Wolfgang Jacoby

Oliver Schwarz

Die Grenzen der Erde

Über die Endlichkeit natürlicher Ressourcen

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Unseren Kindern, Enkeln und Urenkeln

 

 

 

 

 

Wolfgang Jacoby

Oliver Schwarz

 

 

 

 

 

 

 

Die Grenzen der Erde

Über die Endlichkeit natürlicher Ressourcen

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

ATHENEMEDIA

 

 

Verfasser:

 

Prof. Dr. Wolfgang Jacoby
Geowissenschaften
Johannes Gutenberg-Universität
55099 Mainz

 

Prof. Dr. O. Schwarz

Universität Siegen

Universitätssternwarte / Didaktik der Physik

Adolf-Reichwein-Straße

57068 Siegen

 

 

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©2014 Andre Hoffmann Verlag - AtheneMedia - 46535 Dinslaken

Erstausgabe

Alle Rechte vorbehalten.

Umschlaggestaltung: AtheneMedia

ISBN 978-3-86992-235-5

 

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1 Haben wir genug Energie?

„Fukushima“ hat die Energiedebatte wie kaum ein früheres Ereignis angefacht. Die durch Erdbeben und Tsunami ausgelöste Kernkraft-Reaktorkatastrophe hat zur Forderung geführt, die erneuerbaren Energien so weit auszubauen, dass alle KKWs abgeschaltet werden können. Man hört, dies sei sofort möglich, wenn man nur wolle. Selbst Politiker, die wirtschaftliches Wachstum propagieren, äußern sich optimistisch über die Möglichkeiten der „Erneuerbaren“: Selbstverständlich habe man das Energieproblem im Griff. Ist das wahr? Wie steht es mit dem Wachstum?

Es stimmt nicht: So einfach ist die Umstellung der Energieversorgung nicht – insbesondere dann nicht, wenn sie einhergeht mit Verheißungen einer angeblich sorgenfreien Bereitstellung von Strom, Wärme und diversen Transportmöglichkeiten, die sogar Spielräume für den kräftigen Ausbau der Konsum- und Industriegesellschaft eröffnen soll. Und die öffentliche Debatte macht es deutlich, wenn man sie kritisch verfolgt. Unsere begründete Überzeugung ist, dass Wachstum, das auf zunehmendem Energieeinsatz beruht, bald enden muss und wird. Das folgt zwangsläufig aus der Begrenztheit der Erde und ihrer Rohstoffvorräte, sowie aus dem Energiebedarf des Menschen, bzw. aus dem tatsächlichen Energieumsatz, meist fälschlich „Verbrauch“ genannt. Wir müssen Angebot und Bedarf an Energie ins Verhältnis setzen und die Grenzen des möglichen Wachstums quantitativ erfassen. Nur bei „vernünftigen“ Verhältnissen können wir erwarten, dass wir alle gut leben können.

Selbst Kinder sehen, dass es so nicht immer weitergehen kann. Nur Ökonomen und Politiker sehen das nicht, die meisten. Wer das Ende des Wachstums konkret voraussagt, erntet Spott. Wenn man daran erinnert, dass der Club of Rome genau dies vor 40 Jahren getan hat, hört man, er habe sich doch offensichtlich geirrt. Aber verdient der Club of Rome wirklich Spott? Oder vielleicht nicht eher diejenigen, welche die Warnungen zu wörtlich genommen hatten? Kann es sein, dass die Zeitschätzung zu kurz war? Erst recht belächelt wird Thomas Malthus, der schon vor 200 Jahren auf die Gefährlichkeit exponentiellen Wachstums hinwies. Nichts davon sei doch eingetreten, das Wachstum habe bis heute angedauert, uns gehe es doch immer noch gut, ja sogar besser! Materiell geht es uns besser, aber sind wir zufriedener? Geht es der Menschheit besser, allen Menschen? Jedenfalls glaubt man, oder man macht uns glauben, wir müssten weiter wachsen, wenn wir die Weltprobleme lösen wollen. Doch kann es wirklich auf Dauer so weitergehen? Der gesunde Menschenverstand sagt nein. Und die sachlichen Argumente?

Bei dem Versuch, diese Fragen zu beantworten, verfolgen wir verschiedene Ansätze. Zunächst klären wir, welche natürlichen Energieflüsse und Energievorräte zur Verfügung stehen. Entscheidend ist dabei die Energiedichte in der Fläche und damit der Flächenbedarf. Hinzu kommen die endlichen Vorräte gespeicherter Energie, auf denen die heutige Wirtschaft beruht.

Nachfolgend werden wir zunächst das vorindustrielle, sozusagen natürliche Verhältnis betrachten. Dann müssen wir die gegenwärtigen Verhältnisse unter die Lupe nehmen, d.h. die Situation bei Rohstoffen und „Verbrauch“ analysieren. Das wird uns die Wachstumsgrenzen quantitativ erschließen und anschaulich machen.

Formulieren wir zunächst die Fragen noch einmal um! Wie lange reichen die Vorräte, wie lange kann Wachstum noch weitergehen? Können die erneuerbaren Energien die Menschheit ausreichend versorgen, wenn die Vorräte verbraucht sind? Wenn ja, wie? Bisher sind Wohlstand, Wachstum und Energie aufs engste miteinander verknüpft, kann diese Verbindung aufgebrochen werden? Kann Wohlstand ohne zusätzliche Energie wachsen, d.h., können Wachstum und Energie entkoppelt werden? Diese Fragen sind miteinander verschränkt; sie lassen sich daher nicht isoliert behandeln. Sie hängen damit zusammen,

wie weit die Rohstoffe reichen,

wie ergiebig die erneuerbaren Energien sind und

was wir zum „guten Leben“ wirklich brauchen.

Diese Fragen bewegen uns. Bevor wir näher auf sie eingehen, wollen wir hier kurz erläutern, was uns motiviert hat, weshalb wir zu unserem Thema „Energie und Wachstum“ kamen, und warum wir diesen Essay schreiben.


Motivation

Vielleicht braucht es keinen besonderen Anstoß die Welt kritisch zu betrachten, aber Ermunterung durch die Eltern scheint eine große Rolle zu spielen. Die Gesellschaftssysteme in West und Ost, in denen wir aufwuchsen, erlebten wir als reformbedürftig, und wie darüber zu Hause gesprochen wurde, hat unser Fragen wahrscheinlich bestärkt. WJ, aus „dem Osten“ stammend, kam schon 1945 in „den Westen“ und machte den wirtschaftlichen Aufschwung mit. Als Kriegsfolge erlebte die Familie Armut; das lehrte ihn eine kritische Sicht sozialer Ungleichheit. Er musste sich im Rahmen der Familie mit religiösen, philosophischen und sozialen Fragen auseinandersetzen und lernte, skeptisch gegenüber dogmatischen und fundamentalistischen Aussagen zu sein. Das Studium der Physik und Mathematik, dann vor allem der Geophysik und Geologie, sensibilisierte ihn für die Grundsatzfrage, was wir wissen und was wir nicht wissen können. Später, in der Zeitschrift „Spektrum der Wissenschaft“ betonte er die Verantwortung der Geowissenschaftler für die Zukunft der Menschheit angesichts Überbevölkerung, Klimaerwärmung und knapper werdender Vorräte (Jacoby, 2008).

OS wuchs in der DDR unter wirtschaftlichen Rahmenbedingungen auf, die geprägt waren von begrenzten Ressourcen, eingeschränkten Konsummöglichkeiten, ironischerweise gleichzeitig einer enormen Verschwendung fossiler Energie und einem desaströsen Umgang mit der Umwelt. Er bemerkte, dass neben ideologischen Einflussfaktoren, die eine Gesellschaft prägen, auch wesentlich die Zugänge zu Rohstoffen und Energieträgern gehören.

Der Spektrum-Artikel führte zum Kontakt zwischen WJ und OS, der als Physik-Didaktiker in einem Aufsatz für Physiklehrer die Unmöglichkeit weiteren exponentiellen Wachstums behandelt und begründet hatte (Schwarz, 2006). Denn wenn von Wachstum die Rede ist, meint man immer prozentuales Wachstum pro Jahr, und das ist dasselbe wie exponentielles Wachstum. Es begann die Zusammenarbeit, die zu dem Entschluss führte, dieses Buch zu schreiben. Der Entschluss wurde verstärkt durch die Erfahrung, dass die Menschen vielfach keine Ahnung davon zu haben schienen, wie bald weiteres exponentielles Wachstum enden wird. Auch ging uns die ständige Beschwörung des Wachstums bei Politik und Wirtschaft immer mehr auf die Nerven. Es ist eine „schleichende Katastrophe“, heute noch kaum erkannt. Unsere Enkel oder schon unsere Kinder werden die Folgen erleben, sogar wir selbst, wenn das instabile Klimasystem möglicherweise „kippt“.

Es dämmerte uns, dass das Wachstumsproblem über Energiefragen hinausgeht. Wir leben in einer Zeit des definitiven Endes scheinbar unbegrenzten Wachstums. (Einzigartig ist die Tatsache, dass eine Gesellschaft ohne Wachstum auskommen muss, historisch betrachtet ja nicht. Das war eher Jahrtausende der Normalfall). Die Grenzen der Erde sind erreicht: „Endzeit“, nicht im Sinne religiöser Endzeiterwartung, sondern im Sinne einer neuen, rational begründeten Umstellung des Lebens auf die Situation in einer begrenzten Welt. Das Zeitalter in dem wir gegenwärtig leben, wird man zukünftig als „Zeitalter des Überganges“ ansehen – des Übergangs vom Zeitalter der Wachstumsgesellschaften hin zu Gesellschaften des konstanten Verbrauches von Ressourcen. Aufklärung der Öffentlichkeit tut not. Die Schule muss die Zusammenhänge verdeutlichen. Politiker, Ökonomen und Wirtschaftslenker müssen aufgerüttelt werden.

Dabei ist die Angst, dass wir ohne Wachstum dem Untergang geweiht sind, ja, dass jegliche gesellschaftliche Stabilität gefährdet sei, völlig unbegründet, denn die Situation, dass eine menschliche Zivilisation ohne Wachstum wirtschaftet, ist historisch wohlvertraut. Jahrtausende vergingen, ohne dass einzelnen Generationen Wachstum bemerkten. Im Alter konsumierte man die gleiche Menge wie in der Jugend, nutzte die gleichen Arbeitsverfahren und bediente sich der gleichen nützlichen Erfindungen, die das Leben einfacher machten. Ein globales Wirtschaftswachstum gab es als gemittelten Wert allenfalls im Promillebereich. Einzelne Staaten erlebten Wachstumsphasen nur in historisch kurzen Zeitspannen und das auch nur auf Kosten der umliegenden Länder – oft durch kriegerische Aneignung fremden Besitzes. Um den Staat zu erweitern benötigte man mehr Land, mehr Arbeitskräfte, mehr Agrargüter, mehr Waffen usw., kurzum, man benötigte mehr Ressourcen und es gab nur sehr wenige Möglichkeiten, zusätzliche Ressourcen innerhalb des eigenen Territoriums zu erschließen. Die territorialen Ressourcen waren limitiert und mithin ein Wachstum allein aus der lokalen Wirtschaft heraus unmöglich. Und dann, gleich Leuchttürmen in der Menschheitsgeschichte, gab es herausragende Erfindungen, die in Verbindung mit veränderten Wirtschaftsformen erweiterte Zugänge zu Ressourcen verschafften: Der Ackerbau verbesserte den Zugang zur Nahrung durch Einsatz von Hacken, Spaten und Pflügen; das Rad und der Bau von größeren Schiffen ermöglichten Seefahrt und Handel, wodurch neben Nahrungsmitteln auch Rohstoffe und veredelte Güter zur Verfügung gestellt werden konnten.

„Unsere“ Wachstumsgesellschaft begann dann vor rund 200 Jahren mit der Erfindung der Dampfmaschine. Die mit Dampf betriebenen Motoren ermöglichten den Abbau von Kohle aus unterirdischen Flözen und erschlossen damit eine Ressource, die der Menschheit bis dahin nur in sehr kleinem Umfang zur Verfügung stand – Energie. Diese Energie wirkte wie eine gewaltige Dosis Backpulver auf den zivilisatorischen Teig und wir wissen auch aus welchem Grund. Hochwertige Energie (und die aus Kohle gewinnbare Energie ist hochwertig) hat in gewisser Weise viele Eigenschaften eines Zaubermittels: Mit Energie kann man nämlich Ressourcen relativ leicht erschließen. Man benötigt für Produktionszwecke die „Ressource Mensch“ – mit Energie kann man Menschen leicht transportieren. Man benötigt mehr Rohstoffe – mit Energie kann man sie gewinnen. Man braucht mehr Nahrung – unter erhöhtem Energie- und Stoffeinsatz (Düngemittel) wird man sie auf der gleichen Fläche produzieren. Und man kann durch einen größer werdenden Energieeinsatz auch immer mehr Maschinen herstellen, die ihrerseits immer mehr Energie verbrauchen und letztlich auch mehr Menschen versorgen.

Wie wir es auch drehen und wenden, zivilisatorisches Wachstum war immer an die Erschließung von stofflichen oder energetischen Ressourcen geknüpft und die Menschheit ist bei dieser Erschließung wahrlich nicht zimperlich vorgegangen. Ihr Repertoire umfasste neben fortschrittlicher Ingenieurskunst, naturwissenschaftlichem Arbeiten und friedlichem Handel auch Völkermord, Vertreibung und Versklavung. Angesichts dieser historischen Realitäten fragen wir besorgt, was passiert, wenn eine weitere Erschließung von Rohstoffen und Energie unmöglich wird, einfach weil keine Ressourcen mehr vorhanden sind?

Wir denken darüber nach, wieso die Leute die Illusionen haben, dass die Geschichte eine unaufhaltsame Fortschrittsgeschichte wäre, vom Jäger-und-Sammler-Stadium, über Nomadentum und Sesshaft-werdung, Ackerbau und Viehzucht zu den ersten Märkten und immer größer werdenden städtischen Siedlungen, immer größeren Reichen einschließlich der Ausbreitung über den ganzen Globus auf der Suche nach neuen Lebensräumen bis in die entferntesten Winkel der Erde, in die extremsten Klimate und Lebensweisen. Ein Grund ist die unvergleichliche Anpassungsfähigkeit, Phantasie und Kreativität der Spezies Mensch. Hinzu kommt der Erfolg: Vor 10 000 Jahren gab es etwa eine Million Menschen, vor 2000 Jahren 200 Millionen, vor 1000 Jahren 300 Millionen, vor 100 Jahren mehr als eine Milliarde und heute sieben Milliarden; Arbeitsteilung ermöglichte Nachdenken über die Welt, Dichtung, Philosophie, Wissenschaft, Technik und Medizin, Handel, Globalisierung … Aber Erfolg kann sich ins Gegenteil verkehren. Trotz zweier Weltkriege und erdrückender Konkurrenz der Systeme und Konzerne stellen wir im globalen Mittel ein Wachstum von ein paar Prozent pro Jahr fest. Das ist exponentielles Wachstum, getrieben von grenzenloser Gier nach Geld und Macht, aber natürlich auch von dem Bedürfnis der weitaus meisten Bewohner unseres Planeten, annähernd so zu leben, wie wir in Deutschland. Insbesondere die Finanzwelt will immer mehr und handelt mit Risiken, die von allen anderen getragen werden müssen. Die Blase ist in Gefahr, mit noch viel lauterem Knall zu platzen als die von 2008. Wir haben das Gefühl, dass es „kein gutes Ende“ nehmen kann. Die Erde kann nicht beliebig viele Menschen ernähren, erhalten oder gar „ertragen“. Dafür reichen die Vorräte nicht mehr lange aus, und die erneuerbaren Energieströme sind ebenfalls begrenzt. Das ist unser Motiv: die Grenzen des Wachstums sachlich nüchtern untersuchen.


Plan des Buches

Zuerst werden wir – unter der Überschrift „Energie und Gesellschaft“ – den existentiellen Energiebedarf des Menschen und damit den Bedarf an Fläche betrachten (Kapitel 2). Dazu müssen wir zu den Anfängen zurückgehen, zu den Verhältnissen vor der Industrialisierung und vor dem Rückgriff auf die fossilen Energievorräte. Letztlich ist das der „Naturzustand“, in dem der Mensch ausschließlich Sonnenenergie nutzt und von ihrer Nutzungsdichte begrenzt wird. Unter diesem Gesichtswinkel verfolgen wir einen Bogen bis ins Industriezeitalter und die Jetztzeit und zwar grundsätzlich ohne auf die konkrete Rohstoffsituation einzugehen. Wir schlagen ausdrücklich nicht vor, zu vor-industriellen Verhältnissen zurückzukehren, denn wir haben in der Zwischenzeit durch Aufklärung und Wissenschaft viel gelernt, was wir auch in Zukunft anwenden und weiterentwickeln werden; aber Wirtschaft und Politik müssen sich ändern und die vorgegebenen Grenzen der Natur respektieren lernen. Das betrifft vor allem den Umgang mit der begrenzten Energie.

Im nächsten Schritt werden wir – unter der Überschrift „Energetische Situation heute“ – die heutige Lage konkret analysieren (Kapitel 3). Es geht vor allem um die endlichen fossilen und nuklearen Energiereservoire, die in der Neuzeit immer intensiver ausgebeutet und genutzt werden und zum Teil schon zu einem hohen Prozentsatz verbraucht worden sind. Die Menschen in den früh industrialisierten Ländern und immer mehr auch den anderen Staaten haben sich an reichlich Energie gewöhnt, und Wirtschaftswissenschaften, Wirtschaft und Politik bestärken sie darin. Die Naturwissenschaften andererseits warnen vor den Folgen. Die Zeit, innerhalb derer sich die Wirtschaft auf die Abnahme der Energiereservoire einstellen muss, ist kurz, und das Kapitel 4 bereitet die späteren Berechnungen des Buches vor. Auch die erneuerbaren Energien, vor allem die solare, müssen nüchtern abgeschätzt werden. Es geht darum, wie weit die Hoffnung auf sie berechtigt ist. Immerhin gibt es im Unterschied zur vor-industriellen Zeit heute wissenschaftlich fundierte Technologien, welche die Nutzung der natürlichen Energieströme erweitert haben.

Zur Vorbereitung der eigenen Untersuchungen hinterfragen wir in Kapitel 4 („Sichtweisen und Aufgaben“) Wirtschaft, Politik und die verschiedenen Wissenschaften um die aktuelle Debatte verständlich zu machen. Wir erläutern dann vor allem die Haltung der Naturwissenschaften. Es wird der Versuch gemacht, die schlichten naturwissenschaftlichen Grundlagen zu erklären, auf denen unsere Schätzungen und Schlussfolgerungen beruhen. Das Kapitel richtet sich vor allem an kritische Leser, welche Argumente hinterfragen und sich weniger auf Plausibilität verlassen.

Kapitel 5 behandelt einige wichtige Grundlagen der verwendeten Berechnungen: Mathematik, Physik und Geologie. Es geht nicht um lehrbuchhafte Ausführungen; sondern nur um die spezifischen Aufgaben, die wir zu lösen haben. Es geht um Grundbegriffe wie z.B. Gleichungen, Exponentialfunktion, Energie, Wärme oder Lagerstätten von Energierohstoffen.

In Kapitel 6 begründen wir unsere Einschätzungen der Zukunftsaussichten anhand der verfügbaren und nutzbaren Energien mit geologischem und physikalischem Schwerpunkt. Hier kommt es auf die Datenquellen und ihre Zuverlässigkeit an. Ebenso wichtig ist die Frage, wie viel heute verbraucht wird. Aus den Daten können konkrete Reichweiten der Rohstoffe und die Verbrauchsgrenzen berechnet werden.

In Kapitel 7 werden Wachstumsgrenzen für die erneuerbaren Energieströme ermittelt. Man beachte, dass die Wachstumsgrenzen der Energieströme etwas anderes sind als die Reichweiten der endlichen Energievorräte. Die Grenzen sind nicht nur durch die endlichen Stärken der Ströme, sondern wesentlich auch durch deren Flächendichte vorgegeben. In Kapitel 6 und 7 präsentieren wir unsere zentralen Ergebnisse.

Zusammenfassend zeichnen wir in Kapitel 8 ein realistisches Szenarium für die zukünftige Energienutzung. Die Aussichten darauf, dass es auf unbestimmte Zeit so weitergehen wird wie bisher, sind sehr schlecht. Aber wir wollen Wege aufzeigen, auf denen man das Energieproblem in Zukunft lösen könnte und gewiss nicht als Weltuntergangspropheten auftreten. Abschließend gibt das Kapitel 8 einen Ausblick auf eine gerechte Zukunft. Die Schlussgedanken umfassen soziale Aspekte der Lösungsmöglichkeiten, deren Chancen umso besser sind, je zügiger wir uns auf ein dauerhaftes und wachstumsunabhängiges globales Wirtschaftssystem einstellen.

Ein Anhang mit kurzgefassten Erläuterungen der zentralen mathematischen, physikalischen und geophysikalischen Begriffe rundet unsere Darstellung ab.


Zusatzinformation: Ressourcen, Energie und Flächenbedarf

In diesem Buch sind einige Begriffe von zentraler Bedeutung, die umgangssprachlich zwar wohlvertraut sind aber viele Bedeutungen haben – für die Zwecke unserer Betrachtungen jedoch unbedingt exakt definiert werden müssen. Dies betrifft z.B. die Verwendung des Wortes „Ressource“. Diesen und verwandte Begriffe werden wir in Kapitel 5 und 6 exakt fassen. Bis dahin muss zunächst die umgangssprachliche Verwendung genügen, allerdings mit einer ersten Verfeinerung: Wir betrachten hauptsächlich die Energie und die mit ihr in engem Zusammenhang stehenden „Ressourcen“, also z.B. Energierohstoffe oder die Größe eines gewissen Teils der Erdoberfläche, die ihrerseits ja als Empfänger für die Sonnenenergie dient. Wie bereits in diesem Kapitel erläutert, erweist sich die Energie als einer der zentralen Begriffe, um Wachstum und zivilisatorische Strukturbildung zu verstehen. Auch die „Nahrung“ lässt sich unter energetischem Blickwinkel analysieren – nämlich im Hinblick auf den sogenannten Grundumsatz eines Menschen (die Nahrungsenergie in Kilojoule oder Kilokalorie pro Tag, die ein Mensch zum Leben benötigt). Unter diesem Gesichtspunkt wird auch eine Ackerfläche zur „Energieressource“, und die „Ressource“ Arbeitskraft steht plötzlich in engem Zusammenhang zum Energiebegriff selbst.

Die Abbildung 1.1 stammt aus einem kleinen Büchlein des Autors Rudolf Lämmel aus dem Jahre 1925. Der Verfasser leitete aus seinen Überlegungen zur Befriedigung der Bedürfnisse eines Einwohners in Deutschland einen Flächenbedarf von rund 20000 m2 pro Person für Deutschland ab – und zwar zusätzlich zur im Mittel damals pro Einwohner zur Verfügung stehenden Fläche von 7838m2! Uns erschüttert heute die (scheinbare?) Unbekümmertheit des Autors – seine Lösung ist dem „Zeitgeist“ entsprechend: „Die fehlenden Kolonien!“

Zum Vergleich: Bei rund 82 Millionen Einwohnern und einer Fläche von rund 357000km2 stehen jeder Person in Deutschland heute durchschnittlich etwa 4350 m2 zur Verfügung: das ist etwa ein Quadrat von 66 m Kantenlänge. Dies scheint wenig zu sein, vor allem, wenn wir bedenken, dass zu dieser Fläche auch Bergland, Gewässer, Wohnflächen, Verkehrsflächen usw. gehören. Dennoch wäre unsere Landwirtschaft gegenwärtig in der Lage, alle Einwohner Deutschlands zu ernähren – freilich nur mit heimischen Produkten ohne „Kakao“, „Südfrüchte“ oder „Kaffee“ (siehe Abb. 1.1), die wir uns durch Handel beschaffen müssen.

Fläche

Abb. 1.1: So schätzte man im Jahre 1925 den Flächenbedarf je Einwohner für Deutschland (Lämmel 1925).



Literatur

Jacoby, W.: Dynamische Erde: unser gefährdeter Lebensraum, Spektrum d. Wiss., 11/08, S. 104-113, 2008.

Lämmel, R.: Sozialphysik., Franckhsche Verlagshandlung, Stuttgart, 74 S., 1925.

Schwarz, O.: Die menschliche Zivilisation und das globale Energiegleichgewicht, Praxis der Naturwissenschaften, Physik, 8/55, S. 2-7, 2006.


2 Energie und Gesellschaft

Wir beginnen mit grundsätzlichen Überlegungen zum Energiebedarf des Menschen und der Gesellschaft als Ganzes. Zweifellos sind die Bedürfnisse einzelner Menschen sehr unterschiedlich; sie hängen stark davon ab, wie sie sich in ihrem Zusammenleben organisieren, und sie haben sich im Laufe der Entwicklung des Menschen seit vorgeschichtlicher Zeit stark gewandelt. Dieses Kapitel spannt einen weiten Bogen von der Vorzeit bis heute, geht aber nicht im Detail auf die heutige Situation bei Energierohstoffen und Verbrauch ein; diese wird in den Kapiteln 3 – 7 behandelt.

Und noch eines: „Energie“ gehört wie selbstverständlich zum Wortschatz des modernen Menschen, ist aber dennoch ein vielschichtiger, landläufig meist unverstandener Begriff. „Energisch“ bedeutet „kraftvoll“, „stark“. In der Natur aber ist „Energie“ neben Raum, Zeit, Körper, Masse etc. von zentraler Bedeutung. Als begriffliche Wissenschaft macht es uns die Physik nicht gerade leicht die unmittelbare Bedeutung der physikalischen Größe Energie für unser Leben zu erkennen. Wie so oft entlarvt unsere Sprache auch hier Verständnisprobleme.

In scheinbar unterschiedlichen Situationen formulieren wir die Sätze: „Ich habe großen Hunger und muss jetzt dringend etwas essen. Gerade ist mein Auto liegen geblieben, es hat kein Benzin mehr. Im Zimmer ist es kalt geworden, man muss dringend die Heizung aufdrehen.“ Doch eigentlich handelt es sich in allen drei Fällen um die gleiche Situation: Einem System muss Energie zugeführt werden. Leider sind vielen Menschen die intellektuelle Tragweite und der riesengroße Vorteil, den das Denken mit Hilfe naturwissenschaftlich gut beschriebener Begriffe bietet, nicht hinreichend deutlich. Wenn mehr Menschen mit dem physikalischen Energiebegriff besser umgehen könnten, dann würden uns vielleicht einige Lektionen erspart bleiben, die uns die Natur gerade erteilt. Zum Beispiel die immer wieder kolportierte und leider umgesetzte Idee, die Biomasse der Pflanzen in größerem Umfang zur Herstellung von Biotreibstoffen einzusetzen (siehe Kap.7). Pflanzen – genauer gesagt natürlich die in ihnen gespeicherte Energie – kann man eben entweder essen oder in Benzin umwandeln oder zum Heizen nutzen, denn die Energie, die pro Jahr auf eine bestimmte Fläche durch Sonnenstrahlung einfällt und die von den Pflanzen durch Photosynthese umgesetzt wird, ist ebenso begrenzt wie die Anbaufläche der für den jeweiligen Zweck vorteilhaft zu nutzenden Pflanzensorte selbst.


Energie und ihr Einfluss auf gesellschaftliche Struktur und Gesellschaftsform

Wie eine konkrete Gesellschaft aussieht und wie sie strukturiert ist, hängt natürlich von den unterschiedlichsten externen und internen ökonomischen, ökologischen, soziologischen und technischen Einflussfaktoren ab. Unter all diesen gehören die Menge und die technisch nutzbare Art der zur Verfügung stehenden Energie zweifellos zu den zentralen Faktoren. Natürlich muss auch die in den Nahrungsmitteln enthaltene Energie und die Energie, die zu ihrer Produktion aufgewendet wird, zum Energiestrom durch eine Gesellschaft gerechnet werden, denn wir brauchen Energie um am Leben zu bleiben. Diesen Aspekt meint man zwar in westlichen Industrieländern im Rahmen der Energiediskussion verdrängen zu können, für die meisten Nationen auf der Erde hat er hingegen auch heute noch die gleiche existentielle Bedeutung, die er von Anbeginn der Menschwerdung hatte. Im umgekehrten Fall, wenn eine Gesellschaft nämlich die in der Nahrung gebundene Mindestenergie für ihre Bevölkerung nicht mehr aufbringen kann, kollabiert sie. Das müssen wir leider bis heute immer wieder auf unserem Heimatplaneten beklagen.

Die in der Überschrift genannten Bezeichnungen „gesellschaftliche Struktur“ und „Gesellschaftsform“ werden in der Literatur in unterschiedlicher Weise gebraucht, und bevor weitere Überlegungen folgen, muss zunächst erläutert werden, in welcher Weise sie hier Verwendung finden. Wir haben dabei natürlich hauptsächlich die Energie- und Stoffströme durch die Gesellschaft im Blick und nehmen uns deshalb die Freiheit, die genannten Begriffe für unsere Zwecke festzulegen.

Unter der Bezeichnung Gesellschaftsform verstehen wir nachfolgend die Charakterisierung einer Gesellschaft durch ihre überwiegende oder ausschließliche Produktionsweise, konkret also etwa eine Gesellschaft von Jägern und Sammlern, eine Agrargesellschaft, eine Industriegesellschaft. Zwischen diesen „Idealtypen“ sind natürlich verschiedene Abstufungen und Übergangsformen denkbar. Wir verwenden den Begriff nicht in dem Sinn, in dem er in verschiedenen Gesellschaftswissenschaften zur Anwendung kommt – also konkret nicht zur Kennzeichnung kapitalistischer, sozialistischer oder feudalistischer Gesellschaften usw.

Wie die Geschichte lehrt, kann es in einer bestimmten Gesellschaftsform zu ganz unterschiedlichen inneren Organisationsstrukturen kommen. Eine Agrargesellschaft kann beispielsweise stark hierarchisiert und arbeitsteilig organisiert sein, indem die Felder etwa von Sklaven bewirtschaftet werden, während andere Menschen selbst keine körperliche Arbeit verrichten. Doch das ist nur dann möglich, wenn alle, nämlich „Sklaven“ und „Herren“, sowie im Rahmen der Arbeitsteilung anderweitig Beschäftigte, von den dabei erzeugten Agrarprodukten ernährt werden können. Ist die Landwirtschaft in dieser Gesellschaft aber so ineffektiv, dass sie bis auf wenige ganz alte und sehr junge Menschen gerade so jeden im Feldanbau arbeitenden Menschen (oder jede Familie) im wahrsten Sinne des Wortes von den Früchten der eigenen Arbeit ernähren kann, wird nur eine Gesellschaftsorganisation mit gleichberechtigten Individuen, geringer Arbeitsteilung und sehr flachen Hierarchien überlebensfähig sein. In diesem Beispiel ist der pro Kopf zur Verfügung stehende Energieanteil in Form von Nahrung offenbar für die Wahl der Organisationsstruktur wesentlich. Neben diesem energetischen Aspekt spielen natürlich auch Stoffströme eine wichtige Rolle. Kommt eine Gesellschaft an Metalle wie Kupfer, Zinn oder Eisen, kann sie eventuell bessere Werkzeuge als zuvor herstellen, die dann eine entscheidende Effektivitätssteigerung bewirken, wodurch allmählich auch andere Organisationsstrukturen entstehen könnten.

In anderen Fällen mag einer bestimmten Gesellschaftsform relativ viel Energie zur Verfügung stehen, sodass es auch viele – wohl aber sicher nicht beliebig viele – Wahlmöglichkeiten für unterschiedliche innere Strukturen gibt. Die heutigen, westlich geprägten „demokratischen“ Industriegesellschaften sind neben anderen Voraussetzungen nicht zuletzt aufgrund eines hohen Energieangebotes möglich. Wir können es uns beispielsweise erlauben, den in der Landwirtschaft tätigen Menschen die freie Wahlmöglichkeit zu lassen, ob sie Lebensmittel auf dem flachen Land produzieren wollen oder doch lieber in der Stadt arbeiten möchten. Kompensation kann durch effektivere Anbauverfahren (meist unter höherem Energieeinsatz) oder durch den Zukauf von Lebensmitteln von außerhalb durch gesteigerten Handel (gewiss unter einem erhöhten Einsatz von Energie) erfolgen. Bei unserer Einschätzung des Feudalismus in mittelalterlichen Agrargesellschaften müssen wir hingegen davon ausgehen, dass man angesichts der niedrig entwickelten Landwirtschaft den meisten Menschen eben gerade diese Wahlmöglichkeit nicht lassen konnte, auch wenn die dann historisch entstandene Form der Leibeigenschaft oder des Frondienstes aus heutiger Sicht unsere menschliche Zustimmung nicht findet und wir uns humanere Organisationsstrukturen vorstellen können, bei denen dennoch die Mehrzahl aller Menschen in der Landwirtschaft arbeiten müsste und keinesfalls eine freie Wahlmöglichkeit der Lebensgestaltung nach heutigen Vorstellungen hätte. Das kann eine Frage von Leben oder Tod für viele Individuen bedeuten!

Wie entscheidend die zur Verfügung stehende Energiemenge für den Entwicklungsstand einer Gesellschaft ist, kann man sich intuitiv anhand von Länderstatistiken vor Augen führen. Tab. 2.1 stellt Primärenergieumsatz und Leistung pro Person für einige Länder gegenüber, wobei in den Spalten verschiedene Einheiten verwendet werden: Eine häufige Angabe für Länder ist das Öläquivalent in Gigatonnen pro Jahr (109 t/a), also eine Leistung (Energie / Zeiteinheit). Daraus wird die Leistung pro Einwohner in W/EW errechnet (Spalte 3). In Spalte 4 wird angegeben, um wie viel diese Leistung die sogenannte Grundleistung überschreitet. Darunter versteht man die Energiezufuhr pro Tag in Form von Nahrung, die zum Überleben eines Menschen notwendig ist. Das sind rund 100 W/EW, entsprechend 2000-3000kcal/d (Kilokalorien pro Tag; 1 kcal 4.2 kJ). (Erläuterungen hierzu folgen in diesem Kapitel weiter unten)

Unter Primärenergie versteht man die ursprünglich unserer Gesellschaft zur Verfügung stehende Energie in Form der natürlichen Träger, also beispielsweise Kohle oder Erdöl, aber auch Sonnen-, Wind- und Wasserenergie (weitere Information folgen im Kapitel 5).


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Tabelle 2.1: Primärenergieumsatz und mittlere Leistung pro Einwohner für das Jahr 2010 in ausgewählten Ländern (Quelle für die Angaben zur Primärenergie: BP Statistical Review 2011, S. 40).


Wie viel mehr Energie im Mittel pro Einwohner im Vergleich zur Nahrungsenergie pro Einwohner zur Verfügung steht, zeigt also die letzte Spalte. Wir veranschaulichen die Zahl 5 für Indien etwas eindringlicher. Beim Kochen auf einfachen Feuerstellen (Holz oder Kocher mit Gasflasche) gehen höchstens 20% der Energie in den Kochtopf, der Rest wird in die Umgebung abgegeben. Um zwei Liter Wasser einer Temperatur von 20°C zum Sieden zu bringen, ist bei diesem Wirkungsgrad eine Energie von ca. 3352000J oder, umgerechnet auf einen Tag, im Mittel eine Leistung von 40 W notwendig. Will man das Wasser aber für eine längere Zeit zur Zubereitung von warmen Mahlzeiten am Kochen halten, dann kommt man durchaus auf die zwei oder dreifache Menge an Energie bzw. Leistung. Mithin bedeutet die Aussage, dass man in einem Land, in dem im Mittel pro Kopf doppelt so viel Energie wie Nahrungsenergie zur Verfügung steht, jeder Einwohner im Mittel gerade so eine warme Mahlzeit am Tag essen und abgekochtes Trinkwasser nutzen könnte. Wohl gemerkt – im Mittel und unter der Voraussetzung, dass man die Energie nicht anderweitig nutzt. Daher kann man in einem Land wie Indien davon ausgehen, dass die Zubereitung einer warmen Mahlzeit pro Tag vielen Menschen wohl nicht problemlos möglich ist (Für eine detaillierte Analyse des Energieverbrauches in Indien siehe Spreng & Pachauri, 2009).

Eine solche energetische Analyse einer Gesellschaft kann natürlich keine exakte Vorhersage für die gelebte gesellschaftliche Realität machen. Die von Ernest Solvay und Wilhelm Ostwald zu Beginn des 20. Jahrhunderts begründete „Sozialphysik“ ging in dieser Hinsicht zu weit (als „Klassiker“ gilt das Buch von Ostwald (1909): „Energetische Grundlagen der Kulturwissenschaft“), doch einige der zugrundeliegenden Ideen werden mit Erfolg im Rahmen der Anthropogeographie genutzt; sie liefern um so klarere Erkenntnisse bei der Analyse von Gesellschaften, desto „einfacher“ diese sind, d.h. je näher der Energieeintrag in diesen Gesellschaften noch am Energieeintrag durch Nahrung allein liegt. Anschaulich ist diese Feststellung nachvollziehbar: Je weniger Energie, desto geringer auch die Wahlfreiheit für menschliche Tätigkeit. In diesem Sinn kann die energetische Analyse also beschreiben, welche menschlichen Verhaltensweisen prinzipiell funktionieren könnten und welche nicht und damit im Zusammenhang stehend auch, welche Gesellschaftsform bei einem bestimmten Energieeintrag pro Zeit denkbar ist.

Die Tabelle 2.2 enthält eine Zusammenstellung des Energieeintrages, der pro Hektar (ha) durch verschiedene Formen der Landwirtschaft erzielt werden kann. Untersuchungen dieser Art sind bemerkenswert aber langwierig. Sie führen den unmittelbaren Zusammenhang zwischen Energie und gesellschaftlicher Organisation in anschaulicher Weise vor Augen – auch deshalb, weil die infrage stehenden Energien noch den direkten Vergleich zum Nahrungsenergiebedarf eines Menschen zulassen.

Der physiologisch bedingte Leistungsumsatz eines Menschen liegt in der Größenordnung von 100 W. Er ist durch die Aufrechterhaltung der Körpertemperatur von 37°C und die dadurch verursachte Wärmeabstrahlung des Körpers sowie natürlich durch das Verrichten körperlicher Arbeit bedingt. Im Laufe eines Jahres muss ein Mensch deshalb Nahrungsenergie von rund 100W 60 60 24 365.25 [Sekunden] 3.156.000.000 Joule 3.2 Gigajoule (GJ) zu sich nehmen. Durch diese Größe und den pro Hektar zu erzielenden Ertrag an Nahrungsenergie werden zentrale Eckwerte für eine Gesellschaft festgelegt, zum Beispiel ihre mittlere Bevölkerungsdichte oder ihr fundamentales soziales Verhalten.


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Tabelle 2.2: Energieertrag und maximal mögliche Bevölkerungsdichte bei verschiedenen Formen der Landbewirtschaftung. Quelle: Die Angaben in der Tabelle beruhen auf einer Untersuchung von Ch. Lauck (Lauck, 2005.)


Um diesem Sachverhalt weiter nachzuspüren, nehmen wir uns nachfolgend die von Physikern geschätzte Freiheit des Konstruierens einfacher Modelle heraus – wohl wissend, dass insbesondere einfache Modelle immer nur einige wenige Aspekte der Realität darstellen können. Wir beabsichtigen lediglich einige begründete Vorstellungen darüber zu entwickeln, wie Gesellschaftsformen und gesellschaftliche Strukturen entscheidend durch ihren Energiedurchsatz beeinflusst und geformt werden. Wir konzentrieren uns dabei zunächst auf die Jäger- und Sammlergesellschaft und auf einfache Agrargesellschaften.


Energiedichte und Flächenbedarf

Jäger und Sammler – Nomaden – Agrarwirtschaft

Ist der Nahrungsenergieertrag pro Flächeneinheit nur sehr gering, dann können Menschen nicht sesshaft werden, weil – in Abhängigkeit von der konkreten Bewirtschaftungsform – die zu bearbeitenden Flächen und infolgedessen die zurückzulegenden Strecken zu groß werden (Abb. 2.1). Dazu ein modellhaftes Beispiel:

Nehmen wir an, eine Gesellschaft ernähre sich ausschließlich durch das Sammeln von Pflanzen und Kleintieren, betreibe aber keine Viehzucht. Dabei würde ein durchschnittlicher Ertrag von 0.0005W/m2 = 5W/ha bzw. 0.2GJ/ha/Jahr erzielt (vgl. typische Werte Tabelle 2.2). Um die Nahrung für einen Menschen zu erwirtschaften, wäre eine Fläche von 200 000 m2 erforderlich, woraus rein rechnerisch eine Bevölkerungsdichte von 5 Personen/km2 resultieren würde. So gäbe es eine theoretische Möglichkeit für die Etablierung kleiner permanenter Siedlungen. Von großer Bedeutung wäre dabei, ob die Individuen die Flächen in sehr kurzen Zeitabständen regelmäßig nach Nahrung durchkämmen müssten oder ob es möglich wäre, die Nahrung durch vergleichsweise wenige „Sammelaktionen“ im Laufe eines Jahrs zu gewinnen und dann zu lagern. Nimmt man an, ein Mensch überblicke einen Streifen von etwa 2 m Breite bei der Nahrungssuche durch systematisches Durchkämmen einer großen Fläche, dann müsste er nach dem in Abb. 2.1 gezeigten Modell bei einer Bewirtschaftungsfläche von 200000 m2 eine Strecke von 200000 m2/(2m) = 100km zurücklegen; es wäre undenkbar, dies in kurzen Zeitabständen permanent zu wiederholen und dabei auch noch regelmäßig zu einer festen Siedlung zurückzukehren. Die einzige Möglichkeit wäre das weiträumige Durchstreifen der Landschaft mit wechselnden Lagerplätzen, also Nichtsesshaftigkeit.

In einem weiteren Beispiel untersuchen wir ein mögliches Modell für sesshaftes Leben in Form einer zentralen Siedlung. Zunächst einige Zahlen zur groben Veranschaulichung (man vergleiche wieder mit den Werten in Tabelle 2.2). Ein unter den Bedingungen heutiger moderner Landwirtschaft sehr guter Wert für den Ernteertrag der typischen Nahrungspflanze Winterweizen sind 0.7 kg/m2. Das ergibt rund 71.5106 J/365/24/60/60 s = 0.35 W/m2 bei einem Nährwert von 1.5 Millionen Joule pro 100 g. Wir reduzieren den mittleren Ertrag für unsere Schätzung auf 1/7, da sich der Mensch nicht allein nur von einer Pflanzensorte ernähren kann, sondern auch andere pflanzliche Nahrung mit geringerer Energiedichte (Obst, Gemüse) benötigt und da eine bewirtschaftete Region nicht nur aus Anbaufläche, sondern auch aus Flächen zur Tierhaltung, zum Wohnen, Lagerung und Transport usw. besteht. Wir schätzen die mittlere Energiedichte also auf 0.05 W/m2 bzw. den 100fachen Wert der Jäger- und Sammlergesellschaft aus dem vorhergehenden Beispiel.


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Abb. 2.1: Sesshaft oder nicht? Ein einfaches Modell für das systematische Durchstreifen einer Landschaft beim Sammeln von Nahrung.


Ganz grob geschätzt benötigt ein Mensch bei rund 100W Leistungsumsatz in diesem Beispiel ca. 100/0.05=2000m2 Fläche zur Erwirtschaftung der Nahrung. Zum Vergleich: In Deutschland kommen auf jeden Einwohner im Mittel 4350 m2. Mithin gilt – auch unter Abzug von landwirtschaftlich nicht nutzbaren Flächen wie Hochgebirgen, Verkehrsflächen usw. – dass Deutschland seine Einwohner in diesem einfachen Modell (und in der Realität!) ohne Nahrungsimporte ernähren könnte.

Verschlechtern wir – ausgehend von den obigen Überlegungen – den Boden-Ertrag auf nur noch 10%, also auf 0.005 W/m2 oder etwa 1.6 GJ/ha/Jahr (vgl. Tabelle 2.2), dann würde ein Mensch in dieser Gesellschaft die Fläche von 20000m2 für seine Ernährung benötigen. 50 Personen müssten ein Gebiet mit einer Millionen Quadratmeter Flächeninhalt bewirtschaften. Eine (geometrisch!) vernünftige Entscheidung könnte sein, die bewirtschaftete Fläche von weiteren menschlichen Aktivitäten außer dem Nahrungsanbau zu räumen, kreisförmig zu gestalten und im Zentrum eine Siedlung mit möglichst geringem Flächenverbrauch anzulegen (Abb. 2.2). Auf diese Weise hätte man einen dank Kreisgeometrie optimierten und erstaunlich geringen Weg von nur R=564 m vom Siedlungszentrum bis zum äußeren Rand der bewirtschafteten Fläche zurückzulegen.


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Abb. 2.2: Modell einer punktförmigen Siedlung mit umgebender landwirtschaftlicher Fläche.



Wir können diese Überlegung in unserem zugegeben sehr einfachen Modell für weitere Bevölkerungsanzahlen durchspielen (vergleiche Tabelle 2.3). Eine Bevölkerung, die sich im groben Rahmen der beschriebenen Ernteerträge bewegt und die den Warentransport ohne den Einsatz von Transporttieren (Esel, Pferde, Ochsen) allein durch menschliche Muskelkraft bewerkstelligen muss, würde offensichtlich bei einer oberen Grenze von 10000 Einwohnern in den Bereich kommen, wo das beschriebene Modell nicht mehr funktioniert, weil die zurückzulegenden Wege zu groß würden.


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Tabelle 2.3: Die Grenze der sinnvollen Bewirtschaftung wird in unserem sehr einfachen Modell bei einigen Tausend Individuen erreicht.



Wir haben zudem stillschweigend vorausgesetzt, dass jeder Mensch, der 20000m2 für seine Ernährung benötigt, diese Fläche auch bearbeiten und pflegen kann – eine Herkulesaufgabe, die von Individuen, die auch noch weite Wege zurücklegen müssen, um zur Bewirtschaftungsfläche zu gelangen, nicht vernünftig und energetisch sinnvoll erledigt werden kann! Würde sich der Flächenertrag noch einmal um den Faktor 10 auf 0.0005W/m2 verringern, dann bliebe wahrscheinlich, wie wir im Beispiel der Abb. 2.1 ja gesehen haben, nur noch die Nichtsesshaftigkeit. Das permanente Zurückkehren der Arbeitskräfte zu einer zentralen Siedlung wäre sinnlos. Wie archäologische Untersuchungen bestätigen, kann man bei einigen nachgewiesenen stadtähnlichen Siedlungen in der Jungsteinzeit tatsächlich von einigen Tausend und mehr Einwohnern ausgehen (vgl. etwa Strahm, 2006).

Eine Million Einwohner in der Zentralsiedlung würden in unserem Modell für ihre Ernährung schon ein Bewirtschaftungsgebiet mit dem Radius R=80 km benötigen. Offenbar erfordern Siedlungen dieser Größe andere Strategien. Eine auf der Hand liegende Variante ist die Herausbildung von kleineren Unterzentren, von denen ausgehend die gewaltige Fläche dann bewirtschaftet wird. Natürlich erfordert das effektive Transporteinrichtungen, welche die Nahrungsgüter in die Zentralsiedlung bringen können. Handel und Transportgewerbe müssen „erfunden“ werden. Unvergleichlich schwieriger wird die Situation, wenn man zusätzlich Brennstoffe zum Heizen, vor allem Holz, herbeischaffen muss – neben der Nahrung und den unverwertbaren Anbauresten der Landwirtschaft. (Andere Faktoren wie Baumaterial spielen natürlich auch eine wesentliche Rolle, wir ignorieren sie hier aber.) Man kann leicht zeigen, dass das Versorgungsgebiet einer Siedlung mit einer Million Einwohner, die im Winter auf Heizung angewiesen sind, im betrachteten Modell einen Radius von deutlich mehr als 100 km haben müsste. Anhand dieser prinzipiellen Überlegungen wird verständlich, warum es die größten antiken Siedlungen nur in den wärmeren Regionen der Erde gegeben hat und warum sie extrem verkehrsgünstig an großen Flüssen oder Meeren lagen. Darum haben sich z.B. nördlich der Alpen sehr große Städte nur mühsam und langsam etabliert, und es gibt sie im Grunde erst seit wenigen hundert Jahren dort.

Unser einfaches Modell ist sicher in vielerlei Hinsicht unvollkommen und bietet gewiss Möglichkeiten zur Verbesserung. Ein wesentlicher Aspekt wird aber zutreffend abgebildet: Steht einer Gesellschaft im Vergleich zur heutigen Industriegesellschaft nur vergleichsweise wenig Energie zur Verfügung, dann ist die unmittelbare Nähe von Nahrungskonsumenten zum Ort der Nahrungserzeugung von hoher Bedeutung. Blicken wir in Vogelperspektive auf mittelalterliche Städte, die in den letzten 150 Jahren seit Anbruch des Industriezeitalters nicht überbaut wurden, wird uns dies unmittelbar einsichtig (Abb. 2.3).


Kann man das Modell in die Gegenwart übertragen? Energiefallen

Nördlingen ist eine mittelalterliche Stadt. Als Kontrast schauen wir auf Millionenstädte wie die modernen Hauptstädte Berlin und Rom (Abb. 2.4 a, b). Das führt uns zur Frage, ob man das obige Modell von Grundversorgung mit Energie und Fläche auf die Industriegesellschaft übertragen kann. Auf den ersten Blick fällt auf, dass ein Prinzip der Siedlungen in Agrargesellschaften, nämlich die möglichst kurze Distanz von Bevölkerung zur Nahrungserzeugung, bei modernen Großstädten keine sonderliche Rolle zu spielen scheint. Das alte Prinzip impliziert eine hohe Bevölkerungsdichte im Siedlungskern, die weitgehende Freihaltung der Flächen im Umfeld der Siedlung von anderweitigen als landwirtschaftlichen Aktivitäten und das Anlegen möglichst kurzer Zugangswege.