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Gabriele Klappenecker

Diakonische Kompetenz entwickeln – Verantwortung lernen

Didaktische Perspektiven für die Sekundarstufe I und II

 

Verlag W. Kohlhammer

1. Auflage 2014

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Satz: Andrea Siebert, Neuendettelsau

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-025152-6

E-Book-Formate:

pdf: ISBN 978-3-17-025153-3

epub: ISBN 978-3-17-025154-0

mobi: ISBN 978-3-17-025155-7

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Inhalt

  1. Vorwort und Dank
  2. Erster Teil: Diakonische Bildung auf der Grundlage einer Ethik der Verantwortung
  3. I. Einleitung
  4. II. Verantwortung
  5. 1.     Allgemeines
  6. 2.     Der doppelte Verweisungszusammenhang des Verantwortungsbegriffs
  7. 3.     Verantwortungsübernahme als Stellvertretung
  8. III. Diakonische Bildung
  9. 1.     Leitende Fragen
  10. 2.     Verantwortung in diakonischer und diakoniedidaktischer Perspektive
  11. 2.1      Allgemein
  12. 2.2      Zwei grundlegender Modelle der Didaktik, die das Verantwortungslernen fördern
  13. 2.2.1 Einführung
  14. 2.2.2 Darstellung beider Modelle
  15. 2.2.2.1 Vertiefung: service learning
  16. 2.2.2.2 Vertiefung: situated learning
  17. 2.2.3 Kritik und Würdigung beider Modelle
  18. 3.     Der doppelte Verweisungszusammenhang des Verantwortungsbegriffs in diakonie-didaktischer Perspektive
  19. 3.1      Verantwortung „vor“
  20. 3.2      „Verantwortung für“
  21. IV. Zwischenergebnis
  22. Zweiter Teil: Verantwortungslernen in diakonischer Perspektive: Ein Blick in die Praxis der Schule
  23. I. Einleitung
  24. II. Darstellung eines Projektes
  25. III. Beschreibung der erworbenen Kompetenzen
  26. IV. Konsequenzen
  27. Dritter Teil: Darstellung von Kompetenzmodellen im Blick auf auf ihre Bedeutung für das Verantwortungslernen
  28. I. Einleitung
  29. II. Die Kompetenzmodelle
  30. 1.     Der Bildungsplan des Landes Baden-Württemberg
  31. 2.     Das „Michelbacher Modell“ in der Revision durch Christoph Gramzow
  32. 3.     Das „Kerncurriculum für das Fach Evangelische Religionslehre in der gymnasialen Oberstufe“ und der Orientierungsrahmen zu „Kompetenzen und Standards für den Evangelischen Religionsunterricht in der Sekundarstufe I“
  33. 3.1      Wesentliche Inhalte des Kernkurriculums für die Oberstufe
  34. 3.2      Wesentliche Inhalte des Orientierungsrahmens für die Sekundarstufe I
  35. 4.     „Religiöse Kompetenz als Teil öffentlicher Bildung“ – Ergebnisse der Forschungsprojekte an der Humboldt-Universität zu Berlin
  36. 4.1      Hinführung
  37. 4.2      Wesentliche Ergebnisse
  38. Vierter Teil: Der Beitrag des diakonisch perspektivierten Verantwortungslernens zur Kompetenzbildung
  39. I. Theologische und pädagogische Begründung des Verantwortungslernens
  40. II. Kompetenz und Bildung durch Verantwortungslernen – Thesen
  41. 1.     Verantwortungslernen erweitert Wissen und gibt ihm eine Orientierung
  42. 2.     Verantwortungslernen ist ethosgenerierend
  43. 3.     Verantwortungslernen ist gendersensibel konzipiert
  44. 4.     Verantwortungslernen ist Sache der gesamten Schule
  45. 5.     Verantwortungslernen fördert (religiöse) Partizipationskompetenz
  46. 6.     Verantwortungslernen fördert (religiöse) Kommunikationskompetenz
  47. 7.     Verantwortungslernen fördert religiöse Kompetenz
  48. 8.     Verantwortungslernen verdeutlicht die Lebensbedeutsamkeit biblischer Aussagen
  49. Literaturverzeichnis
  50. Register

Vorwort und Dank

 

Diakonische Bildungsprozesse werden traditionell von Schulen in kirchlicher Trägerschaft initiiert, und dies mit nachhaltiger Wirkung auf die Persönlichkeitsentwicklung der Heranwachsenden. Versteht man unter diakonischer Bildung eine Form der Bildung hin zum Übernehmen von Verantwortung, wird diese auch für staatliche Schulen ohne kirchliche Trägerschaft bedeutsam. Diakonisches Lernen als Verantwortungslernen muss dann aber so konzipiert werden, dass es ohne konfessionelle Bindung plausibel ist. Hierzu muss eine Forschungslücke geschlossen werden: Das so genannte situated learning, eine Lernform, die die „Situierung“ in einem konfessionellen Kontext voraussetzt, ist bisher in diakonischen perspektivierten Formen des Verantwortungslernens bestimmend. Es müssten aber auch Formen des service learning religionspädagogisch erschlossen werden, wenn Verantwortung auch ohne explizite Kenntnisse der jüdisch-christlichen Tradition erlernt werden soll.

Ein so gefasstes Verantwortungslernen ist möglich, wie ein Seminarkurs am staatlichen Friedrich-List-Gymnasium in Asperg, Baden-Württemberg, zeigte, der in diesem Band dokumentiert wird. Diesem einzelnen, in der Praxis bewährten Beispiel sollen nun, um die Forschungslücke weiter zu schließen, Perspektiven für eine Didaktik diakonisch-sozialen Lernens zur Seite gestellt werden. Sie sind für Forschende, Lehrende und Unterrichtende gedacht in der Hoffnung, dass Verantwortungslernen innerhalb und außerhalb des Religionsunterrichts als interdisziplinäres, die Schule als Ganze betreffendes Projekt möglich wird. Dies soll in einer Weise geschehen können, in der Religionslehrerinnen und -lehrer ein interdisziplinäres Gespräch mit Kolleginnen und Kollegen anderer Fächer führen und außerschulische Einrichtungen ebenso zu Lernorten werden wie das Klassenzimmer und das Schulhaus. Die Rückmeldungen der Schülerinnen und Schüler auf den genannten Seminarkurs geben Anlass zu der Hoffnung, dass Verantwortungslernen eine besondere Tiefe erreicht, Spaß macht und eine die gesamte Persönlichkeit bildende Expedition ins außerschulische Umfeld, aber auch ins eigene Ich sein kann.

Diese Darstellung ist folgendermaßen aufgebaut: Zunächst wird der Begriff der Verantwortung theologisch, aber auch in seiner über die Theologie hinausgehenden Reichweite erschlossen.

Daraus ergibt sich eine spezifische Konzeption diakonischer Bildung. Die Modelle des service learning und des situated learning werden jeweils dargelegt und hinsichtlich ihrer Leistung für eine so gefasste Didaktik untersucht. Es lassen sich diakonische Bildungsintentionen herausarbeiten.

Auf der Basis des bisher Dargelegten wird der Seminarkurs als Praxisbeispiel entfaltet und es werden Konsequenzen für die weitere Entwicklung dieser Didaktik gezogen. Eine wesentliche Konsequenz ergibt sich darin, dass Verantwortungslernen daraufhin zu befragen ist, welche Kompetenzen es ausbildet und fördert. Hierzu ist es nötig, plausible Kompetenzmodelle zu sichten. Das Kompetenzmodell des baden-württembergischen Bildungsplans findet hierbei besondere Beachtung. Am Schluss der Untersuchung wird der Beitrag eines diakonisch perspektivierten Verantwortungslernens zur Kompetenzbildung dargelegt.

Ich danke den Mitgliedern des Beirates meines Projektes zum diakonisch-sozialen Lernen herzlich für ihre Begleitung und für ihre Anregungen:

Kirchenrätin Ingeborg Soller-Britsch, Geschäftsführerin des Evangelischen Schulwerkes in Württemberg, Pfarrerin Christa Epple-Franke, Geschäftsführerin des Evangelischen Schulwerkes Baden und Württemberg, Dr. Uta Hallwirth, Wissenschaftliche Arbeitsstelle Evangelische Schule, EKD, Pfarrerin Dr. Antje Fetzer und Pfarrer Dr. Joachim Rückle, beide vom Diakonischen Werk Württemberg, Abteilung Theologie und Bildung, Oberstudiendirektorin Dr. Sonja-Maria Bauer, Friedrich-List-Gymnasium Asperg. Beiratsmitglieder aus der Hochschule waren: Prof. Dr. Anne Sliwka, Prorektorin der Pädagogischen Hochschule Heidelberg, Prof. Dr. Heinz Schmidt, Diakoniewissenschaftliches Institut der Universität Heidelberg, Prof. Dr. Thomas Schlag, Universität Zürich, Praktische Theologie. Als Gäste waren eingeladen: PD Dr. Christoph Gramzow, Universität Leipzig, und Dr. Martin Horstmann, Sozialwissenschaftliches Institut der EKD, Hannover.

Besonders erwähnen möchte ich Frau Soller-Britsch. Sie hat als ehemalige Geschäftsführerin des Evangelischen Schulwerkes in Württemberg, jetzt: Evangelisches Schulwerk Baden und Württemberg, die finanziellen und organisatorischen Rahmenbedingungen ermöglicht und ist beratend tätig gewesen. Ihre Nachfolgerin, Frau Epple-Franke, hat in einem nahtlosen Übergang die Weiterführung der Geschäfte und der Beratung übernommen. Herr Prof. Schmidt hat die einzelnen Fassungen dieser Arbeit mit kritisch-konstruktiven Anregungen begleitet. Frau Dr. Uta Hallwirth hat keine Mühen gescheut, fast zu jeder einzelnen Beiratssitzung aus Hannover nach Stuttgart anzureisen. Sie brachte stets anregende Gedanken in die Diskussion ein sowie Einblicke in die aktuellen Entwicklungen aus meinem Forschungsgebiet.

Herrn Jürgen Schneider vom Kohlhammer-Verlag danke ich für die zuverlässige und vertrauenswürdige Betreuung des Manuskripts.

Den Leserinnen und Lesern wünsche ich eine anregende Lektüre und hoffe, dass die nun vorliegende Arbeit dazu ermutigt, eigene Wege diakonisch-sozialen Lernens zu beschreiten.

Asperg, im November 2013

Gabriele Klappenecker

Erster Teil: Diakonische Bildung auf der Grundlage einer Ethik der Verantwortung

I.        Einleitung

Evangelischer Religionsunterricht ist nicht nur Hinführung zum religiösen Bekenntnis und Eingliederung in die kirchliche Gemeinschaft, nicht nur Sache einer Religionsgemeinschaft und ihrer Mitglieder, sondern auch der Schule und ihres gesellschaftsöffentlichen Bildungsauftrags.1 Seit der Aufklärung des 18. Jahrhunderts hat sich in Theologie und Religionspädagogik auch ein Verständnis von Religion entwickelt, das diese als zugehörig zu einer „sinnbewussten und zielgewissen menschlichen Lebensführung begreift“. 2 So hat die Religionspädagogik gute Gründe dafür, darauf zu bestehen, dass das Unterrichtsfach „Religion“ als vernünftiger Sachwalter bei der Auseinandersetzung mit der Frage nach einem „gelingenden Leben“3 und damit einem verantwortungsbewussten Leben gelten kann. Dies leistet Religion in der Schule auch außerhalb des „klassischen“ Fachunterrichts, etwa im interdisziplinären Verbund mit einem anderen Fach, oder im Rahmen eines dem diakonisch-sozialen Lernen verpflichteten Schulprojekts.

Das sozialethische Konzept einer „Verantwortlichen Gesellschaft“, wie Theodor Strohm sie begreift, ist mit Blick auf soziales Lernen angelegt. „Verantwortliche Gesellschaft“ ist gleichermaßen als christlich-ökumenisches, philosophisch-ethisches Prinzip sowie als Gesamtprinzip der Zivilgesellschaft zu verstehen. In dieser Perspektive wird Lernen an staatlichen wie kirchlichen Schulen unter der Christen und Nichtchristen verbindenden Perspektive der Verantwortung möglich. Christlich-ökumenisch lässt sich das Lernen von Verantwortung begründen unter Verweis auf christliche Konzeptionen von Solidarität und Verantwortung; sozialwissenschaftlich unter Verweis darauf, dass der Staat auf die Förderung von Formen gemeinwohlorientierten Engagements setzen muss, um Freiheit und Frieden zu sichern.4 Bürgerschaftliches Engagement ist konstitutiv für die Entwicklung und den Bestand eines demokratischen Gemeinwesens.5 Philosophisch-ethisch findet soziales Lernen seine Basis auf der Evidenz des Sollens angesichts der hilfsbedürftigen Mitkreatur.6 Auf all dem ist die Forderung aufgebaut, gleichwertig mit den Kulturtechniken Lesen, Schreiben und Rechnen auch soziale Kompetenzen zu fördern. Der Umgang mit Sozialem muss zu einem allgemeinen Lernfeld und zu einer universellen Kulturtechnik werden.7 Dies leistet ‚Religion‘ auch außerhalb des klassischen Fahrunterrichts. Wege diakonisch-sozialer Bildung auch an staatlichen Schulen zu beschreiten und sie nicht allein den kirchlichen Schulen zu überlassen, ergibt sich als Konsequenz aus einem solchen Ansatz.8

Empirische Studien zeigen: Jugendliche thematisieren soziale Konfliktlagen und reagieren darauf – oft auch religiös motiviert. Sie suchen nach Selbstbestimmung und nach Gemeinschaft9. Damit sich Verantwortung bilden kann, ist es vor allem nötig, Kinder und Jugendliche in der Entwicklung einer theologisch qualifizierten Wahrnehmung zu unterstützen, in der die Letzten sich als die Ersten erweisen und in der die in den Schwachen mächtige Kraft perspektiviert wird. Jedoch genügt es, gemeinde- und religionspädagogisch gesehen, nicht nur, die erheblichen Potentiale Jugendlicher zur Verantwortungsübernahme zur Entfaltung zu bringen. Vielmehr ist dem zur Seite zu stellen, dass Bildungsprozesse anzustreben sind, in denen diakonisches Handeln und dessen Reflexion so initiiert werden, dass Jugendliche auch Verantwortungsübernahme anderer für sie selbst in Anspruch nehmen dürfen und für sich selbst Verantwortung übernehmen können.

Erworbenes Wissen soll sich auf die Wahrnehmung und die Wahrnehmungseinstellung angesichts sozialer Problemlagen auswirken können. Dies ist nur möglich, wenn Theologie und Religion nicht etwas an ein Praktikum in einer diakonischen Einrichtung nur Angeheftetes ist, sondern dann, wenn Verantwortung inhaltlich, vor allem theologisch, in einer die Schülerinnen und Schüler überzeugenden Weise qualifiziert worden ist.

Schule kann ein Ort sein, an dem Verantwortung gelernt und gestaltet wird, wenn dieses Lernen auch in ihrem Curriculum verankert ist und ihre Atmosphäre bestimmt.10

Im Folgenden ist der Begriff der Verantwortung daher näher zu erläutern, um ihn dann im Blick auf seine Leistung für diakonische Bildungsprozesse in der Schule zu erschließen.

1     Vgl. Wilhelm Gräb / Thomas Thieme, Religion oder Ethik? Die Auseinandersetzung um den Ethik- und Religionsunterricht in Berlin (Arbeiten zur Religionspädagogik), Göttingen 2010, 234.

2     Gräb/Thieme, Religion oder Ethik? 238.

3     Dies., ebd.

4     Vgl. Theodor Strohm, Soziales Lernen in der Perspektive der „Verantwortlichen Gesellschaft“, in: Helmut Hanisch / Heinz Schmidt (Hg.), Diakonische Bildung. Theorie und Empirie, VDWI 21, Heidelberg 2004 (29–40), 34. Im Folgenden abgekürzt: Strohm, Soziales Lernen. Vgl. hierzu Heinz Schmidt, Diakonisches Lernen: Grundlagen, Kontexte und Formen, in: Hartmut Rupp / Christoph Th. Scheilke / Heinz Schmidt (Hg.) Zukunftsfähige Bildung und Protestantismus, FS Eckhart Marggraf, Stuttgart 2002 (155–168), 168.

5     Siehe Wolfgang Huber, Kirche in der Zivilgesellschaft, in: Ders., Kirche in der Zeitenwende. Gesellschaftlicher Wandel und Erneuerung der Kirche, Gütersloh 1999 (267–328), 271. Siehe auch Gottfried Adam, Diakonie und Bildung. Eine Spurensuche zwischen Diakoniewissenschaft und Religionspädagogik, in: Hanisch/Schmidt (Hg.), Diakonische Bildung. Theorie und Empirie, a.a.O. (41–55), 51.

6     Siehe Strohm, Soziales Lernen, 36.

7     Siehe Strohm, Soziales Lernen, 37f.

8     Seit Anfang der 90er Jahre haben kirchliche Schulen damit begonnen, den Jugendlichen Tätigkeiten in Einrichtungen für hilfsbedürftige Menschen zu vermitteln und ihnen Erfahrungen wirksamen Helfens zu ermöglichen. Die Öffentlichkeitsabteilungen diakonischer Einrichtungen haben dementsprechend damit begonnen, gezielte Angebote für Schulen zu machen. Siehe hierzu: Heinz Schmidt, Vom diakonisch-sozialen Lernen zu einer diakonischen Bildung, in: Helmut Beck / Heinz Schmidt (Hg.), Bildung als diakonische Aufgabe. Befähigung – Teilhabe – Gerechtigkeit, Stuttgart 2008 (252–269), 252. Einen umfassenden Überblick kann man sich verschaffen in: Gottfried Adam et al. (Hg.), Unterwegs zu einer Kultur des Helfens. Handbuch des diakonisch-sozialen Lernens, Stuttgart 2006, 56–68. Huldreich David Toaspern, Diakonisches Lernen für Förderschülerinnen und -schüler? Pädagogische und theologische Aspekte zur Überwindung von Subjekt-Objekt-Strukturen im diakonischen Lernen, in: Christoph Gramzow / Heide Liebold / Martin Sander-Gaiser (Hg.), Lernen wäre eine schöne Alternative. Religionsunterricht in theologischer und erziehungswissenschaftlicher Verantwortung, Leipzig 2008, 59–72. Exemplarisch für katholische Schulen sei verwiesen auf das „Compassion-Modell“. Eine die wesentlichen Aspekte zusammenfassende Darstellung findet sich in: Lothar Kuld, Religion in Lebenszusammenhängen – soziales und diakonisches Lernen, in: Harry Noormann / Ulrich Becker / Bernd Trocholepczy (Hg.), Ökumenisches Arbeitsbuch Religionspädagogik, Stuttgart 2007, 3. Aufl., 268–270. Siehe auch: Torsten Schulz / Heinz Schmidt, Teilhabe ermöglichen. Diakonische Bildung als Befähigungspädagogik, in: Helmut Beck, Heinz Schmidt, Bildung als diakonische Aufgabe. Befähigung – Teilhabe – Gerechtigkeit, Stuttgart 2008 (105–118), 117. Bärbel Husmann in: Dies., Roland Biewald (Hg.), Diakonie. Praktische und theoretische Impulse für sozial-diakonisches Lernen im Religionsunterricht, Themenhefte Religion Nr. 8, Leipzig 201, 15–18.

9     Siehe Thomas Schlag, Horizonte demokratischer Bildung. Evangelische Religionspädagogik in politischer Perspektive, Freiburg/Basel/Wien 2010, 419; siehe auch 423 und 382. Im Folgenden abgekürzt: Schlag, Horizonte.

10   Siehe Wolfgang Huber, Zur Einführung: Ist die Schule überhaupt der Ort …?, in: Anne Sliwka / Christian Petry / Peter E. Kalb (Hg.), Durch Verantwortung lernen: Service Learning: Etwas für andere tun. 6. Weinheimer Gespräch, Weinheim/Basel 2004 (7–11), 9f.

II.        Verantwortung

1.        Allgemeines

Der Gedanke der Verantwortung stammt ursprünglich aus dem Bereich des Rechts. „Verantwortung vor“ meint hier die Verantwortung vor einem Richter. Die Übertragung dieses Gedankens in den Bereich der Ethik ist nur möglich geworden durch den Einfluss der christlichen Vorstellung davon, dass Gott der Richter ist, vor dem sich am Ende der Geschichte alle Menschen verantworten, vor dem sie Rechenschaft ablegen müssen. Die Weltgeschichte als solche wurde so der grundsätzliche Horizont menschlicher Verantwortung. Die Universalisierung der Verantwortung bindet die christliche Tradition an das Leben des Individuums. Im Gleichnis vom Weltgericht (Mt 25,31–46) erhalten die Taten aller Individuen ihre endgültige Bedeutung, und zwar im Licht der Handlungen aller anderen Individuen. Die Taten eines Menschen werden beurteilt im Hinblick auf seinen Umgang mit der Situation der Bedürftigen, Schwachen, Unterdrückten, Hungrigen, Durstigen, Fremden, unter die Räuber Gefallenen, Kranken und Gefangenen. Christus, der Weltenrichter, befindet darüber, ob der Wille Gottes das Leben prägte und zu einer entsprechenden Verantwortungsübernahme für die Schwachen führte.11 Wir begegnen dem Weltenrichter, so die christliche Vorstellung, im Zusammentreffen mit den Schwachen. Das Kriterium des Verantwortungsgedankens erklärt unsere Handlungen soweit für gerechtfertigt, als sie vorteilhaft sind für diejenigen, die schwächer sind als wir.12

In der protestantischen Rechtfertigungslehre wird der Mensch vor Gott gerecht nicht durch das eigene Tun, sondern nur durch den Glauben an die Versöhnung in Christus. Weil Gott immer schon gnädig und barmherzig ist, muss sich niemand einen barmherzigen und gnädigen Gott verdienen. Die Entdeckung der Gnade Gottes macht frei von den Albträumen der Sorge, frei für die Liebe zu Gott und für den Dienst am Nächsten.13 Es gehört zum Mensch-Sein dazu, Verantwortung zu übernehmen. Gott hat den Menschen als verantwortungsfähiges Wesen erschaffen und ihn zur Verantwortung berufen. Verantwortung ist „in dem Wissen gegründet, … daß der Mensch als handelndes Subjekt von Voraussetzungen lebt, die er nicht selbst geschaffen hat, sondern die ihm gegeben sind, an deren lebensvoller Geltung er gleichwohl beteiligt ist“.14

Der Begriff der Verantwortung hat also eine Doppelstruktur: In ihm verbindet sich der Aspekt der „Verantwortung für“ mit dem Aspekt der „Verantwortung vor“.15

„Gott ist die Instanz, der wir Rechenschaft über unser Leben schulden; um dieses Verantwortungshorizontes willen reicht unsere Verantwortung weiter, als um des individuellen Lebens willen notwendig wäre.“16 Aus Gottes Ruf in die Verantwortung erschließt sich „die Bedeutung mitmenschlicher Welt-Verantwortung“.17

Evangelische Bildung ist das Resultat biblisch-theologisch gedeuteter Wahrnehmung. Der Begriff der Verantwortung ermöglicht es, die Wahrnehmung so zu qualifizieren, dass die Auseinandersetzung mit der Frage nach dem, was Gottes guter Schöpfung, seinem Befreiungshandeln und seiner Gerechtigkeit entspricht, sich auf die Gestaltung meines individuellen und des gesellschaftlichen Lebens auswirkt. Denn es geht in der Ethik, die sich auf Bonhoeffer bezieht – und auf die die Religionspädagogik ja mit dem Verantwortungsbegriff zurückgreift –, darum, „die Frage nach dem Guten im Horizont der Frage nach einem gemeinsamen Leben und im Horizont der Frage nach einer geschichtlich gewordenen gesellschaftlichen Wirklichkeit zu stellen. Nicht nur die individuelle Lebensführung für sich, sondern der Beitrag der individuellen Lebensführung zur Gestaltung der geschichtlichen Gegenwart ist das Thema der Ethik.“18 Damit ist Ethik als Verantwortungsethik beschreibbar und Sozialethik ist ein Synonym von Verantwortungsethik.19

2.          Der doppelte Verweisungszusammenhang des Verantwortungsbegriffs

Bonhoeffer profiliert den Begriff der Verantwortung in seinen Überlegungen zur Struktur des verantwortlichen Lebens zwischen dem Sommer 1941 und dem Frühjahr 1942. Sein Schritt in die Verschwörung gegen Hitler geht dem voraus. Die Zerstörung der Rechtsordnung durch die NS-Diktatur, die Verbrechen des Zweiten Weltkrieges und die Judenverfolgung bilden den Hintergrund.20 Die theoriegeschichtliche Situation, die den Übergang zur Verantwortungsethik nötig macht, ist der Abschied von einer schlechten Abstraktion in der Ethik, „die von einem isolierten einzelnen Menschen ausgeht, der sich an einem absoluten Maßstab des Guten orientiert und auf dieser Grundlage beständig zwischen Gut und Böse zu entscheiden hat“.21 Bonhoeffer beharrt darauf, dass der Begriff der Verantwortung theologisch gefasst werden muss. Der Begriff hat es mit einem doppelten Verweisungszusammenhang zu tun: Es handelt sich immer zugleich um eine „Verantwortung vor“ und eine „Verantwortung für“. Gott ist das ursprüngliche und letztgültige Forum, vor dem sich der Mensch zu verantworten hat im Jüngsten Gericht. Diejenigen, denen die Verantwortung vor allem gilt, sind die Schwächsten. Ihnen kommt das stellvertretende Handeln derer entgegen, die dazu berufen und befähigt sind.

3.          Verantwortungsübernahme als Stellvertretung

Nicht nur die Antwortstruktur, sondern auch der Stellvertretungscharakter kennzeichnet Verantwortung. An dieser anthropologischen Wirklichkeit scheitert, so referiert Klappert Bonhoeffer, die Tradition des deutschen Idealismus, gemäß der das Subjekt allen ethischen Verhaltens der selbstbezügliche, selbstbewusste und isolierte Einzelne ist.22 Leben und Tod Jesu sind als Stellvertretung für uns bestimmt; und so wird auch das darauf antwortende menschliche Leben den Charakter der Stellvertretung tragen. Die Antwortstruktur ist die Reflexion auf die vorgängige Anrede durch Gott. Die Stellvertretungsstruktur ist gekennzeichnet durch die Reflexion darauf, was der andere zum Leben braucht.

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