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Michael Schweßinger

Gedanken an die Dämmerung

Erotische Kurzgeschichten


Michael Schweßinger:

„Gedanken an die Dämmerung“

2. erweiterte Auflage, August 2013, Edition Subkultur Berlin

© 2013 Periplaneta – Verlag und Mediengruppe / Edition Subkultur
Inh. Marion Alexa Müller, Bornholmer Str. 81a, 10439 Berlin, www.subkultur.de

Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck, Übersetzung, Vortrag und Übertragung, Vertonung, Verfilmung, Vervielfältigung, Digitalisierung, kommerzielle Verwertung des Inhaltes, gleich welcher Art, auch auszugsweise, nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlags.

Lektorat: Evelyn Marunde

Covermodel: Madeleine Le Roy (www.madeleine-le-roy.de)

Coverfotograf: Mozart

Autorenfoto: Christian Haubold (www.christianhaubold.com)

Satz & Layout: Thomas Manegold

print ISBN: 978-3-943412-11-6

epub ISBN: 978-3-943412-60-4
E-Book-Version 1.26


www.edition.subkultur.de


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Michael Schweßinger wurde 1977 geboren, lebte in Tansania, Irland und vielen anderen Orten, aber meistens in seinem Kopf. Manchmal kommt er raus und schaut sich die Welt an, schreibt Geschichten darüber und liest diese dann vor. Daneben studierte er Afrikanistik und Ethnologie, buk als Bäcker unzählige Brote, verlegte Bücher und machte tausend andere Dinge, die man teilweise in seinen Büchern nachlesen kann. Er ist Gründungsmitglied der Leipziger Lesebühne Schkeuditzer Kreuz, die sich monatlich im Kulturcafe Plan B trifft und er ist seit Sommer 2013 Autor bei Subkultur/ Periplaneta.

Ein ungleiches Duell

 

Es gab eine Zeit, da liebte ich es, alleine auszugehen. Ich liebte es, in das imaginäre Zwielicht der zahlreichen Gothic-Clubs dieser Stadt zu verschwinden. Ich liebte es, stundenlang auf ausgesessenen Barhockern zu verweilen und mich dem meditativen Anblick der Tanzfläche, mit ihren vielfachen Bewegungen und mannigfaltigen Farbwechseln, hinzugeben. Ich genoss es, die Mischung aus billigem Whisky und noch billigerer Cola über meine Zunge laufen zu lassen und ich verspürte die Lust auf den Geschmack nach selbstgedrehten Zigaretten. Ebenso liebte ich die süße Melancholie, die aus der selbstgesuchten Einsamkeit erwuchs, die am stärksten in mir aufstieg, wenn mein Blick auf ein frischverliebtes Paar fiel, das sich mit zärtlichen Küssen und lieblichen Blicken ein eigenes Königreich erschuf und mich damit unweigerlich in die eigene Erinnerung führte, wo einst ebenso prächtige Königreiche dem langsamen Vergessen anheimfielen.

Manchmal tanzte ich auch zwischen den anderen Menschen, die zu verschiedenartigster Musik die Tanzfläche in ein wuselndes Gewirr aus Stoff, Haut und Schmuck verwandelten. Doch meistens nutzte ich die Abende, um auf meinem Barhocker wie auf einer einsamen Insel zu thronen und war nicht unglücklich über die Wellen und Ausprägungen der Musik und der Menschen, die mich manchmal berührten, meist jedoch vor meiner Insel zurückwichen. Selten sprach ich ein Wort mit den Menschen, denn tief in mir wurzelte der Glaube, dass es nicht möglich war, mit Worten zu kommunizieren. Manchmal hielt ich Zwiesprache mit schillernden Augen, die vor meiner Insel aus dem flutenden Meer auftauchten und Sekunden später wieder verschwanden. Smaragde und Bernsteine riefen mich in eine andere Welt. Ich fühlte, wie eine ungeahnt kräftige Welle weit über meine Zehenspitzen hinaufschwappte und mich manchmal sogar fast mitten in dieses andere Meer hineinzog, das den Worten für immer unbekannt blieb. Doch weigerte sich ein Teil von mir, die kontemplative Betrachtung beiseitezulegen und dieser weitaus stärkere Teil widerstand der Freude am Schwimmen, das ich einst so sehr liebte, nun aber nur noch als eine Erinnerung wahrnehmen wollte, da die Angst vor dem Ertrinken mich drückte wie ein namenloser Alp in dämmrigen Morgenstunden.

An einem Abend jedoch ergriff mich die Lust auf Verschwendung. Ich zerstörte meine Insel und stürzte mich in die flutende Musik. Der Geruch von Haut betäubte mich wie der Geschmack von schwerem Wein nach Wochen der Abstinenz. Mit jedem Ton, mit jedem Lied, verloren die Bar mit ihren Gesichtern, die Tanzenden und selbst der Abend an Gestalt und Form, wurden selbst wieder flüssig wie die Sehnsucht nach dem Meer in mir, die ich nie aufgehört hatte, zu lieben. Zeit und Raum schwammen an meinen Emotionen vorbei wie morsches Treibholz. Unwichtig erschienen mir auf einmal Anfang und Ende. Aufgelöst in den Klängen verfloss ich in meinen Bewegungen, fernab davon, diese noch einordnen oder kategorisieren zu können. Ich tanzte mit offenen Augen, die dennoch irgendwie geschlossen waren und nur noch Musik sehen konnten, für alles andere aber blind waren.

Es war mir zur Gewohnheit geworden, dabei zu rauchen.

In jener Nacht, in der mir die Welt am Entschwinden war und ich selbst ganz Ton geworden, geschah es plötzlich, dass ich spürte, wie meine Hand, die sich unkontrolliert nach den Tönen streckte, mit der Zigarette auf Widerstand stieß. Sofort kehrte ich aus den traumgetränkten Sphären der Musik zurück in meinen Körper und meine Augen blickten in ein erschrockenes, junges Gesicht, das nicht auf den glimmenden Schmerz gefasst war. Meine Zigarette hatte sich nämlich in meiner Abwesenheit in die Haut der neben mir Tanzenden gegraben. Ihre lieblichen Gesichtszüge hatten sich in diesem einen Moment durch die Mithilfe von Erschrecken und Schmerz zu einem entzückenden Anblick modelliert, der mir schon in jenem Augenblick so zauberhaft erschien, dass ich versucht hätte, wäre ich ein Bildhauer oder Künstler, ihn in Stein und Farbe zu verewigen - auch wenn der Schrecken des Unerwarteten in ihrem Antlitz eindeutig überwog und der Schmerz sich dezent im Hintergrund hielt, denn ich hatte sie ja nur kurz berührt, ja, fast nur gestreift. Ich entschuldigte mich hastig und sie nahm meine Entschuldigung mit einer abwinkenden Handbewegung zur Kenntnis und wir tanzten zurück in unsere eigenen Welten.

So kostete ich an diesem Abend zum ersten Mal von dem flüchtigen Bildnis, das die leuchtenden Farben von Schmerz und Entsetzen durch meine unbedachte Aktion in die lieblichen Gesichtszüge des Mädchens eingezeichnet hatten. Ich darf sagen, dass ich mich in den Anblick verliebte und versuchte, mir diese Sekunde in den folgenden Tagen und Nächten wieder und wieder vor Augen zu führen. Allein es gelang mir nicht und es erging mir wie allen Liebenden, die verzweifelt versuchen, die Augenblicke des Entzückens in ihren Erinnerungen wiederzubeleben. Das Abbild jenes Augenblicks blieb schal und unbelebt. Auch meinen Worten wohnten nicht die Bewegung und die Energie inne, um dem Bild eine würdige Beschreibung beizugesellen. Dennoch verblasste dieses Erlebnis nicht, sondern trat mir von Tag zu Tag stärker vor Augen. Doch schien es, als wären es nicht dieselben Augen, mit denen ich durch mein tagtägliches Leben schritt, sondern andere, die ich niemals zuvor wahrgenommen hatte. Augen des Moments. Augen der Dichte, die sich weigerten, jenseits des Augenblicks zu schauen. Ein Papierkorb voller dilettantischer Ergüsse überzeugte mich schließlich, dass es sich nicht ziemte, die Verdichtung mancher Wirklichkeit durch den dranghaften Versuch einer Beschreibung zu entwerten. So legte ich den Stift beiseite und begann, mit meiner Glut auf Haut zu schreiben.

Meine Unschuld verlor ich einige Wochen später an eine Grabschönheit mit nachtschwarzem Haar. Dies war nämlich die Frau, an welche ich zum ersten Mal in bewusster Absicht mit meinem Verlangen nach der Wiederbelebung des Augenblicks herantrat. Freilich unter dem Deckmantel der versehentlichen Berührung versuchte ich, mit Hilfe meiner Glut, diesen bezaubernden Ausdruck auf ihr Antlitz zu zeichnen und damit das zu erschaffen, was meinen Zeilen verwehrt blieb. Lange beobachtete ich sie. In mir fochten Moral und Sehnsucht ein ungleiches Duell. Doch was mag die Moral gegen eine Begierde ausrichten, die tief im Herzen Feuer gefangen hat! Mit einem großen Schluck Whisky-Cola spülte ich den Kadaver meiner besiegten Bedenken hinunter und erkor wenig später ihre rechte Hinterbacke zum Ziel meiner Glut. Die Haut war an dieser Stelle nur durch eine dünne Netzstrumpfhose bedeckt und bot somit eine ausgezeichnete Möglichkeit, durch den zärtlichen Kuss meiner Zigarette, die gewünschten Züge in ihrem Gesicht aufblitzen zu lassen. Ich gesellte mich auf die Tanzfläche, vermied es aber, vorher in ihr Blickfeld zu geraten, um nicht durch eine unbewusste Verlegenheit, die vielleicht meinen Zügen innewohnte, oder irgendeine verräterische Bewegung, alles zunichtezumachen. Als das Parkett gut gefüllt war, näherte ich mich ihrem Körper und brachte mich und meine Zigarette in Position. Ich täuschte Lockerheit vor und schloss die Augen so weit, dass ich durch zwei kleine Schlitze mein Umfeld wahrnehmen konnte. Ein Außenstehender, der mich eventuell bei meinen geheimen Vorbereitungen beobachtete, musste aber denken, dass meine Augen ganz geschlossen wären und ich gerade in der Musik versunken sei. Dann schien mir der rechte Moment gekommen. Als sie sich in der Rückwärtsbewegung befand und allein ihre Arschbacke schon einen Anblick bot, für den ich getrost einige Jahre der Ewigkeit verscherbelt hätte, preschte meine Linke vor und die Glut tat das, was meinen Lippen verwehrt blieb. Sie küsste ihren schönen Arsch.

Ein kurzes Zucken. Eine schnelle Handbewegung und dann dieser Blick, den ich so sehr ersehnte. Der Moment, der sich dem Abbild entzog. Der Moment, der sich in der Erinnerung der Zeilen verhüllte. Der Moment, der scheu war bis zum Extrem. Derjenige, der sich mit jedem geschriebenen Wort weiter zurückzog, mit jedem Versuch der Beschreibung mehr und mehr entzaubert wurde.

Nachdem ich diesen kurzen Augenblick bis zu Neige ausgekostet hatte, dachte ich zunächst, die infame Absicht stände mir ins Gesicht geschrieben und die Nachtschwarze würde unweigerlich erkennen, dass ich ihr die Zigarette mit Absicht auf ihren schönen Arsch gedrückt hatte. Meine Worte des Bedauerns, die fast mechanisch folgten, klangen in meinen Ohren hölzern und ich erwartete bereits ihre Flüche und Zurechtweisungen. Doch nichts dergleichen. Sie wandte ihren Kopf und blickte mich nur kurz an. Dann verschwand ihr Antlitz wieder unter den vielen, die mich umgaben. So bestand ich also meine erste bewusste Feuertaufe in diesem seltsamen Spiel, das mir von meiner Sehnsucht aufgezwungen ward.

Fortan genoss ich es, diese Melange wieder und wieder in die Gesichter der Schönen zu zeichnen. Wann immer ich dazu Lust verspürte, malte ich mit meiner Glut opulente Fresken aus Schmerz und Erschrecken. Immer waren sie anders und doch strahlten sie alle auf ihre Weise eine eigentümliche Schönheit aus, die ich nicht mehr wage, näher zu beschreiben – aus Angst, ich könnte sie zerstören. Trotz meiner steigenden Begierde, die in immer kürzeren Abständen nach neuen Bildern schrie, beschränkte ich mich auf einen einzigen Augenblick pro Abend. Lange saß ich da auf meinem Barhocker und wählte unter den vielen Tanzenden eine passende aus. Keine konnte sich mir verweigern. Keine konnte mir einen Korb geben. Was war es für ein Gefühl der Macht, das mich in diesen Momenten durchfuhr! Ich, der Einsame, stieß, ohne je ein Wort an sie gerichtet zu haben, in die intimen Bereiche ihres Wesens vor. Für einen Moment war ich hinter ihren Maskeraden und Verkleidungen, war ganz nah an ihnen selbst. Kein Wort und keine Berührung hätten mich in intimere Bereiche geführt, als die des maskenlosen Selbst.

Die Leichtbekleideten schienen mir zunächst am verlockendsten, da sich mir bei ihnen eine Vielzahl von Angriffsflächen darbot und ich außerdem kein Interesse verspürte, die Kleider und Kostüme zu zerstören. Es ging mir einzig um diesen winzigen Augenblick, in dem es möglich war, einen verwaisten Rahmen in meinem Geist zu bebildern. Das leere Innere dieser Einsäumung wartete begierig darauf, mit immer neuen Bildern das ständige Verschwinden zu überdecken. Es war die Sehnsucht, der Zusammenballung und Verdichtung von Gegensätzlichem beizuwohnen, bei dem Zeit und Raum nur eine Statistenrolle zukam. Es war das Gefühl, dass hinter der Welt der Bilder, die einen tagtäglich überschwemmte, noch andere, gleichsam sakrale Bilder verborgen waren, die sich der profanen Beschreibung und Kategorisierung entzogen und nur in den Momenten von äußerster Intensität kurz ihren Schleier lüfteten und sich in diesem Rahmen präsentierten.

Schon bald gab ich mich nicht mehr damit zufrieden, nur die Gesichtszüge der Leichtbekleideten in den leeren und dekadenten Rahmen meines ausgehöhlten Geistes zu projizieren. Ich suchte neben den Strapsträgerinnen auch Ladys und Prinzessinnen in edlem Samt und hochgeschnürten Korsagen. An manchen Tagen, wenn mich der Übermut packte, machte sich meine neugierige Glut auf, um Bekanntschaft mit manch hervorstechendem Dekolleté zu schließen. Immer gelang es mir dabei, den weltabgewandten Träumer vorzutäuschen, der in der Abwesenheit der Musik nicht mehr Herr seiner Bewegungen war.

An einem Abend jedoch, als ich schon bei der x-ten Whisky-Cola angekommen war und ich überlegte, ob ich einfach nach Hause gehen sollte, da keine der Ladys meinen Vorstellungen entsprach und selbst dieses Vergnügen sich nun anschickte, sich zu den gewöhnlichen Ereignissen zu gesellen, sah ich SIE die Treppen des Eingangs herunterschreiten. Ich war mir vollkommen sicher, dass sie die Königin des Abends sein würde und ebenso sicher war ich mir, dass dies nicht an den reichlichen Mengen Whisky lag, sondern daran, dass diese Frau zu jeder beliebigen Zeit alles in den Schatten stellen würde. Die aufkommende Langeweile, die ich an diesem Abend zum ersten Mal nach langer Zeit wieder verspürte, war bei ihrem Anblick wie weggeblasen. Meine ganzen Aktionen schienen nur ein Vorspiel für dieses wunderbare Geschöpf zu sein. Ihr lederner Mantel schlug sich leicht um ihre Taille und ihr divenhafter Gang beeindruckte nicht nur mich, wie mir die stierenden Augen anderer Männer verrieten. Bei den Couchen angekommen, warf sie ihren Mantel achtlos über eine der Sitzgelegenheiten, stolzierte dann quer über die Tanzfläche und positionierte sich nur einige Schritte von meinem Hocker entfernt an der Bar. Mein Blick fiel auf ihre schwarzen Hotpants, kroch weiter über ihre von zerrissenen Netzstrümpfen gezierten Beinen und verfingen sich dann an der Oberfläche ihrer glänzenden Stiefeln. Ihr violettes Samttop schob sich nach oben, als sie sich über den Tresen beugte und ihre Bestellung abgab, und machte den Blick frei für eine nach meinem Geschmack ziemlich hässliche Tribal-Tätowierung. Aber schon schob sich ihr Oberteil wieder über ihre freie Rückenpartie und der einzige Makel, den man ihrem Körper anlasten konnte, entzog sich meinen Blicken. Dann machte sich die Schönheit auf den Rückweg über die Tanzfläche. Wieder dieser Gang, ja mehr ein Triumphzug als ein normales Voranschreiten. Ein Stolzieren, das bis in den letzten Winkel des Clubs ihre Wahrheit verkündete.

„Ich weiß, dass ich schön bin. Ich weiß, dass ich wunderschön bin.“

Ich verliebte mich sofort in ihre Selbstgefälligkeit und ihre offen zur Schau gestellte Arroganz. Ich konnte es kaum erwarten, wie ihr Gesicht mit der kunstvollen Hochsteckfrisur sich für einen Augenblick in Schmerz und Erschrecken verwandeln würde. Wie würde sich das mit der hochkonzentrierten, arroganten Schönheit vermischen? Müsste nicht sogar der Schmerz vor dieser Schönheit seinen Hut ziehen und huldvoll zurückweichen?

Fragen ohne Antwort schossen durch mein Hirn.

Sie war mein Meisterstück – gewiss. Bei ihr musste meine Glut tiefer dringen, um ihre kühle Eisschicht, die sie umgab, zu zersprengen, um nicht an ihr zu erlöschen. Sie war eine der Frauen, die man nicht wagte anzusprechen. Eine, bei deren Anblick einem sofort die eigene Nichtigkeit in den Kopf steigt. Zu viel Schönheit sprach aus ihrer porzellanweißen Haut. Zu viel Distanziertheit aus ihrer kunstvollen Kühle. Ich bestellte mir einen Malt, um dem Anlass würdig zu huldigen, denn diese Frau hatte mehr verdient, als eine billige Whisky-Cola.