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Isabella Feimer, Der afghanische Koch

E-Book

ISBN: 978-3-903061-11-8

 

© 2013, Septime Verlag, Wien

Alle Rechte vorbehalten

 

Lektorat: Nadine Kube

Umschlag: Jürgen Schütz

Umschlagbild: Rosen © franky2010 – Fotolia.com

Umschlagbild: Mauer © focus finder – Fotolia.com

 

Printversion: Hardcover, Schutzumschlag, Lesebändchen

ISBN: 978-3-902711-20-5

www.septime-verlag.at

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Isabella Feimer

 

Jahrgang 1976, lebt als freie Schriftstellerin und Theater-Regisseurin in Wien.

2013 erschien ihr Debütroman Der afghanische Koch, ausgezeichnet mit dem 2.Platz der Akademie Graz und dem Anerkennungspreis für Literatur des Landes Niederösterreich. Im Herbst 2013 ist sie mit dem Roman auf der Shortlist des Alpha-Preis. 2014 erschien ihr zweiter Roman: Zeit etwas Sonderbares.

 

 

Klappentext

 

Eine Liebe im Wien der Gegenwart.

Er, im Afghanistan – sie, im Österreich der 80er Jahre groß geworden, seine Kindheit und Jugend geprägt durch militärische und religiöse Konflikte, ihre durch den behüteten Hintergrund eines durchschnittlichen westeuropäischen Bildungsbürgertums. Kriegsschauplätze und Fluchtszenarien, Gewalt und Tod bestimmen sein Bewusstsein. Innerlich zerrissen, geplagt von Erinnerungen, Heimweh und Träumen, ist er getrieben von der Sehnsucht, seinem Leben eine Richtung zu geben. Durch den Mangel an ähnlichen Erlebnissen fast von Schuldgefühlen erfüllt, versucht sie, in seine Welt einzutauchen, indem sie seine Geschichte aufschreibt.

 

... Literatur bedeutet, dass nach einer Lektüre Rätsel, Leerstellen und Fragen bleiben dürfen und müssen. Mann kann das Leben nicht einfach »zusammenfassen«.

Die Protagonisten in Isabella Feimers Buch Der afghanische Koch müssen sich beweisen. Sie sind Fremde, Verlorene, Opfer und Täter. Mögen sie ihr Leben meistern. Mögen sie bestehen – oder untergehen.

Michael Stavaric

 

 

Isabella Feimer

Der afghanische Koch

Roman | Septime Verlag

 

Mit einer Nachbemerkung von

Michael Stavarič

 

 

 

 

 

 

Für meinen Großvater Ferdinand

 

 

 

 

 

Er in Liebe still,

ich in stiller Liebe laut,

diesem Uns folgend.

 

* *

 

Wachgeküsst will er werden, während der Kaffee köchelt, von dem ich behaupte, dass ich ihn mit Liebe mache und dann eine Extraportion Liebe hineingebe, wenn er mich darum bittet, ist erst einmal der Kaffee in der Tasse mit Milch und zwei Löffel braunem Zucker, indem ich mit dem Finger schnippe, als wolle ich meine Liebe in den Kaffee hexen, so, sage ich, noch mehr Liebe, und er bedankt sich und lächelt, zündet sich eine Zigarette an.

Wachgeküsst, manchmal über die Wange oder durchs Haar gestreichelt soll er werden, wenn das Licht durch die Jalousie bricht und der Wind frischen Atem ins Schlafzimmer bringt, sodass er die Augen öffnet, leise stöhnt und fragt, wie spät ist es?, manchmal noch bevor er die Augen öffnet, erst das eine, dann das andere, und er zieht mich zu sich unter die Decke, mein Rücken an seiner Brust, umschlingt mich und küsst mich in den Nacken, und ich sage, der Kaffee, und drücke mich aus der Umarmung und unter der Decke hervor, die Tauben, fragt er, wo sind sie?, und sieht aus dem Fenster auf den Dachvorsprung gegenüber, auf dem sich ein Schwarm Tauben eingenistet hat, vielleicht ist ein Falke in der Nähe, sage ich und erzähle, dass die Stadt vor Jahren Falken freigesetzt hat, um der Tauben Herr zu werden, er sagt, er mag Tauben, ich sage dazu nichts, ich will ihm etwas anderes sagen, aber nicht im Bett, einmal, sage ich doch, habe ich gegenüber einen Falken gesehen, er sah direkt zu mir, und eine Taube lag blutend unter seinen Fängen, und er schüttelt den Kopf und versucht, mich wieder zu sich und unter die Decke zu ziehen, aber ich wiederhole, der Kaffee, hörst du ihn, riechst du ihn?

Komm, sage ich und schwinge mich aus dem Bett, teile den Perlenvorhang und bleibe inmitten des Klickens stehen und werfe einen Blick über die Schulter, um zu sehen, ob er mir folgt, mein Handy?, fragt er und schlägt die Decke zurück, ich weiß nicht, sage ich, und meine Zigaretten?, und er schnappt sich seine Jeans, die er nachts, als er zu mir ins Bett kam, auf den Boden geworfen hatte, Scheiße, sagt er, wo sind die?, und kramt in den Hosentaschen, und ich sage, Küchentisch, und er folgt mir nach.

Schmeckt nicht, sagt er und dämpft die Zigarette nach drei Zügen im Aschenbecher aus, aber der Kaffee ist gut, danke, sage ich, ist viel Liebe drinnen, und er lächelt, beinahe hätte mich sein Lächeln vergessen lassen, warum ich ihn so früh aus dem Schlaf geholt habe, ich setze an, aber er fällt mir ins Wort, bevor ich zur Arbeit gehe, sagt er, koche ich dir etwas, musst du nicht, sage ich, und er schüttelt den Kopf und greift erneut zum Päckchen Zigaretten, ich dachte, es schmeckt nicht, sage ich, und er sagt dazu nichts, war spät gestern, sagt er stattdessen, inhaliert tief und hustet, sieht nicht zu mir, sondern zu den Magneten an der Kühlschranktür, durchschaut ihre Funktionslosigkeit und lächelt, Andenken an eine kleine Weltreise, sage ich, die und ein Haufen Postkarten, weißt du, sage ich, ich sammle Postkarten, sind in einer Kiste verstaut und sollen mich erinnern, war viel Arbeit gestern, sagt er, und heute wird es mehr, eine neue Speisekarte muss geschrieben werden und die Küchenhilfe eingeschult, ein Moslem, sagt er, Pakistani, der spricht kein Deutsch, heute, sage ich und will endlich zum Thema kommen, das mich beschäftigt, seitdem ich die Schlagzeilen gelesen habe, es stand im Teletext, sage ich, sie haben ihn gefunden und, sage ich, eliminiert, Bin Laden ist tot, tot?, fragt er nach, glaub mir, sagt er, der ist schon lange tot, Jahre tot, ich weiß das, sieben, acht Jahre, dann überlegt er, weißt du, Bin Laden war nie das Problem, ich schüttle den Kopf, wer oder was, frage ich und spüre Anspannung, war es?, weißt du doch, sagt er, steht alles in unserer Geschichte, unsere Geschichte, denke ich und seufze, unsere Geschichte ist die seine.

Zwischen Schlafzimmer und Wohnzimmer liegt die Küche, ein Durchgangsort, bestehend aus schmaler Küchenzeile, Gasherd, Spüle, Kühlschrank, offenen Kästen und Regalen für Geschirr und haltbare Lebensmittel, gegenüber ein Holztisch und zwei Stühle, die Oberfläche klebrig, im Abwasch die Pfanne, Spiegeleierreste auf dem Teller, er muss in der Nacht hungrig gewesen sein, denke ich, und Brotkrümel auf dem Fußboden, im Belag ein Brandfleck von einer zu Boden gefallenen und dort vergessenen Zigarette, nicht von ihm, nicht von mir, immer wieder nehme ich Deckweiß zur Hand und male darüber, aber die kleine Narbe verschwindet nicht, die trockenen Brotkrümel piksen unter meinen nackten Sohlen, und ich hebe die Füße auf den Sessel und verschränke die Arme um meine Knie, der lila Nagellack auf meinen Zehen abgeplatzt, die Fingernägel erst gestern frisch lackiert, doch der Lack löst sich auch hier, ich will reden, weiß aber nicht, wo anfangen, auch er schweigsam, sein ganzer Körper müde von zu wenig Schlaf und unruhigen Träumen und dem Joint, den er braucht, um einzuschlafen, wie er glauben kann, dass ich es nicht merke, überall Spuren, Gras und Tabak im Aschenbecher, auf dem Ausziehsofa und dem Parkett, und wieder rührt er im Kaffee, nippt daran und bedankt sich mit einem Lächeln für die Extraportion Liebe, die ich ihm hineingezaubert habe.

Das Fenster im Vorzimmer ist offen, alle Fenster sind offen, und kühle Luft, zu kühl für diese Jahreszeit, atmet sich durch die Wohnung, die klein ist und überschaubar, Rückzugsmöglichkeiten ausgeschlossen, und ich frage, was machst du heute, vor der Arbeit?, und er zuckt mit den Schultern, vielleicht Finanzamt, sagt er, wir brauchen Geld, vielleicht bekomme ich eine Rückzahlung, weißt du, oder, sagt er, ich treffe einen Freund.

Ich erschrecke, als ein Taubenschwarm auf dem Dach gegenüber landet, auch er dreht sich um, da sind sie wieder, sage ich, das Flattern, als ob ein Helikopter landet, sagt er, und das kollektive Gurren, sage ich, irgendwie betörend, er sieht zu mir, betörend, fragt er nach, was bedeutet das?, und ich sage, Frühling, auch Tauben haben Bedürfnisse, und er schmunzelt und zündet sich eine Zigarette an, wir sollten aufhören, sagt er, sollten wir, sage ich, bald, und stehe auf und stelle mich vor ihn, und er nimmt mich an der Hüfte, zieht mich zu sich, küsst mich, kein Kuss, ein Schmatzen ist es, und seine Lippen sind trocken, aber die Haut ist warm, Bettwärme, denke ich und frage mich, wie es möglich ist, dass er sie so lange konservieren kann, stehe ich auf, lasse ich die Wärme in der Bettdecke zurück und Minuten später beginne ich zu zittern, du riechst gut, sagt er und streicht mir übers Haar, aber ich schüttle den Kopf, ich nicht, sagt er, ich rieche nach Küche, manchmal, sagt er, ist es so heiß in dieser Küche, dass ich glaube, ich ersticke, kein Fenster kannst du öffnen, weil die Lüftung so laut ist, und die Nachbarn sollen sich nicht beschweren müssen, und du hast zehn Bestellungen auf einmal, und alles ist in Flammen, der Herd, das Backrohr, die Mikrowelle, und ich spüre, dass er mehr will als nur küssen, aber ich will nicht und entziehe mich der Umarmung, drehe mich zur Spüle und beginne mit dem Abwasch, lass, sagt er, das mache ich später, geht schon, sage ich, du bringst das Geld nach Hause, ich mache den Rest, und ich lache auf, dass ich keine Arbeit habe, macht mich verlegen, auch, dass ich seine Geschichte, obwohl ich es behaupte, noch nicht geschrieben habe, ich stecke fest, nicht nur zwischen den Zeilen, die kein Ganzes ergeben wollen, Islamabad, frage ich, warst du dort auch?, und er sagt, kurz, ja, wieso?, dort, sage ich, haben sie Bin Laden aufgespürt, gestern, letzte Nacht, ich weiß nicht genau, ja, wiederholt er, auf der Durchreise, wieder kein Visum, wieder musste ich ins Gefängnis, aber das war nicht so schlimm, Hauptsache, dachte ich, sie schicken mich nicht zurück, Hauptsache, ich kann weiter, glaubst du, frage ich, es hat mit der bevorstehenden Wahl zu tun?, glaubst du, das ist alles nur Show, damit Obama wiedergewählt wird?, und ich drehe mich weg vom Geschirr und hin zu seinem Schulterzucken, vielleicht, sagt er und, komm her, und er steht auf und umarmt mich und küsst mich in den Nacken, ich rieche nicht nur Küche, auch Schweiß, auch Zwiebeln, die er sich reichlich aufs Spiegelei gibt, meine Hände, nass und voller Schaum, greifen nach den seinen und lösen die Umklammerung, und er weicht zurück, kalte Sonne, sagt er und sieht zum Fenster im Vorzimmer, heute wird es angenehm, und ich lächle, manchmal, denke ich, verstehe ich ihn nicht, manchmal kann auch er mich nicht verstehen, die Sprache eine andere, die Inhalte, mit denen wir uns beschäftigen, seine Gedanken, die er nicht zum Ausdruck bringen kann, meine, mit denen ich ihn überschütte, zuweilen überrumple und in eine Ecke von Unverständnis dränge, auch die Ideen für eine bessere Welt und eine funktionierende Beziehung sind unterschiedlich, auch wenn unsere Gefühle ähnlich sind, da gibt es seine, da gibt es meine, und ich frage mich, in welcher Sprache er denkt, er denken kann, auch diese Überlegenheit macht mich verlegen, lässt mich Schuld empfinden, und ich senke den Kopf und muss sagen, dass ich ihn sehr lieb habe, ich dich auch, sagt er, und dann fragt er mich, wann ich ihm wieder aus unserer Geschichte vorlese, deine Stimme, sagt er, ich höre dir gerne zu, bald, sage ich und bin wieder in Bedrängnis.

Wie fremd ich mich fühle, seit er fast nur noch bei mir ist, Wochen, in denen die Wohnung für mich kleiner wurde und für ihn, so hoffe ich, eine Art Zuhause, in denen ich mich tagsüber an meinen Schreibtisch zurückzog, zwei mal ein Meter Schreib- und Denkfläche, darauf der weiße Laptop, mittlerweile schmutzig und mit Kratzern an der Außenhülle, und er sich ausdehnte, das Schlafzimmer seins, das Ausziehsofa, und der indische Überwurf riecht nach seinem Schweiß, seinem Haargel, seinen Küchenrückständen, verliert die Goldfäden und Pailletten durch seine ruckartigen Bewegungen, auch die Küche seins und das ölige Geschirr, das er halbherzig von Fettrückständen säubert, das ich dann noch einmal abwaschen muss, weil ich den Fettfilm auf meinen Fingern nicht mag, und wie selbstverständlich er sich in der Wohnung bewegt, er Gläser und Teller aus den Regalen nimmt, die Lichtschalter betätigt, sich auf dem Ausziehsofa niederlässt und zur Fernbedienung greift, der Ton ist aus, und sein Oberkörper nach vorne gebeugt, um die grellen Buchstaben auf den Teletextseiten zu entziffern, jeden Tag, sagt er, muss ich Teletext lesen, und ich setze mich an den Schreibtisch, der Laptop ist an, ich schreibe Bewerbungen, sage ich, habe schon zwei rausgeschickt und jetzt schreibe ich an einer dritten, das ist gut, sagt er, sieht aber nicht zu mir, sein Blick ist auf die grellen Buchstaben fixiert, die ich von hier aus nicht entziffern kann, ein Sonderkommando, sagt er, hat Bin Laden aufgespürt und getötet, es war nicht der Plan, ihn lebend zu fassen, so Präsident Obama, liest er mir vor, ich weiß, sage ich, und er sagt, sie haben ihn in den Kopf geschossen, wie praktisch, schlimm, sage ich, dass ganz Amerika jubelt, jetzt sieht er zu mir, und ich sage, ist wie ein Volksfest, sie freuen sich, dass das Böse besiegt ist, schwenken Flaggen und tanzen durch die Straßen, vielleicht muss man das Böse glauben, sage ich, sonst wird man verrückt oder schlimmer, der Präsident, liest er weiter, habe versucht, Bin Laden der Gerechtigkeit zuzuführen, dann schüttelt er den Kopf, Gerechtigkeit, flüstert er, ständig predigen die Amerikaner Gerechtigkeit, aber es ist nicht gerecht, was sie tun, sieh dir mein Land an, ist das gerecht?, nein, sagt er, sie plündern und töten und glauben, die Welt beherrschen zu müssen, die helfen Afghanistan nicht, die machen es nur kaputter.

Dreißig Minuten, sagt er, die Aktion dauerte dreißig Minuten, der Krieg in unserem Land dreißig Jahre, seit ich denken kann, ist Krieg, aber das, sagt er und greift zu dem Zigarettenpäckchen und dem Feuerzeug, kannst du nicht verstehen, kann niemand verstehen, der den Tod nicht gesehen hat, und wieder wird die Wohnung kleiner, der Straßenlärm lauter, sodass ich meine Gedanken nicht hören kann, und was glaubst du, frage ich und versuche, mir die Kränkung nicht anmerken zu lassen, wird jetzt passieren?, wo, fragt er, in Afghanistan?, in Afghanistan, sage ich, auf der ganzen Welt, und er muss lachen, was glaubst du?, fragt er, und ich antworte nicht, ich glaube, die Antwort zu kennen, was immer passiert, sagt er, keine Gerechtigkeit, nur Vergeltung, und er zieht an der Zigarette, die Glut verschlingt den Tabak, und der Rauch sammelt sich zwischen ihm und den Teletextseiten, ich will weg, sagt er, zurück will ich.

Ich sperre mich im Badezimmer ein, will versuchen, nicht zu weinen, aber dafür brauche ich Luft, brauche einen ruhigen Atem und einen Herzschlag, der mich nicht zittern lässt, ich schließe die Augen, versuche, meine Gedanken zu sammeln und meine Gefühle auszublenden, das konnte ich doch immer gut, warum jetzt nicht mehr, warum ist alles anders, seitdem wir zusammen sind, seitdem er mich in diese Beziehung geküsst hat, obwohl ich es nicht wollte?, schon als er mich fragte, ob er mich nach Hause begleiten darf, hätte ich es wissen müssen, hätte den ersten Kuss und die darauffolgenden Küsse und Umarmungen und Berührungen an Stellen, die ich ihm gerne verschlossen gelassen hätte, erahnen und weiterhin auf der Hut bleiben sollen und in der unglücklichen Liebesgeschichte verbleiben, wie ich sie damals hatte, in der ich Sicherheit hatte, Freiheit, Sehnsüchte und Hoffnung, mich nicht wieder zu verlieren, aber als wir an einer Kreuzung standen, griff er nach meiner Hand, und ich sah zu ihm, und er lächelte, er hatte getrunken, sich Mut angetrunken, um mir diesen ersten Kuss zu geben, und seine Zunge schmeckte nach Bier und Zigaretten, und als die Ampel uns den Weg über die Straße freigab, ließ ich von ihm ab, steckte meine Hand in die Manteltasche und senkte verlegen den Blick, und nach der Kreuzung drückte er mich sanft gegen eine Hausmauer, umschlang mich und küsste mich, und ich gab nach, ich weiß nicht, ob er damals verstanden hat, warum ich ihn nicht mit zu mir genommen habe, warum sich unsere Wege an dieser Hausmauer trennten, ich weiß nicht, ob er es jetzt versteht, ob er darüber noch nachdenkt?

Seit ich ihn Tag und Nacht um mich habe, wir, so scheint es mir, zusammenwohnen, gibt es heißes Wasser, er hat den Boiler repariert, der verstaubt war und dreckig, weil ich ihn, seitdem ich hier lebe, weder habe putzen noch warten lassen, und das Wasser seit Monaten eiskalt war, nur manchmal lauwarm, und dem Fernseher hat er mit einer improvisierten Antenne aus einem Kleiderbügel wieder ein paar Kanäle zurückgegeben, mir ging es gut ohne Fernsehen, aber das heiße Wasser macht mich glücklich, und ich stelle mich unter die Dusche und lasse es laufen, das Wasser, das bald zu heiß wird und über die Haut brennt und ihr eine rote Färbung gibt.

Vielleicht, denke ich, besuche ich ihn abends, hole ihn von der Arbeit ab, wenn um elf die Küche schließt, setze mich an einen Tisch ganz in der Nähe, trinke ein Glas Wein, auf das er mich einlädt, und einer der Kellner, die mich mögen und die ich mag, vor allem, seitdem wir zusammen sind, bringt mich automatisch an meinen Platz, und ich plaudere mit ihnen und höre ihm zu, wie er durch die Küche putzt, über den Herd, über die Arbeitsflächen, die Salatbar reinigt, den Müll hinausbringt, geht er an mir vorbei, lächelt er, und ich schicke ihm einen Kuss mit auf den Weg, er mag es, wenn ich ihn abhole, mag es, wenn ich in seiner Nähe bin, und langsam lasse ich die Nähe zu, habe mich an die Unfreiheit gewöhnt und an die Liebe, auch ich will weg hier, zurück in ein Land, in dem ich noch nicht war, zurück in ein Abenteuer, dem ich noch nicht gewachsen bin, ich habe Angst zerquetscht zu werden, und ich muss an das Flugticket denken, das ich vor ihm verstecke, das ich bald einzulösen habe oder auch nicht, wenn ich wieder einmal zu feige bin, Angst, dass er mich alleine lässt, dass er geht, von einer Sekunde auf die andere, wie er es drohend zwischen uns stellt, wenn wir streiten, wenn er getrunken hat, das eine Bier zu viel, sich aber am nächsten Tag nicht mehr erinnern kann und mir am übernächsten Tag Blumen bringt und redet und sich als Entschuldigung für mich zu interessieren sucht, Angst, dass er die Kontrolle verliert und ich mit ihm, ist Liebe Kontrollverlust?, steht Liebe zwischen uns?

Der Seifenschaum legt sich auf meine Haut und in meine Nase, Mandelhonig für mehr Geschmeidigkeit, und ich reibe langsam über meinen Körper, stoße mich an Knochen, die sich Tag für Tag mehr aus mir herausschälen wollen, ich mag es, meine Knochen zu spüren, mag es, wieder eine Taille zu haben, sichtbare Wangenknochen und einen dünnen Hals, der in der Einkerbung des Schlüsselbeins endet, ich mag es, dass ich mein Handgelenk mit Daumen und Mittelfinger problemlos umfassen kann und in seine Jeans passe, auch er ist dünn, noch immer, obwohl er in den letzten Wochen und Monaten zugenommen hat und sein Oberkörper stärker und sein Gesicht runder und seine Augen strahlender geworden sind, ich muss immer essen, sagt er, den ganzen Tag könnte ich essen, ich esse auch, Süßes, Fettiges, trinke Alkohol, aber nichts setzt an, wir teilen uns ein Handtuch, es sollte gewechselt werden, denke ich, nachdem ich mich abgetrocknet habe, und ich gebe es in den Korb mit der Schmutzwäsche, auch die Wäsche sollte gewaschen werden, auch das Waschbecken und die Duschkabine geputzt, auch seine Geschichte weitergeschrieben, seine Geschichte ist unsere Geschichte, und ich bin in ihr nicht mehr vorhanden.

Die Rache wird ausufernd sein, denke ich in Schlagzeilen, als die Mittagsnachrichten von der »Kill Mission« berichten und Bilder zeigen, aufgenommen in den Straßen Washingtons und New Yorks, Freudentränen, ausgelassene Erleichterung, Nationalstolz, I am so proud to be American, sagt eine Frau und umarmt die Person neben ihr, dann verkündet der Präsident, die USA werden nie in einen Krieg mit dem Islam treten, Bin Laden war kein Islamistenführer, er war ein Massenmörder, ob das alle so sehen?, frage ich, bin gerade dabei, in Unterwäsche, Socken und Jeans zu schlüpfen, wo gehst du hin?, fragt er, hat sich nicht einen Millimeter auf dem Ausziehsofa bewegt, nirgends hin, sage ich und suche in einer der Wohnzimmerkommoden nach einem T-Shirt, ich gehe bald, sagt er, muss noch einkaufen, Paprika fehlen und ich weiß nicht, brauche ich noch Minze?, ich muss anrufen, sagt er und greift zu seinem Handy, immer griffbereit, und tippt die Nummer des Lokals in sein Telefon, spricht kurz, aber übertrieben freundlich mit der Geschäftsführerin, legt auf, nur Paprika, sagt er, hast du Geld?, ich sage, ein bisschen, und hole aus der Brieftasche einen Zehneuroschein, danke, sagt er, wenn er »danke« sagt, dehnt er das A, lässt das Wort weicher und arroganter klingen, als es ist, du bekommst es morgen wieder, die Stromrechnung, will ich sagen, dein Zuschuss zur Miete, was ist damit?, aber ich sage nichts, nicht heute wieder, Sorgen, die nur ich mir mache, denke ich, Sorgen, die keine sind im nächsten Moment, ich muss nicht Teletext lesen, denke ich, um zu wissen, wie es meinen Lieben geht, leben die Eltern noch?, steht die Stadt noch und das Haus der Familie?, gab es wieder einen Anschlag?, hat es jemandem, den man kennt, die Gliedmaßen weggerissen?, und ich sage stattdessen, lass dir Zeit, obwohl es mein letzter Zehner war, nur noch ein paar Euro übrig, für Zigaretten, für Brot vielleicht, eine Seebestattung soll es geben, verkündet der Nachrichtensprecher der Mittagssendung, und heftige Kritik daran wird die Folge sein, so eine Art der Bestattung, sagt der Studiogast, ein angesehener Islamwissenschaftler, sei nicht glaubenskonform, dem Islam nach, sagt er, muss der Leichnam in der Erde bestattet sein, mit dem Körper auf der rechten Seite und das Gesicht Richtung Mekka, aber die USA, vermutet der Wissenschaftler, wollen den Leichnam möglichst schnell verschwinden lassen, und der Nachrichtensprecher sagt, das sei nicht verwunderlich, und lächelt verschmitzt in die Kamera.

Er ist es nicht, sagt er und steht vom Ausziehsofa auf, er streckt sich und gähnt, wiederholt, der ist schon lange tot, gestorben durch den pakistanischen Geheimdienst, ich muss duschen, sagt er, dann ist er verschwunden, der Nachrichtensprecher endet mit, spontane Freudenfeiern auch am Ground Zero, auch das, sagt er und neigt den Kopf, wird nicht ungerächt bleiben, und ich schalte den Fernseher ab und denke, egal, ob Bin Laden tot ist oder nicht, warum findet er, mein Liebster, keinen Frieden?, und ich folge ihm und stelle mich zur angelehnten Badezimmertür und kann Wasser aus der Wasserleitung hören und die Zahnbürste, die über seine Zähne reibt, und vor dem Vorzimmerfenster Gurren, das mich irritiert und ich muss lauter sprechen und frage, ist dir jetzt gar nicht leichter?, ich höre ihn spucken und mit Wasser nachgurgeln, dann öffnet er die Tür, leichter?, fragt er, was meinst du, soll mir leichter sein?, sind meine Eltern dadurch in Sicherheit?, kann ich wieder in mein Land zurück?, ich glaube nicht, warum verstehst du nicht?, ich verstehe, sage ich, aber er sagt, du kannst nicht verstehen, ich kann, sage ich, ich werde, und er lächelt, dann sagt er, manchmal habe ich Angst, ich mache etwas falsch hier, nur eine Kleinigkeit, und die Polizei kommt mich holen, die Polizei?, frage ich nach, warum?, weil ich Afghane bin, ist mir passiert, sagt er, haben mich von der Arbeit abgeführt, mich verhört, aber sie mussten mich wieder freilassen, weil ich nichts getan hatte, und ich habe nichts darauf zu sagen, nicht einmal ein mitfühlendes Lächeln, wofür ich mich schäme, und er schließt die Tür, diesmal sperrt auch er ab, und ich will zum Vorzimmerfenster, und hätte ich ein Gewehr, ich würde auf die Tauben schießen wollen, ich überlege, sie mit Brot zu bewerfen, irgendwo muss doch noch trockenes sein, oder mit Schuhen, von denen ich mich ohnehin trennen will, aber ich schließe bloß das Fenster, gedämpft höre ich das Gurren immer noch, was machst du heute?, fragt er aus dem Badezimmer, und wieder stelle ich mich an die Tür, und was machst du heute?, wiederholt er, bevor ich antworten kann, ich weiß noch nicht, sage ich, schreiben vielleicht, aber nicht unsere Geschichte?, fragt er, nicht unsere Geschichte, lüge ich, aber es wird seine Geschichte werden, die ich Satz für Satz bezwingen will, es gibt nichts anderes in mir als seine Geschichte, als Afghanistan, weißt du, sage ich, ich möchte auch nach Afghanistan, er lacht, wirklich?, fragt er, dann müssen wir wohl gemeinsam hin, ich aber sage nichts, wenn ich nach Afghanistan ginge, dann allein, denke ich, aber noch geht das nicht, sagt er, und ich kann hören, dass der Rasierer über seine Wangen schabt, noch ist es zu gefährlich, ich weiß, sage ich, noch kann ich auch nicht gehen, noch, das sage ich nicht, habe ich andere Ziele in mir, ein paar davon sind noch übrig, drängen sich immer wieder in die Beziehung, drängen mich zu einem Ich, das ich gerne wieder sein möchte, und in einem Anflug leichter, mein Innerstes elektrisierender Panik muss ich nachsehen, ob ich das Ticket noch habe, ob es noch da ist, wo ich es versteckt habe, in einer Schreibtischlade, in der er nie stöbern würde, es gibt seine Laden und meine, seine Seite des Bettes und meine, sein Leben und meines, zumindest in meinen Träumen.

Jede geschriebene Geschichte ist immer nur ein Bruchteil derselben, man kann kein ganzes Leben skizzieren, nur verfälschende Ausschnitte, auch der Taubenschwarm, der sich im Kollektiv wieder vom Dach erhebt, ist nur ein Teil von etwas, ein winziger Teil, auch wenn er mir gewaltig erscheint, mir Angst macht, manchmal, wenn ich im Halbschlaf bin und dieses Donnern mich hochschrecken lässt, und ich schäme mich, dass ich seine Geschichte nicht schreiben kann, dass ich mit jedem Satz, mit jeder Notiz ein klein wenig mehr versage, dass ich meine Geschichte, anstatt seine zu schreiben, erfinden muss, dass ich mich in den Vordergrund dränge, obwohl ich keinen Krieg hatte, nie geschlagen worden bin, nie am Verhungern war, ich war nie fremd, habe meine Träume nicht zurückgelassen, ich weiß, wer ich bin, weiß, wohin ich gehen möchte, und ich erinnere mich, dass ich ihn erst sehr spät fragte, was er am elften September gemacht, sich gedacht hat, wie er sich gefühlt hat, ob er Angst hatte oder zufrieden war, endlich ein bisschen Gerechtigkeit, auch in Amerika sterben Menschen, nicht nur in Kabul, ich saß in einer Strandbar an der malaysischen Ostküste, etwas oberhalb von Singapur, ich war mit meinem damaligen Freund unterwegs, und die letzten Tage unserer Reise verbrachten wir am Strand, und es waren schöne Tage, voller Sonne und dem geliebten Brandungsrauschen, das ich vermisse, sobald ich es nicht mehr hören kann, Tage, die sich dehnten, weil wir in ein angenehmes Nichts versanken zwischen Frühstück und einem Gutenachtbier, auch der Abend in jener Strandbar dehnte sich, nur anders, wir traten ein, Menschen saßen an den Tischen, die Hände fassungslos vor den Mund gelegt, viele weinten, und sie sahen auf einen Bildschirm, und die Türme standen in Flammen und brachen kurze Zeit später in sich zusammen, wieder und wieder, der Nachrichtensprecher rang um Worte, die in Endlosschleife gezeigten Bilder sprachen für sich, auch wir schwiegen, aber keine Trauer in uns, nur der Gedanke, das ist nicht echt, und wenn es echt ist, dann eine gute Inszenierung, die beste, dachten wir, die die Welt je gesehen hat, und er erzählte mir, er saß in seiner Wohnung, die erste, die er in dieser Stadt bewohnte, hatte eine lange Nacht hinter sich, war gerade erst nach Hause gekommen, früher Nachmittag war es, und kurz schlief er, dann läutete das Telefon, ein Freund, der ihm sagte, er solle den Fernseher einschalten, und auch er sah die Türme wieder und wieder in sich zusammenstürzen, und auch er fassungslos, stürzte aus der Wohnung, um mit Kabul zu telefonieren, mit den Eltern, die in der Hauptstadt zurückgeblieben waren, die ihn weggeschickt hatten, damit er überleben konnte, und ja, es ginge ihnen gut, sagten sie, aber deine Großmutter, sagten sie, ist gestern gestorben, und am Tag davor hatten als Kameramänner getarnte Taliban den Führer der Nordallianz, Masud, getötet, die Bombe, sagten sie, war in der Kamera versteckt, er war auf der Stelle tot, was jetzt?, fragten sie, was kommt als Nächstes?, und er hatte keine Antwort, erzählte, niemand hatte die, und er war müde von so vielen Toten, und in der Wohnung, erzählte er, schlief er, zwei ganze Tage lang.

Jetzt kommt er aus dem Bad zurück, riecht nach Rasierwasser, und sein Haar ist zurückgegelt und sein Körper noch nass, schlüpft in Hose und Hemd, er ist wie ausgewechselt, summt, spricht Wortfetzen, die nicht für mich bestimmt sind, und ich frage nicht nach, ich will, glaube ich, dass er geht, dass er in der Nacht wiederkommt, dass ich dann schon schlafe, dass ich erst am nächsten Morgen sagen kann, ich war fleißig, ich habe gelesen, geschrieben, und du?, ich, wird er sagen, hatte viel zu tun, habe Hummus gemacht, und ein Freund hat mich bei der Arbeit besucht und mir von seinen Frauengeschichten erzählt, ich, wird er sagen, bin nicht so, ich habe dich, da gibt es keine andere, und ich werde lächeln und mich mit einem Kuss bedanken, nicht weil ich die Einzige bin, sondern weil er nicht betrunken war, als er zu mir ins Bett stieg, nicht drohte, er werde gehen, er fände immer einen Platz zum Schlafen, er habe Freunde, er habe Kontakte, er wolle zurück nach Kabul, Menschen töten für die Gerechtigkeit, sich rächen an den Taliban und an den Amerikanern und an der NATO, die versagt hat mit ihren halbherzigen Hilfsprogrammen, so viele sind tot, weißt du, anderthalb Millionen Menschen tot, seitdem Krieg ist, seit dreißig Jahren, Krieg, denke ich, etwas Abstraktes, für mich zumindest, Krieg etwas, das es in meiner Welt nur zwischen den Zeilen gibt, und vielleicht lese ich ihm morgen etwas vor, etwas von den wenigen Seiten, die seine Geschichte sind, er geht jetzt, sagt er und beugt sich über mich, um mir einen Kuss auf die Stirn zu geben, und ich, mittlerweile zum Schreibtisch zurückgekehrt, zwei mal ein Meter Lebensfläche, ich mag nicht, wenn er seine Sachen auf den Schreibtisch legt, und lege sie wieder weg, sobald er den Raum verlassen hat, und er streicht mir über die Wange, mach’s gut, sage ich und lächle und denke, was, wenn er nicht wiederkommt?, ich höre ihn in die Schuhe schlüpfen und die Türe aufsperren, er sagt, seine Tauben sind zurück, und dass ihnen sicher kalt ist, so wie ihm, und dann geht er und mit ihm geht die Angst, nicht seine, nicht meine, unsere, Sekunden später surrt mein Telefon, etwas vergessen?, frage ich, und er sagt, ja, dir zu sagen, und er macht eine kurze Pause, dass ich dich mag.

 

*

 

Die Kälte weicht aus dem Körper, Gelenke reiben aneinander, Muskeln dehnen und entspannen sich, und in den Adern pulsiert das Blut. Ich lege den Kopf in den Nacken, stelle mich auf die Zehen, und strecke ich die Hände in das zarte Blau des Morgens, kann ich nach der Sonne greifen, und öffne ich den Mund, schmecke ich das Licht, das von den schneebedeckten Bergen züngelt. Die Stadt mit ihrem leisen Summen der Motoren ruht hinter mir, ab und an ein Zischen, aber fern.

Seit Wochen das erste Tageslicht. Wie schnell man vergisst, wie etwas schmeckt, riecht, sich anfühlt. Es riecht nicht nach Frühling. Es riecht nach Staub, nach Abfall, nach Kadavern, verbrannt, vergessen. Kaum bin ich an der Oberfläche, legt sich eine Staubschicht auf meine Haut, Staub, der einmal ein Haus war, eine Mauer, ein Garten, ein Mensch.

Das Feld erstreckt sich bis zu den Bergen, die Erde unter meinen Füßen ist steinhart. Ich knie mich hin, schabe mit den Fingernägeln in den Boden hinein und zupfe trockenes Gras. Rechts ein Baumgerippe, das einmal Granatäpfel trug, links die Ausläufer der Stadt, verlassene Häuser mit Gärten, die nicht mehr grünen.

Der Arm ist verheilt. Den Raketensplitter, der sich ins Fleisch geschoben, Sehnen getrennt und einen Knochen gespalten hat, habe ich aufgehoben, er liegt unter der Matratze, niemand weiß das, niemand darf es wissen, nicht einmal Miriam, deren Körper ich vermisse, ruht er nicht neben mir. Wenn die anderen schlafen, ihre Eltern, meine Eltern, die Nachbarn, die mit uns Zuflucht suchten, schleicht sie lautlos durch den Keller, nur ich höre sie, ihren hastigen Atem, ihr Nachthemd, wie es um ihre Beine streicht, kriecht unter meine Decke und schmiegt ihren Rücken an meine Brust, und ich lege meinen Arm um sie und ziehe sie näher an mich, spüre ihr Becken an dem meinen, und ihr Haar ist lang, ist dicht, ist dunkel, aber duftet nicht.

Eine Hand legt sich auf meine Schulter, im Erschrecken drehe ich mich um, und Tariq, mein Cousin, sagt, komm, gehen wir in die Stadt.

Tariqs Gang ist krumm, seitdem er am Bein verwundet wurde. Mir egal, sagt er, ob es heilt oder nicht, ich muss spüren, dass Krieg ist, und jetzt, sagt er, habe ich ein Andenken, was glaubst du, Rahman, sagt er, werden meine Kinder sagen, meine Enkelkinder, zeige ich ihnen meine Narben und erzähle ihnen vom Krieg, stolz werden sie auf mich sein, sagt er, und Mut wird es ihnen geben für ihre Kriege. Auch dieser Krieg, sage ich, wird ein Ende haben. Irgendwann einmal, sagt mein Cousin, ja, aber dann kommen neue Kriege, dieses Land, sagt er, bekommen wir nicht mehr zurück, sind’s nicht die Engländer, sagt er, sind’s die Russen, sind’s die nicht, bleiben die Taliban. Hilfe, sage ich, wird kommen. Von wem denn, fährt Tariq mir ins Wort, den Amerikanern, China? Begreif’s endlich, kleiner Rahman, sagt er, unser Land ist kaputt, und wir sind verloren.

Wir gehen zum Fluss, der bis übers Ufer züngelt, und ich greife nach kleinen Steinen, werfe sie ins Wasser, das sie mit sich zieht, so grau, sage ich. So schmutzig, sagt Tariq, überall Dreck, sagt er, verzieht das Gesicht, schwingt sich auf die Überreste einer Mauer und streckt sein Bein. Tut’s weh?, frage ich. Mein Cousin sieht mich an, ich bin froh über diese Schmerzen, sagt er und holt eine Packung Zigaretten und ein Feuerzeug aus seiner Jackentasche, dann vergisst du nicht. Er will mir eine Zigarette geben, aber ich will nicht. Keine Angst, sagt Tariq, bis wir zurück sind, ist der Geruch verschwunden. Ich lehne mich zu ihm an die Mauer, während er mir Feuer gibt, ich inhaliere, muss husten, und mein Cousin lacht. Wir haben heute Strom, sage ich, im Haus ist Strom, ich bleibe nicht im Keller. Gut, sagt Tariq, später sehen wir fern.

Langsam ziehen wir durch die Straßen, halten Ausschau nach Bewaffneten, nach Scharfschützen, nach Taliban, die sich in der Hauptstadt eingenistet haben, blicken in jede Gasse und sehen den vorbeifahrenden Autos unbemerkt nach. Und Miriam, fragt mein Cousin, habt ihr schon? Geht nicht, sage ich. Aber du willst?, fragt Tariq. Klar will ich, sage ich, und Tariq lacht und klopft mir auf die Schulter. Wäre dein erstes Mal? Ich sage, nein, ich lüge. Rahman, Rahman, sagt mein Cousin und schüttelt den Kopf, wann hättest du denn vögeln können?, im Keller? Letzten Sommer war’s, lüge ich, vor diesem Krieg, und ich denke an die Nachbarstochter und an ihre Küsse, die wir einander schenkten, dort, wo der Gartenzaun zu Ende ist, und an ihre Brüste, die ich berühren durfte, dort hinter dem Strauch, der uns vor Bli-cken schützte. Die, die tot ist?, fragt mein Cousin, und ich nicke, scheiße ist das, sagt Tariq und bückt sich nach einem Radio, das er am Straßenrand findet. Er bläst den Staub vom Gerät, wischt mit dem Handrücken darüber und schüttelt es. Einzelteile im Inneren des Geräts krachen aneinander. Kaputt, sagt er und schleudert das Radio gegen die Hausmauer, alles ist kaputt. Ich muss lachen, und zwei Passanten sehen uns an, dann wieder weg, ein Junge läuft zu uns, lacht mit uns, hebt Teile des Radios wieder auf und wirft sie gegen die Wand. Wir tun es dem Jungen gleich, und als sich ein Militärjeep nähert, verstummen wir, drücken unsere Körper gegen die Hausmauer, senken den Blick. Der Jeep wird langsamer, als er an uns vorbeifährt, Männer mit schwarzen Turbanen und schwarz umrandeten Augen, Gewehre, die in unsere Richtung zeigen, und der Junge versteckt sich hinter meinem Cousin, presst sich gegen dessen Hüfte, als wolle er in der Daunenjacke verschwinden. Der Jeep fährt weiter, schon gut, sagt mein Cousin, fährt dem Jungen durchs Haar und gibt ihm eine seiner Zigaretten. Der Junge lächelt und läuft davon. Los, schreit Tariq ihm nach, ab zu Mama in den Keller, wieder lachen wir, was meinst du, Rahman, sagt mein Cousin, suchen wir das Fahrrad?

Vielleicht der Lenker, sage ich und greife nach einem Metallteil, das einmal ein Lenker gewesen sein könnte. Und hier, sagt mein Cousin, noch Gummi von den Rädern. Kann sein, sage ich und stecke mir ein Stück Gummi, ohne dass Tariq es sehen kann, in die Tasche.

Mittlerweile ist es Mittag und die Stadt laut, aber langsam, Menschen, die sich von Schatten zu Schatten bewegen, Frauen in hellblaue Kunstfaser gehüllt, Männer mit dunklen Turbanen und Bärten in vorgeschriebener Länge, Angst in ihren Gesichtern. Ist das Blut?, frage ich und untersuche die Stelle, an der es mich gegen eine Mauer geschleudert hat, ihn gegen einen Block aus Beton. Hättest du gerne, sagt mein Cousin und zündet sich im Schutz der Innenseite seiner Jacke eine Zigarette an. Als wäre nichts gewesen, sagt er. Nur noch mehr Trümmer, mehr Schrott, sage ich. Unter all dem Schrott, fragt er, was glaubst du, wie viele Tote? Er reicht mir die Zigarette, wieder ziehe ich daran, wieder muss ich husten. Scheiße, sagt er, ich muss weg hier. Das sollten wir alle, sage ich. Im Ernst, sagt er, ich gehe weg. Wann?, frage ich. Bald, sagt er. Ich werde heiraten, sagt er und lächelt. Heiraten, wiederhole ich, jetzt schon? Komm, sagt er, gehen wir ein Stück.

Während wir ins Zentrum unterwegs sind, erzählt er mir, dass seine Eltern diese Heirat arrangiert haben, damit ich außer Landes komme, sagt er, und ich frage, wohin? Moskau, sagt er, und meine Zukünftige, sagt er und lächelt, wunderschön, ich Glückspilz, eine Ukrainerin, verwandt über tausend Ecken, aber heiß ist die, sieh selbst, sagt er und zieht ein Foto aus seiner Hosentasche, darf ich vorstellen, Natascha, und jetzt erblasse vor Neid. Hübsch, sage ich, während mein Blick über das Foto huscht, wann fährst du? Tariq bleibt stehen, ich mit ihm. Er sieht mich an, bald, sagt er. Wie bald?, frage ich, und er sieht zu Boden. Morgen, sagt er, fahre ich.

Eine Gruppe Jugendlicher hat sich beim Grabmal des heiligen Derwischs versammelt. Sie stehen an der Mauer oder sitzen auf dem Boden, unterhalten sich leise und rauchen Haschisch. Als wir an ihnen vorbeigehen, verstummen sie und sehen uns an. Wir lächeln und winken als Zeichen, dass sie nichts von uns zu befürchten haben. Morgen, sage ich, wann? Zeitig, sagt mein Cousin. Mach das nicht, sage ich. Und er sagt, das ist nicht meine Entscheidung. Wir setzen uns auf eine Bank mit Blick auf das Grabmal und seine smaragdgrüne Kuppel, auch das Grabmal blieb von Angriffen, sei es von den Russen oder den Mudschaheddin, nicht verschont. Glaubst du, fragt er, steht das Ding noch, wenn ich zurückkomme? Kommst du zurück?, frage ich und versuche, mir die Worte des Propheten, die einst in goldener Schrift die Kuppel zierten, in Erinnerung zu rufen. Er nickt, wenn unser Land wieder uns gehört.

Einer der Jugendlichen kommt zu uns, bietet uns vom Haschisch an, wollt ihr? Ich winke ab, aber mein Cousin bedankt sich und greift danach. Heute haben wir Strom, sagt der Jugendliche und lächelt, dann geht er zurück zu seinen Freunden.

Wir hören Schüsse, erschrecken aber nicht. Muss ganz in der Nähe sein, sage ich, und Tariq nickt. Nicht nah genug, sagt er und zwinkert zu mir herüber. Wir bleiben sitzen. Die Gruppe Jugendlicher verstreut sich schlagartig in alle Richtungen. Angsthasen, sagt mein Cousin. Und ich sage, auch ich habe Angst, manchmal, nicht um mein Leben, aber um das meiner Familie, dass der Familie, meinem Vater, meiner Mutter, den Menschen, die ich liebe, etwas zustößt. Denen wird nichts passieren, sagt Tariq, denen nicht, sagt er, und dir auch nicht. Unser letzter gemeinsamer Abend, sage ich. Hör auf, sagt er und boxt mich in die Seite, ich komme früher wieder, als dir lieb ist. Ich boxe zurück, muss lachen, stehe auf und gehe in Angriffspose, na los, sage ich, zeig, was du drauf hast. Auch mein Cousin steht auf, stellt sich mir gegenüber, hebt die Fäuste, ich mach dich fertig, sagt er und stürzt auf mich los. Ich bin schnell und wendig in meinen Bewegungen, weiche seinen Schlägen aus, platziere meine, sodass er jedes Mal, setze ich zu einem Schlag an, getroffen wird und leise stöhnt. Bald habe ich ihn im Schwitzkasten, Sekunden später unter mir auf dem Boden. Hast dich mit dem Falschen angelegt, sage ich und lache. Auch er lacht. Ich lasse los und reiche ihm meine Hand, nach der er greift, und ich helfe ihm auf die Beine. Mein Arm schmerzt, das gebe ich nicht zu. Jetzt, sagt er und putzt sich den Staub von Jacke und Hose, sehen wir fern.

Wir sitzen in meinem Zimmer, ich auf dem Bett, er auf dem Fußboden, zwei Stockwerke unter uns der Keller, Einschusslöcher in den Wänden, Staub auf den Büchern, Staub auf der Wäsche, die nicht mit in den Keller kam, hinter dem Bett ein indisches Tuch, darauf mit Stecknadeln befestigt das Bild einer Bollywood-Schönheit. Ob sie sich schon Sorgen machen?, frage ich und denke an Vater, an Mutter. Machen sie doch immer, sagt mein Cousin. Im Fernsehen Propaganda. Ich kann’s nicht mehr hören, sagt er, alles Lüge, niemand wird dieses Land befreien, am wenigsten, selbst wenn sie es einmal vorhatten, die Taliban. Ich stehe auf, gehe zur Anrichte mit Fernseher und Videorekorder, um einen Film einzulegen. Als ich mich bücke, zischt eine Kugel durchs Zimmer, direkt über meinem Rücken, und ich werfe mich auf den Boden, auch mein Cousin geht in Deckung, ich höre ihn fluchen, und noch eine Kugel saust durchs Zimmer, ich drehe mich zu Tariq, will sehen, ob er getroffen ist, ist er nicht, aber die indische Schauspielerin, immer noch lächelnd, rechts in ihre Schulter.

Als wieder Ruhe einkehrt, stehe ich auf, gehe zurück zum Bett und streiche der Schauspielerin sanft über die papierene Wange. Scheiße, Rahman, sagt mein Cousin und schüttelt den Kopf, hättest du dich nicht gebückt, die Kugel hätte dich in den Kopf getroffen.

Zurück im Keller erzähle ich meinem Vater, was Tariq und mir passiert ist, ich lache, als ich von der Kugel berichte, die fast in meinen Kopf, dafür zielsicher in der Papierdame Schulter traf. Er sagt nichts, geht auf mich zu, nimmt mich in die Arme, schon gut, sage ich, uns ist nichts passiert, passiert uns doch nie etwas. Mein Vater lässt ab von mir, nickt, sagt noch immer nichts und sieht zu meiner Mutter, die in einer Ecke sitzt und liest. Er geht zu ihr, kniet sich vor sie hin und greift nach ihrer Hand. Während er redet, schüttelt sie unentwegt den Kopf, bald darauf beginnt sie zu weinen.

Ich setze mich in eine andere Ecke des Kellers, eingepackt in meine Decke, Tariq und Miriam sitzen mir gegenüber, ich sage, spielen wir Karten, gewinne ich, sage ich zu meinem Cousin, gehst du nicht nach Moskau. Und wenn du verlierst?, fragt er. Ich lächle, sage, ich verliere nie.

Diese Nacht legt sich Miriam nicht zu mir, und es ist kalt so ohne ihren Körper, und ich vermisse ihren gleichmäßigen Atem, der mich einschlafen lässt. Sie kann nicht zu mir, das generatorbetriebene Licht im Keller bleibt an, niemand schläft, und die flüsternden Stimmen sammeln sich wie ein Gesang in den kalten, weiten Mauern und in meinem Herzen.

Tariq sitzt bei seinem Vater, sie trinken Tee, reden leise, manchmal sieht er zu mir herüber und lächelt. Auch meine Eltern sind wach und mein Bruder, auch sie reden. Wird mein Vater in der Diskussion energischer, versucht meine Mutter, ihn zu beruhigen. Ich überlege, ob ich zu ihnen soll, ihnen Tee machen, ihnen zuhören, aber ich bleibe in meiner Ecke und gebe vor zu schlafen. Miriams Gesicht kann ich nicht sehen, sie hat mir den Rücken zugewandt und ihren Kopf unter dem Polster vergraben, und während wir Karten spielten, sprach sie kaum, war ihr Blick abwesend, und ich vermute, sie ist böse auf mich.

In meine Matratze gedrückt, träume ich. Unter der Matratze nicht bloß ein Raketensplitter, nicht bloß ein Stück Gummi, das einmal einen Fahrradreifen formte, mit der Spitze nach oben bohren sich Gewehrpatronen größer werdend durch die Matratze in meinen Rücken, in meine Beine, in meinen Hinterkopf. Jemand rüttelt an meiner Schulter, ich wache auf. Tariq im Schneidersitz an meiner Seite, sein Rücken an die Wand gelehnt. Ich setze mich auf, bleibe unter der Decke, hast du Angst?, frage ich. Und er flüstert, er würde gerne eine Zigarette rauchen, vielleicht etwas Stärkeres. Im Keller ist die Notbeleuchtung an, wir haben keine Heizung, und ich kann schwach seinen und meinen Atem sehen. Wenn du wieder aufwachst, sagt er, bin ich schon weg. Weck mich, sage ich, bevor du gehst. Nein, sagt er, besser nicht.

Das Notlicht legt einen grünen Schleier über die schlafenden Körper. Zwanzig Männer, vierzig Frauen, seit Monaten leben wir in diesem Keller. Was für ein Gefängnis, sagt mein Cousin. Es könnte schlimmer sein, sage ich. Und er antwortet, du musst noch viel lernen, Rahman, die ganze Stadt ist ein Gefängnis. Bleib, sage ich, und Sekunden später, nimm mich mit. Wenn du auch gehst, sagt er, wer flirtet dann mit den hübschen Frauen? Stimmt, sage ich, nicht alles schlecht hier im Keller. Und Tariq lacht und greift in seine Jackentasche und holt seine Zigaretten heraus, hier, sagt er und schiebt mir das Päckchen unter die Decke.