Araber – Christen wie Muslime – bis heute beigetragen hat, ist die 1973 auf Wunsch von Paul VI. gegründete „Universität Betlehem“. Bereits während der Heilig-Land-Reise 1964 hatte der Papst die Idee geäußert, eine Ausbildungsstätte universitären Charakters in der Westbank zu errichten. Der Apostolische Legat Pio Laghi forcierte in seiner Amtszeit diesen Wunsch: Am 1. Oktober 1973 begann der Studienbetrieb, der vor allem den lokalen Bedürfnissen angepasst war, sodass die Universität bis heute jene Motivation für die junge Generation zu vermitteln versucht, nicht auszuwandern und gleichzeitig das Ansehen der katholischen Kirche aufgrund ihrer Bildungseinrichtung wesentlich zu verbessern. Dabei geht es neben den einzelnen Studienfächern und Schwerpunktforschungen (z. B. der Entwicklung eines „Business Development Centers“, dem Kooperationszentrum mit der UNESCO in Fragen der Biotechnologie, dem „Early Childhood Development Center“ oder der „Water and Soil Environment Research Unit“) auch um eine Form interkulturellen Lernens und des interreligiösen Dialogs. Geleitet wird die Universität von amerikanischen Schulbrüdern, Präsident ist der Lateinische Patriarch von Jerusalem, Kanzler der jeweilige Apostolische Delegat. Allein zwischen 2013 und 2014 waren 3282 Studenten an der Universität mit 194 Professoren eingeschrieben (1998/99: 2074 Studenten, 145 Professoren).8 In politischen Krisenzeiten wie beispielsweise während der al-Aksa-Intifada blieb die Universität kurzfristig geschlossen. Heute weiß auch der palästinensische Staat, dass seine soziale Infrastruktur ohne den christlichen Einsatz kaum existieren könnte: Mehr als 30 Prozent der Schulen und rund 40 Prozent der Krankenhaus- und Sozialeinrichtungen in Palästina werden von Christen betrieben.

Neben dem christlichen Engagement im Heiligen Land durch die Ortskirche gibt es eine Vielzahl von aktiver Hilfe, die aus dem internationalen Bereich kommt. Dazu zählt zum einen die „Catholic Near East Welfare Association“ (CNEWA), eine bereits 1926 gegründete amerikanische Hilfsorganisation, die die Arbeit der Kongregation für die Orientalischen Kirchen unterstützt.9 Zum anderen kommt für eine Bestandsaufnahme der Hilfsleistungen die politische Einordnung, aber auch die Frage nach den spirituellen Bedürfnissen der Menschen der „Riunione Opere Aiuto Chiese Orientale“ (ROACO, „Union der Hilfswerke für die Orientalischen Kirchen“) eine besondere Bedeutung zu, die 1968 im Vatikan gegründet wurde und ein wichtiges Gremium des Austauschs ist, da hier die Vertreter der orientalischen Kirchen außerhalb des Heiligen Landes ebenso präsent sind wie ein Großteil der erwähnten Hilfsorganisationen. Die Mitglieder der ROACO baten im Sommer 1977 die Kongregation für die Orientalischen Kirchen, eine Dachorganisation im Heiligen Land zu errichten, die vor allem die Aktivitäten der zahlreichen katholischen Schulen koordinieren sollte. So wurde das „Secrétariat de Solidarité“ etabliert, das unter der Leitung des Apostolischen Delegaten steht und in kürzester Zeit die Zusammenarbeit der Schulen – auch im ökumenischen Kontext – wesentlich verbessern konnte. Gerade die Schulen und zahlreiche weitere Einrichtungen des Heiligen Landes erhalten umfangreiche finanzielle Hilfe durch den Ritterorden vom Heiligen Grab zu Jerusalem, der 1847 neu ins Leben gerufen wurde und seit dem 14. September 1949 den Status einer juristischen Person kanonischen Rechts hat. Jährlich bringt der Orden weltweit rund 10 Mio. Euro Hilfsgelder auf (davon aus Deutschland ca. 1,47 Mio. Euro), die über das Großmeisteramt in Rom für Projekte der lateinischen Kirche zur Verfügung gestellt werden. Beim vielfältigen Engagement im Heiligen Land ist von deutscher Seite außerdem der traditionsreiche „Deutsche Verein vom Heiligen Lande“ zu nennen, der nach seiner Gründung 1855 verschiedene Projekte im Heiligen Land unterhält: Paulus-Haus/Schmidt-Schule, Jerusalem; Pilgerhaus und Kloster Tabgha, See Genesaret; Dormitio-Abtei, Jerusalem; Altenpflegeheim „Beit Emmaus“, Qubeibe.10

Insbesondere die katholischen Hilfswerke handeln nach der Maxime, sich im Lateinischen Patriarchat abzusichern, um in keiner Weise durch ihre Arbeit den Status quo an den Heiligen Stätten zu gefährden. Da dieser Status quo bereits in der Phase der Staatengründung für alle christlichen Konfessionen im Heiligen Land wesentlich war und auch die weiteren Überlegungen prägt, sei hier kurz an den Sachstand erinnert. Es wird zwischen dem Status quo im engeren (d. h. die 1852 von den Osmanen festgelegte Ordnung für die Heiligen Stätten) und weiteren Sinn (d. h. das staatskirchenrechtliche Gesamt der so genannten „Traditionellen Rechte“, die im Laufe der Geschichte erworben wurden, wie z. B. Immunitäten und Privilegien) unterschieden.11 Dabei ist bemerkenswert, in welch vielfältiger Weise sich vor allem Ende des 20. Jahrhunderts der Heilige Stuhl mit dieser Frage beschäftigte. Für die Kirchenführer aller Konfessionen war es in den vergangenen Jahrzehnten eine Herausforderung, den Status quo sowohl als ökumenische Gesamtchristenheit als auch durch die jeweils individuelle Konfession öffentlich einzufordern.

II. Der Heilige Stuhl und das Heilige Land – eine wechselvolle Geschichte

Nach dieser Grundlage, die gezeigt hat, wie sich die christliche Minderheit heute definiert, wo sie ihre Herausforderungen sieht und wo sie auf internationale Unterstützung angewiesen ist, fällt der Blick im folgenden Kapitel auf die Geschichte der Ortskirche und das Engagement sowie die politischen Interessen des Heiligen Stuhls. Beide Linien zeigen Parallelen auf und führten in einer 50-jährigen Geschichte zu den vier Apostolischen Reisen der Päpste von Paul VI. bis Franziskus ins Heilige Land.12

Anfänge: Zwischen 1847 und dem Ende des Zweiten Weltkriegs

Die jüngere Geschichte der katholischen Kirche im Heiligen Land beginnt 1847. Damals unterstrich der Heilige Stuhl seine Sorge um die katholischen Christen im Heiligen Land mit der Wiedererrichtung des Lateinischen Patriarchats von Jerusalem. Zuvor war es vor allem die Kustodie der Franziskaner für das Heilige Land gewesen, die die Verwaltung und Seelsorge an den heiligen Stätten aufrechterhalten hatte. Das Verhältnis des Heiligen Stuhls gegenüber den Juden blieb von Anfang an schwierig, vor allem seit Pius X. in einer Audienz für Theodor Herzl 1904 offiziell die zionistische Grundidee abgelehnt hatte. Trotz des Vorschlags von Herzl, den Heiligen Stätten ein exterritoriales Statut zuzuerkennen, blieb der Papst unbeugsam: „Wir können die Juden nicht daran hindern, nach Jerusalem zu gehen, aber wir könnten es niemals sanktionieren. Der Boden Jerusalems, wenn er nicht immer geheiligt war, ist durch das Leben Jesu Christi geheiligt worden.“13 Herzl versicherte nach der Audienz Kardinalstaatssekretär Rafael Merry del Val, dass seine Initiative ausschließlich jenen Boden Palästinas meine, der nicht mit Heiligen Stätten in Verbindung zu bringen sei. Umso bemerkenswerter ist es, dass Papst Franziskus als erster Papst bereit und das diplomatische Umfeld soweit gediehen war, auf dem Mount Herzl in Jerusalem das Grab Theodor Herzls zu besuchen.

Bei der Umsetzung der Balfour-Deklaration von 1917, die zur Schaffung einer Heimstatt für das jüdische Volk beitragen sollte, verhielt sich der Heilige Stuhl weitgehend neutral, ließ aber immer wieder sein Unbehagen über die Ausdehnung jüdischer Siedlungen zum Ausdruck kommen. Allerdings war es weniger eine antijüdische Haltung als vielmehr der Wunsch, die Rechte der katholischen Kirche zu sichern. So erklärte Benedikt XV. anlässlich einer Kardinalserhebung am 29. Juni 1921: „Wir wollen keineswegs, dass die Rechte der Juden geschmälert werden; wir verlangen jedoch, dass diese in keiner Weise über die heiligen Rechte der Christen gestellt werden.“14 In den folgenden Jahren verstärkte sich diese Haltung, sodass Kardinalstaatssekretär Pietro Gasparri im Juni 1922 während einer international umstrittenen Aktion beim Völkerbund in Genf gegen die Vorzugsbehandlung der Juden in Palästina protestierte. 1937 forderte der Heilige Stuhl in einer diplomatischen Note an die britischen Mandatsträger den Schutz der Heiligen Stätten. Erst aufgrund der Folgen des Zweiten Weltkriegs und der veränderten politischen Lage im Nahen Osten kam es beim Vatikan zu einem allmählichen Umdenken in Bezug auf die Bedeutung des Heiligen Landes für die Angehörigen der drei monotheistischen Religionen. Allerdings konnte der Palästina betreffende Absolutheitsanspruch, dass das Land ausschließlich durch Jesus Christus geheiligt worden sei und deshalb die Christen ein besonderes Vorrecht hätten, erst mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil überwunden werden.

Aufbruch: Vom UN-Teilungsplan bis zur Gründung des Staates Israel

Bemerkenswert ist die Ansprache von Papst Pius XII. im August 1946 vor Vertretern des „Hohen Arabischen Rats für Palästina“, in der er das Existenzrecht der Juden ebenso betonte wie die zu sichernden Lebensumstände der palästinensischen Araber. Das setze den Respekt vor den Rechten der anderen, „vor besonderen Positionen und Traditionen insbesondere auf religiösem Gebiet voraus. […] Wir lehnen jeden Rückgriff auf Gewalt ab, gleich von welcher Seite er kommt, so wie Wir mehrfach in der Vergangenheit die Verfolgungen verurteilt haben, die ein fanatischer Antisemitismus gegen das jüdische Volk entfesselt hat. […] Es ist eine Friedensordnung zu finden, die jeder am Konflikt beteiligten Partei die Sicherheit der Existenz und zugleich physische und moralische Lebensumstände ermöglicht, unter denen materieller und kultureller Wohlstand erreicht werden kann.“15 Als in der Folge des Zweiten Weltkriegs deutlich wurde, dass die Palästinafrage auf internationaler Ebene neu verhandelt werden würde, schaltete sich auch der Heilige Stuhl ein. Es waren vor allem Kardinal Francis Spellman in seiner Funktion als Präsident der schon weiter oben erwähnten CNEWA sowie dessen Generalsekretär Msgr. Thomas McMahon, die in Absprache mit Rom die Haltung des Heiligen Stuhls bei den Vereinten Nationen darlegten, nach der die Regierungsform nicht von Interesse sei, wohl aber müssten die Interessen der Christen Berücksichtigung finden.16 Der UN-Teilungsplan vom 29. November 1947 mit der Resolution 181 stieß auf Zustimmung des Heiligen Stuhls, da er Jerusalem als „corpus separatum“ und eine Internationalisierung unter der Verwaltung der Vereinten Nationen vorsah, womit die Garantie zum Schutz der heiligen Stätten automatisch verbunden war. Außerdem sah man die willkommene Chance, ein gesichertes Territorium für die arabischen Christen in den außerhalb Israels gelegenen Gebieten zu erhalten. Trotz dieses Plans und der Staatsgründung war es dem Heiligen Stuhl aber nicht möglich, Israel sofort formell und diplomatisch anzuerkennen. Das hing unter anderem mit dem negativen Ausgang der Volksabstimmung über den Teilungsplan, der kirchenpolitischen Status-quo-Frage Jerusalems, Rücksicht auf die Ortskirchen, ungeklärten Rechtsfragen und der illegalen Grenzziehung nach dem Unabhängigkeitskrieg 1948/49 zusammen. In dieser Situation hat der Heilige Stuhl deshalb in gewisser Weise dem Teilungsbeschluss zur Staatswerdung Israels zugestimmt, was einer – bis heute zu wenig beachteten – De-Facto-Anerkennung gleichkommt, wenn auch die volle diplomatische Anerkennung und damit entsprechende Aufnahme von gegenseitigen Beziehungen fehlte.

Mit dem Tod des Lateinischen Patriarchen Luigi Barlassina17 im Herbst 1947, der über viele Jahre die katholische Diözese aufgebaut hatte, entschied sich Pius XII. für eine Umstrukturierung der diplomatischen Vertretungen im Nahen Osten: Im 19.  Jahrhundert hatten Jerusalem und Palästina zur Apostolischen Delegatur Syrien gehört, seit 1929 zu Kairo. So wurde – nach dem Teilungsplanbeschluss und vor der Staatsgründung Israels – am 11. Februar 1948 die „Apostolische Delegatur in Jerusalem und Palästina“ eingerichtet, die für Gesamtpalästina als Interessenvertretung diente und so der Idee nach einem Land und der besonderen Stellung Jerusalems Rechnung trug. Es war der Wunsch Pius’ XII., dass die Delegatur „in geeigneter Weise das ewige Heil der Seelen, auch fern vom Zentrum der katholischen Einheit“ fördern sollte. Sie wurde in der Folgezeit zu einem der wichtigsten Anlaufpunkte für die katholischen, nachher aber auch darüber hinaus ökumenischen Anliegen im Heiligen Land.18

In den folgenden zwölf Monaten unterstrich der Papst in drei Enzykliken mehrfach seine Sorge für den Schutz der heiligen Stätten und die Notwendigkeit der Internationalisierung Jerusalems. Am 1. Mai 1948, also zwei Wochen vor der Ausrufung des Staates Israel, veröffentlichte Pius XII. das Schreiben Auspicia quaedam19, in dem er die nahezu tägliche Gewaltanwendung und den damit verbundenen Verderb für die heiligen Stätten thematisierte. Palästina müsse jedem am Herzen liegen, weshalb man dafür beten wolle, dass im Monat Mai die Situation in Palästina auf der Basis von Gleichheit gedeihen möge. Jerusalem selbst fand in der Enzyklika keine Erwähnung. Mit der Ausrufung des Staates Israel am 14. Mai 1948 und dem daraus resultierenden ersten israelisch-arabischen Krieg, der auch verschiedene christliche Stätten beschädigte, kam es zu einer für die Kirchen bedenklichen Situation aufgrund massiver Flüchtlingswellen in den arabischen Nachbarstaaten. Während die Unabhängigkeitserklärung die Religions- und Gewissensfreiheit und die Verpflichtung Israels zum Schutz aller heiligen Stätten betonte, beobachtete der L’Osservatore Romano die Lage eher zurückhaltend und kommentierte fortlaufend die Vorgänge im „jüdischen Staat“. Auf die angespannte Situation ging Pius XII. in seiner Enzyklika In multiplicibus curis20 vom 24. Oktober 1948 ein, in der er die Angriffe und die Beschädigung der heiligen Stätten beklagte und die freie Ausübung des religiösen Bekenntnisses forderte. An die Gläubigen in anderen Nahoststaaten und die diplomatischen Vertreter des Heiligen Stuhls in Palästina, dem Libanon und Ägypten appellierte er, sich an der Friedenssuche zu beteiligen. Er drückte sein Mitgefühl für die Flüchtlinge aus, „die von ihrem Land vertrieben umherziehen, Zuflucht und Brot suchend“. Deutlich ging Pius XII. auf den Status von Jerusalem ein. Durch internationale Garantien müsse der freie Zugang zu den heiligen Orten, die Freiheit des Kultes und der Respekt der freien Religionsausübung gemäß den jeweiligen religiösen Traditionen gesichert sein. Denn jetzt sei die Gelegenheit, „Jerusalem und seiner Umgebung […] eine stabile und solide internationale Regierung zu geben, die unter den aktuellen Umständen den Schutz der heiligen Stätten besser gewährleisten könne“.

CNEWA-Generalsekretär McMahon reiste im Dezember 1948 nach Palästina und Israel sowie Jordanien, um sich ein differenziertes Bild von den Flüchtlingsdramen zu machen. Seinen Berichten ist es zu verdanken, dass der Heilige Stuhl detailliert über die aktuelle Lage informiert war. Während der internationalen Debatte, ob Israel einen Sitz in den Vereinten Nationen erhalten solle, veröffentlichte Pius XII. am 15. April 1949 die Enzyklika Redemptoris nostri, die sich ausführlich mit der Palästinafrage beschäftigte und auf diplomatischer Ebene die internationale Gemeinschaft bewegen sollte, die Aufnahme Israels in die UNO vom Bekenntnis zur Resolution 181 abhängig zu machen.21 In seinem Schreiben unterstrich Pius XII. das Rückkehrrecht der Palästinaflüchtlinge und den – auch juristischen – Schutz aller heiligen Stätten in Palästina. Deutlicher als in den bisherigen Enzykliken hob der Papst seine Forderung nach der Internationalisierung Jerusalems gemäß dem UN-Teilungsplan hervor. Mit legalen Mitteln sei es notwendig, eine gerechte Situation und dauernde Stabilität in Jerusalem zu erreichen: „Jerusalem und seiner Umgebung soll ein juristisches Statut gegeben werden, dessen Stabilität unter den aktuellen Bedingungen nur durch ein Übereinkommen von Staaten gesichert werden kann, die den Frieden lieben und die Rechte anderer achten.“ Es steht heute außer Frage, dass McMahons Informationen Pius XII. zu entsprechenden Aussagen in der Enzyklika bewegt hatten. Ebenfalls wird es McMahons Details zu verdanken sein, dass der Papst in Konsequenz zu seiner Enzyklika einen sichtbaren Beitrag zur Minderung des Flüchtlingselends leisten wollte und damit den karitativen Auftrag der Kirche zur Geltung brachte. Am 1. Juni 1949 erfolgte daher die schon weiter oben erwähnte Gründung der „Pontifical Mission for Palestine“ („Päpstliche Mission für Palästina“); Präsident wurde Msgr. McMahon.

Existenz Israels: Zwischen Staatsgründung, Flüchtlingen und der Jerusalemfrage

Die Gründung der Pontifical Mission war Auslöser für zahlreiche, wenn auch teilweise erst wesentlich später, vor allem nach 1967 und dem Ausbruch der Intifada von 1988, gegründeten Einrichtungen, in denen sich insbesondere die katholische Kirche und andere Konfessionen für die Gesamtbevölkerung engagierten. Kompliziert bleibt die Bewertung des Flüchtlingsdramas in der frühen Zeit des Staates Israel. In Israel konzentrierte man sich darauf, der Welt zu zeigen, wie gut sich die Lage für die christliche Minderheit entwickelte, die arabische Seite neigte zur Dramatisierung. Tatsächlich – und das wirkt sich bis heute aus – sind weit weniger Christen damals geflüchtet, weil ihre wirtschaftliche Situation insgesamt besser war als die vieler muslimischer Mitbewohner: „Die christlichen Gemeinden Palästinas litten unter den Kriegsfolgen, insbesondere aufgrund der massiven Flucht und Vertreibung. Auf israelischem Gebiet war durch das unterschiedliche Fluchtverhalten christlicher und muslimischer Palästinenser der Anteil der Christen an der arabischen Bevölkerung zwar gestiegen; in einzelnen Gemeinden gab es jedoch große Mitgliederverluste. Fünf Pfarreien des Lateinischen Patriarchats in Israel mussten aufgegeben werden, weil der Großteil der Gemeindemitglieder geflohen war.“22 Besonders schwierig war die Situation in Jerusalem, denn oft hatten die Christen, die im arabischen Teil der Stadt lebten, ihren Arbeitsplatz auf israelischem Gebiet verloren: „Christliche Institutionen und Klöster in Ostjerusalem waren von ihrem Grundeigentum im Westteil und damit von ihren Einkommensquellen abgeschnitten. Da die Emigrationsrate der Christen in Jerusalem besonders hoch war, verlor die Stadt ihre Stellung als Zentrum des christlichen Lebens in der Region.“23

Sieben Jahre nach den drei Enzykliken, die die Sorge des Papstes für das Heilige Land beschrieben, veröffentlichte Pius XII. am 1. November 1956 ein weiteres Rundschreiben unter dem Titel Laetemur admodum, in dem er mit Blick auf die Unruhen in Ungarn und Polen sowie die Suezkrise auch zum Friedensgebet im Nahen Osten aufrief und erneut den Schutz der heiligen Stätten und eine Lösung der Flüchtlingsfrage einforderte.24 In allen Dokumenten und der konkreten Arbeit vor Ort wiederholte der Vatikan auf diplomatischer Ebene die Auffassung trotz internationalen Drängens, dass zuerst rechtliche, eigentumsspezifische und juristische Fragen geklärt sein müssten, bevor Israel vom Heiligen Stuhl anerkannt werden könne.