Über das Buch:
„Das Leben beantwortet dir nicht jede Frage. Manche Antworten bekommst du nie. Aber solange du die wichtigste Frage geklärt hast, kannst du damit leben, dass andere unbeantwortet bleiben.“
An dieser Aussage seiner Großmutter beißt sich Emile fast ein Leben lang die Zähne aus. Soll er wirklich einfach so hinnehmen, dass sein Vater einst auf mysteriöse Weise aus seinem Leben verschwand? Dass er sein Zuhause in Frankreich Hals über Kopf verlassen und mit seiner Mutter in die USA ziehen musste?
Gerade als Emile meint, damit leben zu können, dass er manche Antworten wohl tatsächlich nie bekommen wird, wirbelt ein hochaktueller Fernsehbeitrag die alten Fragen wieder auf. Und mit ihnen meldet sich eine Frau in seinem Leben zurück, die ihm einst alles bedeutete, die aber nie wirklich die seine war …

Über die Autorin:
Elizabeth Musser wuchs in Atlanta auf. Seit dem Abschluss ihres Studiums englischer und französischer Literatur an der Vanderbilt Universität in Tennessee ist sie als Missionarin tätig. Heute lebt sie mit ihrem Mann Paul in der Nähe von Lyon in Frankreich. Die beiden haben zwei Söhne.

Kapitel 6

Ich schlief wie ein Stein, wachte aber trotzdem früh auf, dieses Mal um fünf. Mama schlief noch. Ich ging auf Zehenspitzen die Treppe hinunter und lauschte an Grandmas Tür, bis ich sicher wusste, dass sie dort drin war. Dann ging ich zum Eingangsbereich, wo auf einem kleinen Tisch das Telefon stand. Ich setzte mich auf den Stuhl daneben, griff nach dem Hörer und wählte die Null.

„Vermittlung.“

„Einmal Frankreich bitte.“

„Wie bitte?“

„Einmal Frankreich bitte“, sagte ich so langsam und deutlich, wie ich konnte.

„Die Nummer, bitte.“

Ich sagte sie an und wartete, bis das französische Tuten zu hören war, das so anders klang als das amerikanische.

Schließlich hörte ich eine Stimme. „Allô?

„Mamie! Mamie, ich bin’s, Emile!“

„Emile, mon cheri! Was ist los?“

„Ich wollte deine Stimme hören.“ Ich zögerte. „Mamie, ist er wieder da?“

Non.

„Hast du irgendwas von ihm gehört?“

„Nein. Nichts.“

„Er ist nicht mit einer anderen Frau durchgebrannt. Das weiß ich einfach! Mamie, er ist in Gefahr!“

„Hör auf, dir Sorgen zu machen. Und tu, was deine Mutter sagt.“

„Aber du wolltest früher nie, dass ich tue, was sie sagt.“

Mamie lachte. „Das stimmt. Aber dieses Mal sollst du auf sie hören.“

„Gibt es eine andere Frau, Mamie? Ist Papa durchgebrannt?“

„Schh, Emile.“

„Schreibst du mir, wenn er wieder da ist? Rufst du an? Bitte.“

Stille. „Ja, natürlich, das mache ich.“

„Ich vermisse dich. Ich vermisse Frankreich.“

„Du fehlst mir auch.“ So sanft hatte ihre Stimme noch nie geklungen.

„Er kommt doch wieder, oder? Er ist immer wiedergekommen.“

„Ich hoffe es.“

Dann fragte Mamie nach Amerika, nach dem Essen, der Schule und meiner amerikanischen Großmutter. Sie erkundigte sich nicht nach Mama, erwähnte aber, dass meine Freunde angerufen hatten: Jean-Marc, Cyril und Bastien. Wir plauderten eine gute Viertelstunde auf Französisch. Am liebsten hätte ich niemals wieder aufgelegt, denn dadurch würde meine Verbindung zu Frankreich gekappt und durch ein Freizeichen ersetzt.

Nach dem Telefonat quälte ich mich müde die Treppen hinauf und spürte, wie die Leere in mir wuchs. Ich dachte an Mamie, die immer modisch und elegant aussah, sogar in Gartenklamotten. Mir war die Sorge in ihrer Stimme nicht entgangen, gerade weil sie bei ihr so ungewohnt war. Ich stellte mir vor, wie sie auflegte und schnell wieder nach draußen ging, um meine Stimme zu vergessen. Sie fehlte mir.

Das Leben in Frankreich fehlte mir. Meine Familie, meine Freunde, das Essen. Mir fehlten die echte Butter und die dicken, sahnigen Soßen, die man über pikant gewürztes Fleisch goss, die Fische direkt aus der Saône, das Gemüse aus dem Garten. Und natürlich der Käse: der weiche Brie und der feste, aber zarte Camembert, der harte Comté, der würzige bleu und der warme Ziegenkäse, den man mit knusprigem Speck auf frischem Salat mit Vinaigrette aus scharfem Dijonsenf servierte. Mir fehlte Frankreich.

Ich legte mich aufs Bett und starrte an die Decke. Traurig dachte ich an meine Freunde und daran, wie wir ständig Witze machten und herumalberten, oder wie wir vom Herumrennen in der Pause im Park an der Rhône ganz rote Wangen hatten. Mir fiel ein, wie Papa aus vollem Herzen gelacht hatte, als er mein Zeugnis vom letzten Jahr gesehen hatte. Félicitations stand ganz unten. Das war die höchste Auszeichnung, die ein Schüler bekommen konnte und ich hatte Papas Anerkennung aufgeschleckt wie ein durstiger Hund.

Viele Jahre lang hatte Papa nur geknurrt und die Mundwinkel nach unten gezogen, wenn mein Zeugnis mit der Post gekommen war. Es war nicht so, dass ihm meine Leistungen peinlich waren oder er einen besonders enttäuschten Eindruck machte, aber sie waren weit von dem entfernt, was er sich vorstellte.

„Wir müssen uns damit abfinden, dass er kein Wissenschaftsgenie wird“, hatte er irgendwann zu meiner Mutter gesagt, als ich in der ersten Klasse war. „Wir gehen lieber nicht davon aus, dass er auf die Polytechnique geht“ – das französische Äquivalent zu Harvard. „Aber er findet sicher eine gute Ausbildung an einer technischen Berufsschule.“

Es brachte meine Mutter immer zur Weißglut, wenn französische Eltern schon in der ersten Klasse schwarzmalten, was die Zukunft ihrer Kinder betraf. Wenn das Kind nicht sofort lesen konnte, wenn es seinen Namen mit dem Füller nicht in der winzigen Schreibschrift aufs Papier brachte, wenn es das komplizierte französische Alphabet nicht einwandfrei aussprechen und ein Verb fehlerfrei konjugieren konnte, bekam es den Stempel en difficulté und ihm blühte eine Zukunft als Klempner.

Ich war der Meinung, dass Klempner ein seriöser und anständiger Beruf war. Mama auch.

„Hör auf, seine Zukunft an einer blöden Note festzumachen! Du liebe Güte, der Junge ist gerade mal sechs! Meinst du nicht, er hat eine Chance verdient?“

Und dann erklang die herablassende Stimme meines Vaters und meine Großmutter stimmte gleich mit ein: „Janie, Liebes, es hat sich immer wieder gezeigt, wenn dein Kind das erste Schuljahr nicht gut schafft, dann hinkt es den anderen hinterher und holt das nicht mehr auf. In der dritten Klasse hat es richtig zu kämpfen, in der fünften ist es catastrophique und in der achten“ – das war der Zeitpunkt, an dem sich Schüler in Frankreich entscheiden mussten, was sie aus ihrem Leben machen wollten – „kommt ein Abitur überhaupt nicht mehr infrage. Aber zum Glück kennen wir ja auch einige nette Familien, deren Kinder Klempner geworden sind.“

Mama hatte nichts davon hören wollen. Sie hielt diese Form der Argumentation für überholt, herabwürdigend und erzählte mir viele Stunden lang vom Kapitalismus und dem Abenteuer, Unternehmer zu sein. „Dein Vater hat eine kreative Ader, die so lang ist wie die Saône“, sagte sie. „Er hat schon vergessen, wie schwer ihm die Schule manchmal gefallen ist. Hör nicht auf ihn. Außerdem kannst du einfach in den Vereinigten Staaten studieren, also gib dein Bestes und lass dich von niemandem von deinen Plänen abbringen!“

Mama hielt es für ihre Berufung, mich durch das „schwierige und grausame“ französische Schulsystem zu lotsen. Mehr als einmal hatte sie mich in peinliche Verlegenheit gebracht, als sie sich bei den Lehrern über die lächerliche Note beschwerte, die sie mir gegeben hatten.

Ich versuchte ihr zu erklären, dass die Lehrer immer recht hatten und es ihnen egal war, ob die Schüler und Eltern oder das ganze Dorf sich beschwerten. Aber das konnte sie nicht aufhalten. In der dritten Klasse machte ich den Fehler, ihr zu erzählen, dass der Lehrer meinen Aufsatz zerrissen hatte, weil ich den Titel nicht mit rot unterstrichen hatte. Ein anderes Mal hatte ich an den roten Strich unter dem blauen Titel gedacht, ihn aber aus Faulheit ohne Lineal gezogen. Wieder wurde das ganze Blatt zerrissen. Am nächsten Tag kam Mama in den Klassenraum marschiert und machte dem Lehrer in ihrem amerikanischen Akzent unmissverständlich klar, was sie davon hielt, während meine Klassenkameraden ungläubig und amüsiert zusahen.

Mein Vater lachte gönnerhaft über ihre Bemühungen, die „Franzosen zu reformieren“, wie er es nannte. Das machte Mama natürlich nur noch wütender. Meine Großmutter sah Mama als das schwarze Schaf in einer ansonsten einwandfreien Abstammungslinie an, und mehr als einmal hörte ich, wie sie meinem Vater zuflüsterte: „Mon Dieu, Jean-Baptiste, sie wird noch den ganzen de Bonnery-Clan ruinieren. Kannst du nicht irgendetwas tun?“

Papa hielt seine Mutter dann mit einem schnellen bisou auf die Wange bei Laune und sagte nur: „Maman, ich habe sie geheiratet, weil sie so viel Feuer hat. Glaub mir, das wird uns eines Tages noch nützen.“

Er behielt recht. Mamas Feuer half mir durch die ersten Schultage in Amerika – ob ich wollte oder nicht.

* * *

Über Nacht war es Oktober geworden und einige Blätter, die der Wind auf den Straßen umherblies, hatten einen goldgelben Stich bekommen. Ich saß auf meinem Schreibtisch, sah aus dem Mansardenfenster und beobachtete das Treiben. Die Eichenblätter hatten fünf Finger und sahen aus wie eine Hand – wie die meines Vaters, groß und stark. Zum hundertsten Mal musste ich an Papa denken und ich rechnete damit, dass jeden Moment das Telefon klingeln und Mamie mir aufgeregt berichten würde, dass Papa, kurz nachdem ich aufgelegt hatte, durch die Pforte des Châteaus spaziert war.

Ich holte meinen Schatzkoffer heraus und hoffte, dass ich den alten Zeitungen, der Reißzweckendose, dem Füller, dem Comicbuch und den anderen Sachen neue Geheimnisse entlocken konnte, wenn ich sie nur berührte und hin- und herdrehte. Vielleicht würden sie mich ja doch zu Jean-Baptiste de Bonnery führen?

Aber stattdessen passierte etwas Eigenartiges, als ich sie mir einzeln vornahm. Je länger ich sie berührte, desto mehr musste ich an Eternity Jones denken – ihren langen, schlanken Körper, die schläfrigen Augen, das vorgetäuschte Desinteresse, die Art, wie sie mich Jake und Blithe als ihren neuen Freund vorgestellt hatte. Meine Wangen fingen an zu glühen und jedes Mal, wenn ich mich auf meine Suchstrategie konzentrieren wollte, drängte sich Eternitys Bild dazwischen.

Obwohl ich mich wehrte, obwohl ich Frankreich vermisste und mich kein bisschen an Amerika gewöhnen wollte und obwohl ich das Rätsel um das Verschwinden meines Vaters dringend lösen musste, kamen mir die Gedanken an Eternity ständig in die Quere und sorgten zu meiner Überraschung für ein wohliges Gefühl in der Magengegend. Ich hatte eine neue Freundin gefunden.

Das Klopfen an der Tür überhörte ich. Ich saß noch immer auf dem Fußboden vor dem offenen Koffer und träumte von Eternity, als Mama eintrat.

Schnell klappte ich den Deckel über meinen Schätzen zu. Nur Tim und Struppi lag noch offen da.

„Emile, komm! Das Frühstück ist fertig.“ Da sah sie Die schwarze Insel. „Du hast doch nicht etwa dieses Buch mitgebracht!“

„Doch, habe ich, Mama. Es ist ein Teil von ihm. Ich musste einfach. Nicht böse sein ...“

Sie setzte sich neben mich und zog ihren Bademantel zurecht, die schlanken Beine damenhaft seitwärts abgewinkelt. Dann drückte sie mit Daumen und Zeigefinger auf ihre Nasenwurzel und sah zu Boden. Das bedeutete wohl, dass sie Kopfschmerzen hatte. Nach einer Weile griff sie nach meiner Hand und drückte sie. „Natürlich musstest du es mitbringen.“

„Wann ruft Papa denn endlich an oder schreibt uns?“

Sie kaute auf ihrer Lippe. „Ich weiß es nicht.“ Mir schien, als drückte sie noch stärker auf ihre Nasenwurzel. Dann seufzte sie und sah mich an. In ihren hübschen blauen Augen standen Tränen. „Komm, Frühstück ist fertig.“

Als Mama gegangen war, stellte ich den Koffer behutsam zurück in den kleinen Stauraum, holte ihn aber gleich darauf wieder hervor. Ich hatte den Entschluss gefasst, Eternity einen meiner Schätze zu zeigen. Das machten Freunde doch so, oder nicht? Einander Geschichten erzählen, Geheimnisse verraten und sich dem anderen anvertrauen? Ich schob Die schwarze Insel in den Stapel Schulbücher und eilte die Treppe hinunter.

Mama wartete in der Küche auf mich. „Dir wird es an der Northside High bestimmt bald gut gefallen. Glaub mir. Es wird dir viel leichterfallen dort zurechtzukommen als in diesem verrückten französischen Schulsystem.“

Ihr Kommentar war ganz unschuldig gemeint, aber meine Ängste um Papa und all meine Wut über mein verlorenes Frankreich explodierten in einem Schwall Französisch.

„Mama, ich bin Franzose. Die Schule in Lyon sah für dich vielleicht schwer aus, aber für mich war sie ganz normal. Ich war ganz normal! Aber hier bin ich immer anders! Ich bin der Kleinste. Ich rede komisch. Was soll mir denn da leichterfallen? Hast du darüber mal nachgedacht? Aber das ist ja das Problem: Du hast nicht nachgedacht. Und damit du es weißt: Ich wünsche mir jeden Tag, ich wäre wieder zu Hause.“ Ich beendete meine Schimpftirade mit einem Sprühnebel aus Milch und aufgeweichtem Kindermüsli.

Mamas Wangen wurden hellrot und ihre Augenbrauen zogen sich zusammen. „Ach, Emile ...“

Ich ließ sie nicht ausreden. „Ich muss noch Zähne putzen und die Bücher holen. Der Schulbus kommt gleich.“ Wütend warf ich meine Schüssel ins Spülbecken, lief zur Treppe, nahm zwei Stufen auf einmal und ging ins Bad. Dort stützte ich mich aufs Waschbecken, starrte in den Spiegel und rief: „Ich will nach Frankreich. Ich hasse Amerika!“

Aber die ganze Zeit war mir so, als würde ich im Augenwinkel Eternitys langen Zopf sehen.

* * *

Die erste Stunde war immer noch von Ace und Billy und Teddy überschattet, die mich Baguettchen nannten und mir Schläge auf den Hinterkopf gaben. Als Nächstes kam Biologie, eine Stunde der Schreckensqualen, in der ich die Jungfrau Maria anflehte, den Lehrer bloß davon abzuhalten, mich etwas zu fragen. Griffin saß neben mir und flüsterte mir Antworten zu, die ich nicht verstand. Zum Glück überlebte ich die Stunde, ohne meinen Mund aufmachen zu müssen, und wertete das als großen Erfolg und Gebetserhörung.

„Bis später, amigo“, sagte Griffin auf dem Weg nach draußen. Seine schwarzen Haare hüpften bei jedem Schritt. Ich sah ihm nach und war fast neidisch auf seine sympathische Selbstsicherheit.

Die nächste Stunde hieß „Study Hall“ und bedeutete, dass ich in der Schulbibliothek Hausaufgaben machen sollte. Ich hatte gerade meine ganzen Bücher auf einen Tisch fallen lassen und mich hingesetzt, als Eternity auf den Stuhl neben mir glitt.

„Ich wusste gar nicht, dass du jetzt auch Study Hall hast“, sagte ich.

„Jetzt weißt du’s.“ Dann flüsterte sie: „Psst, hier ist nur Bibliothekslautstärke erlaubt.“

„Und was heißt das?“

„Flüstern.“

„Oh.“

„Wie lebt es sich eigentlich in einem Château?“, fragte sie einen Augenblick später, natürlich leise.

Ich dachte nach. „Keine Ahnung, so, wie in allen Châteaus. Aber für mich hat es sich immer so angefühlt, als würde ich den teuren Anzug meines Vaters aus den Fünfzigerjahren anziehen. Altmodisch, viel zu groß für mich und überhaupt nicht bequem.“

Zum ersten Mal gingen ihre Augen weit auf und sie grinste. „Also ist es gar nicht so herausgeputzt wie das Schloss Versailles?“

„Überhaupt nicht. Mein Vater sagte früher immer, dieses Haus sei der schlimmste Klotz am Bein. Er hätte es sogar mit Verlust verkauft, aber er hatte Angst, dass Mamie Madeleine das nicht verkraften würde. Das Château ist schon seit, äh, bestimmt Jahrhunderten in Familienbesitz. Na ja, jedenfalls hat er es nicht verkauft. Manche Zimmer sind ganz feucht und kalt und im Winter geht man da erst gar nicht rein, sonst wird man depressiv.“

Grandma Bridgeman war mit mir durch ein paar schicke Wohnviertel in Atlanta gefahren, also ergänzte ich: „Es ist nicht so wie hier, so gepflegt.“

Insgeheim hoffte ich, Eternity würde mich eines Tages zu sich nach Hause einladen. Ich konnte mir ihr Haus schon vorstellen: weiß, groß, vielleicht sogar eine „Mansion“, wie die Amerikaner sagten, ein gutes Stück von der Straße entfernt und mit einem perfekt gemähten Rasen, der von hohen Eichen gesäumt war. Innen war das Haus mit allem gefüllt, was mir beim Wort Kultur einfiel.

Ich kämpfte mit einem Matheproblem, gab jedoch nach kurzer Zeit auf und lief zu dem Regal mit dem Schild „World War II“. Dort zog ich ein Buch über die Invasion in der Normandie heraus. Eternity rutschte mit ihrem Stuhl näher und nahm das Buch mit mir zusammen unter die Lupe. Es gab viele Bilder: Omaha Beach, Sainte-Mère-Église, Arromanches-les-Bains, alles Namen, die mir genauso geläufig waren wie mein eigener.

„Weißt du viel über den Zweiten Weltkrieg?“, fragte sie und fügte schnell hinzu: „Ich meine, weil du in Frankreich gelebt hast und so.“

„Ja. Doch, ich weiß einiges.“

„Magst du Geschichte?“ In ihrer Stimme schwang Interesse mit, fast Begeisterung.

Ich zuckte die Achseln. „Nicht alles, aber den Zweiten Weltkrieg, die aktuelle Geschichte, eben das, was vor unserer Haustür passiert. Das schon.“

Ich betrachtete das Foto von den Bunkern bei Pointe du Hoc, in denen sich die Deutschen verschanzt und die alliierten Soldaten unter Beschuss genommen hatten, die die Steilküste hatten heraufklettern wollen.

Im Geiste war ich dort, mit meinem Vater, und wir sahen durch den Stacheldraht auf La Manche, den Ärmelkanal. Papa hatte mir die Hand über die Schulter gelegt und erzählte, wie die Alliierten gelandet waren. Dabei hatte er auf die graublauen Fluten gezeigt.

„Sie liefen geradewegs in den Tod, Emile, diese mutigen jungen Männer ...“ Er hatte sich geräuspert, ein tiefes, kehliges hmmm, hmm, hmm, und dann mit zusammengepressten Lippen still aufs Wasser gesehen. Seine Augen flammten auf und sein Brustkorb hob und senkte sich heftiger als sonst.

Ich hatte diesen Moment schon Dutzende Male wieder heraufbeschworen und durchlebt. Papa sieht aus, als wäre er damals hier gewesen, dachte ich jedes Mal. Als hätte er alles von hier oben aus beobachtet.

„Da war ich schon“, sagte ich nun zu Eternity.

„Echt? Du warst schon am Strand in der Normandie? Cool.“

Ich freute mich, dass die richtige Portion Bewunderung und Respekt in ihrer Stimme mitschwang.

„Wie lange ist das her?“

„Zwei Jahre. Ich war da mit meinem Vater.“

„Wow.“

„Wir standen genau da und haben über die Klippe geschaut. Und er hat mir erzählt, wie die Alliierten gelandet sind.“

Eternity setzte sich auf, als wäre ihr eine Idee gekommen. „War dein Dad dabei, als die Alliierten in der Normandie gelandet sind?“

„Nein.“

Sie sah enttäuscht aus. Als hätte ich auf diesen Moment gewartet, legte ich Die schwarze Insel auf den Tisch.

„Was ist das?“

„Ein Schatz“, sagte ich automatisch und merkte erst dann, wie kindisch das klang.

„Unglaublisch“, ahmte sie mich nach. „Was ist denn so aufregend an einem Comicbuch?“

„Ach, vergiss es“, knurrte ich mit rotem Gesicht.

„Emile, das zieht nicht. Jetzt will ich es wissen. Was ist so aufregend an einem Comicbuch?“

„Sag du es mir, du Zehnmalkluge.“

Neunmalkluge“, korrigierte sie mich.

Ihr konnte nicht entgangen sein, wie wütend ich war, aber sie ließ sich das nicht anmerken. Lässig warf sie sich den Zopf über ihre Schulter und griff nach dem Buch. „Hey, da ist ein Loch drin!“

„Was du nicht sagst!“

„Okay, tut mir leid. Erzähl schon.“

„Das war ein Geschenk. Zum Geburtstag, von meinem Vater.“

Sie verdrehte die Augen. „Na schön, ich geb auf. Wofür ist das Loch in dem Buch?“

Jetzt hatte ich ihre volle Aufmerksamkeit. „Mein Vater hat im Krieg gekämpft.“

„Welchem Krieg?“

„Dem Zweiten Weltkrieg natürlich, du Dummkopf!“

„Wieso ist das eine dumme Frage? Du hast mir gerade erzählt, dass er nicht in der Normandie war. Vielleicht hat er ja in Indochina gekämpft oder in Algerien? Vielleicht war er noch zu jung, um zur Armee zu gehen?“

„Er war nicht in der Armee, Fräulein Rechthaber. Er war in der Résistance.“

„Ah.“

„Du weißt, was die Résistance war, oder?“

„Ein bisschen.“

„Wie viel?“

„Vergiss es, Emile. Erzähl mir einfach die Geschichte.“

„Papa war zwölf, als die Deutschen Paris besetzten, im Juni 1940. Als der Krieg vorbei war, war er siebzehn. Und in den fünf Jahren hat er geholfen, eine Untergrundzeitung herauszugeben, jüdische Kinder zu verstecken und in die Schweiz zu schmuggeln, Züge in die Luft zu jagen, und noch mehr.“

„Im Ernst?“

„Natürlich. Er hat mir noch viel mehr Sachen geschenkt und jede hat ihre Geschichte. Jede, außer ... jede.“

Sie tat, als hätte sie meinen kleinen Fehler nicht gehört, schwieg einen Moment und flüsterte dann: „Ist mir eigentlich egal, welche Geschichte du mir erzählst, Hauptsache, du fängst endlich an.“

„Okay, wenn du darauf bestehst. Ich erzähle dir die erste Geschichte, die mir mein Papa erzählt hat, spätabends an meinem achten Geburtstag.“

* * *

Als ich die Geschichte von Die schwarze Insel, dem Springmesser, der traboule und der Flucht vor den Nazis beendet hatte, lehnte ich mich zufrieden zurück. Eternity gab sich die größte Mühe, unbeeindruckt auszusehen, aber dieses Mal gelang es ihr nicht. Nachdem mindestens drei verschiedene Gesichtsausdrücke über ihr sonst so gelassenes Gesicht gewandert waren, sagte sie schließlich: „Wie ist es denn in den traboules? Warst du schon mal da drin?“

„In manchen, ja. Es gibt Hunderte davon in Lyon. Das sind versteckte Durchgänge, die von einer Straße in die nächste führen. Die gehen richtig im Zickzack. Papa hat mir die gezeigt, die er während der Résistance benutzt hat. Die meisten sind ziemlich dreckig und in manchen wünscht man sich überhaupt keine Nase zu haben, weil es so schlimm stinkt. Außerdem laufen da herrenlose Katzen herum und Ratten huschen vorbei.“

Eternity zog die Nase kraus.

„Die traboules wurden im dritten oder vierten Jahrhundert gebaut, aber keiner weiß genau, warum. Unser Geschichtslehrer meinte, dass sie vielleicht ursprünglich dazu da waren, damit die Leute schneller Wasser aus der Saône holen konnten. Später konnten dann die Händler und Seidenweber ihre Waren von einem Ort zum anderen tragen, ohne nass zu werden. Aber so eine traboule kann sehr gefährlich sein. Was vielleicht wie eine Wohnungstür aussieht, kann in ein Labyrinth von schmalen Gängen führen, die sich zwischen den Gebäuden hindurchschlängeln. Nur ein echter Lyonnais weiß genau, wo er langgehen muss.“

Eternity sah beeindruckt aus. „Eines Tages zeige ich dir Lyon“, platzte ich heraus. „Dann kannst du dir die traboules und lauter andere interessante Sachen selbst angucken.“

Sie sah mich an, als hätte ich sie zu einem Spaziergang auf dem Mond eingeladen. „Wohl kaum.“ Dann inspizierte sie Die schwarze Insel. „Hast du das Springmesser?“

„Nein, nicht hier. Es ist in Frankreich.“

„Warum schenkt dir dein Vater ein Springmesser zum achten Geburtstag? Kein Vater würde das tun. Das ist doch echt gefährlich.“

Ich spürte, dass sie meinen Vater nicht ernsthaft kritisieren wollte, sondern nur sagte, was auf der Hand lag, aber ihre Worte versetzten mir trotzdem einen Stich. Ich verspürte das dringende Bedürfnis, die Ehre meines Vaters zu verteidigen. „Er hat es mir nicht gleich geschenkt, du Dummerchen. Ich durfte es nur anfassen. Und danach hat er es wieder versteckt, jahrelang.“

Ich hoffte, sie würde mich anbetteln, ihr mehr über das Messer zu erzählen, aber ich sollte lernen, dass Eternity Jones noch nie jemanden angebettelt hatte. Und bei mir würde sie damit nicht anfangen.

„Klingt ja sehr interessant“, sagte sie schließlich. „Hey, ich könnte doch einen Artikel über deinen Dad und die Résistance schreiben.“

„Nein, lieber nicht. Schreib einfach weiter über die Bürgerrechtsbewegung.“

„Warum denn nicht? Der Krieg ist doch fast zwanzig Jahre her!“

Ich wollte darauf nichts erwidern, aber es platzte aus mir heraus: „Wegen meines Vaters. Wegen seiner Sicherheit. Ich kann es nicht so gut erklären, aber ich glaube, er steckt in Schwierigkeiten. Deswegen ist er auch verschwunden, glaube ich.“

„Dein Vater ist verschwunden?“ Sie war wieder ganz bei der Sache. „Ehrlich? In was für Schwierigkeiten steckt er denn?“

„Ich bin mir nicht sicher. Aber die ganzen Sachen aus dem Krieg, die er mir gegeben hat, werden mir helfen. Damit werde ich es ganz bestimmt herausfinden.“

Sie rutschte noch ein Stückchen näher an mich heran und betrachtete das Comicbuch. „Du bist ein komischer Kerl, Emile. Glaubst du wirklich, das sind Hinweise auf deinen Vater?“

„Vielleicht.“

„Ganz schön weit hergeholt, oder? Das klingt eher nach Tim und Struppi.“

„Na und?“ Ich wünschte, das hätte weniger defensiv geklungen.

„Okay, na schön. Erzähl mir von deinem Vater.“

„Vergiss es einfach.“

Sie verdrehte ihre schläfrigen Augen. „Wie du willst.“ Dann fügte sie hinzu: „Erzählst du es mir irgendwann?“

Ich zuckte die Achseln.

„Weil wenn das stimmt ... na ja, das könnte eine sehr interessante Story werden. Denk doch nur an die Überschrift.“ Sie breitete die Hände aus, als würde sie eine Zeitung lesen und sagte mit perfekter Reporterstimme: „Französisches Mitglied der Résistance zwanzig Jahre nach Kriegsende gekidnappt. Ein Franzose, der als Jugendlicher Teil der Résistance war, verschwand vergangenen Mittwoch unter mysteriösen Umständen aus seinem Château in Lyon. Angaben seines Sohnes zufolge verfügt sein Vater über Wissen aus dem Zweiten Weltkrieg, das noch heute von Bedeutung ist.“

Einer meiner Mundwinkel wanderte nach oben – ein halbes Lächeln. Eternity lächelte zurück.

Wir saßen da, glücklich und entspannt; so entspannt, dass ich endlich den Mut fasste, Eternity zu fragen, was mir schon die ganze Zeit im Kopf herumgeisterte: „Warum haben dich deine Eltern eigentlich Eternity genannt?“

„Meine Mom meinte, dass es eine Ewigkeit gedauert habe, bis ich endlich geboren war, und mein Dad fand das ungeheuer lustig. Sagt ja einiges über seine Sensibilität aus. Jedenfalls nannte er mich gleich im Krankenhaus Eternity und so blieb es dann auch.“

„Ach so, also nicht, weil sie besonders religiös sind oder so was.“

Eternitys Augen wurden so schmal, dass sie wie ein glatter Strich aussahen, den jemand über ihr Gesicht gezogen hatte. „Du kennst meine Eltern nicht. Wenn doch, hättest du dir die Frage sparen können.“