Über das Buch:
Es ist kein leichter Weg ins Leben, den Abrams Töchter eingeschlagen haben. Man kann es nicht als Fehltritt abtun, was Sadie, die älteste der fünf Amisch-Mädchen, in ihrer wilden Zeit des „Rumschpringe“ getan hat. Schweren Herzens verlässt sie die Geborgenheit ihres Elternhauses. Gut, dass sie in ihrer Trauer ihre Schwester Leah an ihrer Seite weiß. Doch wie lange wird sie noch zu ihr stehen?

Über die Autorin:
Beverly Lewis wurde im Herzen des Amisch-Landes in Lancaster, Pennsylvania, geboren. Sie hat 3 erwachsene Kinder und lebt mit ihrem Mann Dave in Colorado/USA. Ihr Wissen über die Amisch hat sie von ihrer Großmutter, die in einer Mennoniten-Gemeinde alter Ordnung aufwuchs.

6

Mary Ruth harkte und jätete ihren Teil des Familiengartens am Donnerstag fertig. Sie richtete sich auf, beugte sich nach hinten und versuchte, ihre schmerzenden Muskeln zu entspannen. Ihr Blick wanderte zum Himmel hinauf. Sie beobachtete eine Wolkenbank, die mit einem gnadenlos langsamen Tempo über den blauen Himmel zog, und fühlte sich seltsam mit den Wolken verbunden. Sie war innerlich ruhelos und störte sich an dem langsamen Tempo, mit dem die Tage vergingen, bis endlich die Schulglocken wieder läuteten. Noch eine Woche!

Wenn sie und Hannah wieder in der Schule waren, hätte Mama viel weniger Hilfe im Haus. Trotzdem war gegen das Gesetz nichts zu machen. Mary Ruth war froh, dass sie bis zur achten Klasse die Schule besuchen mussten. Noch ein Jahr und sie könnte zur High School gehen. Bei diesem Gedanken bekam sie gleichzeitig vor Freude und aus Angst eine Gänsehaut. Sie machte sich keine Hoffnung, dass Papa ihr je die Erlaubnis dafür geben würde. Es wäre nahezu unmöglich, seinen Segen dafür zu bekommen. Sollte sie so kühn sein und ihm von ihrer tiefsten Sehnsucht erzählen, dann würde er ihr einfach einen Bibelvers vorhalten. „,Denn die Weisheit dieser Welt ist Torheit bei Gott‘“, würde er mit der Bibel in der Hand sagen. Und das wäre das Ende der Diskussion, auch wenn es leider nie so weit käme, dass eine echte Diskussion zustande käme.

Selbst in dem Begriff High School steckte schon ein gewisser Vorwurf. Er stand für Arroganz und Stolz, und sie hatte in ihren jungen Jahren schon oft gehört, dass „Selbstlob stinkt“. Aber was sollte sie gegen ihre innere Sehnsucht tun? War sie die Einzige unter den Amisch, die dieses Problem hatte?

Hannah kam mit der Harke in der Hand herübergeschlendert. „Was hältst du davon, mit mir nach Strasburg zu fahren?“

„Zu dem kleinen Andenkenladen?“

„Ich habe einen Stoß Taschentücher, die ich abliefern will.“

„Einverstanden, dann fahren wir gleich nach dem Essen. Bis Mama und Lydiann mit ihrem Mittagsschlaf fertig sind, sind wir wieder zu Hause.“

Hannah nickte und lächelte über das ganze Gesicht. „Nur wir zwei?“

„Klingt sehr gut.“ Mary Ruth hoffte, sie könnte kurz in die öffentliche Bibliothek gehen, während Hannah ihre Geschäfte in dem Laden abwickelte. Sie hatte die feste Absicht, in der Schule einen guten Start hinzulegen. Sie könnte die neu ausgeliehenen Bücher unter dem Bett verstecken. Hannah ließe sich vielleicht überreden, nichts zu verraten.

Es war klar, dass Hannah bereits die Jahre zählte, bis sie vor der amischen Kirche und vor Gott ihr Gelübde ablegte. Sie war zurückhaltend und eher schüchtern, besonders im Umgang mit Fremden. Ihre Zwillingsschwester würde eines Tages bestimmt eine gute amische Ehefrau und Mutter sein. Die Aussicht, zu heiraten und Kinder zu bekommen, war für Mary Ruth genauso reizvoll wie für jedes andere Mädchen auch. Wenn ihr nur nicht diese unstillbare Sehnsucht nach Büchern in die Quere kommen würde! Der Gedanke, ihr ganzes Leben der amischen Ordnung unterzuordnen, war, gelinde ausgedrückt, beunruhigend. Sie war dankbar, dass sie noch ein paar Jahre Zeit hatte, bis sie sich endgültig entscheiden musste.

* * *

„Es macht dir doch nichts aus, wenn ich schnell über die Straße laufe ... sobald wir zum Andenkenladen kommen?“, fragte Mary Ruth Hannah, während sie in dem geschlossenen Einspänner die Landstraße entlangfuhren. Sie hatte das schnellere von Papas zwei Pferden und den geschlossenen Familieneinspänner ausgesucht. Angesichts der Wolken, die sich über ihnen zusammenbrauten, und der Möglichkeit, dass es bald zu regnen anfangen könnte, war das sinnvoll.

„Warum sagst du es nicht geradeheraus?“, fragte Hannah leise, fast traurig. „Du willst in die Bibliothek.“

„Ja.“

Hannah saß links neben ihr. Ihre Augenlider zuckten. „Ehrlich gesagt, sind mir die Sommermonate lieber. Und du ... na ja, du lebst für die Schulzeit.“

„Du kennst mich wirklich ganz genau.“ Sie schwieg kurz, dann fügte sie hinzu: „Was, glaubst du, würde Mama tun, wenn sie meine ausgeliehenen Bücher fände ... in ihrem Versteck?“

„Willst du damit sagen, dass du deinen Appetit nach Büchern ehrlich nicht zähmen kannst?“

„Bücher sind für mich wie Freunde. Die Worte werden auf den Seiten lebendig.“

Hannah zuckte leicht mit einer Schulter und sagte nichts.

„Wahrscheinlich bin ich süchtig. Denn jetzt habe ich auch noch angefangen, andere Bücher zu lesen“, gestand Mary Ruth. „Ich meine nicht schlechte Bücher. Versteh mich bitte nicht falsch. Aber ich muss zugeben, dass ich gern Geschichten lese – Dinge, die vollkommen erfunden sind, aber die, na ja ... so passieren könnten.“ Sie wartete ein wenig zögernd auf Hannahs Reaktion.

„Ach, ich weiß nicht, was ich davon halten soll“, kam die traurige Antwort ihrer Zwillingsschwester. „Ich kann akzeptieren, dass du Geografiebücher liest, dir vorstellst, wie es wäre, quer durch den Kontinent zu reisen, und so. Aber erfundene Märchen?“

Mit einem Seufzen überlegte Mary Ruth, wie sie es erklären sollte. „Schau. Wenn ich Geschichten lese, ist das für mich, wie wenn ich mitten in einem dürren Land eine Quelle fände. Gerade wenn ich denke, ich würde verdursten und sterben, stoße ich auf dieses frische, kalte Wasser, und ich bekomme plötzlich neues Leben, weil ich mich satt trinken kann – und das tue ich dann auch.“

Jetzt war Hannah außer sich. Das konnte Mary Ruth ihr ansehen. Sie starrte auf den Boden des Einspänners und ihre Augen blinzelten nervös.

„Was hast du denn, Hannah?“

„Ich wünschte, ich könnte verstehen, was du meinst. Mehr kann ich dazu nicht sagen.“

Dass sie die Liebe zum Lesen nicht teilten, war klar. Aber Hannah schmerzte es zutiefst, als Mary Ruth ihr gestand, dass sie von Büchern besessen sei, besonders von Romanen. Wenn ich nur nie ein Wort gesagt hätte, dachte sie.

Sie beugte sich hinüber und lehnte den Kopf an den ihrer Zwillingsschwester. Ihre weißen Gebetshauben verschmolzen wie ein Herz hinter dem Pferd, das sie immer näher nach Strasburg brachte.

Während Mary Ruth über die Straße zur Bibliothek eilte, begab sich Hannah mit ihrem Korb, der voll mit neu bestickten Taschentüchern war, auf direktem Weg zum Andenkenladen. Erfreut nahm sie ihre Bezahlung von der Ladenbesitzerin, Frances Brubaker, entgegen. Mrs Brubaker war eine kleine, zierliche Frau Mitte dreißig, schätzte Hannah. Dann zählte sie vierzig weitere Baumwolltaschentücher hin, von denen ein Drittel gestickte Hummeln zeigte. Der Rest war mit Vogelnestern, in denen hellblaue Eier lagen, verziert. Sie hatte auch Tücher mit winzigen Obstkörben – ganz bunt. Sie hatte beschlossen, dass es an der Zeit sei, etwas anderes als die Vögel und die bunten Schmetterlinge zu sticken.

Während sie sich in dem Laden aufhielt, kamen zwei englische Frauen herein, von denen eine gesprächiger war als die andere. Beide staunten mit lautem „Oh“ und „Ah“ über die verschiedenen Sachen, als hätten sie noch nie im Leben „Handarbeiten“ gesehen, wie sie wiederholt und sogar ein wenig ehrfürchtig sagten. Sie erblickten Hannah bei der Verkaufstheke und zeigten sofort ein starkes Interesse an ihr und schauten mehrmals zu ihr herüber, ohne sich wegen ihrer Neugier zu schämen. Jedes Mal musste Hannah den Blick abwenden. Sie konnte nichts gegen die Schüchternheit machen, die sie jetzt genauso befiel wie sonst, wenn sie am Verkaufsstand am Straßenrand stehen musste. Sie war die meiste Zeit ziemlich unsicher und hätte sich gewünscht, Mary Ruth wäre bei ihr geblieben und stünde ihr hier im Laden zur Seite, statt zu ihren geliebten Büchern zu laufen.

„Eine amische Frau mit mehreren Kindern kam neulich zu mir in den Laden“, erzählte Frances ihr. „Sie wollte einen ganzen Stoß bestickter Taschentücher kaufen. Aber sie wollte speziell Taschentücher mit Hohlsaum und einem ganz bestimmten Stickbild. Sie hatte ein solches Tuch dabei und zeigte es mir.“

Hannah war überrascht, das zu hören. „Wie sah das Taschentuch aus?“

„Ein wunderschöner smaragd- und goldfarbener Schmetterling war in die Ecke gestickt.“

„Und mit Hohlsaum, sagen Sie?“

Frances nickte. „Die Kundin zeigte großes Interesse daran und sagte, es würde ihr besser gefallen als alle anderen Muster. Sie sagte, sie wolle bei der Hochzeit ihres Sohnes einen Stoß davon verschenken ... sie kommt ungefähr in einem Monat noch einmal vorbei. Könntest du mehrere solche Taschentücher sticken?“

„Vielleicht. Aber ich müsste dieses Taschentuch erst sehen.“ Hannah fand das sehr ungewöhnlich. Sie hatte in ihrem ganzen Leben erst ein einziges solches Taschentuch gestickt. Es war wunderschön, fand sie. Sie hatte es zusammen mit einigen Kissenbezügen mit Kreuzstichmuster vor drei Jahren Sadie zum sechzehnten Geburtstag geschenkt. Sadie hatte sich so sehr darüber gefreut, dass Hannah beschlossen hatte, dass dieses Muster etwas ganz Besonderes bleiben sollte. Nie wieder würde sie dieses Muster auf ein anderes Taschentuch sticken, weder um es zu verkaufen noch um es zu verschenken. Damit wollte sie den Tag ehren, an dem Sadie ins heiratsfähige Alter gekommen war.

Sie fragte sich, wer wohl diese Frau gewesen sei, die sich nach einem Taschentuch erkundigt hatte, das so überraschend viel Ähnlichkeit mit Sadies Taschentuch hatte. Aber sie behielt diese Fragen für sich und sagte nichts mehr.

Trotzdem konnte sie sich des Gedankens nicht erwehren, wie sonderbar diese Sache doch sei, und fühlte sich ein wenig niedergeschlagen. Hatte jemand Sadies einmaliges Taschentuch gesehen und beschlossen, es nachzumachen?, überlegte sie.

* * *

Auf dem Rückweg im Einspänner balancierte Mary Ruth die Bücher aus der Bibliothek auf ihrem Schoß und versuchte gleichzeitig, die Zügel zu halten.

„Wie willst du denn diese ganzen Bücher unbemerkt ins Haus bringen?“, erkundigte sich Hannah mit einem skeptischen Blick auf die Bücher.

„Oh, das schaffe ich schon irgendwie. Schlimmstenfalls muss ich immer zwei auf einmal heimlich ins Haus schaffen. Könnten wir nicht die Plätze tauschen?“ Sie reichte Hannah die Zügel, die prompt auf den Fahrersitz rutschte.

Sie fuhren eine Weile schweigend dahin. Mary Ruth war froh, dass sie schon die ersten Seiten eines Buches aus ihrem Stapel lesen konnte, Onkel Toms Hütte. Als das Pferd bei Rohrers Mill, der mit Wasser betriebenen Getreidemühle, von der schmalen Straße abbog, hatte sie das erste Kapitel schon fast fertig gelesen. Ihr Herz litt mit dem Sklavenmädchen Eliza und ihrem schönen jungen Sohn Harry. In ihr regten sich so starke Gefühle, dass sie sich erneut fragte, wie sie je diese Begeisterung für gedruckte Seiten aufgeben könnte. Könnte sie in den nächsten Jahren Unmengen von Büchern verschlingen, um ihren Appetit zu stillen, und dann der amischen Kirche beitreten und hoffen, diese Freude würde jahrelang anhalten, auch wenn sie nie wieder etwas lesen würde? Das wäre wahrscheinlich eine Möglichkeit, mit diesem Problem fertig zu werden, obwohl sie das mit Prediger Yoder klären müsste, bevor sie vor ihm niederknien und ihr Gelübde ablegen könnte. Besonders bei ihrer neuen Leidenschaft für erfundene Geschichten.

Sie blickte von der Seite auf, die sie gerade las, und fragte Hannah: „In welchem Alter willst du dich taufen lassen?“

„Mit sechzehn oder so“, antwortete Hannah. „Ich finde, wir sollten miteinander in die Kirche eintreten.“

Genau wie sie gedacht hatte.

Hannah schwieg eine Weile. Dann sagte sie: „Falls du womöglich zur High School gehst ...“

„Oh, ich werde gehen“, fiel Mary Ruth ihr ins Wort. „So oder so.“

„Ja, ich weiß. Aber was willst du dann wegen Elias Stoltzfus machen?“

Mary Ruth schwieg kurz. „Ich denke, darüber brauche ich mir heute noch nicht den Kopf zu zerbrechen. Schließlich ist bis jetzt noch keiner von uns im heiratsfähigen Alter. Elias ist erst vierzehn.“

Hannah wandte sich von ihr ab und schaute weg.

Mary Ruth beugte sich vor. „Tut mir leid. Habe ich etwas Falsches gesagt?“

„Ach, es ist nichts“, sagte Hannah zu schnell. Sie schniefte ein wenig. Dann richtete sie sich auf. „Ich dachte nur ... nun ja, dass Elias vielleicht dafür sorgen könnte, dass du es dir anders überlegst. Vielleicht könnte er in deiner Zukunft irgendwie eine Rolle spielen.“

Ehrlich gesagt, hatte Elias bei Mary Ruth einiges durcheinandergebracht. Je öfter sie ihn beim Predigtgottesdienst oder sonst irgendwo zufällig traf, und je mehr sie mit ihm sprach, wenn auch nur kurz, umso mehr mochte sie ihn. Sehr sogar ... um die Wahrheit zu sagen. Es war, als würde sie barfüßig auf eine Nessel treten. Sie sah, wie die Begegnungen mit ihm ihre Begeisterung und ihre sehnsüchtigen Wünsche ins Wanken brachten. Wenn sie ihrer Zuneigung zu ihm und seiner Zuneigung zu ihr nachgab, dann würde es nicht lang dauern und sie würde in ein paar Jahren sonntagabends vom Singen mit ihm nach Hause fahren. Er würde ihr den Hof machen ... und was dann? Was wäre, wenn der gleiche unstillbare Durst nach Büchern bei einem oder mehreren ihrer Kinder auftauchen würde? So etwas würde sowohl ihrer Familie als auch Elias’ Familie Not bereiten.

Nein, sie hielt es für das Beste, ihre Verliebtheit im Keim zu ersticken und sich zu weigern, auf seine Aufmerksamkeit einzugehen, und sich lieber auf die Schule zu konzentrieren. Sie wusste, dass sie zur Lehrerin geboren war. Sie konnte einfach nicht auf die eine Sache verzichten, die für sie auf Gottes grüner Erde am meisten zählte.

* * *

Als sie nach Hause zurückkehrten, waren am Himmel bedrohliche Wolken aufgezogen. „Es wird bald kräftig regnen“, bemerkte sie, während sie mit Hannah das Pferd ausspannte.

„Ein guter Regen würde der Ernte guttun“, erwiderte Hannah laut genug, dass Mary Ruth sie trotz des aufkommenden Windes hören konnte. „Soll ich hineinlaufen und schauen, wo Mama gerade ist?“

Mary Ruth nickte und sah die traurige Besorgnis in Hannahs Gesicht. „Ja, schau bitte. Ich tränke und füttere inzwischen das Pferd.“

Hannah schlenderte ruhig und unauffällig zum Haus. Einige Sekunden später kehrte sie jedoch blitzschnell zurück und lächelte breit über das ganze Gesicht. „Mama ist oben und stillt Lydiann“, flüsterte sie. „Am besten kommst du jetzt gleich.“

„Wo ist Papa? Hast du ihn gesehen?“

Hannah wusste schnell die Antwort. „Papa und Leah sind hinten auf der Weide und bringen die Kühe zum Melken heim.“

„Und Sadie?“

„Mach dir ihretwegen keine Gedanken“, winkte Hannah kopfschüttelnd ab. „Sie ist nirgends zu sehen. Außerdem würde es sie ja wohl kaum interessieren, oder?“

Mary Ruth nahm ihren ganzen Mut zusammen und trug alle sieben Bücher auf einmal über den Hof und ins Haus. Hannah ging voran und schaute sich immer wieder nach ihr um, während sie durch die leere Küche liefen und die lange Treppe hinaufeilten.

In ihrem gemeinsamen Zimmer angekommen, verteilte Mary Ruth ihre Bücher auf zwei Stöße und kniete sich auf den Boden. Dann schob sie den einen Stoß mit vier und dann den anderen mit drei Büchern weit unter das Bett, so weit sie mit den Armen reichen konnte.

„So“, sagte sie und erhob sich befriedigt. „Wer sollte schon so weit unter dem Bett nachsehen?“

* * *

Nach dem Abendessen eilte Mary Ruth zur hinteren Veranda hinaus. Kurz vor Einbruch der Abenddämmerung war der Abend noch hell genug für einen Spaziergang. Aber sie überlegte es sich anders und entschied sich, ein wenig auf der Tenne zu schaukeln. Das lange Seil hing als ständige Erinnerung an ihre glücklichen Kindertage von den Deckenbalken. Man konnte zwischen den Heuballen und den müden Tieren, die sich in dem warmen, staubigen Stall unter ihr langsam bewegten, gut über das Leben nachdenken. Die Mäusefänger leisteten ihr bestimmt Gesellschaft.

Auf dem Weg zum Stall sah sie Papa und Gideon, die sich auf dem Getreidefeld miteinander unterhielten. Papa legte Gid eine Hand auf die Schulter und dankte ihm zweifellos für seine Hilfe an diesem Nachmittag.

Papa spannt Smithy Gid immer mehr ein, dachte sie. Sie war fast sicher, dass ihr Vater den einen oder anderen Trumpf noch im Ärmel stecken hatte. Aber falls dem wirklich so war, bliebe ihm nicht mehr viel Zeit, um Leahs Pläne, Jonas Mast zu heiraten, zu durchkreuzen.

Wenn es Papa nicht gelang, Leahs Aufmerksamkeit auf Gid zu lenken, müsste er sich wegen der vielen Feldarbeit bald etwas einfallen lassen, wenn Leah und Jonas im Winter eine eigene Familie gründeten. Papa müsste jemanden einstellen – und das war höchstwahrscheinlich Gid Peachey. Aber was für ein Stachel im Fleisch wäre das für Papa, der Gid gern als seinen Schwiegersohn hätte und nicht als bezahlte Hilfskraft. Sie sah an der Miene ihres Vaters, dass er viel zu voreingenommen war, wenn es um Smithy Gid ging. Er sprach so freundlich von dem jungen Mann – normalerweise so, dass Leah es hörte. Aber in letzter Zeit tat er das nicht mehr so oft. Trotzdem konnte sie sich des Gefühls nicht erwehren, dass Papa Leah daran hindern wollte, den Mann zu heiraten, den sie liebte, wie auch immer er das anstellen wollte. Mary Ruth biss bei diesem Gedanken schwer die Zähne zusammen und wünschte, ihr und ihren Schwestern wären die Hände nicht so stark gebunden.

7

Der Freitagmorgen begann viel kühler. Abram, Ida und die Mädchen waren dankbar für die Linderung nach der großen Hitze. Während Mary Ruth an der Reihe war, ihren Posten am Gemüsestand an der Straße zu beziehen, arbeiteten Leah, Sadie und Hannah in ihrem riesigen Gemüsegarten und sprühten Insektengift, damit sie selbst und nicht die Käfer die Früchte ihrer Arbeit ernten würden.

Sie ernteten Sommerkürbis, Karotten, Paprika und pfundweise Gurken. Einen Vorrat an Mixed Pickles hatten sie bereits angelegt – süß und sauer eingemacht. Mama schlug vor, dass sie noch mehr Gurken zu ihrem Stand am Straßenrand bringen und verkaufen sollten. „Oder wir verschenken sie, wenn es sein muss.“

Während ihr Rücken bei der anstrengenden Gartenarbeit schmerzte, zwang Leah sich, nicht an Sadie zu denken, sondern konzentrierte sich auf ihre Überlegungen, wie sie das gemütliche Plätzchen unter der Robinie im Wald wiederfinden sollte. Sadie und sie waren zerstritten – und zwar ziemlich heftig. Sie hatte beschlossen, über Naomis Hochzeit kein Wort mehr zu verlieren, wusste aber nicht, was sie als Nächstes tun oder sagen sollte.

Den ganzen Vormittag quälten sie beunruhigende Gefühle gegenüber ihrer älteren Schwester. Die Funkstille zwischen ihnen war sehr schmerzlich. Sadie war nicht gut auf sie zu sprechen. Das war unübersehbar. Die harmlose Andeutung, dass Sadie beichten sollte, war auf harte Ablehnung und Verachtung gestoßen.

Sobald die Gartenarbeit erledigt war, eilte Leah zu Tante Lizzie hinauf und wollte sich auf die Suche nach der Robinie begeben. Sie hoffte, sie könnte mit Lizzie offen sprechen, während sie auf ihrer Suche durch den Wald wanderten. Tante Lizzie würde das bestimmt nicht als Klatsch verstehen – Gott bewahre! Sie würde vielmehr die Dinge, die Leah belasteten, in ihr Gebet aufnehmen. Ihre verwirrenden und aufwühlenden Gefühle weckten in Leah die Frage, ob ihre Gebete nicht einfach von der Schlafzimmerdecke abprallten, statt zu Gottes Gnadenthron aufzusteigen.

Tante Lizzie begrüßte sie mit einer herzlichen Umarmung an der Hintertür. Sie trug eine alte schwarze Kochschürze. Die frisch geschrubbte kleine Küche strahlte im Sonnenlicht. Der vertraute, angenehme Geruch nach frisch gebackenem Brot zog Leah an den Tisch. Dankbar nahm sie Platz und genoss den Duft. „Das riecht wunderbar gut“, schwärmte sie.

„Ich dachte, ich backe ein Dutzend Rosinenzimtbrötchen und einen Laib Haferbrot für die Nolts unten in der Straße“, sagte Lizzie und brachte Leah ein Glas Eistee. „Hast du Lust, mich zu ihnen zu begleiten?“

Leah brachte es nicht übers Herz, den erhofften Waldspaziergang anzusprechen und Lizzie von ihrer freundlichen, großzügigen Tat abzuhalten, besonders als sie die glückliche Miene ihrer Tante sah. „Ja, ich komme mit“, sagte sie schnell und hoffte insgeheim, dass sie später immer noch mit ihrer Tante in den Wald gehen könnte.

Während der Fahrt im Einspänner die Georgetown Road hinab schüttete Leah ihrer Tante ihr Herz aus. Sie erzählte Tante Lizzie von ihrem jüngsten Gespräch mit Sadie. Lizzies Blick blieb während der ganzen Zeit auf die Straße geheftet und ihre Hände ließen die Zügel keine Sekunde los.

„Sadie hat kein Interesse, an Naomis Hochzeit teilzunehmen. Findest du das nicht seltsam?“, fragte Leah.

„Was du erzählst, hört sich für mich an, als wollte Naomi sie auch nicht dabeihaben.“

Leah ließ nicht locker. „Wie kann das nur sein?“

Lizzie ließ sich mit ihrer Antwort Zeit und atmete tief ein. „Manchmal gehen Freundschaften aus dem einen oder anderen Grund auseinander. Ehrlich gesagt, denke ich, können wir froh sein, dass Naomi und Sadie nicht mehr so viel zusammenhängen.“

„Vielleicht. Aber ich habe das starke Gefühl, dass sich Naomi wirklich von der Welt abgekehrt hat. Ich denke, sie ist für die Kirche jetzt viel empfänglicher als früher.“

Über diese Nachricht freute sich Lizzie. „Ich bete, dass das, was du da sagst, wahr ist.“

Dann plauderten sie über dies und das, besonders über das Gemüse und die Blumen, die in Lizzies und Mamas Garten wuchsen. Bald fragte Leah jedoch: „Ich muss immer noch an diese ungewöhnliche Robinie denken ... Erinnerst du dich?“

„Ja, Liebes, wir könnten doch einen Spaziergang zu dem Baum machen, sobald wir wieder zu Hause sind.“

Leah war begeistert. Sie lehnte sich ein wenig zurück und machte es sich auf dem Vordersitz des Einspänners bequem. Sie schaute zum jetzt wolkenlosen Himmel hinauf und war überglücklich, dass sie so offen mit der lieben Tante Lizzie reden konnte. Wenn nur die Tage schneller vergingen, bis Jonas zu ihr zurückkehrte.

* * *

Hannah jagte zwei Fliegen. Mama hatte ihr aufgetragen, aus dem Garten ins Haus zu gehen, um der größten Hitze am Mittag zu entfliehen, weil sie „kaputt und ausgelaugt“ aussah. Und jetzt war sie hier, auch wenn sie nicht mit einem großen Glas eiskalten Wassers in der Küche saß oder sich Luft zufächerte, sondern fest entschlossen war, die lästigen Insekten mit der Fliegenklatsche zu erschlagen. Sie wurde schon die ganze Woche von Kopfschmerzen geplagt, von denen sie außer ihrer Zwillingsschwester niemandem erzählt hatte. Und was hatte Mary Ruth getan? Sie hatte prompt zu Mama gesagt: „Um Hannah müssen wir uns ein bisschen mehr kümmern.“

Abgesehen davon, dass sie sich Sorgen wegen des bald bevorstehenden Schulbeginns machte, gab es nicht viel, das Hannah Kopfzerbrechen bereitete. Wenn nur der Sommer das ganze Jahr dauern könnte, dachte sie. Sie und ihre Schwestern hatten jedes Jahr ab dem Ende des Frühlings alle Hände voll zu tun mit Pflanzen und Ernten, Kochen und Putzen und der nie abreißenden Arbeit im Haus und Garten. In dieser Jahreszeit hatte man für nicht viel anderes den Kopf frei. Das gefiel Hannah.

Plötzlich fühlte sie sich unsagbar müde. Sie ging in die Küche und setzte sich in den großen Hickoryschaukelstuhl am Fenster. Sie war froh, dass der Verkauf ihrer Handarbeiten so gut lief. Besonders ihre bestickten Taschentücher und Kissenbezüge waren ein einträgliches Geschäft. Sie war dankbar für das zusätzliche Geld, das sie sowohl im Andenkenladen in Strasburg als auch am Verkaufsstand am Straßenrand verdiente.

Hannah legte die Fliegenklatsche auf den Boden und lehnte den Kopf an den Schaukelstuhl. Als ihre Augenlider schwer wurden, kam Sadie herein. „Du siehst geschafft aus, Hannah“, bemerkte sie und trat zur Spüle, um sich etwas Wasser zu holen.

„Ach, mach dir meinetwegen keine Sorgen.“

„Hier“, sagte Sadie und reichte ihr das große Glas. „Mama sagte, du hast Kopfschmerzen. Ein Glas Wasser hilft ein bisschen.“

Hannah nahm das Glas entgegen und nippte ein wenig daran. Sie schaute zu, wie Sadie wieder an die Spüle zurückging und sich Wasser auf die Stirn und die Wangen spritzte. Sadie tupfte sich mit der Schürze das Gesicht trocken. Dann holte sie sich ein weiteres Glas. Als sie sich selbst ein Glas eingeschenkt hatte, trat sie an den Tisch und setzte sich. Ihr Gesicht war knallrot.

Sie schwiegen eine Weile. Dann nahm Hannah ihren Mut zusammen und fragte: „Ich würde dich gern etwas fragen ... Hast du jemandem das Geburtstagstaschentuch gezeigt, das ich dir einmal gestickt habe? Das mit dem grüngoldenen Schmetterling darauf?“

Sadie schien bei dieser Frage zu erstarren. Sie runzelte die Stirn und schüttelte den Kopf. „Aber nein, das habe ich nicht.“

Hannah war verblüfft über das plötzliche Unbehagen ihrer Schwester und zwang sich zu einem Lächeln. „Ich habe mich nur gefragt, ob noch jemand anders außer unserer Familie es vielleicht gesehen hat ... und angefangen hat, es nachzumachen und zu verkaufen.“

Sadie sagte lange nichts. Dann flüsterte sie: „Dieses Taschentuch ist leider für immer fort.“

„Fort?“ Hannah war aufgebracht. „Aber ich habe es extra für dich gemacht. Wie konntest du es verlieren?“

Sadie schüttelte langsam den Kopf. „Ich habe nicht gesagt, dass ich es verloren habe.“ Ihre Stimme war jetzt ganz schwach, als wäre sie gerade von der Beerdigung eines nahen Verwandten nach Hause gekommen und die emotionale Anspannung des Tages habe sie ihre ganze Kraft gekostet.

„Was ist dann ...“

„Ach, Hannah, bitte frage nicht weiter. Ich habe dein Taschentuch geliebt, aber es ist fort, und ich werde es nicht zurückbekommen.“

Sadies scheinbare Missachtung ihres Geschenks verletzte Hannah. Sie verstand die seltsame Reaktion ihrer Schwester nicht. Warum tut sie so etwas?

Ihr kam der Gedanke, ob die Frau, die sich nach dem Taschentuch erkundigt hatte, tatsächlich die neue Besitzerin von Sadies Geburtstagstaschentuch gewesen sein könnte. Ist das möglich?, überlegte sie traurig, verlor aber kein Wort mehr darüber.

* * *

Leah wartete im Einspänner und hielt die Zügel lose in der Hand, während Tante Lizzie zur Haustür des roten Ziegelhauses der Nolts eilte. Lavendelblüten und Dahlien in einem hellen Pfirsichton schmückten den Vorgarten des Hauses dieser Englischen, der genauso sauber und gut gepflegt war wie die Gärten ihrer amischen Nachbarn.

Leah freute sich auf den Abend, an dem Papa plante, ihr aus der Familienbibel vorzulesen und die Verse zu erklären, die über die Taufe sprachen. Heute beim Mittagessen hatte Papa vorgeschlagen, dass sie das tun sollten. „Je früher, umso besser“, hatte er gemeint.

Sie war froh darüber und fühlte sich der Liebe ihres Vaters sicher, obwohl er wegen ihrer bevorstehenden Ehe unübersehbar enttäuscht war. Sie war fest entschlossen, ihn stolz zu machen, auch wenn er im Augenblick nicht allzu glücklich über sie war. Dass Papa ihr gern das Wort Gottes vorlas und mit ihr über die Bibel sprach, zeigte, dass er sich wenigstens über ihre bevorstehende Taufe freute – eine Voraussetzung für die Ehe. Obwohl er selbst andere Wünsche hatte, machte er es ihr möglich, Jonas zu heiraten.

Sie hörte Schritte. Als sie sich umdrehte, sah sie Tante Lizzie den Fußweg herabkommen. Sie winkte und lächelte. Sobald sie wieder auf dem Fahrersitz Platz genommen hatte, erzählte ihr Lizzie, dass das Baby der Nolts „gesund und fröhlich“ sei.

Leah hörte interessiert zu. „Ich hätte mit dir hineingehen sollen.“

„Ein anderes Mal vielleicht.“ Lizzie schnalzte mit der Zunge, und das Pferd zog den Einspänner vom Straßenrand weg. „Mrs Nolt meinte, sie könnte ein wenig Hilfe gegen Bezahlung an einigen Nachmittagen in der Woche brauchen. Vielleicht Sadie. Was hältst du davon?“

„Ich weiß nicht genau“, sagte Leah. „Ich würde Sadie im Moment überhaupt nicht fragen.“

„Das könnte ihr doch guttun. Meinst du nicht?“

„Unter uns gesagt: Sie kommt mit unserer kleinen Schwester nicht gut zurecht.“

Lizzie nickte. „Überlege doch mal, Liebes. Können wir denn erwarten, dass sie sich anders verhält ... bei allem, was war?“

Sie unterhielten sich über dieses traurige Thema, bis das Pferd an der Straße abbog und den Wagen auf Papas lange Auffahrt zog.

„Dann vielleicht Mary Ruth oder Hannah?“ Lizzie zog an den Zügeln. „Ich kläre es zuerst mit deinem Vater, obwohl ich bezweifle, dass er besonders begeistert sein wird.“

„Wahrscheinlich lehnt er die ganze Idee ab ... das würde mich nicht überraschen.“

Tante Lizzie lächelte und zwinkerte leicht. „Überlass das einfach mir.“

Leah staunte über Lizzies zuversichtliche Antwort, aber sie sagte nichts mehr und hoffte, sie würden zu ihrem geplanten Spaziergang in den Wald aufbrechen.

Im Nachmittagslicht stiegen sie schnell die Anhöhe hinauf. Leah und Lizzie blieben kurz stehen und ließen die Geräusche auf sich wirken – jedes leise Knacken und Rascheln, das sie hörten: Ringelnattern, die Tausendfüßler jagten, und andere winzige Tierchen, die sich unter den Blattschichten tummelten, unter denen ein reges Leben herrschte.

Während sie mitten im Wald standen, kam Leah ein beunruhigender Gedanke in den Sinn. „Was meinst du – was wäre passiert, wenn Sadie ihr Baby bis zum Schluss ausgetragen hätte ... wenn ihr kleiner Sohn am Leben geblieben wäre?“, fragte sie. „Wie hätten Papa und Mama reagiert? Wie hätten sie darauf reagiert, dass Sadie keinen Mann hat und das alles?“

Lizzie überlegte kurz. „Nun, das ist nicht schwer zu erraten.“

Überrascht schaute Leah Lizzie an. „Hätten Papa und Mama es als ihr eigenes Kind angenommen?“

„Das habe ich nicht gesagt ... nur dass ich denke, mit der Zeit hätten sie das Baby akzeptiert. Es wäre schließlich ihr eigenes Fleisch und Blut, ihr eigener Enkelsohn gewesen.“

„Das werden wir wahrscheinlich nie mit Sicherheit erfahren.“

„Aber alles in allem wusste der Herr, was am besten war. Er hielt es für richtig, das liebe kleine Kind zu sich in den Himmel zu holen.“

„Stell dir nur vor, wie hin und her gerissen Sadie ihr ganzes Leben lang gewesen wäre, weil der Vater des Kindes englisch und eitel ist ... und sie ihn nicht an ihrer Seite gehabt hätte.“

„Ich bezweifle, dass der Kerl sich viel aus ihr gemacht hat“, sagte Lizzie knapp und stieg weiter die Anhöhe hinauf.

Leah fragte sich plötzlich, wer der Vater von Sadies Baby gewesen sein könnte. Sie kannte nur seinen Vornamen. Derry. Allein das jagte ihr schon eine Gänsehaut über den Rücken. Der Name klang in ihren Ohren nach jemandem, der einen überreden würde, etwas zu tun, was man später bedauerte.

Sie passte ihre Schritte Lizzies Tempo an und freute sich riesig, als sie keine zwei Meter von sich entfernt die Robinie erblickte. „Du hast den Baum gefunden! Wie hast du das nur geschafft?“

Lizzie strich mit der Hand über den dicken, breiten Baumstamm. „Was für ein riesiger, kräftiger Baum! Es gibt nicht viele, die so sind wie dieser Baum, nicht wahr?“

„Er ist ganz besonders ... und selten, würde ich sagen.“ Leah drehte sich in die Richtung, aus der sie gekommen waren. „Wie schwer wäre es, von hier nach Hause zu finden? Was meinst du?“

„Ich markiere dir den Rückweg.“ Tante Lizzie bückte sich und hob einen mittelgroßen Stein auf, um damit die Bäume zu markieren.

„Dann regst du dich nicht auf, wenn ich allein hierher komme?“

Lizzies Lächeln verschwand. „Das habe ich nicht gesagt.“

Die Sonne drang durch das oberste Blattwerk und ließ einen dünnen Lichtstrahl durchscheinen, der die Grasfläche vor ihren Füßen erhellte. „Schau nur!“ Leah fühlte sich zuversichtlicher als je zuvor. „Es werde Licht.“

„Glaube jetzt nur nicht, das wäre irgendwie ein himmlisches Zeichen oder so etwas.“

Leah und Lizzie lachten. Trotzdem fragte sie sich, warum der Sonnenstrahl sie genau in diesem Moment gefunden hatte.

* * *

Als die Küche nach dem Abendessen aufgeräumt war und Mama nach oben in ihr Schlafzimmer gegangen war, um Lydiann zu stillen, setzten sich Papa und Leah gemeinsam an den Tisch und schlugen die große Familienbibel vor sich auf. Sadie und Mary Ruth spielten auf dem Boden Dame, während Hannah ein Rotkehlchen auf ein weißes Baumwolltaschentuch stickte. Großvater Johannes, der mit der Familie zu Abend gegessen hatte, saß auf einem Hickoryschaukelstuhl bei der Tür, die zur hinteren Veranda führte. Ein entspanntes Lächeln zog über sein sonnengebräuntes, faltiges Gesicht.

„Wir fangen mit der Stelle an, an der der Herr Jesus von Johannes getauft wurde“, erklärte Papa und bewegte beim Lesen den Finger über die Seite. „,Ich taufe euch mit Wasser zur Buße ...‘“

„Spricht hier Johannes der Täufer?“, fragte Leah.

Papa nickte. „Unser Herr hat uns ein Beispiel gegeben, obwohl er das sündlose Lamm Gottes war.“

Leah hörte mit gespannter Aufmerksamkeit zu.

Ihr Vater sprach weiter: „Hier kommt meine Lieblingsstelle in diesem Kapitel. ‚Und als Jesus getauft war, stieg er alsbald herauf aus dem Wasser. Und siehe, da tat sich ihm der Himmel auf, und er sah den Geist Gottes wie eine Taube herabfahren und über sich kommen. Und siehe, eine Stimme vom Himmel herab sprach: Dies ist mein lieber Sohn, an dem ich Wohlgefallen habe.‘“

Leah spitzte die Ohren, als eine Taube erwähnt wurde. Der große Gott hatte einen sanften weißen Vogel geschickt, ein Symbol des Friedens, der als Segen auf den Kopf des Menschensohnes herabkam.

„Du darfst das, was du vorhast, nicht leichtfertig tun.“ Papa faltete seine schwieligen Hände über der Bibel. „Die Mitgliedschaft in der Gemeinde ist ein Zeichen für Buße und völlige Hingabe an die amische Kirche. Sie ist außerdem die Tür zum Erwachsensein.“

Als er das sagte, bemerkte Leah, dass Sadies Kopf in die Höhe schoss. Offenbar hörte sie ihnen zu. Das war gut so. Besonders jetzt, dachte Leah und erinnerte sich an ihren jüngsten angespannten Wortwechsel.

Papa begann, Markus, Kapitel sechzehn, Vers sechzehn, vorzulesen: „,Wer da glaubt und getauft wird, der wird selig werden; wer aber nicht glaubt, der wird verdammt werden.‘“

„Eine göttliche Ankündigung, und so beängstigend“, sagte Leah voll Ehrfurcht vor der Heiligen Schrift.

Papa schloss die Bibel und griff nach einem anderen Buch, dem Märtyrerspiegel, über elfhundert Seiten dick. Es war ihr schriftliches Erbe und beschrieb christliche Märtyrer aus insgesamt siebzehnhundert Jahren. „Gehorsam gegenüber Gott führt auf einen Weg der Buße, auch wenn er ausgesprochen schmal ist ... und nur wenige ihn je finden werden“, sagte Papa, bevor er zu lesen begann.

„Wir sind ein ausgesondertes Volk. Wir gehen den schmalen Weg, nicht wahr?“

Er nickte ehrfurchtsvoll. „Das ist unser Leben und unser Atem.“

„Ohne Flecken oder Makel“, fügte Leah hinzu. Sie kannte die Wahrheit, die ihr alle Tage ihres Lebens beigebracht worden war.

„Jetzt möchte ich dir von einer Vorfahrin meiner Mutter vorlesen – von deiner Ururgroßmutter.“ Papa blätterte vorsichtig in den Seiten des Märtyrerspiegels, als wäre es ein heiliges Buch. Er begann, das Zeugnis von Catharina Meylin vorzulesen, die wegen ihres Glaubens ein Brandmal auf die Wange bekommen hatte. „,Sie hielt unerbittlich an der Lehre der Erwachsenentaufe fest‘“, las er.

Leah konnte nur mühsam die Tränen zurückhalten, als sie von der mutigen und gottesfürchtigen Mutter von elf Kindern hörte, und sie fragte sich, ob sie selbst auch eine solche Hingabe hätte. Bin ich bereit, für den Herrn zu sterben? Zumindest wollte sie sich um Charakter- und Glaubensstärke bemühen.

„Hat sie ... überlebt?“, fragte Leah leise.

„Ihre Füße wurden gefesselt und sie wurde ins Gefängnis gebracht, wo sie viele Wochen lang nur Brot und Wasser bekam“, las Papa weiter.

Mit einem lauten Seufzen blickte er auf. „Sie bekam die Erlaubnis, nur ein einziges Mal zu schreiben. Einen Brief an ihre erwachsenen Kinder, in dem sie ihnen Zeugnis von ihrem tiefen Glauben gab.“

Leah hörte aufmerksam zu. „Lies bitte den Rest der Geschichte vor, ja?“

Ihr Vater nickte und bewegte den Finger von Wort zu Wort. „,Täglich wurde Catharina geschlagen, und als sie ihren Glauben immer noch nicht leugnete, wurde sie zur rechten Zeit durch die Gnade Gottes von ihren irdischen Fesseln befreit.‘“

Verhungert und zu Tode geschlagen?, dachte Leah entsetzt. Papas Vorfahrin war wirklich eine treue Dienerin Gottes gewesen.

Papas Stimme zitterte ein wenig. „Ihren lieben Kindern schrieb sie folgende Worte: ‚Hinfort wartet auf mich eine Krone der Gerechtigkeit, die der Herr, der gerechte Richter, mir an jenem Tag geben wird: und nicht nur mir allein, sondern allen, die sich mit mir über sein Kommen freuen.‘“

Sie gab ihr Leben für das, was sie glaubte ...

Leah fühlte sich getroffen. War sie würdig, sich in der Taufe dem allmächtigen Gott hinzugeben?

Großvater Johannes erhob sich mit einem laut hörbaren Stöhnen aus dem Schaukelstuhl und stand wackelig in der Mitte der Küche. Leah schaute ihren Vater an. Seine Stirn zog sich leicht in Falten und er ließ sie wissen, dass das Ende ihrer Bibellese gekommen war.

„Komm mit, Leah“, forderte Großvater Johannes sie auf und stützte sich schwer auf seinen Stock.

Sie eilte an die Seite ihres Großvaters und stützte ihn, während sie zum vorderen Zimmer und zur Tür gingen, die zu seinem kleinen Großvaterhaus führte. Dankbar würde sie noch lange über diese Bibelstellen und die unerschütterliche Überzeugung von Papas Ururgroßmutter nachdenken und auch über die vielen anderen Dinge, die Papa ihr an diesem Abend gesagt hatte. Vorerst war sie dankbar, dass sowohl Bischof Stoltzfus als auch Prediger Yoder Leah die Erlaubnis gegeben hatten, mit ihrem Vater über diese Bibelstellen zu sprechen. Sadie hatte zu diesem Thema nie den Rat ihres Vaters eingeholt, soweit Leah wusste.