Inhaltsverzeichnis

Tobias Sommer, Dritte Haut

E-Book

ISBN: 978-3-903061-01-9

 

© 2011, Septime Verlag, Wien

Alle Rechte vorbehalten

 

 

Lektorat: Daniela Jungmeyer

Umschlag: Jürgen Schütz

Umschlagfoto: Jan Bender

 

Printversion: Hardcover, Schutzumschlag, Lesebändchen

ISBN: 978-3-902711-08-3

www.septime-verlag.at

www.facebook.com/septimeverlag | www.twitter.com/septimeverlag

Tobias Sommer

 

wurde 1978 in Schleswig-Holstein geboren. Er veröffentlichte Erzählungen und Gedichte in Anthologien und Einzelpublikationen. Seine Lyrik und Prosa wurde mit Preisen und Stipendien ausgezeichnet. 2011 erschein sein erster Roman Dritte Haut. 2012 erschein sein zweiter Roman Edens Garten. 2014 erhielt er Tobias Sommer eine Nominierung für den Ingeborg-Bachmann-Preis. 2015 erscheint mit Jagen 135 sein dritter Roman.

 

 

Klappentext

 

Warum glaubt das Jugendamt, ich könne kein Hotel führen, nur weil die Ärzte behaupten, ich sei ein komplexer Fall? Warum glauben meine Betreuer, ich würde den Überblick verlieren, nur weil ich ab und zu die Zeit vergesse? Warum glaubt mein Vormund, ich könnte mich nicht um meine Gäste kümmern, nur weil ich ein Jagdgewehr besitze?

 

Ich werde aus dieser Absteige ein Hotel machen, meine Gäste beobachten und ihre Geschichte auf meinen Arm tätowieren, bis ich den Barcode für mein Leben habe!

 

Ich habe keine Zweifel – wäre da nicht der Junge, der meine Gedanken liest...

 

Tobias Sommers Ich-Erzähler ist ein geistig behinderter Geschichtensammler, ein paranoider Einzelgänger, ein tötender Nicht-Vegetarier.

Und er ist ein Hotelbesetzer

Während eines Integrationsprojekts übernimmt er ein verfallenes Hotel an der polnischen Grenze. Die wenigen Gäste, die nach einem Zimmer verlangen, siebt er nach einem komplexen Verfahren aus: Nur die Menschen, die ihm auf der Suche nach der Ursache seiner Krankheit helfen, dürfen bleiben. Das Herzstück seiner Suche sind die Geschichten seiner auserwählten Gäste. Geschichten über eine Lebensraumkünstlerin, über einen Russischen Bierbrauer, über eine Terroristin aus dem Baskenland, über einen Jungen mit Mondgesicht, der von seiner eigenen Beerdigung berichtet. Für jede Geschichte tätowiert sich der Erzähler einen Strich auf seinen Unterarm - einen Barcode, der ihm vollständig eingescannt seine Identität entschlüsseln soll. Der Roman Dritte Haut skizziert Figuren, die uns fremd erscheinen, nicht zuletzt der Erzähler selbst, der von seiner Idee besessen mit einem Jagdgewehr in der Umgebung herumstreift, doch je weiter er in die Hotelräume und die angrenzenden Wälder vordringt, desto deutlicher wird: Die Figuren sind uns nicht fremd! Und sie rücken an uns heran, viel näher, als wir denken, wie eine zusätzliche Haut, die wir nicht wagen abzustreifen.

 

Tobias Sommer

Dritte Haut

Roman | Septime Verlag

 

 

Sämtliche in diesem Roman handelnde Personen sind frei erfunden,

ebenso sind Ort und Zeit zufällig gewählt.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen

sind rein willkürlich und nicht beabsichtigt.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

... die absolute Unbewohnbarkeit

die uns noch bevorsteht

Friedensreich Hundertwasser

[Verschimmelungsmanifest]


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ERSTE HAUT

 

 

 

 

U n b e w o h n b a r.

Als ich dieses Wort zum ersten Mal hörte, der Hotelgast vor der Rezeption stand, den Schlüssel auf den Tresen warf und die Sauberkeit seines Zimmers anschaulich erläuterte, glaubte ich für einen Augenblick, es könnte die Antwort sein, die Erklärung, warum die Psychologen behaupten, ich sei ein komplexer Fall.

Komplex, eine zusammenhängende Gruppe von Vorstellungen, die ins Unterbewusstsein verdrängt worden ist und ständige Beunruhigung verursacht.

Es ist nicht mein Aussehen, der Umfang meiner Augen sprengt das Gleichgewicht in meinem Gesicht und die Ohren sind für einen Menschen, einen normalen Menschen, eindeutig zu groß. Ich bin komplex, Die drei Fragezeichen, Justus, Bob und Peter in einer Person, allerdings nicht so intelligent, Hänsel und Gretel, dem Ofen knapp entkommen, Dr. Jekyll und Mr. Hyde oder Tolkiens Sméagol, Gut und Böse unzertrennbar vereint. Die Frage, warum ich ein komplexer Fall bin, bleibt ungelöst, die Standardantworten –

die fehlende Vaterfigur, eine schreckliche Kindheit, ein traumatisches Erlebnis oder die falschen Drogen – greifen nicht. Mein Vater war so präsent in meinem Leben wie die Privilegien, die man als Einzelkind einer gutbürgerlichen Familie hat, das Träumen mit offenen Augen ist meine einzige Abhängigkeit und Erlebnisse gab es in meiner Kindheit viele, aber interessant waren nur die Such-den-Hund-Plakate an den Wänden der Kinderarztpraxen. Ich entdeckte zwischen neunundneunzig Katzen das schwarz-weiß gepunktete Jagdhündchen, noch bevor die Ärzte ansatzweise begreifen konnten, warum ein Junge in nicht definierbaren Abständen die Zeit vergaß. Die Zeit vergessen – ein komischer Ausdruck für das, was ich getan habe. Ich bin komplex, weil ich unbewohnbar bin. Diese Antwort gefällt mir, aber sie kann nicht die Lösung sein. Nur die Folge.


Das Zimmer ist unbewohnbar, Hundertwasser hätte seine Freude gehabt, sagte der Gast, er kannte zumindest den Auslöser für seinen Wutausbruch: Schimmel. Ich hätte gerne gefragt, wer Hundertwasser sei, aber mir war es nicht erlaubt, Fragen zu stellen oder meine Meinung zu äußern. Ich musste zufrieden sein, endlich besaß ich eine Aufgabe, ich durfte Schokoladentäfelchen verteilen, Papierkörbe leeren, benutzte Handtücher waschen und Fliesen polieren, die Zimmer durfte ich nicht reinigen. Aber ich beobachtete die Zimmermädchen, sie unterhielten sich und scherzten, während sie mit ihren grazilen Bewegungen die Betten bezogen. Wenn man eine Aufgabe bekommt, ist man dankbar, meine Ärzte nannten es personenzentrierte Integration. Man ist jedoch noch dankbarer, wenn man einen Plan hat.
Nach drei Tagen wusste ich, was Konzeptkunst ist und war fortan mein eigener Chef, der Besitzer von einem Hundertwasserhotel. Es hat keine schrägen Mauern, keine Steinmosaike an den Badezimmerwänden, keine Bäume im Foyer, deshalb trägt es nur in meinem Kopf diesen Namen, aber ich bin mir sicher, tief in seinem Inneren ist es ein echter Hundertwasser.

Mein Aufenthalt in diesem Haus beträgt bei guter Führung maximal zwanzig Monate. Einmal in der Woche sende ich der zuständigen Jugendbehörde ein Musterschreiben, und kein Sachbearbeiter ahnt, dass der eigentliche Hotelbesitzer, der freundlicherweise geistig behinderte Menschen für seine Zwecke ausnutzt, um diesen eine Eingliederung in die Gesellschaft zu ermöglichen, mit seiner Familie auf unbestimmte Zeit verreist ist. Denn ich bin nur eine Nummer, der Barcode einer beliebigen Ware, ein Strich zu dick, eine Lücke zu groß, und das System streikt, die optoelek-tronisch lesbare Schrift verpufft zu einem Wirrwarr aus unverständlichen Zeichen. Ich rief das Sozialamt an, mit der Bitte, meinen Strichcode zu eliminieren, ich verwendete wirklich den Ausdruck eliminieren, ich sollte weniger fernsehen. Die Sachbearbeiterin schluckte, ich verstehe Sie nicht, Ihren Namen und die Sozialnummer bitte.

Ich bin geistig behindert, dachte ich, sprach es aber nicht aus und erwiderte, mein Strichcode zeigt das falsche Wort.

Welches Wort?, wollte die nette Stimme am anderen Ende der Leitung wissen.

Error.

Freizeichen.

Dieser Ton hat etwas Endgültiges, finde ich, sie konnte nicht wissen, wie mühsam die Suche nach dem Code für mein Leben ist. In einem Werbespot, den ich auf dem Fernseher, der hinter der Rezeption versteckt ist, sah, bastelte ein Junge an dem Barcode einer Flasche, bis der Satz

I love you auf dem Display erschien. Erbärmlich, schimpfte ich und arbeite seitdem an meinem eigenen Strichcode, die ersten drei Balken zieren bereits meinen Unterarm.

Das Freizeichen zog wie das hohe Wecken aus einem Jagdhorn in den Innenraum des Foyers. Es störte niemanden, die Zimmermädchen beschweren sich grundsätzlich nicht, da sie der deutschen Sprache nicht mächtig sind, und der Koch, der den nächtlichen Eigentümerwechsel skeptisch beäugt hat, hat eine Woche Schonfrist, und ein Junge, dessen genauer Aufgabenbereich mir nicht bekannt ist, hinkt zwischen den Mülltonnen umher, er beobachtet aus sicherer Distanz das weibliche Personal. Er sieht aus wie ein Kind, sein Blick ist naiv und trotzig, als hätte er niemanden zum Spielen. Ich glaube nicht, dass der Bengel mir helfen kann, aber wenn ich ihn mir ansehe, speziell seine Beeinträchtigungen, zweifle ich; er soll bleiben.

Da unser Hotel fünfzehn Zimmer besitzt, zwölf Doppelzimmer und drei Einzelzimmer, ist die Auswahl der Gäste Chefsache. Du kommst hier nicht rein ist ein plakativer Satz, aber ich habe ihn geübt und werde ihn von mir geben, wenn es sein muss. Die Besucher, die ich auswähle, sind nicht diejenigen, die man erwarten würde. Das Hotel ist in einem renovierungsbedürftigen Zustand, aber an der Fassade, unter dem Namen, den kein Mensch aussprechen kann, befinden sich drei Sterne, sie suggerieren für diese Gegend, einen Vorort, man könnte sagen, einen Vorboten der polnischen Grenze, eine unüblich hohe Qualität. Dreieinhalb Sterne. Das ist die Businessclass, urteile ich, wobei, die zackigen Rangbezeichnungen sind aus Alufolie und Hartpappe gebastelt, und die günstige Lage ist eher relativ. Busse würden vor dem Eingang auf keinen Fall halten, selbst wenn sie wollten, es führen keine befahrbaren Wege zu dieser Unterkunft, das schäbige Gebäude liegt wie das vernachlässigte Beiboot einer Jacht vor der Stadt. Hier bin ich richtig, wusste ich auf den ersten Blick, ich bin geneigt zu sagen: Hier fühle ich mich heimisch. Für viele, die mit dem selbstsicheren Auftreten ihrer Persönlichkeit ein Zimmer fordern werden, wird eine Abweisung, und insbesondere von einem Menschen, der komplex und unbewohnbar ist, ein Schlag ins Gesicht sein. Ich möchte Gäste, die einen Strich auf meiner Haut würdig wären. Die bis vor Stunden anwesenden Besucher interessierten mich nicht, es waren nicht meine Gäste, selbst meine Eltern würde ich nach Hause schicken, zum Wohle aller, aber sie sind ebenfalls auf unbestimmte Zeit verreist und werden diesen Ort nicht finden.

Der Junge steht vor der Fensterfront, rückt das Schild mit der Aufschrift ZIMMER FREI, GEZ. HUNDERTWASSER in einen Sechzig-Grad-Winkel, er hat verstanden, blickt mich an und versucht etwas zu sagen. In seiner Hilflosigkeit sowie mit seinen Zuckungen, die in launenhaften Abständen durch seinen rechten Arm fahren, erinnert er mich an jemanden. Diese Erinnerung findet kein Bild, wird von den Fischaugen und einer unverkennbaren Kurve – ein Nasenbein wie eine Buckelpiste – unterstrichen und fordert ein Besinnen auf die Dinge, die mir vertraut sein sollten.

 

Zwei Werbepausen vor Mitternacht sind vergangen: Mein erster Gast erscheint.

Ich bin vorbereitet. Das Besondere beim Anblick der Person, die sich mit der Straßenbeleuchtung durch die Eingangstür schiebt, konnte ich Sekunden zuvor auf dem Fernsehbildschirm sehen. Die folgende Sendung ist für Personen unter achtzehn Jahren nicht geeignet. Ich ignorierte diesen Warnhinweis und entfernte die Plastikfolie von einem Fertiggericht, das ich in der Speisekammer gefunden habe. Thailändische Entenbrust. Das Fleisch schmeckte nach synthetischer Bordverpflegung. Ich begaffte das Treiben auf Kanal Nummer 5 und dachte, so muss Fliegen sein.

Es dauert, bis ich begreife, dass die freizügige Interpretation der weiblichen Anatomie nicht aus gebührenpflichtigen Pixelpunkten besteht, sondern vor meinen Augen leibhaftig wartet. Das Blau ihrer Jeans ist an ihren Rundungen ausgewaschen, ein Knopf hält ihre Bluse einen Fingerbreit über dem Bauchnabel zusammen, eine türkische Kette auf ihrer Brust versperrt die Sicht, ihr BH ist schwarz, wie ihre Augen. Sie lächelt nicht, ihr Zeigefinger befiehlt auch kein näheres Herantreten, ich möchte ein Zimmer, sagt sie, mehr nicht.

Ein Einzelzimmer?, fragt der Junge, natürlich ein Einzelzimmer, bestätigt er sich selbst, drängelt pfeifend hinter meinem Rücken und legt einen Schlüssel auf den Tresen, die Frau beachtet den kleinen Bastard nicht.

Müde, todmüde sehen Sie aus, triumphiert seine Stimme. Er ist genauso groß wie ich, gleichwohl verbiete ich ihm diesen Übermut mit einem Tritt gegen seinen Knöchel. Sie nimmt den Schlüssel, pustet eine Haarsträhne zur Seite und blickt mich an, länger als es üblich ist zwischen Fremden, sie sieht tatsächlich erschöpft aus.

Die zweite Etage besteht aus zwei Zimmern: einem Abstellraum, in dem der Junge eine Matratze zwischen den Utensilien der Putzfrauen platziert hat, und dem Zimmer Nummer 15. Während mein Gast die Treppe hinaufsteigt, kritzelt der Junge ins Gästebuch, baut aus Streichholzschachteln eine Zitadelle um einen Stapel zerlesener Zeitungen und merkt: Meine Blicke töten ihn regelrecht. Es sind meine Augäpfel, die mit ihrer Ausrichtung seine Lebenszeit verkürzen sollen, meine Hand zuckt nicht, ich kann nur vermuten, ob es ein Schachzug von ihm war, ihr das Zimmer Nummer 15 zu geben.

Der Junge schaut auf die Wanduhr, der Schatten seiner Nase spiegelt sich im Glas, konkurriert mit dem großen Zeiger, heller Bartflaum wuchert über seiner Oberlippe, er tut mir leid, seitlich betrachtet. Sein Kinn wippt im Takt des Sekundenzeigers, warum diese Eile, möchte ich ihm zurufen, ein Reflex zieht von der Schulter bis in sein Handgelenk und bricht mit unglaublicher Kraft ein Streichholz. Ich lege meine Hand auf seinen Schulterknochen, will seine überschüssige Energie aufsaugen, behutsam, wie auch eine Mutter immer eine Seelsorgerin sein muss. Mit zwei Schritten entzieht er sich meiner Zuneigung.

Du hast Zeit, sie ist länger unser Gast, viel länger, sage ich, aber der Junge ist verschwunden. Das Hinterherziehen seines rechten Beines ist hörbar, es kriecht die Etagen nach oben.

 

Mit zwei Orangen und einer Reis-Huhn-Kombination in den Händen klopfe ich an ihrer Tür. Sie öffnet ruckartig, ihre Augenlider sind halb geschlossen, ein Herrenunterhemd zeichnet auf ihrer Brust eine Landschaft, die ich nicht erträumte, noch nicht.

Abendbrot, wenn Sie möchten.

Danke, das ist lieb, sie mustert meine Füße, nackte Zehen in Gummilatschen. Sie steuert ihren Blick ohne anzuhalten nach oben und biegt vor meinem Kinn ab.

Danke, ich nehme das Obst.

Die Orangen sind mir, in ihrer unabwendbaren Form, peinlich. Die Frau lächelt, schüchtern, nur mit den Augen, als sei sie mir etwas schuldig. Ich zwinge mich, nicht nachzudenken, ich darf die Möglichkeiten nicht durchschauen, die mir geboten werden; und gleichzeitig muss ich mich konzentrieren, um meine Körperfunktionen im Zaum zu halten. Die Auflösung aller Zwänge siegt und hinterlässt eine weitere Folge, den Nachteil, die Wahrheit sagen zu müssen.

Sie werden beobachtet, die Wände sind mit Löchern und Ritzen übersät.

Ihre Lippen verziehen sich, wenn es ein Schmunzeln ist, ist es ehrlich. Sie gähnt und streckt ihre Glieder, wie eine Madonna, Munch hätte sie nicht brillanter malen können. Ich sehe an den Wänden in Zimmer Nummer 15 die Farben der Hotelhandücher. Das Mondlicht fällt gegen das Karomuster der Tücher, die vor dem Wandspiegel hängen, und erstickt in seiner eigenen Bahn. Mein Gast schließt zögerlich die Tür, und ich erkenne zeitgleich mit dem Einrasten des Schlosses rechts von mir eine kindliche Fratze.

 

Ich suche die Bestätigung meiner Vision im Nebenraum. Die Matratze ist unbewohnt. Überall Männermagazine ohne Sportteil, leere Verpackungen, die ich zuletzt in der Speisekammer gesehen habe, und PET-Flaschen mit Max- und Zero-Aufdrucken. Der Oberkörper des Jungen ist nach vorne gebeugt, sein Kopf gegen die Mauer gelehnt, die Finalszene in einem Horrorfilm, aber es geht ihm gut. Zu gut, vermute ich und beneide ihn um dieses Gefühl, diese Erregung, die man seinem Körper ansehen kann. Ein Loch in der Wand, nicht größer als eine Centmünze, passt sich der Augenhöhle an; ich orientiere mich in Zimmer Nummer 15: vier Wände, die Fensterfront, das Einzelbett, der Nachttisch und irgendwo mein Gast. Ich höre Wasserstrahlen, die gegen die Kabinenwände der Dusche prasseln, und stelle mir vor, wie sie über ihren Körper gleiten und sich mit Badeschaum vermischen, ich wünsche mir den Duft von Lavendel.

Ein Lippenblütler, flüstere ich dem Jungen ins Ohr und freue mich über die Schönheit dieses Wortes, es klingt vertraut, wie der Geruch von frisch gewaschener Bettwäsche. Der Junge sitzt plötzlich hinter mir, blättert in den Zeitungen, jeder Seitenwechsel ein Schlag, durchdringend wie das Schnalzen mit der Zunge.

Das Wort kenne ich nicht, seine Stimme verschluckt die Silben, er prahlt: Sie ist eine Hure.

Beleidige nicht meinen Gast, brülle ich, sein Körper zuckt schon wieder vor Freude, er wiederholt, Hure, Hure, in der Tonlage eines wohlbekannten Liedes.

Sie ist schön, er blättert weiter, ohne aufzusehen, mit der Gewissheit, dass ich auf den Kausalsatz warten werde, warten muss.

Sie hängt die Spiegel in ihrem Zimmer ab, obwohl sie schön ist, verstehst du?

Ich verstehe nicht, hasse Rätsel, mein Leben ist ein Rätsel, aber das brauche ich ihm nicht zu erklären, ich drohe, mit dem Kaugummi, den ich aus meiner Hosentasche krame, das Loch zu stopfen, für immer, aber er schmunzelt.

Ich schaue in jeden Spiegel, um den Anblick zu ertragen, meine Art festzu..., er schnauft, ballt die fehlende Luft in seiner Faust zusammen, nimmt Anlauf und stößt die Reste des Satzes aus seinem Mund: festzustellen, dass ich da bin.

Ich fordere ihn auf, wenn du mir nicht sagst, was du damit meinst, wirst du verreisen.

Auf unbestimmte Zeit, ergänzt er mit einem Grinsen, das durch jede Rasterfahndung fallen würde, sie kann sich im Spiegel nicht ertragen, weil sie schön ist. Zu schön.
Meine Fingerkuppen berühren die unreine Haut an meinem Hals, wollen zudrücken und verstecken sich dann doch.

Schönheit blendet, spricht er unter Einsatz aller Gesichtsmuskeln, und Schönheit verblendet.

Ich presse meine Brustwarzen gegen die Wand, wäre ich aufmerksam gewesen, hätte ich das Öffnen der Schiebetür hören müssen, Jäger arbeiten wie Tiere, mit Instinkten, die wachrufen und beleben, eine stabile Seitenlage für das Unmenschliche. Gleich wird Schwitzwasser in zarten Tropfen auf den Fensterscheiben eine feine Dampfschicht trennen und mein Gast sich zeigen, schwärme ich, vielleicht ist sie nur mit einem Handtuch bekleidet, eventuell sogar nackt, und auf dem Nachttisch das Abendbrot. Mein Unterleib schrubbt an der Wand, sucht Stabilität, das Wort Raufasertapete fällt mir ein, und ich höre eine Türklinke nach oben schnellen.

Wir werden alle verreisen, stänkert der Junge.

Nervensäge, nicht jetzt, kontere ich und in dieser Haltung, angespannt und doch innerlich zerrissen, bin ich bereit zum Abflug: Da ist sie.

Sie wirft ihr Handtuch zum Trocknen über einen Stuhl, mit der rechten Handfläche zerdrückt sie Wassertropfen und verteilt die feuchten Schichten auf ihrer Brust, über den Bauch die Schenkel hinunter. Sie geht zum Fenster, fixiert die Mülltonnen im Hinterhof, mein Fahrrad, das an der Hauswand lehnt, eine Vogelfeder auf dem Kiesweg oder den Himmel, sie ist ein Traum, zweifelsohne. Sie streckt ihre Arme seitlich aus, und das Bild der Madonna taucht noch einmal in meinem Kopf auf, wenn es keine Ekstase ist, muss es Provokation sein. Als erahne sie meine Überlegungen, beginnt sie auf den Fußspitzen vorwärts und rückwärts zu tippeln, ihre Hüfte weicht den Bewegungen aus, ein Tanz, der improvisiert erscheint, aber nicht jungfräulich, die Arme hängen nach unten, wie ihre Mundwinkel. Sie tanzt um das Bett herum, bleibt stehen und wendet den Kopf in meine Richtung. Sie hat den Fehler in der Tapete erkannt. Das Bullauge im Rumpf meines Schiffes. Unberührt steht sie da, den Blick am Loch vorbei, und in einem mir nicht verständlichen Takt tanzt sie weiter, präsentiert sich, es ist nichts zu korrigieren, auf Pupillengröße gebündelt: die gottgemachte Beschaffenheit ihrer Weiblichkeit.

Einen halben Tag, drei Erektionen und ungezählte Weckrufe später: Der Junge hampelt vor meinem Bett herum.

6.00 Uhr, unser Gast, Vollpension.

Auch das Frühstück befindet sich portioniert unter Plastikfolie: Marmelade, Weizenbrot, Schimmelkäse. Der Chef muss Kontakt zu einer Fluggesellschaft haben. Frühstück ab 7.30 Uhr, sie ist pünktlich, schaut mich an, setzt sich, öffnet die Verpackung mit einer Ruhe, so dass das, was letzte Nacht geschehen ist, in der Bedeutungslosigkeit zwischen Bavaria blu und Erdbeerkonfitüre untertaucht.

Frag sie doch, schnattert der Junge, lehnt seinen Kopf auf meine Schulter, wühlt in meiner Hosentasche und findet den Kaugummi, vielleicht schläft sie mit dir.

Später, erwidere ich, er kaut meine Drohung, übertrieben, wie die Silben, die beim Sprechen an seiner Zunge kleben bleiben, Hubba-Bubba-Duft zwischen uns.

Die Kaubewegungen ziehen flüssig durch seinen Kiefer, und mit dieser Leichtigkeit stellt er sich vor dem Tisch meines Gastes auf, ich stehe hinter ihm, lausche seinen Fragen, und die Wärme steigt mir ins Gesicht.

Sie wollen nicht lange bleiben, Sie kommen aus Osteuropa, Sie sind eine Hure?

Es folgen drei Antworten von ihr, die von jedem Charmegefühl befreit aus einem Wort bestehen: ja.

 

Der zweite Tag, der zweite Gast, eine Zahlenkette beginnt mit dem Vergessen von Unregelmäßigkeiten.

Die Haare auf dem Kopf des weiblichen Gastes sind über dem zehnten Millimeter gekappt, mit Hairwax gefügig gemacht und in alle denkbaren Winkel gerichtet. Ich habe aus meinen Fehlern gelernt und lasse sie im Gästebuch Eintragungen machen: Name, Anschrift, Bankdaten und Beruf. Erst nachdem ich das Letztgenannte gelesen habe, entscheide ich mich: Sie bekommt einen Schlüssel. Um sicher zu sein, habe ich sie gefragt, ob sie nicht in Wirklichkeit arbeitslos sei, denn wer, wenn nicht eine hauptberuflich Suchende, könnte mein Finden erleichtern? Ihre Haare rühren sich nicht, als ihr Kopf zustimmend nickt, sie bekommt das Zimmer Nummer 3, ohne Löcher.

Eine Künstlerin, sagt der Junge, während er die Einträge nachzeichnet, er fragt, welche Form von Kunst machen Sie?

Sie deutet mit dem Finger auf das Buch – habe ich doch geschrieben, ich suche.

Ich hake nach: Was suchen Sie?

Lebensräume, antwortet sie zielsicher und verabschiedet sich auf ihr Zimmer.

Mir ist ein Fehler unterlaufen.

Ein Denkfehler, den nur Behinderte machen, höre ich den Jungen lästern.

Ich bevorzuge weibliche Gäste bei der Verteilung der Zimmerschlüssel, denn Männer sind primitiv strukturiert und selten komplex, nur von den Wirrungen einer Frau verspreche ich mir einen weiteren Strich. Und nicht von durchschaubaren Geschöpfen. Doch sind es nicht die einfachen Dinge, die die komplizierten erklären? Vielleicht hätte ich der Künstlerin das Zimmer mit dem Zusatzraum, den man über einen begehbaren Kleiderschrank erreicht, geben sollen. Aber freie Auswahl hat niemand.

Nicht einmal Reiseziele kann man sich aussuchen, brüllt der Junge. Ich wusste nicht, dass er Gedanken lesen kann, und möchte seine Fähigkeit testen. Das Erste, was sich aus meinen Überlegungen formt, ist das Haus meiner Eltern, eingepflanzt in eine kommunale Wohnungsbausiedlung. Ich sehe die vorgeschriebene Granatfarbe der Dachpfannen, die kubistischen Einheitsformen der Fassaden und geräumige Dielen, aber keine Einzelzimmer. Der Gedanke ist zu lang für einen Gedankenleser, schätze ich, aber ehe ich es erneut versuche, poltert er los, du möchtest suchen, mit ihr, diesen Raum! Du hast doch einen, sein Brustkorb hebt sich und seine Augenränder strecken sich zu zwei fast runden Kreisen.

Was?, schreie ich und kenne im gleichen Augenblick die Antwort: einen Generalschlüssel.

 

Ich stehe auf dem Balkon, weit vor mir Pkws, in denen Familien, Pendler oder Autodiebe hocken, ich habe keine Ahnung, ob sie fahren oder fliehen, die Künstlerin ist geflohen, vermutlich in die Stadt. Ich gebe uns eine Stunde. Im Badezimmer finde ich neben einigen Proben afrikanischer Hautlotionen ein Stück Kernseife und an den Wänden ordentlich aufgehängte Handtücher. Ihre Reisetasche wartet auf einem Blumenschemel im Flur, ich öffne sie nicht, denn der Strichcode auf meinen Fingern ist registriert, keine Anfängerfehler. Auf dem Tisch entdecke ich zwei Bücher, die Gebrauchsanweisung für eine Videokamera und ein kleines Buch, dessen Titel ich nicht aussprechen kann, ich meide Dinge, deren Namen auf meiner Zunge stolpern würden.

Richtig, da kann man sich nur blamieren.

Diese Feststellung krabbelt mit dem Jungen unter dem Bett hervor, Staub reflektiert die Sonnenstrahlen auf seiner Visage, als wolle er mit einer Kopflampe in die dunkelsten Ecken vordringen.

Ich gehe auf den Balkon zurück, der Junge folgt mir, geradlinig, als müsste ich eine Nabelschnur trennen.

 

Was machen Sie hier?, ihre Stimme klingt gereizter, als ich es erwartet habe. Die Künstlerin steht vor mir in einer mit Farbe bespritzten Arbeitshose und in einem mit Knoten und Ziehfäden übersäten Wollpullover, darüber ein palästinensisches Freiheitstuch – hat sie sich umgezogen, oder sind es die gleichen Klamotten wie vor einer Stunde beim Einchecken, ich muss achtsamer werden.

Ich gieße die Blumen.

Diese Begründung muss ihr genügen. Sie zündet sich eine Zigarette an, zieht den Rauch tief zwischen ihre Lungenwände, ich will die Chance nutzen und frage, wonach suchen Sie wirklich?

Räume.

Ihre Antwort, abgenutzt wie die Zigarettenglut, die sie in die Blumenkästen ascht.

Räume, die ich verändern kann, bis sie ihre Abhängigkeit verlieren, oder Räume, die bereits ihre Selbstständigkeit erlangt haben.

Was interessiert Sie daran?, frage ich, ohne sie zu verstehen.

Die Menschen, die die Autonomie abgeben.

Der Wind erfasst ihre Antwort und die Rußpartikel vor ihrer Stirn, ich sehe ein, Unbewohnbarkeit ist eine Art von Autonomie, und hoffe, dass der Junge, der unter dem Balkon sitzt, seinen Kommentar verschweigt.

Sie filmen sie, wollte ich nicht sagen, aber ich bin zu langsam und beiße mir auf die Unterlippe, ohne Rückstände zieht der Schmerz in mein Zahnfleisch.

Ja, oder fotografiere sie, oder ich knete, sie grinst, ich frage nicht, Wachsfiguren waren schon als Kind nicht meine Stärke. In ihrer Hand eine bunt bemalte Teetasse. Dampf steigt nach oben und verdeckt ihr Gesicht. Sie legt ein Stückchen Kandis auf die Kante ihrer Tasse, lässt den eckigen Kristall fallen und nimmt einen Löffel aus ihrer Hosentasche, sie blickt auf die Schaufelfläche, als betrachte sie ihr Spiegelbild. Ich spüre die Gewissheit, dass sie nicht mit der Zeit spielt, sie ist sich ihrer Überlegenheit bewusst, auf eine arrogante Art, die in mir einen Reiz erzeugt, den ich nicht wiedererstehen kann, ich muss weiter nachhaken. Aber sie kommt mir zuvor: Bist du schon einmal an einem anderen Ort aufgewacht, ohne zu wissen, wie du dahin gekommen bist?

Nein, ich denke nicht.

Richtig, du vermutest es, aber ein Nachtwandler kehrt in der Regel in sein Bett zurück und weiß tags darauf nichts mehr von seinen nächtlichen Aktivitäten oder interpretiert diese als Rückstände von einem Traum.

Wie das Meer nach jedem Wellengang Sand, Tiere und bewohnte Muscheln zurücklässt, flüstert der Junge unter dem Balkon. Die Künstlerin nickt, lächelt, und mit der Freude über diesen schönen Vergleich beginnt sie freizügig zu plaudern: Als meine Eltern gestorben sind, erst mein Vater, kurze Zeit später meine Mutter, studierte ich in München, ich habe mein Studium abgebrochen und bin an meinen Geburtsort zurückgekommen, in das Bauernhaus meiner Eltern. Das Haus ist über hundert Jahre alt, von meinen Urgroßvätern gebaut, von den Nachfahren umgebaut, renoviert und erweitert. Viele Räume bekamen neue Funktionen. Ich habe mich als kleines Mädchen nie für die Bauarbeiten interessiert. Und in der dritten Nacht alleine in diesem Haus, sie hält inne, in ihrer Augenpartie zeichnet sich eine Empfindung ab, die sie auf eine merkwürdige Weise zu erfreuen scheint, in der dritten Nacht wachte ich im Keller auf. Ich erinnere mich an die Angst, ich hatte das Gefühl, es dauerte Minuten, bis ich den Lichtschalter fand.

Der Junge unter dem Balkon kann sein gefährliches Halbwissen nicht verschweigen und schwafelt, Nachtwandler nehmen in einem Zustand zwischen Tiefschlaf und Aufwachphase ein Licht wahr und steuern darauf zu, oder sie führen Vorgänge, die sich im Inneren automatisiert haben, aus, der Gang zum Klo oder das Bedienen der Kaffeemaschine.

Genau, die Künstlerin nickt anerkennend, und ich rechne mir ernsthaft Chancen aus.

Ich habe nach diesem nächtlichen Vorfall, der nicht der letzte war, Skizzen der Räumlichkeiten gefertigt und eine Videokamera installiert.

Verstehe, dein Haus als Kunstsujet, unterbreche ich sie, und was hast du auf den Aufnahmen gesehen?

Nicht viel, ich schlafe, wende mich gelegentlich, Träume durchzucken meinen Körper. Nach meiner ersten Wanderung bin ich drei weitere Male außerhalb meines Bettes aufgewacht, in einem anderen Raum im Untergeschoss, auf dem Heuboden in der hinteren von insgesamt vier Scheunen ich muss im Nachthemd minutenlang über den Hof stolziert sein und in einem Abstellraum, der nicht einmal in meiner Skizzensammlung vermerkt war. Sie schwenkt die Teepfütze in ihrer Tasse, atmet tief, dieses letzte Erlebnis ist es, was mich dazu bewegt hat, das mir praktisch keine andere Wahl ließ, in meinem Haus meine Kunst zu verwirklichen, denn nur dort kann es als Gesamtkonzept wahrgenommen werden.

Gesamtkonzept?, ich ahne, das, was sie mir erklären will, könnte mir helfen, es zu verstehen: mein Hotel, die Räume um mich herum, mich selbst.

Ich habe das Haus, seitdem die Aufgabe in mir gereift ist, umgebaut, erklärt sie, ich habe es verkleinert und gleichzeitig anderenorts vergrößert, ich habe Wände gestürzt und neue gesetzt, Löcher geschlagen und Durchgänge, Verbindungen und Sackgassen geschaffen, ich habe Treppen abgerissen und wieder aufgestellt, Dreck verschachert, Decken zerstört und heruntergezogen, Böden verändert, Fliesen zerschlagen und Strippen gezogen, elektrische und nicht elektrische, ich habe die Dicke der Wände verändert kann man in einem Raum die Stärke der Wände spüren? Ich habe Fenster zugemauert, Fenster eingesetzt, Wände vor Fenster und Fenster vor Wände gebaut, und so zwangsläufig Räume geschaffen, ich habe Türen verschoben, Türen vor Wände und Wände vor Türen gesetzt. Ich kann mich nicht an alle Veränderungen erinnern, und das ist gut, das Haus lebt, ist sein eigenes Kunstwerk, sie gleitet mit dem Zeigefinger über ihre linke Augenbraue, ein dezenter dunkler Federstrich.

Zu viele Veränderungen, sagt der Junge, zu viele Veränderungen im eigenen Haus, wiederhole ich und bedanke mich bei der Künstlerin, Sie haben mir sehr geholfen. Ich verabschiede mich und wähle als Rückweg den Sprung über die Balkonbalustrade.

 

Ich setze mich auf eine Holzbank und studiere das rotschwarze Klinkersteinmauerwerk von meinem Hotel und die genormten, rechteckigen Fenster, aus diesem Bau ein hundertwasserähnliches Werk zu machen ist lachhaft.

Perfekte Konturen sind unerträglich, glaubt der Junge zu wissen, er führt eine Bierflasche zum Mund, reibt mit der Handfläche über seinen Bauch und rülpst.

Ich habe mit ihr geschlafen, behauptet er, mit wem? mit der Hure.

Ich traue ihm nicht und verdränge die Vorstellung, dass er mit ihr geschlafen haben könnte. Nur die Rhododendronhecken vor dem Hotel könnte ich formen, vermute ich, aber der Kern wird bestehen bleiben, einem Kunstwerk fern. Der Junge drückt Daumen und Zeigefinger auf die Haut einer Pflaume, die er im Kies gefunden hat, und spielt mit dem Moment, wenn die Spannung der Fasern zerbricht. Er legt seine Flasche auf den Kiesweg, mit der Fußspitze seines gesunden Beines berührt er das Glas, schiebt sie unter die Flasche, ein Heber, ein Schuss, und der Spielball prallt gegen einen Baumstamm. Glassplitter und Bierspritzer landen auf seiner Nase.

Bravo, rufe ich, er wird mit der Künstlerin schlafen, nicht des Sex wegen, man könnte sagen, des Raumes wegen, er stimmt mir wortlos zu.

 

Zwei Gäste dinieren im Speisesaal. Zwei Frauen, die sich nicht ansehen, weil sie Rücken an Rücken sitzen. Ich schiebe den Jungen vor mir her, seine Sohlen schlürfen über die Fliesen, ich schiebe den Jungen und er schiebt den Dreck, der sich angesammelt hat. Pappe, Patronenhülsen und Essensreste. Die Frauen speisen nicht wie vornehme Damen, die kleinste Portionen auf ihr Besteck spießen und die Gabeln senkrecht zu den spitzen Mündern führen würden, meine Gäste verschlingen ihr Essen, ich höre das Heranrücken der Stühle, das Geräusch von Messerklingen, reibend auf Zinntellern, und das forsche Absetzen der Becher. Wir haben Zeit, denke ich, noch habe ich sie nicht vergessen.

Sie sind beide schön anzusehen, wie sie essen und trinken, wie sie arbeiten, im Geiste, auf ihre Weise. Ein Schirmchen aus Lamettastreifen, Kirschen in künstlichem Rot und Scheiben exotischer Früchte auf dem Gläserrand vertuschen das Wesentliche, ich sehe es, das Weiß um seine Iris herum glitzert. Hochprozentig.

Ich habe nichts getrunken, der Zigarettenrauch und meine Vorstellungen genügen mir. Ich stehe Stunden später wieder auf dem Balkon der Künstlerin, trainiere Fragen, die ich stellen werde, wenn sie erwacht, im Bett hinter mir. Sie schläft mit offenen Augen, die Lippen zu einem O geformt. Sie treibt traumlos, könnte man sagen, die Gucklöcher unter Wasser.

Ich wiederhole meine Übung und vergesse die Sätze sofort, als sie vor mir steht. Sie fragt nicht, was ich hier treibe, sie nimmt den ungebetenen Besucher als selbstverständlich hin, für Sekunden glaube ich, ihre Pupillen seien nach innen gekehrt, als hätte der Schlaf jede Möglichkeit von Farbe aus ihrem Körper gezogen. Ihre Hände schweben Millimeter über der Brüstung, ohne den Willen zuzupacken.

Die Geometrie der Menschen beginnt in den eigenen vier Wänden, behauptet sie.

Ich male mir aus, wie sie nackt vor Studenten, begeistert und dennoch fern, betäubt, wie unter einer Taucherglocke, diese Sätze spricht, die sie so, oder so ähnlich, Journalisten der Art, Kunsthallenkuratoren und anderen Personen, die Interesse heucheln, aufgesagt haben könnte. Hauptsächlich Studenten wird sie es vorpredigen, glaube ich, Studenten, die willig und formbar sind, die an den Idealismus im Aktivismus glauben, sie wird es genießen, obwohl sie betont, die Räume entfalten sich mit dem, der sie verändern will, und beengen denjenigen, der sie sein Eigen nennt.

Ich denke an den Jungen, der Gedanke verschmilzt mit den Wörtern der Künstlerin zu einer Synopse, und der Bursche antwortet unter dem Balkon kauernd, Sex, du willst Sex.

Die Künstlerin steht vor mir, den Blick auf den Trampelpfad gerichtet, sie argumentiert aus Überzeugung, da bin ich mir sicher und glaube etwas von dem Enthusiasmus zu spüren, von dem Mut, weiterzumachen, ich sehe sie vor mir, nackt in einem Hörsaal.

Aber die nächste These, die sie verkündet, folgt keiner Kunsttheorie, sie ist vielmehr der Ratschlag an einen neuen Hotelleiter: Junge, lass keine Journalisten in dein Haus.

Ich entscheide sorgfältig, versichere ich, aber der Junge unter dem Balkon will es genauer wissen: Wieso, von denen lebt ihr doch, ihr Künstler und Gestalter.

Die bringen nur Ärger, die Künstlerin verdreht ihre Augen, nur das Weiß ihrer Pupillen bleibt zurück, ein Kunstjournalist wollte mein Haus sehen, ich lud ihn ein und zeigte ihm alles, und jetzt glaubt seine Frau, dass ich …

Frauen, spottet der Junge dazwischen, Frauen.

Dabei müsste ich ihn hassen.

Wen?, frage ich.

Na, meinen Journalisten, Steve, ein ehemaliger Schulkamerad, als wenn ich mit ihm, die Künstlerin lacht geistesabwesend, ich müsste ihn eigentlich verachten, er hat meinen Bruder Lars auf dem Gewissen, zumindest glaubt er das.

Wie kann man einen Mord nur glauben?, der Junge klettert die Balkonbalustrade nach oben.

Steve und seine Klassengang haben meinen Bruder damals in der Schule gehänselt, nur wegen seinem Aussehen, so lange, bis er nicht mehr konnte, bis er sich im Dorfteich ertrank.

In einem Dorfteich ersoffen, der Junge kichert hinter mir, im Schatten der Markise.

So stand es in der Zeitung.

Die Augen der Künstlerin, halb geschlossen und im nächsten Moment weit aufgerissen, sind kreideweiß.

Aber er lebt, kombiniere ich aus den wenigen Informationen.

Ein Totgeglaubter, frohlockt der Junge, das wäre der perfekte Protagonist für ein Video.

Gut erkannt, die Künstlerin sieht durch mich hindurch, als fixiere sie einen Punkt am Horizont, Tausende von Metern hinter mir.

Das ist mein Plan, sagt sie, die Kameras sind vorbereitet, sie dreht sich auf ihren Fußballen um hundertachtzig Grad und geht vom Balkon ins Hotelzimmer, umrundet ihr Bett und die Reisetasche auf dem Fußboden und verlässt, ohne Vorwarnung, den Raum.

 

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ZWEITE HAUT

 

 

 

 

Dritter Tag, dritter Gast, es läuft.

Die Sympathie für den Besucher erklärt sich aus seiner Hässlichkeit, wobei er nicht abstoßend wirkt, vielmehr liegt es an einer Art von Unförmigkeit: Der Kopf ist aufgebläht wie eine Boje und die Arme sind viel zu kurz. Er marschiert trotz sichtbarem Übergewicht mit schlaksigen Beinbewegungen, als sei er der Augsburger Puppenkiste entflohen, auf die Rezeption zu, er hat ein Anliegen, es ist kein Wunsch, er sagt es bestimmend, mit einer Selbstverständlichkeit, die ärgert, das Zimmer Nummer 3 will er.

Unsere Lebensraumkünstlerin hatte heute Nacht um 0.33 Uhr das Hotel verlassen, grußlos und ohne Gepäck in ihrer Hand, sie hatte den Schlüssel auf den Tresen geworfen, der aufdringliche Duft von Deospray war durch das Foyer gezogen, und ich hatte begriffen: Das Zimmer wird umgehend einen neuen Besucher fordern.

Er ist es, schreit der Junge, Lars, der Klassendepp.

Ich erinnere mich an die Schwärmerei der Künstlerin und suche in der Stellung der Augen und in der Korpulenz der Nasenflügel und in jeder Pore der Haut von unserem Gast Beweise für die genetischen Regeln der Menschen. Der Junge führt in einer Langsamkeit, die mathematisch und physisch kaum zu rechtfertigen ist, unseren Gast eine Etage höher.

 

Ich zeige unserem neuen Gast seine Unterkunft. Das Zimmer Nummer 3 riecht nach Nachthyazinthen, am helllichten Tage. Neben der Stehlampe liegt ein Stapel Zeitschriften, auf dem ersten Titelbild das vermeintliche Traumhaus. Mein Gast wirft zwei Reisekoffer auf das Bett, Schmutz rieselt von der Tagesdecke. Ich stehe neben ihm, kontrolliere die Minibar, starre in die leeren Fächer, dann kann ich es hören. Mein Blick wandert von einer Ecke zur nächsten, ich begutachte die Kabel hinter dem Fernseher, verschiebe mit dem Fuß den Mülleimer, aber das Surren bleibt und bewegt sich mit mir. Mein Gast bindet unbeeindruckt die Vorhänge zusammen, sein Ignorieren stärkt meine Vermutung: Die Töne sind für ihn bestimmt.

 

Der Junge wartet im Flur, er kennt das Geräusch, bevor ich es imitiere, er lobt überheblich: Schlaues Kerlchen, dass sie eine Videokamera versteckt hat, hätte ich dir auch vorher verraten können. Und? Wo ist das Video?, fragt er, die Hände vor seiner Brust, als trage er ein goldenes Tablett.

 

Ich höre energisches Klopfen gegen unsere Eingangstür und stürme nach unten. Wenn das Leben in einer Abseitsfalle verankert ist, philosophiere ich, spürt man Schüsse aus dem Hinterhalt sofort. Mein nächster Gast steht hinter einer Milchkanne, aus der Kokardenblumen – Foyerschlampen, wie der Junge sie nennt – wuchern, seine Blicke sind auf mich gerichtet. Das Zucken im Oberarm wird er registriert haben, wie auch die Bewegungen meiner Lippen.

Ihren Namen, bitte!

Mein Name ist Ralf Zia, er geht drei Schritte aus seiner Deckung, Geschäftsreise, fügt er hinzu, abschließend, als sei damit alles geklärt. Ein Geschäftsmann ohne Aktenkoffer und in Freizeitkleidung löst Widersprüche in mir aus, Getränkeflaschen baumeln an seinem Rucksack und Schweißbänder umklammern seine Handgelenke. Das unstimmige Bild verschwimmt in seinen einzelnen Nuancen zu einem neuen Ganzen, dem ich unmöglich widersprechen kann, er bekommt das Zimmer Nummer 5, mit Blick auf die Handelswege.

 

Ich beauftrage den Koch, für unseren neuen Gast ein Menü zu basteln. Geschäftsleute haben ein zünftiges Essen verdient, rede ich mir ein, und außerdem ist die Schonfrist für den Küchenchef noch nicht abgelaufen.

Ich warte eine Anstandsstunde lang und wähle dann die Telefonnummer von Zimmer Nummer 5. Nach dem zweiten Klingeln vernehme ich ein zaghaftes: ja?

Marschverpflegung, brülle ich erleichtert, Ralf Zia reagiert souverän: Es ist 21.00 Uhr!

Rassolnik, spreche ich das nach, was mein Kantinenpächter mir mehrfach buchstabiert hat.

Danke.

Und Salat Fünf Jahreszeiten, ergänze ich.

Vier.

Ne, fünf.

Vier. Vier Jahreszeiten: Frühling, Sommer, Herbst, Winter.

Ich werde unsicher, hat mich der Koch angelogen, ein Scherz auf meine Kosten, seine Schonfrist verkürzt sich in diesem Augenblick auf vierundzwanzig Stunden.

Vergessen Sie den Westen, befiehlt der Junge an mir vorbei in den Telefonhörer, wir werden Sie in einer halben Stunde im Speisesaal begrüßen.

Okay, steuert der Geschäftsmann bei, ich nehme das Menü.

 

Der Koch hat den Speisesaal in Eigenregie umdekoriert, drei Tische und zwölf Campingstühle stehen in einer Reihe vor der Küchenluke, durch die man wie im Heizsystem einer Dampflok Kessel und Feuer sehen kann.

Hinter der Durchreiche stehen zwei Suppenteller, daneben zwei Löffel, immerhin deutsches Bundeswehrbesteck. Ich höre zwischen Rauschen russische Musik, zwischen männlichem Gesang das Reiben von etwas Hartem und zwischen dem Zischen der Behälter wieder deutlicher das Rauschen. Ich zähle die verbleibenden Stunden des Tages, bemühe mich, Wörter aus dem Krach zu filtern, und je länger ich Töne herauskitzele, desto leiser werden die Geräusche. Es ist still in den Nebenzimmern und auf den Fluren. Mein neuer Gast sitzt wartend und gelangweilt vor der Luke. Die Luft klebt feucht von Bratenfett an seiner Haut. Seine Finger spielen mit dem beschriebenen Pappdeckel von einem Bananenkarton, Chiquitas Copyright, seine Fingerkuppen berühren die Buchstaben, sie verwischen die Farbe, die Wörter sind kaum noch zu entziffern – aber deutsch:

 

 

 

SPEISEKARTE

Rassolnik

 

Salat Fünf Jahreszeiten

Winter

Frühling

Sommer

deutscher Herbst

russischer Herbst

 

Wodka

 

 

Ich gehe hinter einem Stapel schimmliggrüner Sitzkissen in Deckung, der Küchenchef naht, und noch ist er stärker als ich, körperlich gesehen.

Der Koch tritt mit dem Fuß gegen die Küchenschwenktür und schiebt sich in meinen Blickwinkel, in seiner behaarten Hand zwei Wassergläser. Der Gestank von Schweiß und Zwiebel rückt in meine Nase.

Sie sind der Chef?, der Geschäftsmann deutet einen Handgruß an.

Chefkoch, erwidert mein Angestellter, seine Antwort übertrieben gedehnt, als wäre sie ein Schlüsselwort.

Das Essen wird kaum genießbar sein, urteile ich, wenn der Koch schon unappetitlich ausschaut: ein beachtliches Kampfgewicht mit Stiernacken und einer unpolierten Glatze, darum ein Lorbeerkranz aus schwarzen, verschwitzten Locken.

Der Behinderte hat den Laden übernommen.

Der Junge, Zia sucht in den Augen des Kochs nach Anzeichen eines Witzes.

Schlechte Arbeitsbedingungen, der Kantinenpächter leert sein Wasserglas, aber ich brauche das Geld.

Geld, spottet Zia und klopft auf die Pappe, sehr originelle Speisekarte.

Ich koche nach russischer Tradition, nicht den Mist, den der Juniorchef verkaufen will, er schielt Zia an, ich habe ein kleines Restaurant in Grosny, irgendwann werde ich zurückkehren.

In meinen Socken sitzt noch russischer Treibsand, verrät der Geschäftsmann, also, ich meine, sagt er, als er merkt, dass ihn der Koch nicht versteht, ich reise viel, aus beruflichen Gründen, und in Tschetschenien war ich dieses Jahr auch schon.

Aus beruflichen Gründen, wiederholt der Koch nachdenklich.

Ja, Zia beugt sich über seinen Teller, den er sich von der Durchreiche genommen hat, aber auch aus privaten Gründen, er fächert den Suppendampf mit der flachen Hand in sein Gesicht und beginnt zu löffeln.

Der Chefkoch spitzelt unter seiner Schürze eine Flasche Wodka hervor, er schenkt großzügig ein und labert in einem Kauderwelsch aus Englisch und Deutsch über die hohe Kunst der Zubereitung von saurer Gurkensuppe, über seine alte einmotorige Cessna und über seinen Versuch, einen Pilotenschein zu erwerben.

Zwanzig Versuche, betont er, er schließt und öffnet viermal seine rechte Hand, zwanzig Mal, ich bin immer höher geflogen, wie hoch kann man fliegen? Ich habe den Prüfern am Schluss so viel geboten …, seine Hand wippt wieder. Das letzte Gebot, seine Stimme klingt, als müsse er sich verteidigen, das letzte Gebot: mein Auto.

Wenn Sie nicht fliegen dürfen, was haben Sie dann mit Ihrer Cessna gemacht?

Ich brauche den Schein für den Westen, antwortet er und betrachtet eine Fliege, die versucht den Tellerrand zu erreichen, ich trainiere zu Hause.

Wofür?, Zia wühlt ein Notizbuch aus seiner Tasche und kritzelt.

Ich will wie mein Vorbild werden, der Küchenchef steht auf, nimmt den leeren Teller und schnippt das Insekt mit Daumen und Zeigefinger auf den Fußboden und bewegt sich umständlich zur Durchreiche, du weißt doch, was heute für ein Tag in Russland ist!

Tag der sowjetischen Grenztruppen.

Der Koch öffnet den Mund, schüttelt den Kopf und grinst über eine Pointe, die ich nicht verstehe, Zia versteht sie auch nicht, obwohl sie aus seinem Mund gekommen ist.

Tag der sowjetischen Grenztruppen, diktiere ich mir selbst und meinem Gedächtnis, dieser Begriff tauchte vor Monaten oder Jahren in den Nachrichten, in einer Zeitung oder in einem Roman auf, ich kann es nicht mit Bestimmtheit sagen, weiß nur, die Geschichte begeisterte mich, sie handelte von Flugzeugen, die ich damals an die Wände meines Zimmers zeichnete.

Früher bin ich auch selbst geflogen, protzt Zia, Sportflugzeuge, bis, er stockt, bis es mir zu hoch wurde.

Sie fliegen?, der Koch dreht sich um und mustert meinen Gast lange, Sie können fliegen, das ist ja großartig, wie war gleich noch mal Ihr Name?

Ralf Zia.

 

Strafe, Grenzüberschreitung, Suppenschlamperei