„Oh like a bird on the wire,

Like a drunk in a midnight choir

I have tried in my way to be free.“

 

Leonard Cohen

Michael Schweßinger

 

Michael Schweßinger wurde 1977 geboren, lebte in Tansania, Irland und vielen anderen Orten, aber meistens in seinem Kopf. Manchmal kommt er raus und schaut sich die Welt an, schreibt Geschichten darüber und liest diese dann vor. Daneben studierte er Afrikanistik und Ethnologie, buk als Bäcker unzählige Brote, verlegte Bücher und machte tausend andere Dinge, die man teilweise in seinen Büchern nachlesen kann.

Er ist Gründungsmitglied der Leipziger Lesebühne Schkeuditzer Kreuz, die sich monatlich im Kulturcafe Plan B trifft und er ist seit Sommer 2013 Autor bei Subkultur/ Periplaneta.

 


Michael Schweßinger

Vaterland
ist abgebrannt







Geschichten aus der Fremde






Edition Subkultur Berlin
(a division of periplaneta)

Michael Schweßinger
„Vaterland ist abgebrannt – Geschichten aus der Fremde“

1. Auflage, Oktober 2013, Edition Subkultur Berlin

© 2013 Periplaneta – Verlag und Mediengruppe / Edition Subkultur
Inh. Marion Alexa Müller, Bornholmer Straße 81a, 10439 Berlin
www.subkultur.de

Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck, Übersetzung, Vortrag und Übertragung,
Vertonung, Verfilmung, Vervielfältigung, Digitalisierung, kommerzielle Verwertung des Inhaltes, gleich welcher Art, auch auszugsweise,
nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlags.

Lektorat und Projektleitung: Evelyn Marunde
Coverbild und Autorenfotos: Christian Haubold (www.christianhaubold.com)
Satz & Layout: Thomas Manegold (www.manegold.de)


print ISBN: 978-3-943412-13-0
epub ISBN: 978-3-943412-62-8

Prolog: Unterwegs

Ich sehe die menschliche Entwicklung als eine einzige Ansammlung versteckter Fluchtreflexe. Man floh in den Krieg wie in neue Länder. Als die dunklen Flecken auf den Landkarten weniger wurden, erhellte man die Nacht und zog mit den Skyscrapern den Raum in die Höhe, um neue Fluchtwege zu schaffen. Heute genügt ein einfacher Internetanschluss, um mit viereckigen Kisten wechselnde Tapeten der Sehnsucht und Selbstbestätigung in Einzimmerwohnungen zu werfen.

Ich habe immer diejenigen halb bewundert, halb verachtet, die das Kammerspiel ihrer Zeit akzeptierten und niemals den Drang hatten, den großen, leeren Raum hinter und zwischen den Kulissen aufzusuchen. Die mit den Welten, die man ihnen anbot, im Einklang waren oder zumindest den Glauben an sie nicht erodieren wollten. Und weil mir dies fern ist, weil es zwischen mir und der Welt keine Übereinstimmung gibt und ich dennoch existiere, habe ich die Fluchtreflexe synthetisiert und reihe an wechselnden Orten Worte aneinander. Ich errichte Konstruktionen auf der Landkarte meiner Gedankenwelten, die sich manchmal zivilisiert wie Städte zu einer Geschichte zusammenschließen, ein andermal fragmentarisch und unerschlossen wie Einöden fremd aus den Waldlandschaften des Hinterlandes hervorragen. Ich wandere in den Worten, durchpflüge die Landschaften, bin im Schreiben meine eigene Geschichte – nicht weil ich an sie glaube, sondern um mich kurz von dem Gefühl tragen zu lassen, ich würde es tun. Durch diesen Wesenszug fühle ich mich den Vagabunden und Nomaden verbunden, denen hunderte Länder nicht genügen und für die eine Grenzziehung mehr Aufforderung zur Überschreitung denn Schutz suggeriert. Es sind diejenigen, deren Wesen sich immer wieder wandelt und verflüchtigt, die sich in vielfachen Emanationen und Wiedergeburten immer wieder erschaffen und auf den Weg machen müssen, um für wenige Augenblicke zu sein. Eine atheologische Peregrinatio, die ich weder durchschaue noch erstrebe, aber es ist von allen mir bekannten Lebensweisen diejenige, bei der ich am wenigsten kotzen muss.

Es gibt einen gewissen Punkt, an dem einem die Ausweglosigkeit des eigenen Weges bewusst wird und man deshalb nur noch diesen gehen kann, den es noch gar nicht gibt. Diese Erkenntnis erscheint mir abwechselnd als Bürde und als Gabe. Sie zwingt mich die Menschen, gleich, an welchem Ort ich mich befinde, aus einer Perspektive der Entfremdung zu beobachten. Denn nie habe ich mich als Teil von etwas begriffen, mein Wesen drängte zu einer Eigenheit, die mich zwar Anteil nehmen ließ an den Menschen, die mich umgaben, aber mich auch immer auf Distanz hielt. Nie habe ich ihre Freude an Massenveranstaltungen, nie ihre Geselligkeit verstanden, nie ihre Sehnsucht sich in Gruppen zusammenzuschließen, nie ihre Rituale der Sesshaftigkeit. Wie einer, der eine exotische, unübersetzbare Sprache spricht und deshalb vieles nicht versteht, blicke ich voll Erstaunen auf sie und ihre Art, zu leben. Ich lese in ihnen wie in einem interessanten Buch, dass einem erst über die Jahre, nach vielen Markierungen und Eselsohren, die Rätsel nach und nach preisgibt. Und was ich lese, schreibe ich nieder.

 

 

 

Afrika

_DSC0237-Edit.jpg

Der Pfad der Unsicherheit

Des geregelten Lebens  mal wieder überdrüssig, floh ich vor einigen Jahren Hals über Kopf an die tunesische Mittelmeerküste, um dort eine deutsche Bäckerei für Laugengebäck aufzubauen. Wie alle Entscheidungen, die mit der heißen Nadel der Emotion gestrickt sind, wirkt auch diese im Nachklang der Jahre naiv, ja, fast tölpelhaft. Als ob man einer Liebschaft oder Begierde voller Entschlossenheit nachjagt und erst nachdem man von ihr kuriert ist, zu der Erkenntnis gelangt, dass man es besser unterlassen hätte. Es machte aus der Ferne noch durchaus Sinn, denn dass Laugengebäck bei deutschen Pauschaltouristen beliebt sein würde, daran hegte ich keinen Zweifel. Wer im Urlaub mit Vehemenz auf sein Schnitzel besteht, nimmt eine Laugenbrezel auch gerne an.

Dem Flug von Leipzig nach Monastir waren nur zwei verpixelte Skype-Gespräche mit einer Frau namens Lisbeth, die diese Bäckerei aufbauen wollte, vorausgegangen und das ganze Projekt endete innerhalb kürzester Zeit in einem riesigen Desaster. Lisbeth war irgendwann aus Niederbayern an die tunesische Mittelmeerküste gezogen, verfügte aber weder über Kontakte zum damals herrschenden Ben-Ali-Clan noch über arabische Sprachkenntnisse und war außerdem eben eine Frau. Das waren drei negative Grundkonstanten, die es schwer, wenn nicht sogar unmöglich, machten, in diesem patriarchalisch-kleptokratischen System auch nur ein Eis zu verkaufen. Erst vor Ort erfuhr ich, dass sie wegen der Strahlenbelastung aus Niederbayern nach Sousse ausgewandert war und es passte dann auch irgendwie gut ins Bild, das sich mehr und mehr zu einem bizarren Gemälde ausweitete.

Nach drei Wochen hatte Habib, ein tunesischer Mittelsmann, es geschafft, über tausend Ecken eine Backstube zu organisieren, in der ich heimlich einige Stunden Testreihen durchführen konnte. Es war ein verloddertes Ding, das die minimalsten Anforderungen an Hygiene und Sicherheit gekonnt unterlief. Ich begann dennoch damit, eigentlich für Reinigungszwecke vorgesehene hochkonzentrierte Sodium Hydroxide zu einer Art Brezellauge zu verdünnen, so dass sich beim ersten Biss in die Urlaubsbrezel nicht gleich die Mundschleimhaut ablösen würde. Es gelang mir tatsächlich, damit akzeptables Laugengebäck herzustellen. Ich habe das nicht recherchiert, aber es waren vermutlich die ersten Laugenbrezeln Tunesiens, die ich da buk.

Lisbeths geistiger Gesundheitszustand nahm inzwischen jedoch solch desolate Züge an, dass es auch die einzigen Brezeln bleiben sollten. Die Finanzierung stand auf wackeligen Beinen, wie mir Habib verriet. Aber wir hatten beide nicht erwartet, dass sie plötzlich in ihrem Garten nach dem Schatz von Hamilkar graben würde, um ihren Lebenstraum finanzieren zu können. Als Habib davon erfuhr, rief er mich an und sagte, dass er raus wäre aus der Nummer. Ich konnte das verstehen, denn Schatzsuche ist auch nach meinem Geschmack ein recht ungewöhnlicher Finanzierungsplan, der in den seltensten Fällen von Erfolg gekrönt ist. Also machte auch ich einen Haken hinter die Sache mit der Bäckerei und verbuchte das Ganze unter Lebenserfahrung.

In dieser Zeit war ich in einer einfachen Wohnung in einem Vorort von Sousse untergebracht, die außer einem Bett und einem defekten Herd nichts enthielt. In der Wohnung unter mir hatte sich zudem ein algerischer Clan für den Sommerurlaub einquartiert und zu behaupten, sie wären laut gewesen, wäre eine maßlose Untertreibung. Sie machten zu allen erdenklichen Uhrzeiten einen fürchterlichen Lärm. Ich nahm es mit Humor. Die Wohnsituation stellte ohnehin kein Problem dar, denn in einem warmen Land voller Straßenkultur in der Bude zu sitzen war Blödsinn und Essen gab es an jeder Ecke. So vertrieb ich mir die Tage bis zum Rückflug in Teestuben oder widmete mich in einem der zahlreichen Straßencafés der Beobachtung goldbehangener russischer Schönheiten, die von nordafrikanischen Machos mit großen Autos und noch größeren Sonnenbrillen ausgeführt wurden. Okay, dann hatte ich eben mal Tunesiens Strände gesehen und dazu Frauen, die in einer Burka badeten, was nicht einmal unsexy aussah, da ich Verhüllung schon immer näher an der Erotik angesiedelt sah als nacktes Fleisch. Eine Hand, die sich vorsichtig aus dem Stoff hervorschiebt und sanft über das Wasser streicht, kann äußerst erotisch wirken und die Vorstellung beflügeln. Ein nackter Körper in der Sonne ist dagegen nur ein nackter Körper in der Sonne. Aber ich war kein Mensch für das Strandleben und auch keiner der Ärger mit algerischen Clans haben wollte, weil man zu lange auf ihre Frauen glotzte. So beschloss ich, am nächsten Tag mit dem Zug in den Norden hochzufahren und mir die Hauptstadt anzusehen.

Dass ich nicht nach Tunis kam, lag an einem unerwarteten Besuch in den frühen Morgenstunden, als es plötzlich heftig gegen meine Tür hämmerte. Ich dachte, der algerische Familienclan unter mir habe irgendein Problem, öffnete und sah mich plötzlich vier Polizisten und dem Vermieter gegenüber. Auch ohne große arabische Sprachkenntnisse wusste ich sehr schnell, was der Grund ihres Besuchs war. Wenn jemand Geld von einem will, versteht man das in allen Sprachen recht schnell. Sie wollten sechshundert Euro für die Wohnung oder ich würde Bekanntschaft mit tunesischen Gefängnissen machen. Die Zeichensprache der Polizei für „dann klicken die Achter“ ist ebenfalls weltweit ähnlich und leicht verständlich. Sechshundert Euro war natürlich eine völlig utopische Summe für diese abgerockte Bude. Ich war außerdem der festen Überzeugung gewesen, dass die Wohnung schon wie ausgemacht längst bezahlt war, wunderte mich nach den vorangegangenen Ereignissen aber nicht großartig über die Geldforderung. Meine Verhandlungsposition war in diesem Moment allerdings denkbar ungünstig, genau genommen hatte ich keine. Es war ein mieses Spiel, das zum Himmel stank und die Polizisten waren vermutlich an der Miete zur Hälfte beteiligt. Ich zeigte die Handynummer von Habib, da er mit Lisbeth die Wohnung angemietet hatte. Der Vermieter konnte sich natürlich nicht an Habib erinnern. Er meinte, ich sei alleine gekommen, als Tourist. Für mich war es das Beste, das ebenfalls so zu sehen. Ich hatte keine Arbeitserlaubnis und es hätte meine Verhandlungsposition nicht verbessert, wenn ich erzählt hätte, dass ich eigentlich hier war, um merkwürdig geformte Teigstücke in Reinigungsmittel zu tauchen und sie dann an deutsche Pauschaltouristen zu verkaufen. Ich versuchte, Habib auf dem Telefon zu erreichen, keine Chance. Lisbeth miteinzubeziehen, würde meine Situation eher noch verschlechtern. Die hatte ich zum letzten Mal vor zwei Tagen in ihrem Garten bei der Schatzsuche gesehen, als ich vergeblich mein Geld für das Flugticket einfordern wollte. Wer in seinem Garten nach dem Schatz von Karthago gräbt, ist schon zu lange woanders unterwegs, um anderen in solch einer Situation aus der Patsche zu helfen. Ich musste wohl oder übel die Spielregeln akzeptieren.

Im Morgengrauen fuhren wir mit den Polizisten zum nächsten Bankautomaten, irgendwo am Boulevard Sidi Bou Said. Ich war noch im Halbschlaf und mir völlig unklar darüber, ob meine Kreditkarte sich belasten ließ oder nicht. Es wäre eine Lüge, zu behaupten, ich wäre nicht erleichtert gewesen, als der Geldautomat die Scheine herausrückte und sich alles bis auf meinen Kontostand in Wohlgefallen auflöste. Allerdings ertappte ich mich auch bei einem leichten Gefühl der Enttäuschung in den verkommeneren Gehirnregionen. Es war ja auch ein wenig schade, da die Bekanntschaft mit einem tunesischen Gefängnis bestimmt eine intensive und einzigartige Erfahrung sein musste. Für viele mag das einen kranken Gedankengang darstellen und vielleicht ist es das auch, aber wenn man das Leben aus der Perspektive der Intensität beurteilt, dann waren die Scheine, die ich dem Vermieter überreichte, eine Enttäuschung. Sie führten mich von diesem kritischen Punkt wieder zurück in eine Welt der Sicherheit und vermutlich hatte ich nie mehr die Möglichkeit, ein tunesisches Gefängnis von innen zu sehen. Eine der vielen Welten in diesem Leben, die mir verschlossen blieben. Ich erstrebte keine Aufenthalte in afrikanischen Gefängnissen, das wäre Irrsinn. HIV kann man sich auch auf angenehmere Weise besorgen. Es geht darum, die Intensität des Lebens als Geschenk anzunehmen, die Wertung von gut und schlecht dabei völlig beiseitezulassen. Wenn es so gekommen wäre, wäre es so gekommen. Es wäre aus dieser Perspektive, die der intensiven Erfahrung einen größeren Wert beimisst als der Angst, keine schlimme Sache gewesen, da die Wertung „schlimm“ in dieser Welt nicht existiert. Es waren andere Maßeinheiten, mit denen hier gemessen wurde.

Als mich im tansanischen Hinterland in einer gottverlassenen Missionsstation eine schwere Malaria niederstreckte und sich während der heftigen Fieberschübe die Welt der Lebenden der Welt der Verstorbenen mehr und mehr annäherte und mir Menschen erschienen, die bereits von dieser Welt gegangen waren, empfand ich weniger Angst als eine tiefe Neugier, diese Zwischenwelt, in die mich das Fieber hineinzog, zu erkunden. Es war eine eigene Welt voller unglaublich intensiver Eindrücke und farbiger Bilderreigen. Das Chinin, das hier seit der Kolonialzeit als Allheilmittel verwendet wurde, hatte die üble Nebenwirkung, dass mein Gehör davon völlig gelähmt war und mich komplett von der Außenwelt isolierte. Die Kommunikationslosigkeit beflügelte meine Phantasie und drängte mich noch stärker in die Geisterwelt. Unfähig die einfachsten Bewegungen auszuführen, lag mein Körper erschöpft in seinem eigenen Schweiß und Exkrementen, da ich meine Körperfunktionen nicht mehr unter Kontrolle hatte. Dennoch war es eines der mächtigsten und großartigsten Erlebnisse.

Noch heute sehe ich, wenn ich mich in die Erinnerung begebe, wie sich das von weißer Ordenstracht umhüllte Gesicht dieser Frau über mein Bett beugte - nie habe ich einen weißen Schleier reiner empfunden als in diesen Tagen - und sie meinen Körper mit Wasser und Tuch reinigte, während mein Geist weit entfernt mit einer Studienkollegin kommunizierte, die sich wenige Wochen vor meiner Abreise erhängt hatte. Es war mir damals völlig unmöglich, zu entscheiden, welche Ereignisse dieser Welt und welche einer anderen angehörten. Ich dachte oftmals, dass die Frau mit ihrem Tuch ein Traum sein konnte, da meine Studienkollegin, mit der ich völlig logisch mehrere Nächte lang über die Gründe ihres Selbstmordes diskutierte, weitaus realer erschien. Ich fühlte, dass ich ihr durch das Fieber näherkommen würde und ja, ich war voller Neugier und ohne Angst, so wie man arglos in fremde Länder aufbricht. Bewusst wurde mir das alles erst später, als ich wieder in die Eindeutigkeit dieser Welt zurückkehrte und durch die Erleichterung in den mich umgebenden Gesichtern erkannte, dass sie sich große Sorgen gemacht hatten.

Die Gefahr zu meiden, wenn es möglich ist, gehört zum gesunden Menschenverstand. Sie zu verbannen ist allerdings nur ein Symptom, das einer ängstlichen Epoche geschuldet ist. Das Duell mit der Angst ist immer ein Gladiatorenkampf in der eigenen Arena vor leeren Rängen. Dir allein gehört in diesen Momenten das Kolosseum. Es gibt dabei keinen Bezug zur äußeren Welt, keinen Kausalzusammenhang. Die Entscheidungen, die hier getroffen werden, sind ursprünglich, stehen für sich und verweisen auf nichts. Es sind Entscheidungen, die man nur für sich trifft. Ein Kampf mit dem eigenen Schatten. Man kann davonlaufen oder die Arenen meiden, ohne dass das eigene Ansehen in der äußeren Welt Schaden erleidet, denn die Logik wird in allen Situationen immer Gründe finden, die das eigene Verhalten legitimieren. Selbst Mengele schrieb auf seiner Farm in Paraguay wieder Liebesgedichte. Doch hat man sich einmal entschieden, diesen Weg zu gehen, ist man einmal von der Intensität infiziert, so erscheint einem irgendwann die Angst nicht mehr als Gegner, sondern als Gefährte. In der völligen Annahme des Daseins in all seinen Schattierungen gibt es keine Gegner mehr, nur noch große Umarmungen voller Lust und Leid, Schmerz und Freude.

Ich genieße es, durch die Straßen einer mir fremden Stadt zu schlendern und dabei den Klang kehliger Laute an mein Ohr dringen zu lassen, die ich nicht verstehe, nicht versuche zu verstehen, ich lausche einzig der Melodie wegen. Es befreit mich von dieser hartnäckigen Illusion, wir würden einander mittels Sprache verstehen können, wie sie einen im guten Gespräch oftmals überkommt und man erst aus den Nuancenverschiebungen der Antworten erkennen musste, dass man nicht dieselbe Sprache gesprochen hat, obwohl Grammatik und Wortschatz es vermuten ließen. Man hatte einfach aneinander vorbeigeredet. Sehr nah, aber dennoch vorbei …

 

 

This is Africa

Tis Issat hieß das Dorf, was so viel bedeutet, wie „der Platz an dem das Wasser raucht“. Der Name war nur noch historisch zu verstehen. Trockenzeit und zwei Wasserkraftwerke sorgten dafür, dass der Blaue Nil, der sich hier einst mehrere hundert Meter in die Tiefe stürzte, zum Nichtraucher geworden war. Das Rinnsal, das wir betrachteten, weil wir eben da waren, glich mehr einem Alpenbach als einem der mächtigsten Ströme der Welt. Selbst das allgegenwärtige „Mister, Mister, buy please“ der vielen Kinder, die uns mit Rasseln, Kaugummis, selbstgeschnitzten Zahnbürsten und einer Handvoll anderem Krimskrams verfolgten, war lauter als das Brausen des Flusses. Auch sonst verbreitete das Dorf die Romantik einer staubigen Westernstadt. Einige Buden boten Softdrinks und lokales Bier an. Pensionen gab es nicht und als uns die beiden Reiseführer Addis und Tomas verklickerten, dass der letzte Bus bereits abgefahren war, dachte ich: „Schöne Scheiße!“

Reiseführer ist vielleicht übertrieben, wir wollten sie nicht unbedingt engagieren, aber als wir in Bahir Dar nach acht Stunden Piste aus dem Minibus stolperten und unsere Knochen zurechtrückten, waren sie eben da. Und da sie sich nicht abschütteln ließen, dachten wir uns: „Na gut, dann haben wir eben zwei Reiseführer. Am Ende gewinnt sowieso immer Afrika!“

Als ich wegen des verpassten Busses ein wenig herumfluchte, weil wir am nächsten Morgen von Bahir Dar aus sehr früh weiter mussten, um unseren Anschlussflug in Lalibella zu erreichen, meinte Addis: „Keine Chance, aber wir könnten am Fluss schlafen!“

„Keine Chance“ bedeutete natürlich auch in Afrika „keine Chance“, also zumindest keine reguläre Chance, aber … irgendwas ging immer, es kam nur auf die Trinkgelder an. Es wurde wild herumtelefoniert. Einer kannte den anderen und der kannte wieder einen anderen. Nach einer Stunde hatten wir über unzählige Ecken einen Lastwagenfahrer am Handy, der 15 Kilometer entfernt war und mit einer Ladung Kies nach Bahir Dar fuhr.

„We can drive on the back of the lorry. No Problem, but you must give him a tip and his friend for the connection, too.“

Daran hatten wir uns schon gewöhnt, ohne Schmiere ging hier nichts. Dreihundert Bir für den Fahrer, hundert für den Kontaktmann. 18 Euro, das war noch okay für nächtliches Cabrio-Feeling auf afrikanischen Pisten.

„It´s okay“, sagte ich und damit war der Deal besiegelt.