Über das Buch:
Die junge Amisch Nellie liebt das einfache, traditionsreiche Leben ihrer Gemeinschaft und genießt ihre Zeit des Rumschpringe. Durch den tragischen Tod ihrer jüngeren Schwester wird ihr Leben jedoch in den Grundfesten erschüttert, besonders als bösartige Gerüchte über ihre geliebte Suzy und deren Lebenswandel die Runde machen. Hinzu kommt die Diskussion um Traktoren und Elektrizität, die in der Amisch-Gemeinschaft immer weitere Kreise zieht. Und immer mehr Amisch beginnen eigenständig in der Bibel zu lesen, so auch Nellies Vater. Ihm scheint es egal zu sein, dass man ihn und seine Familie dafür mit dem Bann belegen könnte. Welchen Standpunkt soll Nellie beziehen? Wenn sie sich ihrem Vater anschließt, bedeutet dies das Aus für ihren Traum von einem Leben an der Seite ihres geliebten Caleb. Ihr bleibt nichts anderes übrig, als sich selbst auf die Suche nach der Wahrheit zu begeben ...

Über die Autorin:
Beverly Lewis wurde im Amisch-Land in Lancaster/Pennsylvania geboren. Ihre Großmutter wuchs in einer Mennonitengemeinde alter Ordnung auf. Sie hat 3 erwachsene Kinder und lebt mit ihrem Mann in Colorado.

Kapitel 6

Die gesprächige kleine Emma kam tatsächlich noch am gleichen Abend zu Besuch, genau wie Mama es sich gewünscht hatte. Und ganz wie Nan es angedeutet hatte, wurde Nellie gebeten, das Kind, das einem Löcher in den Bauch fragen konnte, bei sich schlafen zu lassen. Sie brachte ihre Nichte sehr früh ins Bett, da sie hoffte, die Kleine würde bald einschlafen.

Wie befürchtet hatte Emma mehr Fragen, als Nellie beantworten konnte. „Wo ist Tante Suzy jetzt?“, fragte sie, als sie auf der Seite des Bettes lag, auf der Suzy immer geschlafen hatte. „Wann kommt sie wieder heim?“

Nellie war entsetzt, dass ihr Bruder James und seine Frau Martha ihrer jungen Tochter nicht erklärt hatten, wie endgültig Suzys Tod war. Oder war Emma einfach noch zu klein, um das zu verstehen?

Emma begann zu jammern. „Suzy hat ihre Puppe nicht mitgenommen.“

Nellie schaute sich im Raum um und war sich nicht sicher, was Emma meinte.

Immer noch schniefend, rieb sich Emma die Augen. „Sie hat ihre kleine Puppe hiergelassen. Sie wird zurückkommen, um sie zu holen, oder?“

„Ach, Liebes.“ Nellie beugte sich vor und küsste ihre Nichte auf die weiche Stirn.

Aendi Suzy hat sie letzten Sommer gemacht … während der Predigt“, kam die Erklärung. „Sie hat mit ihrem weißen Taschentuch eine Puppe in einer Wiege gemacht.“

Nellie schloss Emma in die Arme. „Natürlich hat sie das gemacht.“ Nellie wusste genau, was Suzy getan hatte, um Emma an den langen, heißen Sonntagvormittagen zu unterhalten. Alle jugendlichen Mädchen und jungen Mütter kannten diesen nützlichen Trick.

„Ich habe die Puppe in ihrer Wiege gelassen, Tante Nellie Mae.“ Emma lehnte sich zurück und legte ihren Kopf auf das Kissen.

„Hast du sie mitgebracht?“

Emma schüttelte den Kopf. Ihre blauen Augen blinzelten schläfrig. „Sie ist zu Hause in meinem Zimmer. Ich zeige sie dir das nächste Mal, wenn du zu uns kommst, ja?“

„Ja, natürlich.“ Sie fühlte sich genauso ausgelaugt, wie Emma aussah. Ihre Energie für diesen Tag war aufgebraucht.

„Ich habe sie Elizabeth genannt.“

Nellie lächelte. „Wusstest du, dass das auch Oma Betsys voller Name ist?“

„Ja. Das hat Mama mir gesagt.“ Emma schloss die Augen. „Es ist ein sehr schöner Name.“ Langsam schlug sie die Augen wieder auf. „Aber ich will trotzdem, dass Tante Suzy nach Hause kommt.“

Nellie dachte an die auswendig gelernten Gebete, die sie jede Nacht in ihrem Kopf aufsagte, wenn sie im Bett lag – Gebete, die sie gelernt hatte, als sie noch kleiner gewesen war als Emma jetzt.

Müde bin ich, geh zur Ruh …

Sie fragte sich, ob Emma diese Gebete in diesem Moment auch leise aufsagte. Oder war sie zu schnell eingeschlafen?

Oh, Herr, Gott und himmlischer Vater, ist meine kleine Schwester wirklich im Himmel? Oder an diesem anderen Ort …?

* * *

Betsy war dankbar für die Hilfe, die sie an diesem Morgen bei der Frühstücksvorbereitung bekam. Rhoda summte leise vor sich hin und schlug die Eier vorsichtig an der Bratpfanne auf, während Nellie den Pfannkuchenteig umrührte und wartete, bis die Pfanne aufgewärmt war. Betsy fand es amüsant und erstaunlich, dass ein Mädchen, das gern Süßes backte, selbst so dünn sein konnte.

Ruben mochte seine Eier leicht überbacken mit vielen Pfannkuchen daneben. Genau wie Emma. Der Apfel fiel eben nicht weit vom Stamm. Die Kleine saß auf dem Knie ihres Großvaters und hatte die Hände erwartungsvoll auf dem Tisch gefaltet. James würde irgendwann am Vormittag kommen und Emma abholen. Betsy gefiel der Gedanke gar nicht, dass sie sich schon so bald wieder von ihr trennen musste.

„Wie viele Pfannkuchen kannst du essen?“, fragte Ruben Emma.

Sie drehte sich in seinen Armen um. „Ach, das weißt du doch, Opa!“ Ein lautes Kichern kam aus ihrem Mund.

Er spielte mit und runzelte leicht die Stirn. „Also, warte mal, waren es sechs oder sieben?“

Emma grinste, sprang von seinem Schoß und ging zum Herd hinüber, um zuzuschauen, wie die Pfannkuchen in der großen, gusseisernen Pfanne aufgingen. Als Nellie sagte, sie solle aufpassen, dass sie sich nicht verbrenne, trat sie hastig zurück.

Betsy ging um den Tisch und goss frisch gepressten Orangensaft in die Gläser. Ehrlich gesagt, konnte sie kaum den Blick von James’ zweitältester Tochter abwenden. Es war so schön, sie anzuschauen. Sie war noch viel blonder, als ihre Suzy es gewesen war, und hatte auch mehr Sommersprossen, aber eine von ihnen saß fast an genau derselben Stelle, an der Suzy eine gehabt hatte – gleich links neben der Spitze ihrer zierlichen Nase.

Emma kam zu ihr herübergelaufen. „Ich will das Geschirr spülen, ja, Oma?“

„Das musst du Tante Rhoda und Tante Nan fragen. Tante Nellie geht gleich in den Laden hinüber.“

Wie üblich war Nellie Mae in den frühen Morgenstunden aufgestanden und hatte dann leise die vielen Pfannen herausgezogen, um ihre Kekse, Kuchen und anderen Leckereien zuzubereiten. Jeden Tag führte sie das gleiche Ritual durch. Die einzige Ausnahme war der Tag des Herrn. Heute hatte Nellie besonders viel Brot gebacken. Wie sie das mit der wenigen Hilfe, die sie von ihren Schwestern bekam, schaffte, war Betsy ein Rätsel.

Rhoda arbeitete seit einiger Zeit bei den Kraybills, ihren englischen Nachbarn. Andere junge Frauen in ihrem Gemeindebezirk hatten mit der zähneknirschenden Erlaubnis von Bischof Joseph ähnliche Arbeiten übernommen. Ruben hatte sich gegen Rhodas Arbeitsstelle ausgesprochen, aber als er davon erfahren hatte, hatte Rhoda bereits seit mehreren Wochen dort gearbeitet. Als ungetaufte junge Erwachsene hatte Rhoda bis zu einem gewissen Maß die Freiheit, das zu tun, was sie wollte.

Was Nan betraf, so hatte sie Nellie bis vor kurzem ziemlich regelmäßig, wenn auch eher widerwillig, in der Bäckerei geholfen. In letzter Zeit kam es jedoch immer häufiger vor, dass sie mit Betsy im Haus kochte und sauber machte und in gewisser Weise in Suzys Rolle schlüpfte.

„Kann ich Tante Nellie helfen, wenn ich das Geschirr gespült habe?“, riss Emmas Frage Betsy aus ihren Gedanken.

Ruben lächelte breit über die Hartnäckigkeit des Mädchens. „Du bist heute Morgen aber eine emsige Biene, nicht wahr?“

„Nur heute Morgen?“, rief Nellie Mae von der anderen Seite des Raums herüber. „Du solltest versuchen, neben ihr zu schlafen.“ Plötzlich wirkte sie unsicher, als fragte sie sich, ob sie lieber nichts von ihrer schlaflosen Nacht hätte sagen sollen, solange Emma sie hören konnte. Aber ihre Nichte schien überhaupt nicht auf sie zu achten.

Emma sprang von Betsys Schoß und lief wieder zu Ruben hinüber. Ja, sie ist wirklich ein lebendiges Kind, dachte Betsy und holte ein paar Papierservietten, die Emma auf dem Tisch verteilen durfte. „Hier, Mädchen … hilf deiner alten Oma.“

Emma blieb stehen, nahm die Servietten und hob den Kopf, um sie direkt anzuschauen. „Ach, so alt bist du gar nicht, Oma. Du bist nur furchtbar traurig.“

Die unschuldigen Worte des Kindes öffneten einen Damm in ihr. Da sie nicht vor den anderen weinen wollte, ging Betsy so unauffällig wie möglich zur Tür und trat ins Wohnzimmer. Hinter sich hörte sie, wie ihr Mann Emma zu sich rief. Sie trat ans Fenster und blieb dort stehen, obwohl sie durch ihre Tränen hindurch kaum etwas sehen konnte.

* * *

Rosanna machte sich nach dem Mittagessen daran, aus hellgelber, hellgrüner und hellblauer Wolle eine Babydecke zu häkeln. Genau das Richtige, egal, ob es ein Junge oder ein Mädchen wird, dachte sie, obwohl sie sich für ihren Mann Elias einen Sohn erhoffte. Der Erstgeborene sollte ein Junge sein. Außerdem wäre ein Sohn herrlich, falls dies ihr einziges Kind bleiben sollte.

Sie drückte sich die Hand aufs Herz. Seit Kusine Kates Besuch und ihrer wunderbaren Ankündigung konnte Rosanna vor Glück kaum schlafen. Wenn sie sich vorstellte, dass die liebe Kate ihnen ihr eigenes Kind schenken wollte! Wie schön, dass jetzt auch Nellie Mae von dieser freudigen Nachricht wusste.

Das ist Gottes Werk, hatte Kate an jenem Tag mehrere Male gesagt, als sie mit strahlendem Gesicht so unerwartet zu ihr gekommen war. Der Tag hatte voller Überraschungen gesteckt. Das hatte schon damit begonnen, dass Elias ihr einen ganzen Korb voller großer Gurken und Kürbisse gebracht hatte. Rosanna hatte bereits angefangen, die Sachen einzumachen – süßsauer mit Dill –, als Kusine Kate erschienen war und sie mit ihren Worten erstaunt hatte.

„Ich will dir ein Baby schenken, Rosanna“, hatte Kate gesagt. „Wenn ich sehe, wie schwer es für dich ist … dass du mehrere Kinder durch Fehlgeburten verloren hast, bricht mir das fast das Herz.“ Kate hatte dann erklärt, dass sie und John ausführlich darüber gesprochen hatten. „John war von Anfang an einverstanden. So etwas kommt nur sehr selten vor. Das kannst du mir glauben!“

Rosanna seufzte vor Liebe zu Kates Kind, die sie jetzt schon erfüllte, und genoss die Berührung mit der Wolle – der weichsten Wolle, die sie im Laden hatte finden können. Die Schönheit der Wolle und die Art, wie die Pastelltöne so hübsch ineinander übergingen, ließen sie hoffen, dass diese Decke genauso hübsch werden würde wie die Decken, die sie bei Maryann gesehen hatte. Nellies Schwägerin schien mit Begeisterung Babydecken zu machen.

Genauso wie sie anscheinend ganz nach Wunsch Kinder bekommen kann.

Rosanna verwarf diesen Gedanken; sie hätte nicht glücklicher sein können, wenn sie ihr eigenes Kind erwarten würde.

„Ach, Nellie Mae war wirklich sehr überrascht“, murmelte sie, während sie mit ihrer Häkelnadel die Schlingen formte. Sie lachte leise, als sie sich daran erinnerte, wie groß Nellies braune Augen bei ihrer Nachricht geworden waren. Nellie wusste, wie groß ihr Schmerz war … der Schmerz darüber, Monat für Monat auf ein Baby zu warten, das nie das Licht der Welt und das Gesicht seiner Mutter erblickte. Nellie war wirklich wie eine Schwester für sie. Sie erinnerte sich an die vielen Male, die sie früher bei Nellie und ihrer Familie gewesen war, und an die viele Zeit, die ihre Freundin in Rosannas Elternhaus mit Rosanna und ihren Brüdern verbracht hatte. Obwohl das Leben ihnen momentan nur wenig Zeit ließ, sich zu treffen, waren sie immer noch enge Freundinnen. Aus diesem Grund hatte Rosanna gewollt, dass Nellie nach Elias als Erste die gute Nachricht erfahren sollte.

Als sie mit der nächsten Reihe der Babydecke begann, fragte sich Rosanna, wie es ihrer Freundin in letzter Zeit wohl wirklich ging. Eine große Traurigkeit befiel sie bei dem Gedanken an ihre eigenen Verluste, besonders an den Tod ihrer Mutter, die noch viel zu jung gewesen war, um zu sterben.

Und Suzy Fisher ist jetzt auch tot …

Dass Nellies Schwester ertrunken war, machte Rosanna immer noch oft traurig. Sie stand auf, ging in die Küche, legte ihre Häkelarbeit auf den Tisch und rührte den Rindfleischeintopf um, der als Abendessen gedacht war und vor sich hin köchelte. Wie es zu Suzys Tod gekommen war, war ihr immer noch nicht ganz klar. Die Fishers hatten nur gesagt, dass sie mit einigen Freunden Boot gefahren sei und dass es dabei einen Unfall gegeben habe. Nellie hatte Rosanna unter vier Augen ein wenig mehr anvertraut, sie aber eindringlich darum gebeten, das nicht weiterzuerzählen.

Ein Englischer war also schuld an Suzys Ende – ein Englischer, der auch noch ihr Freund gewesen war. Rosanna beugte sich über den Eintopf, um in Erfahrung zu bringen, ob sie noch mehr Gewürze hinzufügen musste. Wie kam ein Mädchen nur auf die Idee, diesen Weg einzuschlagen, wo es doch so viele nette amische Jungen gab?

Nellie Mae wusste bestimmt mehr, als sie sagte, aber Rosanna wollte nicht neugierig sein. Es kostete ihre Freundin bestimmt viel Selbstbeherrschung, den Mund zu halten – besonders da Nellie immer gesagt hatte, sie könne Rosanna alles erzählen. Seit ihrer ersten Begegnung als junge Mädchen hatten sie sich immer alles erzählt.

Aber Rosanna war aufgefallen, dass Nellie trotz ihrer Traurigkeit manchmal richtig strahlte. War Nellie verliebt? Und wenn ja, warum hatte sie ihr das nicht anvertraut, wie sie es bis jetzt bei jedem Jungen getan hatte, den sie auch nur ein bisschen gemocht hatte? Nellie umgab in letzter Zeit ein Mantel des Schweigens, was eigentlich gar nicht typisch für sie war. Falls es einen jungen Mann in ihrem Leben gab, dann hatte Nellie Mae offenbar beschlossen, ein Geheimnis daraus zu machen.

Mit liebevollen Händen berührte Rosanna die unfertige Decke, die ihr Baby in diesem Winter wärmen würde. Unerwartet traten ihr Tränen in die Augen. Sie dachte an den letzten Säugling, den sie gesehen hatte, letzte Woche beim Predigtgottesdienst, und daran, wie glücklich sich das Baby in die Arme seiner Mutter gekuschelt hatte. Sie konnte sich nur vorstellen, was für ein Gefühl es sein musste, den Säugling zu halten, der ihr eigenes Kind werden würde.

„Wird es ein Sohn für Elias? Oder eine Tochter für mich?“, fragte sie sich leise und drückte den Anfang der gehäkelten Decke an ihre Wange.

* * *

Sie hatten alle ihr Samstagabendbad schon genommen, dank Dat, der an die Ostseite der Küche ein kleines Badezimmer mit fließendem Wasser angebaut hatte. Nellie war dankbar dafür, in einem zugesperrten Raum baden zu können, und genoss die Privatsphäre, die sich ihr bot. Es gefiel ihr, dass der Medizinschrank mit seinem kleinen Spiegel an der Wand hing. Ein solcher Luxus verwöhnte einen richtig.

Nellie und Mama saßen nach dem Bibellesen und den stillen Gebeten nebeneinander auf Nellies Bett. Ihre langen Haare waren immer noch ziemlich feucht. „Es ist am besten, sich nicht nach dem zu sehnen, was früher einmal war“, seufzte Mama. „Auch wenn ich die Zeit gern zurückdrehen würde.“

„Das würden wir wahrscheinlich alle gern, nicht wahr?“

Mama nickte traurig. „Jeden Tag.“ Sie schwieg eine Weile, und ihre Wangen röteten sich, als wollte sie ihr gern etwas anvertrauen.

„Ach, Mama.“ Nellie berührte die Hand ihrer Mutter.

Ihre Mutter weinte leise. „Ich träume so oft von Suzy.“

Nellie stand auf und nahm ihre Bürste von der Kommode. Neue Schuldgefühle nagten an ihr. Warum träume ich nicht von Suzy?

Oh, wie sehr sie sich danach sehnte! Dass sie nicht von ihrer toten Schwester träumte, beunruhigte sie sehr. Erlebten das andere, die trauerten, auch? Oder lag es daran, dass sie ihre Schuld immer von sich wegschob? Schob sie damit auch die Erinnerungen von sich weg?

Ihre Mutter griff nach der Bürste. „Komm … setz dich hin. Ich helfe dir, die Knoten herauszubürsten.“ Sie stand auf und begann Nellies lange Haare zu bürsten.

Nellie seufzte und genoss Mamas sanftes Bürsten. Sie wagte nicht, es irgendjemandem zu verraten, aber sie fing an zu vergessen, wie ihre Schwester ausgesehen hatte. Obwohl sie so sehr versuchte, sich ihre Schwester vorzustellen, verblassten Suzys Gesichtszüge allmählich, und Nellie versetzte dieser Gedanke in Panik. Zum ersten Mal sehnte sie sich nach diesen modernen, eitlen Fotos. Aber auch ohne Foto dürfte sie das Gesicht ihrer eigenen Schwester doch nicht vergessen. So vieles ergab einfach keinen Sinn … angefangen hatte es mit der verkümmerten Maisernte … und jetzt dieses ganze Gerede und die Unruhe in ihrer Gemeinde.

War das ein schlechtes Vorzeichen? Würde es noch schlimmer kommen?

Kapitel 7

Der Predigtgottesdienst schien ihr länger als gewöhnlich zu dauern. Nellie und ihre Familie saßen eng zusammengepfercht im stickigen Haus des Diakons. Bisher hatten sie sich zum Sonntagsgottesdienst im Stall versammelt, wo der Wind durch die breiten Türen wehen konnte. Da das Wetter jedoch immer herbstlicher wurde, war es sinnvoller, sich ab jetzt im Haus zu treffen.

Von ihrem Sitzplatz aus konnte Nellie Mae Calebs Hinterkopf sehen. Susannah Lapp saß mit ihrer Mutter und ihren drei jüngeren Schwestern züchtig in einer Reihe weiter vorne. Normalerweise schenkte Nellie den anderen jungen Frauen keine Beachtung, aber Susannah schaute auffällig oft zu Caleb hinüber.

Sie wäre bestimmt überrascht, wenn sie wüsste, dass Caleb mich mag, dachte Nellie und war zufriedener, als sie es wahrscheinlich am Tag des Herrn sein sollte.

Sie zwang sich, aufmerksam zuzuhören, und wünschte, sie könnte die Lesung aus der Bibel verstehen. Beide Predigten, zuerst die kürzere und dann die viel längere, wurden immer in Althochdeutsch gehalten, einer Sprache, die nur die älteren Leute wie ihr Opa Fisher verstanden. Ihr Vater hatte sie sich inzwischen auch angeeignet, da er diese Sprache seit Jahrzehnten immer wieder hörte. Nellie jedoch wäre es viel lieber gewesen, wenn die Predigt in Pennsylvania Dutch mit gelegentlichen englischen Worten gehalten würde, der Sprache, mit der sich die Amisch zu Hause und bei der Arbeit verständigten.

Da die Predigten in einer Sprache vorgetragen wurden, die sie nicht verstand, konnte Nellie nur anhand des Gesichtsausdruckes des Predigers versuchen zu erraten, worüber er gerade sprach – in diesem Moment war es Prediger Lapp, Susannahs Onkel, der die Gemeinde sehr ernst und drohend anschaute. Susannahs Familie war im Kreis der Gemeindeältesten unübersehbar stark vertreten. In dieser Generation stellten sie einen Prediger und einen Diakon. Natürlich lag das allein am Losverfahren, durch das der Herr im Himmel ihre Prediger auswählte.

Was wählt Gott noch alles aus? Sie hoffte, Caleb gehörte nicht zu den Auserwählten, zumindest nicht als Susannahs künftiger Ehemann. Sie fragte sich erneut, warum Caleb ihr und nicht Susannah geschrieben hatte. Jeder junge Mann wusste doch genau, dass Susannah das hübscheste Mädchen im ganzen Bezirk war.

Nellie verbannte diese quälenden Gedanken aus ihrem Kopf. Langsam begann sie, sich zu entspannen. Die monotone Stimme des Predigers wurde immer leiser und leiser …

Nellies Kopf sank nach unten, aber ein harter Stoß von Rhoda genügte, und sie riss ihn wieder hoch. In der Hoffnung, keine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, setzte sie sich aufrechter hin, atmete tief ein, hielt dann den Atem an und bemühte sich, bis zum Ende des dreistündigen Gottesdienstes wach zu bleiben. Warum war das nur so schwer?

Auf ihrer anderen Seite schien Nan sich nur mühsam ein Lachen verkneifen zu können; oder sie versuchte, nicht husten zu müssen. Nein, Nellie war sich ziemlich sicher, dass Nan gesehen hatte, wie sie während der endlosen Predigt eingenickt war – genauso wie ihre Mama, die selbst gerade eindöste. Das beruhigte Nellie sehr, aber sie war trotzdem dankbar dafür, dass sie bei diesem Predigtgottesdienst so saß, dass Caleb sie nicht sehen konnte.

* * *

Während des Aufräumens nach dem gemeinsamen Mittagessen, bei dem die Frauen und einige ältere Mädchen die Küche wieder in Ordnung brachten und die Männer die Tische zusammenklappten, kam Nellie unabsichtlich an zwei Männern vorbei, die sich auf der hinteren Veranda hitzig unterhielten.

Da sie nicht lauschen wollte, ging sie mit dem Müllbeutel, den sie zur Mülltonne hinter dem Stall bringen wollte, schnell an ihnen vorbei, aber die ärgerlichen Worte verfolgten sie dennoch durch den stillen Hof. Die meisten Leute waren noch im Haus.

„Hör zu, ich habe fünfzehn Kinder. Vier meiner Söhne gehen mit englischen Mädchen aus“, sagte einer der Männer. „Ich kann meine Jungen einfach nicht dazu bringen, sich für die Landwirtschaft zu interessieren. An dem Tag, an dem sie sechzehn werden, sind sie wahrscheinlich weg und kaufen sich ein Auto … und wer will danach schon noch in die Kirche eintreten?“

„Das Problem wird jedes Jahr größer“, sagte der andere, der scheinbar an den alten Bräuchen festhalten wollte. Er zog an seiner Pfeife und blies langsam den Rauch aus, bevor er weitersprach. „Du bist einfach nicht streng genug mit deinen Kindern.“

„Du hast vergessen, wie das ist“, erwiderte der Erste. „Dieses ganze Gerede von Autos und Strom und Telefonen, das hier in letzter Zeit die Runde macht, ist nicht gerade hilfreich.“

Nellie wäre fast stehen geblieben. Sie hätte zu gern den Rest dieser hitzigen Diskussion gehört, aber sie blieb erst stehen, als sie ihr Ziel erreicht hatte. Wenn Männer direkt in ihrer Mitte solche Dinge forderten, dann würde der Bischof ihnen sicher deutlich sagen, wo es langging. Und überhaupt, warum wollte ein Sohn nicht mit seinem Vater das Land bearbeiten? Sie verstand das nicht und war sich ziemlich sicher, dass Caleb als der jüngste Sohn in seiner Familie nie etwas anderes tun würde. In den Gemeinden der Alten Ordnung erbte normalerweise der jüngste Sohn den Hof.

Sie dachte daran, dass Caleb die fast vierzig Hektar erben würde, die sein Vater und sein Großvater schon bearbeitet hatten – ein Land, das bereits seinem Ururgroßvater Yoder gehört hatte. Freute sich Caleb darauf, das Land seiner Vorfahren zu übernehmen?

Ganz bestimmt, dachte sie. Wie fast jeder Sohn, dessen Vater kurz davorsteht, ihm den Hof zu übergeben.

Aber bevor Caleb den Familienhof übernehmen konnte, musste er zuerst eine Frau finden und heiraten.

* * *

Caleb wusste, dass er selbst in einigen Wochen, vielleicht sogar Monaten, noch genau wüsste, wie Nellie Mae Fisher aussah, als sie über den Hof auf Diakon Lapps Haus zuging. Ihr Gesicht war leicht gerötet, als wäre sie ein wenig zu nah an einen alten Kochofen herangekommen. Eine lose Haarsträhne in ihrem Nacken ließ sie jünger aussehen als ihre siebzehn Jahre.

Nellie war eigentlich nie ein Mädchen gewesen, das aus der Menge herausragte. Doch das hatte sich im letzten Sommer schlagartig geändert. Als wäre sie über Nacht aufgeblüht, war sie plötzlich auf eine Weise, die er nicht näher beschreiben konnte, sehr weiblich und hübsch geworden. Sie besaß noch etwas anderes als die Schönheiten, mit denen er sich bis jetzt getroffen hatte und derer er schnell müde geworden war. Das Funkeln in ihren Augen und ihr geheimnisvolles Lächeln weckten in ihm die Frage, warum sie ihm früher nie aufgefallen war.

Er war hinausgegangen, um ein wenig frische Luft zu schnappen und weil er insgeheim hoffte, Nellie über den Weg zu laufen. Statt auf Nellie stieß er jedoch auf zwei Männer, die in eine Diskussion vertieft waren. Er war froh, dass die beiden jetzt die hintere Veranda verließen und sich weiter nach draußen in die Nähe der Brunnenpumpe begaben, obwohl ihre Stimmen immer lauter wurden. Unerwartet gesellten sich noch drei andere Männer zu den zwei ersten. Plötzlich hob einer seine Faust in die Luft.

„Wohin soll das alles denn führen?“ Die Worte eines Mannes hallten über den Hof.

Caleb wollte Nellie vor dieser Auseinandersetzung bewahren, aber sie steuerte in diesem Moment geradewegs auf das Haus zu. Sie würde durch die Hintertür ins Haus gehen und die Veranda überqueren müssen, um wieder in die Küche zu gelangen.

Er rief ihren Namen. „Nellie Mae!“

Als ihre großen Augen ihn erblickten, zog ein entzückendes Lächeln über ihr Gesicht. „Hallo, Caleb“, sagte sie sofort. Sie war nicht wie manche andere Mädchen, die fast Angst vor ihrer eigenen Stimme zu haben schienen. Natürlich hatte er bei einem Mädchen, das imstande war, eine eigene Bäckerei zu betreiben, auch ein gesundes Selbstvertrauen erwartet. Er könnte sicher damit rechnen, bald eine Antwort von ihr auf seine schriftliche Einladung zu bekommen.

Bei diesem Gedanken schlug sein Herz schneller. Seit über einem Jahr lud er hin und wieder Mädchen nach dem Singen zum Ausfahren ein. Doch dies war das erste Mal, dass er sich nicht sicher sein konnte, wie die Antwort auf seine Einladung lauten würde.

„Hast du Lust, mit mir kurz einen Spaziergang um das Haus zu machen?“ Er lenkte sie von der immer größer werdenden Gruppe bei der Pumpe weg.

„Aber ja, gern.“ Sie ging lächelnd auf seinen Vorschlag ein und drehte sich um, ohne darauf zu warten, dass er ihr Lächeln erwiderte. „Hast du gehört, worüber diese Männer gesprochen haben?“, fragte sie.

„Ein wenig, ja.“

„Also, mir hat das überhaupt nicht gefallen. Dir?“ Sie nahm kein Blatt vor den Mund, und das gefiel ihm.

Er blieb an der Stelle stehen, an der das Großvaterhaus sich vom Haupthaus abhob und sie gut versteckte. Er war froh, als Nellie ebenfalls stehen blieb und ihn direkt anschaute, während sie auf seine Antwort wartete. „Es gibt Männer, die nach Lücken in der Ordnung suchen“, sagte er. „Einige sind bereit, sich vom Glauben unserer Vorväter abzuwenden … von dem, was diese als den richtigen Weg zu leben und zu arbeiten festgelegt haben.“

Eine Lebensweise, für die unsere Märtyrer mit dem Blut bezahlt haben …

Mehr wollte er nicht sagen; er würde ihr jetzt nicht zu viel von seinen Gedanken verraten. Es war schließlich helllichter Tag, und sie standen hier ganz allein in trauter Zweisamkeit.

„Also, eines weiß ich ganz sicher“, antwortete sie.

„Was weißt du so sicher, Nellie Mae?“

„Mein Vater will von solchen Diskussionen nichts wissen.“ Sie verzog keine Miene, und ihr hübsches, herzförmiges Gesicht war sehr ernst. „Und wie ist das mit deinem Vater?“

Er grinste über ihre erfrischende Offenheit. Er hatte es hier mit einem Mädchen zu tun, das seine Meinung kundtat, ohne zuerst abzuwarten, welche Meinung er vertrat.

„Wir Yoders sind durch und durch Amische der Alten Ordnung“, erklärte er.

Sie nickte, und ein leichtes Lächeln zog über ihr Gesicht. „Das ist gut.“

Sie standen da und schauten einander an. Hat mich schon jemals ein Mädchen so fasziniert?, überlegte er.

Als Nellie wieder sprach, nahm er plötzlich einen leichten Fliederduft an ihr wahr. „Es war nett von dir, mit deinem Brief bei mir vorbeizukommen, Caleb.“

Er wartete auf ihre Antwort, aber sie machte keine Andeutung, wie diese ausfallen würde. Sie lächelte nur, drehte sich um und ging weg. Caleb schaute ihr nach, während sie zur Vorderseite des Hauses lief und durch den selten benutzten offiziellen Eingang hineinging.

Das war alles?

Noch nie zuvor hatte ihn ein Mädchen so beiläufig behandelt – sie war nicht grob, aber sie hielt ihn doch deutlich auf Distanz.

Nachdem Caleb lange genug gewartet hatte, dass niemand den Verdacht schöpfen würde, er und Nellie Mae wären zusammen gewesen, schlenderte er in den Hof zurück und betrat die Veranda. In Gedanken war er nur bei Nellie.

* * *

Nellie befürchtete, ihr Gesicht könnte verdächtig gerötet sein, als sie ungezwungen durch die Vordertür ins Haus ging. Sie vollzog im Geiste jeden ihrer Schritte nach und überlegte, wie sie zufällig mit Caleb hatte zusammentreffen können. War er schon draußen gewesen, als sie über die Veranda und dann die Treppe hinab in den Hof gegangen war? Sie konnte sich beim besten Willen nicht daran erinnern, ihn vorher draußen gesehen zu haben. War es Zufall gewesen, oder war er ihr absichtlich über den Weg gelaufen? Bei diesem Gedanken errötete sie erneut.

Nellie Mae beschloss, ihre Gefühle für sich zu behalten, und hielt nach Nan und Rhoda Ausschau. Sie fand die beiden in der Küche, wo sie Susannahs Mutter und den anderen immer noch beim Aufräumen halfen.

Und dabei hätte ich heute fast nicht angeboten, den Müll hinauszubringen!, dachte sie und konnte sich ein Schmunzeln kaum verkneifen.

Kapitel 8

Der Waschtag am Montag hatte noch vor Einbruch der Morgendämmerung begonnen. Mama und Rhoda waren mit der Wäsche beschäftigt, während Nellie sieben Brotlaibe in den großen Holzofen schob. Sie fragte sich, warum Nan um diese Zeit noch im Bett lag und schlief. Nellie hatte bereits acht Kuchen und über hundert Plätzchen gebacken, hauptsächlich Schokoladenplätzchen.

Für einen Moment glaubte Nellie, sie hätte das Rollen eines Zuges in der Ferne gehört. Sie blickte von ihrer Arbeit auf, und ihr wurde bewusst, dass das Geräusch von der Wringmaschine im kalten Keller unter der Küche kam. Falls sie heute in der Bäckerei irgendwann während der üblichen Nachmittagsflaute ein paar Minuten Zeit hätte, könnte sie Mama bitten, sich kurz in den Laden zu stellen – natürlich ohne Dat ein Wort zu verraten. Sie brauchte dringend ein paar ruhige Minuten allein auf der Wiese unter den Zuckerahornen. Nellie hoffte, in der Ferne ein Reh beobachten zu können, obwohl die Rehe in diesem Jahr seltener zu sehen waren als sonst. Zweifellos hatte die Dürre auch dem Wild zu schaffen gemacht.

Sonderbar, wie wilde Tiere und Menschen Seite an Seite leben und doch so einen Abstand zueinander halten können. Sie dachte über dieses interessante Phänomen nach. Wie so oft in letzter Zeit wanderten ihre Gedanken zu ihrer verstorbenen Schwester, die Gottes Schöpfung so sehr geliebt hatte. Warum hat Suzy nie eine Grenze gezogen … und sich von der modernen Welt ferngehalten, wie sie es gelernt hatte?

Nellie schüttelte diese Frage von sich ab. Egal, ob es richtig oder falsch gewesen war, Suzy hatte immer steif und fest behauptet, dass ihre Freunde wunderbare Menschen seien.

Es gibt hier auch gute Menschen, Schwester … mitten in unserer Gemeinde.

Nellie verdrängte ihre Gedanken mit einem Achselzucken und schaute nach ihren Plätzchen, die auf einem Blech abkühlten. Wenn sie schon so weit waren, dass sie sie in ihren großen Weidenkorb legen konnte, könnte sie anfangen, die Sachen zum Laden zu tragen und sie dort schön auszubreiten.

„Ein neuer Tag, eine neue Chance“, murmelte sie einen Spruch, den ihr Vater manchmal im Spaß sagte. Hinter diesem Sprichwort steckte mehr als nur ein Körnchen Wahrheit.

Als sie mit dem ersten Korb voll Plätzchen in ihrem Laden ankam, stand schon jemand vor der Tür und wartete darauf, dass sie aufmachte. Die Frau drehte sich um, als sie Nellie kommen hörte. Es war Onkel Josephs Frau, Tante Anna. Onkel Bischof, wie Nellie und ihre Schwestern den Mann Gottes manchmal nannten, aß sehr gern Süßes.

Anna war zu Fuß über das Maisfeld gekommen, das zwischen den Höfen der Familien lag. „Hallo, Nellie Mae“, sagte sie schnell. „Ich habe gesehen, dass in eurer Küche Licht brennt, und habe beschlossen, ein paar Sachen für die Fahrt mitzunehmen.“

„Oh?“ Nellie hatte nicht gewusst, dass ihr Onkel und ihre Tante verreisen wollten.

„Joseph sagt, es sei höchste Zeit, dass wir Urlaub machen“, erklärte Anna. „Deshalb fahren wir heute Nachmittag mit dem Bus nach Iowa … nach Kalona, wo ich Verwandte habe.“

„Amische?“

„Größtenteils.“

„Dann komm doch mit herein.“ Nellie brauchte keinen Schlüssel zu suchen, da sie den Laden nicht zusperrte; ebenso wenig wie ihre Eltern das Haus verriegelten. Sie hielt Anna die Tür weit auf. Für jemanden, der sich auf eine Reise freute, sah ihre Tante ziemlich deprimiert aus. „Ich habe viele Plätzchen – alle ganz frisch gebacken. Sie sind sogar noch ein wenig warm. Die Kuchen und die anderen Sachen kommen gleich, wenn du noch kurz warten möchtest.“

Anna schüttelte den Kopf. „Dein Onkel freut sich bestimmt sehr über die Plätzchen.“ Anna wählte bedächtig verschiedene Plätzchensorten aus – Hafermehl mit Rosinen, Kürbis und die unbestrittenen Lieblingsplätzchen des Bischofs: Schokoplätzchen. Es sah fast so aus, als koste es sie an diesem Morgen all ihre Kraft, die Auswahl zu treffen. Sie war in Gedanken eindeutig ganz woanders.

„Ich schenke euch die Plätzchen“, sagte Nellie, nachdem sie Annas Auswahl sorgfältig eingepackt hatte.

„Ach, Nellie Mae, ist das dein Ernst?“

Sie nickte. „Ich wünsche euch eine gute Zeit auf eurer Reise.“

Annas Augen leuchteten kurz auf. „Danke, die werden wir haben.“

„Wie lang bleibt ihr weg?“, erkundigte sich Nellie.

„Das liegt ganz beim Bischof.“ Und bei Gott, glaubte Nellie Anna mit einem leichten Stirnrunzeln murmeln zu hören.

Sie schaute zu, wie die grauhaarige Frau ihr schwarzes Wolltuch enger um sich zog, bevor sie zur Tür hinausging. Anna marschierte über das abgeerntete Maisfeld wieder nach Hause. Vorsichtig suchte sie sich ihren Weg zwischen den übrig gebliebenen harten Stumpen.

Nellie fragte sich, ob Dat wusste, dass sein älterer Bruder für eine Weile wegfuhr. Warum ausgerechnet jetzt, um Gottes willen?

* * *

Als „Nellies Bäckerei“ für diesen Tag offiziell öffnete, kam Rhoda, um ihr zu helfen, bis sie zu ihrer Arbeit bei den Kraybills aufbrechen musste. Nellie war ihr für die Hilfe dankbar, obwohl sie sich wünschte, sie wäre allein, als ihre Freundin Rosanna eintrat.

„Du verwöhnst uns richtig, Nellie Mae“, sagte Rosanna, nachdem sie zwei Kuchen ausgewählt hatte. „Diese Kuchen sehen einfach köstlich aus.“

Nellie kam hinter der Theke hervor. Sie freute sich, ihre Freundin so bald nach ihrem Besuch in der letzten Woche wiederzusehen. „Hast du … äh, alles fertig?“, fragte sie, da sie in Rhodas Anwesenheit nicht mehr verraten wollte.

Rosanna nickte. „Oh, meine Güte. Und ob! Ich habe eine Decke gemacht – sie ist heute Morgen fertig geworden.“ Sie flüsterte: „Aber ich habe keine Vorlage für Babyschühchen.“

„Ach“, sagte Nellie mit leiser Stimme. „Geh doch einfach über die Straße und frage Maryann. Sie hilft dir bestimmt gern.“

„Meinst du?“

„Maryann ist wirklich hilfsbereit. Und bei so vielen Kindern hat sie bestimmt eine Strickvorlage. Sie strickt wahrscheinlich zurzeit selbst welche.“

Rosanna berührte Nellies Arm. „Wie geht es deiner Mama?“

„Sie hat gute und weniger gute Tage.“

„Das ist wahrscheinlich nicht anders zu erwarten. Ein Kind zu verlieren ist sehr schwer.“ Rosanna lächelte schwach. „Man erzählt sich … nun ja, einige ihrer besten Freundinnen glauben anscheinend, dass sie ein wenig Ruhe und Frieden braucht.“

„Ja, wahrscheinlich haben sie recht.“ Nellie runzelte die Stirn und schaute aus dem Fenster. „Geht es uns nicht allen so?“

Rosanna stützte sich auf die Glasvitrine mit den Auslagen. „Ach, geht es dir gut, Nellie Mae?“

Nellie wollte keine Gerüchte verbreiten. Sie vermutete, dass Rosanna keine Ahnung von den Plänen des Bischofs hatte, nach Iowa zu fahren. „Ach, mir geht es ganz gut, doch.“

„So siehst du aber nicht gerade aus, wenn ich das sagen darf.“

Nellie fuhr sich mit der Hand über die Schürze und schaute ihre Freundin an. „Was soll denn mit mir sein?“

Rosanna trat näher zu ihr heran. „Ich habe es nicht böse gemeint. Du siehst einfach so aus, als wärst du nicht ganz du selbst.“

Wer soll ich denn sonst sein?“

Daraufhin mussten sie beide schmunzeln. Und da Nellie nicht bereit war, irgendwelche Neuigkeiten weiterzuerzählen, die entweder Rosanna oder Rhoda beunruhigen könnten, die sicher genau zuhörte, auch wenn sie so tat, als wäre sie am anderen Ende der Theke beschäftigt, behielt sie für sich, was sie über Onkel Bischofs Reise mit ihrer Tante wusste.

Stattdessen wechselte Nellie lieber das Thema und fragte: „Wer weiß noch Bescheid?“

„Nur Elias und unsere Eltern. Das sind im Moment alle.“ Rosanna nickte mit dem Kopf in Rhodas Richtung. „Wenn es dir also nichts ausmacht …“

„Natürlich nicht“, nickte Nellie. Sie winkte ihrer Freundin nach, als sie sich verabschiedete und den Laden verließ.

Sobald Rosanna fort war, schaute Rhoda Nellie fragend an.

„Bitte, keine Fragen!“, platzte Nellie heraus.

„Du bist heute aber gereizt“, knurrte Rhoda zurück.

Nellie seufzte. „Mama hat wahrscheinlich inzwischen mein letztes Brot aus dem Ofen geholt. Ich bin bald wieder da.“ Sie eilte zur Tür hinaus und beschloss, den ersehnten Spaziergang zur Wiese jetzt zu machen, ohne sich darüber den Kopf zu zerbrechen, dass Rhoda dadurch vielleicht ein wenig zu spät zu ihrer Arbeit käme. Oh, wie schön wäre es, wenn Dat Mama erlauben würde, wieder im Laden mitzuhelfen.

Nellie hob ihren Rock und lief über die Weide bis hinaus zur großen Wiese am östlichsten Rand des Grundstücks ihres Vaters. Soll Rhoda doch einmal sehen, wie es ist, wenn man Unannehmlichkeiten hat, dachte sie. Ihre älteste Schwester bot nie freiwillig ihre Hilfe an – nur dann, wenn Dat sie dazu aufforderte. Rhoda kam häufig nicht zum Abendessen nach Hause, geschweige denn zum Kochen, und sie huschte oft aus dem Haus und blieb den ganzen Tag verschwunden, besonders wenn sie an der Reihe waren, die Gemeinde bei sich zu bewirten, und das Haus für den Predigtgottesdienst in Ordnung bringen mussten. Auch an den Tagen, an denen die Bäckerei gründlich geputzt werden musste, machte Rhoda sich sehr rar.

Doch trotz Rhodas Neigung zur Selbstsucht befürchtete Nellie nicht, dass sie abtrünnig werden könnte wie Suzy mit ihren englischen Freunden. Zum einen schien Rhoda keine Verehrer zu haben. Nein, soweit sie wusste, stand Rhoda kurz davor, von den jungen Männern im Bezirk ganz übergangen zu werden – einundzwanzig war schon fast zu alt, um noch zu heiraten. Aber auch ohne einen Verehrer sollte sie im nächsten Jahr den Taufunterricht besuchen und in die Kirche eintreten.

Jemand anders war auch noch nicht in die Kirche eingetreten. Zugegebenermaßen war Caleb viel jünger als Rhoda, aber es war trotzdem interessant, dass er sich noch Zeit ließ, besonders wenn sie daran dachte, was er gestern zu ihr gesagt hatte. Warum hatte er nicht vor, mit den anderen Kandidaten in ein paar Wochen das Taufgelübde abzulegen? Es käme bestimmt der Tag, an dem sie selbst das auch tun würde.

Ein warmer Schauer lief ihr über den Rücken, als sie an das gestrige Gespräch mit Caleb dachte. Nach monatelangem Warten war sie nun diejenige, die Calebs Herz gewinnen würde. Zumindest hoffte sie das.

Sie konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen, während sie in den Wald schlenderte. Plötzlich stellte sie fest, dass sie sich viel weiter vom Haus entfernt hatte als beabsichtigt. Aber sie genoss den Gedanken, diese Zeit für sich selbst zu haben, und spazierte weiter … sie ließ sich Zeit, die frische, saubere Luft einzuatmen und die hübschen Muster zu betrachten, die das gefilterte Sonnenlicht auf die Erde warf. Sie flüsterte Suzys Namen und fragte sich, ob die Toten hören konnten, was man in die Luft flüsterte. Der Herr hört es … sagt Onkel Bischof. Aber wenn das der Fall war, warum wurde dann keines der Gebete, das die Amisch beteten, laut ausgesprochen? Nur der Bischof und die Prediger beteten laut, und auch das nur beim Predigtgottesdienst.

Nellies Gedanken wanderten zu Suzy zurück, die diesen Weg oft mit ihr gegangen war. Wie war es gekommen, dass sie sich in die Welt hinausgeschlichen hatte, ohne sich Nellie anzuvertrauen? Ausgerechnet Suzy, die so lange die Gewohnheit gehabt hatte, selbst Dinge zu sagen, die lieber hätten ungesagt bleiben sollen? Bis zum Rumschpringe ihrer Schwester hatten Nellie und Suzy einander immer alles erzählt. Aber im letzten Jahr ihres Lebens hatte sich Suzy anscheinend lieber in ihrem Tagebuch ausgesprochen als vor den besorgten Ohren ihrer Schwester.

Das Tagebuch …

Nellie war nie ein Mensch gewesen, der anderen nachschnüffelte, und hatte es deshalb auch dann nicht getan, als Suzy sich immer geheimnisvoller benommen und ihr Tagebuch auf ihrer Seite der Kommode versteckt hatte.

Eine einzige Seite war alles gewesen, was Nellie sich am Tag nach Suzys Tod zugestanden hatte, aber sie hatte das Tagebuch schnell wieder zugeklappt, als sie die Worte „Was habe ich mir selbst nur angetan? Ehrlich, ich stecke über beide Ohren im Schlamassel“ gelesen hatte.

Nellie Mae wurde bei dem Gedanken, dass Suzy möglicherweise kurz davor gestanden hatte, sich für die Welt zu entscheiden, ganz unbehaglich zu Mute.

Starb sie wegen ihrer Neugier?

Nellie würde die lange Ermahnung, die der Bischof ihnen bei Suzys Beerdigung erteilt hatte, nie vergessen. Onkel Bischof hatte die jungen Leute deutlich gewarnt, dass es Zeit sei, „sich über die Konsequenzen im Klaren zu werden“, die es mit sich brachte, wenn man starb, ohne in die Kirche eingetreten zu sein. Nellie war bei dem Gedanken, dass ihre eigene, liebe Schwester zu früh gestorben war, entsetzt gewesen.

Da sie ihren Eltern nicht noch mehr Kummer bereiten wollte, und um ihr Versprechen zu halten, hatte Nellie beschlossen, das Tagebuch mit Suzys vielen Geheimnissen zu vergraben – die Beweise, die Suzy selbst aufgeschrieben hatte. Die zurückhaltenden Worte und das lange Fortbleiben ihrer Schwester an den Abenden sowie ihr deutlicher Widerwille in den letzten Monaten vor ihrem Tod, zum Predigtgottesdienst zu gehen, waren Last genug. Aber anscheinend hatte es nicht genügt, Suzys Tagebuch zu vergraben, um den Ruf ihrer Familie zu schützen. Nellie waren sonderbare Blicke von einigen geschwätzigen Leuten aus der Gemeinde aufgefallen, besonders von Susannah Lapp und zwei ihrer Kusinen.

Das Tagebuch ist für immer fort, dachte sie und erinnerte sich an die mondlose Nacht, in der sie es vergraben hatte, weil sie sich einfach nicht hatte überwinden können, es zu verbrennen. Während sie daran dachte, wie sie unter Tränen das Loch gegraben und das in Plastik eingewickelte Tagebuch liebevoll in die Erde gelegt hatte, wurde ihr bewusst, dass sie sich nicht sicher war, ob sie das Versteck jemals wiederfinden würde.

Für einen Moment bedauerte sie es, dass sie das Tagebuch überhaupt vergraben hatte. Suzys kostbares Tagebuch in den Händen halten zu können – die letzten Worte, die ihre Schwester je geschrieben hatte – könnte ihr jetzt vielleicht ein wenig Trost bringen.

Warum habe ich es nicht lieber im Haus versteckt?

Sie verdrängte diesen Gedanken. Meine Güte … ein abtrünniges Leben sollte vergessen werden. Um unseretwillen … und um Suzys willen.

Nellie setzte sich auf einen umgestürzten Ast und bückte sich vor, um am Saum der schwarzen Schürze zu ziehen, die ihre Füße bedeckte. Ihre Hände lagen jetzt flach auf ihren Arbeitsschuhen. Über ihr flogen Vögel. Das Flattern ihrer Flügel erinnerte sie an die vielen Male, die Suzy und sie durch diesen Wald gezogen waren. Suzy hatte jeden Vogel an seiner Farbe und an seinem Gesang erkannt und sogar ältere Leute in der Gemeinde mit ihrem Wissen erstaunt. Oft hatten sie sich leise zwischen den Sträuchern versteckt und Rehe beobachtet. Dabei hatten sie fast den Atem angehalten, um die Tiere nicht zu verschrecken. Suzy war schließlich zu dem Urteil gelangt, das Lieblingsessen eines Rehs bestehe aus Kleeblüten oder Wacholderbeeren, aber bestimmt nicht aus Kräutern oder den Blüten der Kräuter.

Ach, wie sehr Suzy die Natur geliebt hat! Jedes Geräusch, jeder Anblick erinnerte Nellie Mae an ihre Schwester.

Als sie ihre Traurigkeit nicht länger unterdrücken konnte, schluchzte Nellie auf. Hastig versuchte sie, mit den Händen das traurige Weinen ihres gebrochenen Herzens zu ersticken.