Gerhard Streminger

DALRIADA

Ein schottisches Märchen

Leykam

Zitat

Frei steht grossen Seelen auch jetzt noch ­die Erde. Leer sind noch viele Sitze für ­Einsame und Zweisame, um die der Geruch stiller Meere weht. Frei steht noch grossen Seelen ein freies Leben.

Wahrlich, wer wenig besitzt, wird umso ­weniger besessen …

Friedrich Nietzsche,

Also sprach Zarathustra

Prolog

Als ich noch im Norden nahe der Küste lebte, sah ich dieses spezielle Wetterphänomen recht häufig. Aber dort, wo ich nun wohne, ereignet es sich nur sehr selten, vielleicht ein oder zwei Mal pro Jahr:

Nach einem stürmischen Regen, der die Luft gereinigt hat, erstrahlt die Sonne wieder in voller Pracht. Der Blick, der lange Zeit eingeschränkt war, öffnet sich und erlaubt eine Sicht über viele Kilometer. Falls es immer noch stürmt, folgen der abziehenden, dunklen Wetterfront oft dutzende schneeweiße Wolken vor hellblauem Hintergrund. Bisweilen nähern sie sich so rasch, als wären sie von einem Vulkan knapp hinter dem Horizont in die Luft geblasen worden. Zumeist scheinen einige dieser Wattewolken noch eine unsichtbare Leiter zu erklimmen und werden, je näher sie kommen, größer und größer.

Untermalt werden diese weißen Rauchzeichen am Himmel noch vom Rauschen des Windes, der Zweige und Blätter hin und her schüttelt. Dabei entsteht eine Klangwolke, die einmal nach oben hin anschwillt, dann wieder in die Tiefe sinkt. Aber Folge und Rhythmus der Töne sind gänzlich ungeordnet: Unerwartet kommen sie, und auf einmal sind sie wieder verschwunden. Manches Mal krachen Äste aneinander, und es entsteht ein kaltes Geräusch wie der jähe Schlag auf eine Trommel, der mich immer frösteln lässt.

Das Blau der Himmelskuppel zusammen mit dem Wolkenspiel aus Licht und Schatten sowie das unvorhersehbare Grollen des Windes vermögen in mir in besonderer Weise Erinnerungen wachzurufen. Bilder tauchen auf, die ansonsten in der Nacht des Vergessens schlummern. Zumeist handeln sie von einem Sommernachmittag vor vielen Jahren, als ich auf einem einsamen Parkplatz in den schottischen Highlands Rast gemacht hatte: Vor mir ein riesiges Trogtal mit zwei kleinen Seen, in denen sich winzige Ausschnitte der kargen Hügellandschaft und des mächtigen Wolkengebildes spiegelten. Auch damals heulte der Wind, aber er zeichnete keine Wellenmuster in Gebüsche und in das Geäst der Bäume, sondern in das Heidekraut wie in das Fell eines riesigen Bisons. Über mir erstreckte sich auch kein blauer Ozean von Horizont zu Horizont mit einigen weißen Inseln, sondern der Himmel war fast bis zur Erde düster mit schweren Regenwolken behangen. Wenige Meter über mir türmten sich Wolkenbänke auf, die sich mit dumpfem Getöse aus allen Richtungen genähert und zum Teil ineinander verkeilt hatten.

An einigen wenigen Stellen waren diese schwarzgrauen Ungetüme jedoch geborsten, und es öffnete sich ein kleiner Schacht, durch den grelles Sonnenlicht wie fließende Lava strömte. Vom Sturm wurden die Sonnenfenster über die Heide- und Moorlandschaft wie fliehende Schafe getrieben. Aber zwischendurch war es fast völlig windstill, und die Lichtflecken wanderten dann im Zeitlupentempo den Bergrücken entlang, oder schnell den Hügel hinab, über kleine verkrüppelte Birken und tiefe Furchen hinweg, überquerten die beiden Seen und kleinen Bäche, die wie blaugraue Arterien die Heide durchströmten. Schließlich stürmten die Sonnenfenster den schroffen Abhang hinauf … und verschwanden im Nichts. Wenn man jedoch über das Tal hinweg in die Ferne schaute, sammelten sich die Wolken zu einer so dichten und unheimlichen Wolkenmasse, als wäre dort die Nacht nicht nur an-, sondern ausgebrochen.

Neben mir stand Heather, eingehüllt in ihren gelben Regenschutz. Ihren Kopf hatte sie noch zusätzlich durch ein breites Stirnband, gebunden aus einem Seidenschal, vor Wind und Nässe geschützt. Wie in alten Filmen bei extremer Zeitlupe tauchten wir gemeinsam einmal in Licht, dann wieder in Dunkelheit. Zuweilen rüttelte der Wind so heftig an unseren Körpern, dass wir uns mit Gewalt dagegen stemmen mussten. Als holte sich die Erde gelegentlich neue Kraft, war es zwischen den Windstößen oft längere Zeit vollständig ­ruhig. Nach diesen Phasen der Erholung brach jedoch neuerlich der Sturm los, und wir mussten unsere ganze Kraft aufbieten, um ihm zu trotzen. Ein ständiges Auf und Ab hatte die Gegend erfasst, so als atmete die Erde gerade an dieser Stelle tief ein und aus. Einmal hatte der Wind die Wolkendecke an mehreren Stellen auseinandergetrieben, und ein Lichtstreifen folgte dem anderen. Als diese den Hügel hinabhuschten, kleideten sie die Heide in ein Sträflingsgewand.

Wie lange wir dort standen, weiß ich nicht mehr so genau. Zwar hatte ich versucht, das Geschehen möglichst gefasst über mich ergehen zu lassen, aber ich fühlte mich fehl am Platz, als Eindringling, der vertrieben werden sollte. Derartigen Naturgewalten ausgesetzt, verspürte ich eine beklemmende Fremdheit und Hilflosigkeit. Aber gelegentlich überkam mich auch ein sonderbares Gefühl des Unbeteiligtseins, insbesondere dann, wenn das grelle Licht der Sonne plötzlich wieder aufgeleuchtet und Ruhe eingekehrt war. Selbst der Wind schien eine Zeitlang wie gebannt der Grabesstille zu lauschen.

Ungeachtet dieser dramatischen Eindrücke wäre ich wohl schon längst ins Auto gestiegen und hätte den Sturm einfach Sturm sein lassen, wäre da nicht Heather gewesen. Denn im Gegensatz zu mir schien sie sich pudelwohl zu fühlen, als wäre sie als Ehrengast zu einem höchst seltenen Naturschauspiel geladen. Sobald mir dies bewusst geworden war, vergrub ich die Hände noch tiefer in den Taschen meines Anoraks und versuchte breitbeinig, mir mein Unbehagen nicht anmerken zu lassen.

Einmal quittierte Heather die Tatsache, dass sie nach einer längeren finsteren Phase erneut in hellem Licht stand und ihr Körper wieder Schatten warf, mit einem Jauchzer. Ein andermal versuchte sie, indem sie sich bei mir einhakte und meinen Blick in eine bestimmte Richtung lenkte, mich auf ein Sonnenfenster aufmerksam zu machen. Wie ein Bullauge geformt, hatte es unten im Tal einige Schwarzkopfschafe in ein Scheinwerferlicht getaucht. Das Fell der Tiere war vom Wind so arg zerzaust, als wäre gerade ein Helikopter knapp über sie hinweg geflogen. Aber unbeeindruckt wanderten sie wiederkäuend von einem Flecken Gras zwischen dem Heidekraut zum nächsten.

Heather begann in einer für mich fremden Sprache leise zu singen und ihren Oberkörper im Rhythmus des Lieds ein wenig nach rechts und nach links zu drehen. Mich irritierte ihr Verhalten noch zusätzlich, und ich empfand es als einigermaßen deplatziert. Wenn ich mich jedoch heute, viele Jahre später, daran zurückerinnere, so war wohl nicht Heathers, sondern meine Reaktion der Situation durchaus unangemessen. Denn in Wirklichkeit war ich bloß eifersüchtig darauf, dass sie diesen Naturgewalten so entspannt begegnen konnte, während ich nicht so recht wusste, wie mir geschah, und ratlos wie eine Kuh dastand, die in steilem Gelände vom vertrauten Weg abgekommen war. Doch zu meiner endgültigen Verwirrung meinte ich, als das Heulen des Windes wieder einmal eine Atempause eingelegt hatte, Heather nicht mehr leise singen, sondern tief schluchzen zu hören.

Nachdem der immer heftiger werdende Sturm uns fast umgeworfen hatte, schubste sie mich, und wir taumelten die wenigen Schritte zurück zum Auto und suchten darin Schutz.

1. Kapitel

Das Herz Englands

Alles nahm seinen Anfang damit, dass ich in einem deutschsprachigen Magazin über Landschaftsarchitektur folgende Annonce las:

Symposium über

Gartenarchitektur in

Castle Howard, England.

Seit der Verfilmung von Evelyn Waughs Roman Wiedersehen mit Brideshead, der zu einem Großteil in eben jenem Castle Howard gedreht wurde, hegte ich den Wunsch, dieses Schloss zu besuchen. Zwar missfielen mir Barockarchitektur und Interieur des Gebäudes – so typisch für katholische Länder, aber so selten in England – als viel zu überladen und bombastisch. Aber es war die Landschaft um das Schloss, die vielen Parks und Gärten, die mich faszinierten. Zudem war ein zweiter großer Schauplatz dieser Fernsehserie das alte Oxford gewesen, und es wurde praktisch gerade zu jener Zeit gedreht, als ich dort studierte. Somit waren die Aufnahmen, neben der Dramatik der Erzählung, für mich auch so etwas wie ein Zeitdokument.

Von den beiden Aufnahmeorten einmal abgesehen, war ich zudem von der Art und Weise, wie der Stoff filmisch aufbereitet wurde, überaus angetan. Denn alles war in epischer Breite erzählt, mit einer derart packenden Langsamkeit, die ich fast schon als schmerzhaft empfand. Gerade diese Behutsamkeit der Darstellung öffnete jedoch zahlreiche Räume und ließ mich – und wohl auch unzählige andere – am Geschehen fast unmittelbar teilhaben. Zugleich erlaubte diese Gemächlichkeit, die heutzutage als ziemlich exotisch gelten dürfte, sehr viel Zeit für eigene Assoziationen. So reiste man nicht nur im Großbritannien der 20er und 30er und 40er Jahre sowie in der Gedankenwelt und den zum Teil bizarren emotionalen Welten anderer dahin, sondern ich unternahm zugleich eine Wanderung in die eigene Vergangenheit, gelegentlich voller Überraschungen.

Sowohl Schauplätze als auch das Besondere der Verfilmung von Wiedersehen mit Brideshead blieben mir also in lebhafter Erinnerung. Gerade in hektischen Zeiten war die epische Sprache des Films zuweilen so etwas wie ein Hort der Muße und Entspannung. Da mich zu guter Letzt auch noch englische Parks und die Ideen, die deren Gestaltung zugrunde liegen, brennend interessierten, war der Entschluss zur Teilnahme an diesem Symposium über Gartenarchitektur schnell gefasst.

Für den betreffenden Zeitraum nahm ich also einen langen Sonderurlaub in der Absicht, mit meinem Wohnmobil nach England und dann – gleichsam als Draufgabe und Kontrapunkt zu dieser zivilisierten Welt – in die wilden schottischen Highlands zu reisen. Da ich ähnliche Fahrten bereits mehrmals unternommen hatte, wusste ich gut um den für mich bestmöglichen Ablauf Bescheid: Vor der Abreise würde ich ein oder zwei Tage fast nur schlafen und mich ausruhen, um dann – mit vielen Unterbrechungen – den Weg nach Oxford in einem zurück zu legen. Überdies war die Reise so geplant, dass ich abends in Oostende ankam, eine Nachtfähre nahm und mich bei Dunkelheit auf menschenleeren Straßen an den britischen Linksverkehr gewöhnen konnte. Noch vor den Morgenstaus würde ich dann, wenn alles klappte, in Oxford ankommen.

Auch die damalige Reise nach Großbritannien verlief ohne Probleme. Da die erste Spur auf den Autobahnen dereinst noch keine mobile Lagerhalle war, fuhren die Lastwägen auch noch nicht Stoßstange an Stoßstange. Wenn man also bereit war, bei gemächlichem Tempo die erste Autobahnspur zu benützen, und wenn es einen nicht störte, gelegentlich von großen Sattelschleppern überholt zu werden, dann konnte man entspannt und fast allein auf der Autobahn dahinrollen und sich so auch der Landschaft und den eigenen Gedanken widmen.

Bei diesen Reisen fand ich besonderen Gefallen daran, die Lokalsender der jeweiligen Gegend zu hören, und ich überließ es daher dem Radio, immer wieder die nächstgelegene Sendestation anzupeilen. Geburtstagwünsche für die liebe Omama drangen dann über den Äther, oder es wurde leidenschaftlich über die Finanzierung des neuen Hallenbades diskutiert, oder im Kindergarten waren soeben einige Eltern mit ihren Sprösslingen aus Partnergemeinden eingetroffen. Wenn man sich dann erneut einer größeren Stadt näherte, wurde der Gesprächsstoff sogleich allgemeiner. Aus der Landes- oder Bundeshauptstadt waren Berichte zu hören, und auch Korrespondenten aus Brüssel oder Washington meldeten sich zu Wort. Hatte man schließlich das Einzugsgebiet der Großstadt hinter sich gelassen, wurden wieder die Inhalte der Nachrichten im Nu konkreter. Wohl vom besonderen Lokalkolorit beeindruckt, kam mir bei einer dieser Fahrten die Idee, wie attraktiv es doch wäre, gäbe es neben den vielen Autobahnen auch noch Alleen durch ganz Europa. In den verschiedenen Abschnitten wären dann autochthone, also für die jeweilige Gegend typische Bäume gepflanzt, die anderswo nicht so prächtig gedeihen können.

Einigermaßen entspannt, kam ich bei der besagten Reise am Abend in Oostende an. Dort fand ich problemlos einen Platz auf einer der fast leeren Nachtfähren, genoss endlich wieder das Schaukeln eines großen Schiffes auf rauer See, schlief ein wenig und gewöhnte mich, wie geplant, auf der Fahrt von Dover nach Oxford an den Linksverkehr. Noch vor Morgengrauen kam ich dort an und verschlief den Tag auf einem Campingplatz in meinem Wohnmobil.

Abends, als gerade das tägliche Glockenspiel über der Stadt zu hören war, schlenderte ich die Themse flussaufwärts ins Zentrum der Stadt. Wie einen Willkommensgruß empfand ich den lauen, ungewohnt langen englischen Sommerabend – mit den riesigen Bäumen ringsum, den gelegentlichen Blumendüften, die von irgendwo heranwehten, und den kleinen Menschengruppen, die sich zu einem Picknick in den Parks oder am Ufer der Themse getroffen hatten. Als wollte sie überhaupt nicht mehr untergehen, wanderte die Sonne stundenlang den Horizont entlang.

Das alte Oxford, aus orangem, grauem, ocker- oder maisgelb gefärbtem Sandstein erbaut, liegt in einer kleinen Talsenke, von sanften Hügeln umgeben. Die Stadt trägt den Beinamen The Heart of England, also ›das Herz Englands‹. Aber dieser Ehrentitel ist wohl ein typisch britisches Understatement. Denn In Wirklichkeit ist Oxford, in der die erste englischsprachige Universität gegründet worden war, natürlich viel mehr als nur das geistige Zentrum eines bestimmten Landes.

Nachdem ich mich auf einer Bank, mit Blick auf eine grandiose Flusslandschaft etwas ausgeruht hatte, verließ ich das Ufer der Themse und die vielen, entspannt in der Wiese Sitzenden und spazierte am Christ Church College vorbei. Gleich neben dem Hauptgebäude graste in den dazugehörigen Wiesen, den Meadows, friedlich eine Herde schwarz-weiß gefleckter Kühe. Viele Jugendliche kamen mir entgegen, oft ein Fahrrad schiebend und miteinander schwatzend. Ihre zumeist dunkelblau gefärbten Pullover hatten sie, da es noch ungewöhnlich warm war, um die Schultern gebunden. Auf dem Fahrradlenker war häufig ein Korb befestigt, in dem Bücher, ein Laptop oder etwas Essbares lagen.

Sobald man Oxfords geschäftige Hauptstraßen verließ und einen der Innenhöfe der Colleges betrat, umfing einen eine Atmosphäre der Ruhe und Geborgenheit: ein sorgsam gepflegter Rasen, der mit einem niedrigen Eisenzaun von den geschotterten Wegen getrennt war; einige zumeist efeuberankte, nur zwei oder drei Stockwerke hohe Gebäude in einem großen Viereck; die weit in den Innenhof ragenden abgerundeten und abgetretenen Steinstufen; die knarrenden Holztreppen hinauf zu den Zimmern; die windgeschützten Sitzbänke, wo sich Studierende in der Abendsonne entspannten oder in einem Buch blätterten. Das alles schien erfüllt von einer lockeren, überaus kreativen Atmosphäre und vom Hauch Jahrhunderte alter, jugendlicher Träume.

Den Mittelpunkt Oxfords bildet eine Riesenbibliothek, die weltberühmte Bodleian Library mit einem Bestand von etwa zehn Millionen Büchern. Von dort zum Fluss Cherwell, der im Süden der Stadt mit der Themse zusammenfließt, ist es nur ein kurzer Spaziergang. Bei Sonnenschein drängen sich auf dem Fluss dutzende punting boats. In diesen Flachbooten steht auf dem hinteren Teil der ›Gondoliere‹, der mit einer langen Stange den Boden des Flusses zu erreichen und auf diese Weise das Boot anzuschieben und zu lenken versucht. Zumeist sind es Studierende, die ihre Kommilitonen, die nicht selten miteinander eine Flasche Champagner teilen, zu den Pubs entlang des Flusses rudern. Manchmal gleitet das Boot mit gut gelaunten Insassen an Obdachlosen vorbei, die am Ufer auf einer Bank sitzen und reglos in die Ferne starren, neben sich eine in einen braunen Papiersack gewickelte Flasche. Bisweilen machten die Bootsleute aber gleich irgendwo am Ufer Halt und legten sich auf die Wiese unter einen Baum, betrachteten den Himmel und den Rauch der Zigaretten, der wie ein Schleier empor zu den Blättern wehte.

Einige Tage lang blieb ich in Oxford und besuchte jene Orte, an denen ich schon hunderte Male zuvor gewesen war: das Pub ganz in der Nähe der Bibliothek sowie jenes aus dem 13. Jahrhundert, wo schon Dezennien vor der Entdeckung Amerikas durch Kolumbus Studenten ein und aus gegangen waren. Mehrmals stieg ich die Stufen zum Eingang des Sheldonian Theatre hinauf, um mich auf einer der Sitzbänke im Freien auszuruhen und einfach zu schauen; oder ich spazierte nach Summertown, jenem Stadtteil im Norden der Stadt, der auch auf breiten Gehwegen durch einen Park und neben Villen und modernen Universitätsgebäuden zu erreichen ist.

An einem ziemlich kühlen Nachmittag wanderte ich die Themse entlang nach Norden zu den Pubs am Rande der Stadt. Hatte es längere Zeit nicht geregnet, so saßen sogleich viele mit einem Getränk in der Hand am Flussufer und schauten den Fischen zu, die sich um das Futter zankten, das ihnen Kinder zugeworfen hatten. Kaum etwas schien sich in all den Jahren geändert zu haben, die Zeit stand zumindest dort, in den ländlicheren public houses, still. Continuity, also ›Beständigkeit‹ oder einfach ›Kontinuität‹ ist wohl das Typische, wenn nicht das Geheimnis der englischen Kultur. Vieles ändert sich wie ein träger Fluss nur sehr langsam, wenn überhaupt, und das Allermeiste wird, wenn nur irgendwie möglich, bewahrt. Neu hinzugekommen sind allerdings die zahlreichen Überwachungskameras und die allgegenwärtigen Handys, die regelmäßig nach einem kurzen Gesang oder Trommelwirbel Menschen aus der Nähe in eine andere Welt lockten. Wenn ich die Fußgängerzone im Zentrum der Stadt entlangspazierte, so fühlte ich mich unter den vielen Menschen am elektronischen Gängelband, deren Aufmerksamkeit auf ein Anderswo gerichtet war, ziemlich allein und einsam. Dabei schloss das Gefühl von Einsamkeit noch jenes der Hilflosigkeit mit ein, bei der Erfahrung des Alleinseins war dies nicht der Fall. An manchen Straßenecken standen zudem Menschen, zumeist Jugendliche, die in völlig ungewohnter Körperhaltung anderen eine kurze Botschaft mitteilten.

Das Leben in England, zumal im ländlichen Teil, läuft um einiges langsamer ab als bei uns, vielleicht mit Ausnahme der Schweiz. Alles scheint, auch die Reaktionen der Menschen, ein wenig in Watte gepackt zu sein. Kaum jemand empfindet es deshalb als einen Makel, wenn man sich mit Reaktionen ein wenig Zeit lässt und zuerst einmal nachdenkt, ehe man handelt oder urteilt. Allein diese Geduld ist schon recht zivilisiert, aber in Oxford, so meine Erfahrung, kommt noch etwas Besonderes hinzu: Es scheint dort geradezu verpönt zu sein, auf Fragen eine ritualisierte, erwartete, allzu übliche Antwort zu geben. Selbst alltäglichste Erkundigungen wie nach der Uhrzeit werden oft so beantwortet, als wollte man dem Gegenüber versichern, hellwach und geistesgegenwärtig, ganz da zu sein. Dies geschieht, indem man – wenn gefragt – zunächst einmal die dazu relevanten Fakten oder Umstände im Kopf durchgeht, dann auswählt und von diesen, wenn möglich mit etwas Humor, berichtet. Das dauert zwar länger als üblich, aber diese klarsichtige Sachlichkeit auch in unerwarteten Situationen schafft Vertrauen. Allerdings hat diese Verachtung des allzu Gewöhnlichen auch eine Schattenseite, nämlich eine bemerkenswerte Vorliebe für ziemlich verstiegene, wenn nicht gar verrückte Ansichten.

Neben den Pubs erfüllen die zahlreichen Parks in ganz England, natürlich auch in Oxford, eine zentrale soziale Funktion. Sie sind ein wichtiger Treffpunkt, ein Ort der Erholung und ein Hort der achtsamen Pflege anderer Lebewesen. Seit zumindest 5.000 Jahren gibt es – beispielsweise aufgrund von Beobachtungen an der Kult- und Kulturpflanze Wein im alten Ägypten – das Wissen, dass es gelegentlich der klugen, kultivierenden Hand des Menschen bedarf, sollen Pflanzen sich voll entfalten können. Die Sorgfalt, mit der in englischen Parks andere Lebewesen gepflegt werden – und sei es nur die Sorge, ob Pflanzen wohl genügend Licht und Wasser bekämen –, könnte ein Vorbild dafür sein, dass Menschen auch ihre soziale Umgebung achten und kultivieren sollten. Bürger und Bürgerinnen, so könnte man den Gedankengang weiterspinnen, müssen für den Staat Sorge tragen, damit dieser blühe und gedeihe wie ein Garten; und der Staat wiederum sollte die Bedingungen dafür schaffen, dass Menschen und andere Lebewesen weitestgehend frei ihren eigenen Begabungen und Interessen nachkommen können.

Dennoch wirken englische Parks auf den ersten Blick ungeordnet, ungezähmt und geradezu schlampig im Vergleich zur Pflanzendressur in französischen Barockgärten. Aber auch hier trügt der Schein. Denn in einem english garden steckt sehr viel Planung, allerdings interessierten sich die klassischen englischen Landschaftsarchitekten für die von Menschen erdachten Geometrien nicht. Vielmehr ging es ihnen um Abwechslung und um das natürliche Spiel von Licht und Schatten. Französische Barockgärten sind in entscheidender Hinsicht immer gleich gestrickt: Auf einer eingeebneten Fläche werden am Reißbrett geplante Figuren mit Hilfe von Blumen oder Buchsbäumen, Eiben oder Zypressen in die Wirklichkeit übertragen. Englische Landschaftsarchitekten erachteten es hingegen als entscheidend, die Besonderheit des Ortes künstlerisch zu gestalten, und das heißt: das Wesentliche des Orts, den genius loci zunächst einmal zu erfassen und ihn dann zu betonen.

Auf der Basis topographischer Gegebenheiten wurde also in der englischen Landschaftsarchitektur versucht, ein ganz bestimmtes Gebiet mit Hilfe natürlicher Elemente wie Bäume, Hügel, Weiher oder Wiesen behutsam zu verbessern. Ist dies gelungen, so spiegelt sich darin die menschliche Sehnsucht nach paradiesischen Zuständen. Wie die besten Kunstwerke, machen auch englische Parks das Dasein erträglicher und lassen eine andere, gar jenseitige Welt vergessen. Die Balance oder Ausgeglichenheit zwischen den verschiedenen natürlichen Elementen, die in englischen Parks veranschaulicht ist, passt zudem vorzüglich zum geistigen Klima Oxfords. Denn Intellektuelle sind wohl so zu charakterisieren, dass sie bereit und fähig sind, verschiedenste Standpunkte zu verstehen und dann zwischen diesen mittels Urteilskraft abzuwägen, also ein gedankliches Gleichgewicht herzustellen.

Es war für mich also von vorneherein klar, dass ich in Oxford viel Zeit in Parks oder am Ufer des Cherwell oder der Themse verbringen würde. Und doch fehlte mir etwas: Obwohl die Stadt über großartige Flusslandschaften verfügt, gibt es – was ich anderswo in England zum ersten Mal gesehen hatte – nirgendwo großzügige, unverändert gebliebene Flussinseln. Diese besonderen Enklaven eignen sich meiner Erfahrung nach besonders gut zur Beobachtung von Vögeln und deren Nistverhalten. Diese Lebewesen scheinen sich auf derartigen grünen Inseln – den Katzen so fern – pudelwohl zu fühlen. Wenn man sich also die Zeit gönnt, so sieht man auf diesen Flussinseln ein ständiges Kommen und Gehen, ein Davonfliegen und ein Heimkommen, und man erfährt als Betrachter ein erlesenes Tiefenerlebnis. Ich erinnere mich noch gut, dass einmal erst durch das Treiben dieser Lebewesen sich für mich eine bloße Kulisse in eine Landschaft verwandelte. Im zivilisierten Oxford, wo der erste botanische Garten Englands gegründet worden war, gibt es aufgrund vieler Flussbegradigungen diese ganz spezielle Raumerfahrung aber nicht mehr.

Nach einigen Tagen der Entspannung verließ ich Oxford und fuhr in Richtung York mit dem Ziel Castle Howard, das etwa zwei Dutzend Kilometer nördlich der berühmten mittelalterlichen Stadt erbaut wurde. Noch in der Nacht brach ich meine Zelte ab, um bei Beginn des Morgenverkehrs bereits auf der Autobahn zu sein. Znächst folgte der Schwärze der Nacht das Grau der Dämmerung. Die Scheinwerfer der Autos, die kegelförmige Lichter in die Dunkelheit gebrannt hatten, verloren zusehends an Kraft; und alles das, was außerhalb dieses Lichts gelegen war, wurde allmählich sichtbar. Schemenhaft waren bereits Häuser und Bäume und Hecken zu erkennen, und langsam verfärbte sich das allgemeine Grau in das Rosa der Gefieder von Flamingos; auch die weißen Kondensstreifen der Flugzeuge vor blauem Hintergrund waren nun deutlich zu erkennen.

Als der oberste Rand der Sonne am Horizont sichtbar wurde, fuhr ich bereits auf der Autobahn. Aber anders, als ich es erwartet hatte, herrschte dort eine fast gespenstische Ruhe: Anstatt sich dem schnellstmöglichen Fortkommen zu widmen, fuhren die Lastwagenfahrer, aufgefädelt in der ersten Spur, ganz langsam und schauten offensichtlich gebannt zum Horizont. Die zweiten und dritten Fahrstreifen blieben praktisch unbenützt. Völlig unerwartet, befand ich mich damals inmitten einer Sattelschlepperprozession der aufgehenden Sonne entgegen. In dem Augenblick jedoch, in dem die Sonne in ihrer ganzen Größe hinter dem Horizont aufgetaucht und das Licht zu grell geworden war, um die Sonne direkt anzuschauen, traten die Lastwagenfahrer auf das Gaspedal, und das übliche Gerangel setzte ein. Im hellen Licht waren nun alle Gegenstände, wie gewohnt, deutlich zu erkennen, aber alles wirkte kleiner und niedriger als in der Dämmerung zuvor.

Gleich neben den Ausfahrten der Autobahnen oder nahe den zahlreichen Kreisverkehren hatten da und dort Roma und Sinti ihre Wohnwägen geparkt. Außer diesem sagenhaften ›Fahrenden Volk‹ waren gelegentlich auch noch sie unterwegs, die Hippies der 60er Jahre und ihre Nachkommen. Mit einem alten Lastwagen oder einem alten Autobus, den sie zum Wohnhaus umfunktioniert hatten, fuhren sie übers Land. Zumeist waren die langhaarigen Frauen dieser homeless people in bunte, lange Röcke gekleidet, in die kleine, zumeist runde Blechstücke eingenäht waren. In ihnen spiegelten sich die Blicke der Betrachter. Als mir einmal nahe Oxford solche ätherischen, zumeist barfüßigen Wesen auf einer Fußgängerbrücke begegneten und sich Teile meines Körpers in ihren Kleidern spiegelten, dachte ich sonderbarerweise an die Gestalt des Hofnarren bei William Shakespeare. Als Einziger außer den Liebenden durfte er in einer adeligen Welt des Scheins die Wahrheit sagen – und die Torheiten anderer, selbst des Königs, widerspiegeln.

Zumeist werden diese homeless people von den Sesshaften, selbst im ziemlich toleranten England, mit einiger Verachtung angeschaut, oder man weicht ihnen großräumig aus, oder aber man blickt durch sie hindurch, als wären sie Fensterglas oder Büsche, die gerade ihre Blätter verloren hatten. Viele dieser gestrengen Betrachter sind gewiss gute Protestanten, deren Religion die Arbeit geheiligt hat. Mit großem Ernst werden sie, falls sie noch bibelkundig sind, sich auf die Autorität der von Gott offenbarten Schrift berufen, auf den heiligen Paulus vor allem. Aber der Held des Christentums und seine ersten Anhänger hatten nicht gearbeitet. Jesus von Nazareth warnte sogar vor der Arbeit und erkor die sorglosen Lilien im Felde zum Vorbild.

Häufig zu sehen waren diese modernen Nomaden allerdings nicht mehr, weshalb sie auch so exotisch wirkten. Während man nach ihnen richtiggehend Ausschau halten musste, präsentieren sich die gedrängten Wohnhaussiedlungen der Sesshaften gleich neben den Autobahnen. Manchmal reihte sich eine dieser Behausungen an die andere, oft hunderte Meter lang.

In England besteht ein gewichtiger Unterschied zwischen diesen alten Autobahnen und den neuen Motorways. ›Motorways‹ sind lärmwandbestückte Rennbahnen wie bei uns, Autobahnen ähneln indes eher zweispurigen Schnellstraßen, mit gelegentlichen Kreuzungen und Kreisverkehren. Befährt man also englische Autobahnen – und keine Motorways –, dann ist die Reise viel weniger monoton, und man sieht eben endlose Häuserzeilen oder schwarz-weiß gescheckte Kühe mit Rieseneutern, die friedlich gleich neben der Autobahn grasen, oder man entdeckt einen Gewerbebetrieb neben dem anderen, aufgefädelt wie auf einer Perlenkette. Einmal sah ich vom Auto aus eine Riesenfabrik mit vielen Gebäuden, alle weiß getüncht. Aber dort, wo die Arbeitenden ein und aus strömten, war der Eingang schwarz bemalt.

2. Kapitel

Wiedersehen mit Castle Howard

Nach einigen eher verwirrenden Verkehrshinweisen fuhr ich am Nachmittag auf einer Nebenstraße etwa 20 Kilometer nördlich von York. Nicht weit von der Straße entfernt, schlängelte sich ein Bach durch einen kleinen Auwald. Plötzlich stand es hinter einer Kurve wie aus dem Nichts vor mir, das Castle Howard mit der Riesenkuppel über dem Hauptgebäude und den beiden mächtigen Gebäudeflügeln. Alles wirkte imposanter als im Film, aber auch noch um einiges klobiger, also keinesfalls so anmutig wie so viele klassizistische Herrenhäuser in England. Bereits die Fassade, typisch für den Barock, war überreich dekoriert. Ich parkte das Auto am Straßenrand und blickte auf eine große Wasserfläche, in der sich Teile des Schlosses widerspiegelten. Schwäne adelten mit ihren würdevollen Bewegungen einen meines Erachtens nicht so übermäßig attraktiven, weil eben viel zu üppig inszenierten Schauplatz. Elstern liefen nervös mit ihren riesigen schwarzen Schwanzfedern, die ständig auf und ab wippten, am Uferrand hin und her, um an geeigneter Stelle Wasser zu trinken. Wenn sie ihren Durst gelöscht hatten, suchten sie rasch wieder das Weite.

Die am Kurs Teilnehmenden waren im Nebengebäude des Schlosses untergebracht – dort, wo auch einige der Bediensteten wohnten. Manche Studierende hatten es indes vorgezogen, in benachbarten Dörfern ein Quartier zu beziehen, und sie kamen nur zu den Veranstaltungen hierher. Ich persönlich genoss jedoch den Blick aus meinem Zimmer auf das große Wasserbassin vor dem Schloss, das von sorgsam geschnittenen Buchsbäumen eingerahmt war. Abends, wenn endlich endgültig Ruhe herrschte, lauschte ich im Bett dem Geplätscher des Wassers im großen Brunnen. Dies ist das Gemurmel der Ahnen, sagte später lächelnd eine Japanerin zu mir, die ihre Europareise mit dem Besuch eben dieses Seminars abschloss. Obwohl ich besonders genau horchte, was sie auch sonst noch zu sagen hatte, fand ich nie heraus, ob sie das ernst gemeint hatte oder mich nur verwirren wollte. Sie einfach zu fragen, mochte ich aber auch nicht, denn dies erschien mir bei diesem Thema doch als zu aufdringlich. Obendrein hätte ich wahrscheinlich ohnedies nur ein weiteres, mysteriöses Lächeln geerntet oder aber den leisen Vorwurf, doch einmal hören zu lernen.

Mit Ausnahme Afrikas waren alle Kontinente mit zumindest einem Bewohner oder einer Bewohnerin am Symposium vertreten, wobei Briten und Deutschsprachige das Gros bildeten. Der erste Vormittag begann mit einer Vorstellungsrunde, die ich als eher unangenehm empfand. Denn in diesem Punkt bin ich offenbar immer noch recht altmodisch und erlebe es als taktlos, wenn Menschen Fremden gegenüber sogleich mehr von sich preisgeben als ihren Namen und das Land, in dem sie geboren wurden oder sich seit geraumer Zeit aufhalten. Ihre Interessen und Vorlieben möchte ich dann doch lieber, wenn überhaupt, erst mit der Zeit und aufgrund von Eigeninitiative erfahren. Aber seit geraumer Zeit scheint es gang und gäbe geworden zu sein, Mitmenschen selbst an Intimem teilhaben zu lassen, ohne sich zu fragen, ob diese das überhaupt wissen wollen oder nicht.

Also ließ ich die verschiedenen Teilentblößungen wie eine kalte Dusche über mich ergehen und kam mir wie ein unhöflicher Exote vor, als ich meine Wortmeldung auf Name und Herkunftsland beschränkte. Zu meiner großen Überraschung schien jedoch eine andere Kursteilnehmerin ähnlich zu denken wie ich. Denn sie sagte nur, als sie an die Reihe kam:

„Heather, aus Schottland.“

Dies ließ mich gespannt aufhorchen und machte sie mir sogleich sympathisch.

Nach der Vorstellungsrunde begann der eigentliche Kurs mit einem Einleitungsreferat über die Geschichte der englischen Gartenkunst. Dabei erfuhren wir, dass sowohl der französische Barockgarten als auch der englische Landschaftspark auf antikes Gedankengut zurückgingen. Im ersten Fall war es der römische und später mittelalterliche hortus conclusus, der ›geschlossene oder eingefriedete Garten‹; und im Fall des englischen Landschaftsparks war es die Idee des Gleichgewichts und der Harmonie, vor allen von den alten Griechen erdacht und gefordert.

Zur Zeit der Renaissance, so spannte die Kursleiterin den historischen Bogen weiter, nahmen italienische Architekten diese griechische Idee der Balance wieder auf. Sie bemühten sich, in ihren Entwürfen ein Gleichmaß zu finden, und zwar ein solches zwischen Park, Gebäude und Landschaft. Eben diese Idee einer Ausgewogenheit wurde dann für die englische Gartenkunst des 18. Jahrhunderts bestimmend. Anders die französischen Barockarchitekten, denen es nicht um eine Harmonie des Parks mit Gebäuden und der ihn umgebenden Landschaft ging, sondern um etwas ganz Anderes, nämlich um die Huldigung des Herrscherwillens und um die Erinnerung an das verlorene Paradies.

Im ehemaligen Garten Eden, so die Annahme der französischen Barockarchitekten, habe noch Ordnung und Regelmaß geherrscht. Das Unregelmäßige und Ungeordnete sei hingegen eine Folge des Sündenfalls der ersten Menschen und deren Vertreibung aus dem Paradies. Tatsächlich gibt es in der Natur kein vollkommenes Regelmaß, ausgenommen vielleicht das Licht der untergehenden Sonne und dasjenige des Mondes über dem Wasser. Am deutlichsten nähert sich, von den Gegenständen auf Erden, wohl der Kristall dem Regelmaß, doch dieser ist etwas Totes.

In der französischen Barockarchitektur sollte also an Paradiesisches erinnert werden, und das hieß konkret, der Natur eine unnatürliche Ordnung aufzuzwingen. Da es dementgegen in der englischen Gartenarchitektur nicht um ein theologisches oder gesellschaftliches Thema ging, sondern um die Idee des Gleichgewichts zwischen dem Park und seiner Umgebung, sind english gardens notwendigerweise ortsgebunden. Ihre besondere Gestaltung und Einbettung in die konkrete Landschaft ist, zumindest vom Anspruch her, gerade nicht zufällig. In den französischen Barockgärten ist hingegen die künstlerische Umgestaltung der Landschaft auswechselbar, also gerade nicht notwendig.

Alle diese Informationen nahmen wir mit großem Interesse zur Kenntnis. Aber zumindest so sehr wie die Beschreibungen der Villen und Gärten zur Zeit der Medici beflügelte eine Kursteilnehmerin aus Schottland meine Phantasie. Heather saß zumeist ruhig da, ihre Stirn war etwas nach unten gesenkt – so, als wollte sie die Erde nicht aus den Augen verlieren. Als Folge dieser Köperhaltung blickte sie immer leicht von unten nach oben, und die Pupillen ihrer großen Augen berührten die oberen Augenlider. Ihr dunkelbraunes Haar mit einem leichten Stich ins Rötliche reichte ihr bis zu den Schultern. Ob ihre Haare gefärbt waren, weiß ich nicht, aber in Schottland gibt es viele Kupferdächle, wie man Rothaarige im Schwabenland gelegentlich wohl nennt. Während des Unterrichts hingen Heather manchmal einige Haarsträhnen ins Gesicht, und ihre Augen blitzten hinter einem schütteren Vorhang hervor. Einmal verbarg sie Teile ihres Gesichts noch zusätzlich hinter einem breiten Seidenschal, den sie sich locker um den Hals gebunden hatte.

Oft warf ich einen verstohlenen Blick auf sie, besonders dann, wenn Heather sich auf das Schreiben konzentrierte. Aber es war nicht nur Faszination, die ich empfand, sondern ich verspürte auch eine ganz leichte Abwehrhaltung – wohl deshalb, weil mir nicht klar war, ob diese rehartige Scheue, die sie an den Tag legte, natürlich war oder aber bewusst eingesetzt wurde, um auf andere interessant zu wirken.

Die Vorträge wurden durch mehrere, häufig von der Kursleiterin selbst angeregte Diskussionen unterbrochen. Zumeist ging es in diesen Gesprächsrunden darum, vertiefende Informationen zu erfragen oder aber Einwände gemeinsam gegeneinander abzuwägen: ›Wie hatten die englischen Landschaftsarchitekten eigentlich die Ideen der italienischen Renaissance kennengelernt?‹, lautete eine dieser Fragen, die eifrig debattiert wurde. Der Hinweis auf die Grand Tour, also jene übliche Bildungsreise junger englischer Adeliger im 18. Jahrhundert zu den großen Wirkstätten der Antike, war eine der treffendsten Antworten. Heather beteiligte sich zunächst an den Diskussionen nicht, sondern hörte nur aufmerksam zu und machte sich gelegentlich Notizen. Wenn sie in ihrem Schreibblock blätterte, benetzte sie die Kuppe ihres Zeigefingers mit ein wenig Speichel – etwas, das ich seit den Tagen meiner Grossmutter nicht mehr gesehen hatte.

Neben den Vorträgen und Diskussionen gab es gelegentlich kleinere Tests, um das Erarbeitete in konzentrierter Form zu rekonstruieren. Der erste Test handelte von eben jenen Gärten der Medici. Gefragt war, was das Typische der Gartenkunst zur Zeit der Renaissance gewesen sei. Zunächst gab es zur Beantwortung dieser Frage keinerlei Zeitlimit, wir konnten also so lange schreiben, wie es uns beliebte. Dann aber bestand die Aufgabe darin, die gestellte Frage mit 1.000 Worten zu beantworten, und schließlich mit … 200. Durch diesen äußeren Druck, so die Kursleiterin, sollte unsere Kreativität angeregt werden.