Franz Preitler

Die schwarze Baronin

Roman

Leykam

Zitat

Die Geschichte der Tamara von Lützow zeigt, dass sich die wahren Werte im Laufe der Zeit nicht verändert haben. ­Leidenschaft ist noch immer Leidenschaft, Liebe ist noch immer Liebe, Lügen sind noch immer Lügen. Wer sich ständig nach dem Wind dreht, hat den Boden der Wahrheit damals wie heute verlassen.

Prolog

„Darf ich nun eine der anwesenden Damen um eine Taschenuhr ohne Kette bitten?“, fragte der Zauberer die in einem kleinen Saal versammelte Zuschauermenge. Die Leute folgten gespannt den Ausführungen des Mannes mit der etwas untersetzten Statur – Bellachini. Er war ein Redner mit gekonntem Witz, sein edler Anzug verriet Geschmack – sein ganzes Erscheinen wirkte seriös und überzeugend. Eine ältere Dame kramte hastig in ihrer Handtasche und holte eine kleine Uhr hervor. Sie hob begeistert die Hand: „Hier, Herr Bellachini, hier!“ Der Zauberer lächelte verschmitzt und bedeutete mit einer lockeren Handbewegung dem Mädchen an seiner Seite: „Komm, lauf schon, Leontine, bring die Uhr der werten Dame zu mir! Jetzt lauf schon!“ Leontine, ein feingliedriges, schmalhüftiges Mädchen mit schelmischem Lächeln, das dem Künstler assistierte, tänzelte mit schwungvollem Getue zur besagten Dame. Sie machte vor ihr einen flüchtigen Knicks, bevor sie die Uhr behutsam entgegennahm. Mit einem auffallend gekünstelten Gehabe brachte sie die golden glänzende Uhr dem Magier, ihrem Vater, der jede ihrer Bewegungen mit einem Augenzwinkern verfolgte. Dass die Assistentin seine Tochter war, konnten sie beide bei Gott nicht leugnen. Die Ähnlichkeit war verblüffend. Leontine hatte dieselben dunklen, gekrausten Haare und fast ebenso schwarze Augen wie ihr Vater. Ihr zarter Oberkörper schien, ähnlich dem seinen, ein wenig zu kurz gewachsen. Das Mädchen wirkte mit ihrem kleinen Gesicht und der zarten, länglichen Nase wesentlich jünger, als sie tatsächlich war, besaß jedoch beim genauen Hinsehen bereits eine Fülle weiblicher Reize. Ihr Vater selbst war eher stämmig, hatte einen breiten Kopf und einen sonnengebräunten Teint. Leontine umkreiste mit einer schwungvollen Drehung den Zauberer und griff nach einem Bogen Papier. Er lag mit vielen weiteren Utensilien auf dem kleinen, hölzernen Stehtisch hinten an der Wand. „Geht die Uhr, meine Dame? Wissen Sie, bei Damen frage ich nämlich immer, ob die Uhr wirklich geht!“ Lautes Gelächter durchbrach die Stille im Saal und Bellachini meinte mit einer kleinen Handbewegung: „Weshalb, sage ich lieber nicht.“ Es folgten einige Zauberkunststücke mit der Uhr: Verschwinden und Erscheinen – die Leute applaudierten eifrig. Dann steckte er sie in das Stück Papier, das ihm Leontine schon einige Zeit ungeduldig hingehalten hatte. „Bitte mein Herr, überzeugen Sie sich selbst, ob die Uhr geht. Auch Sie mein Herr.“ Die Männer horchten dem Ticken der Uhr, nickten bejahend. Neugierige Blicke wanderten durch den Raum und man konnte eine erwartungsvolle Spannung spüren. „So, die Uhr liegt hier nun auf diesem Tisch, hier zur Rechten. Sehen Sie? Nun Leontine, bitte meine Taube.“ Das Mädchen hüpfte mit kleinen Schritten um den Zauberer herum, lächelte und brachte ihm die gewünschte Taube. „Großer Meister, ganz wie Sie wünschen. Die weiße Taube!“, so ihre Worte, die sie mehr gesungen als gesprochen hatte. Dann legte sie die Taube auf die Kante des ­Tisches. Sie lag wie tot da. Der Zauberer nahm den Papierbogen, wickelte die Taube darin ein und zündete das Papier an. Ein Raunen ging durch den Raum und alle blickten mit großen Augen auf das brennende Papier. Leontine versuchte mit einem kleinen Fächer den Rauch zu zerstreuen. Als das Papier fast bis zur Mitte verbrannt war, löschte ihr Vater die Flamme und griff nach einem zweiten Bogen Papier, den er um das Paket wickelte. Dann nahm er eine Weinflasche, die ihm Leontine gebracht hatte, goss sich daraus ein Glas Rotwein ein, um die Anwesenden davon zu überzeugen, dass nichts anderes darin sei, und trank es in einem Zug aus. Im Anschluss nahm er das Stück Papier mit der Taube, legte sie neben die leere Flasche und meinte: „Und nun gehe fort, liebe Taube, gehe fort und verschwinde in der Flasche.“ Die Menschen staunten und erschraken sehr, als Leontine mit einem Hammer lautstark die Flasche zerschlug und die Taube wieder zum Vorschein kam. An einem Fuß der Taube befand sich die Damenuhr – sie war mit einem roten Band angeknüpft. Aus dem Publikum kam tosender Applaus. Leontine löste behutsam die Uhr vom Fuß der Taube, brachte sie der Dame zurück und setzte den Vogel in den leerstehenden Käfig. Die Leute staunten und Leontine verneigte sich freudestrahlend. „Danke, vielen Dank meine Herrschaften.“ Ihr Vater blieb ernsten Blickes und stellte sich fragend vor das begeisterte Publikum. Die Leute lauschten gespannt seinen Worten. „Jetzt bitte ich ganz ergebenst um eine Herrenuhr.“ Ein Mann aus der vordersten Reihe stand auf und brachte dem Zauberer seine Uhr mit Kette. „So, danke, bleiben Sie gleich hier, mein Herr.“ Er wickelte auch diese Uhr in einen Bogen Papier und drückte das Paket dem Herrn in die rechte Hand. „Sehen Sie, wir wollen den Bogen Papier mit der Herrenuhr in den Trichter dieser Pistole tun. Leontine, meinen Spiegel bitte!“ Seine kleine Assistentin hüpfte zurück zum Tisch, holte einen Taschenspiegel hervor und rief: „Sie sehen hier einen kleinen Toilettenspiegel!“ Bellachini griff nach dem Spiegel, drehte ihn um und meinte dabei: „Von vorne sieht er so aus und von hinten sieht er so aus. Meine werten Herrschaften, das ist ein kleiner Zauberspiegel. Sie können in demselben alles Mögliche sehen. Affen, Tiger, Löwen, Elefanten und vieles mehr. Meine Damen, man kann darin sogar Engel sehen. Bitte schauen Sie nur selbst hinein. Diesen kleinen Toilettenspiegel gebe ich nun meiner Assistentin zurück. Sie wird ihn halten, während ich nun die Uhr auf ihn schieße. Eins – zwei – drei!“ Leontine hielt sich mit einer Hand die Augen zu und verzog ihr Gesicht zu einer komischen Fratze, während sie auf der Stelle zappelte, als habe sie Angst vor dem, was im Anschluss geschehen könnte. Die Zuschauer warteten gespannt und zuckten bei dem lauten Knall, der aus der Pistole kam, erschrocken zusammen. Der Zauberer schoss und das Glas des Spiegels lag in Scherben vor Leontine auf dem Boden. Manche der erschrockenen Damen stießen spitze Schreie aus. Das Mädchen zeigte zufrieden mit dem Finger auf den Spiegel ohne Glas. An seinem Rahmen befand sich die Herrenuhr, die sich ihr Vater zuvor ausgeliehen hatte. Einen Moment lang herrschte vollkommene Stille im Raum, ehe donnernder Applaus erklang. „Danke gehorsam, vielen Dank für Ihren Applaus!“, sagte er mit einem verschmitzten Lächeln auf den Lippen. Seine dunklen Augen funkelten. Dann nahm er seine Assistentin bei der Hand und beide verneigten sich vor dem begeisterten Publikum. „Bravo, bravo!“, riefen die Leute im Saal. „Nach einer kurzen Pause werde ich einen der anwesenden Herren um einen Zylinder bitten“, rief er in die Menge und verschwand mit seiner Assistentin hinter dem roten Vorhang. Die Leute applaudierten nach wie vor, während sich der Künstler in seinen Sessel fallen ließ, eine Zigarre anzündete und Leontine anwies, ihm ein Glas Wein einzuschenken. Genüsslich trank er einen Schluck davon und meinte zu ihr: „Siehst du, mein Kind! So muss man das Publikum täuschen, dann rückt es auch mit dem vielen Geld heraus!“ „Ach ja? Dann möchte ich endlich etwas von dem vielen Geld sehen und nicht nur Almosen von dir bekommen!“, antwortete sie in ­einem gedehnten, scharfen Tonfall. Ihr elfenbeinweißer Teint wurde noch blasser und ihre Lippen bildeten nur mehr einen schmalen Strich, der über dem schwach entwickelten Kinn zu verschwinden drohte. Ihr Vater warf Leontine einen strengen Blick zu und machte eine ungeduldige Geste mit der Hand. „Geh hinaus und verbeuge dich lieber noch einmal, mein Kind. Die Leute applaudieren uns immer noch und ich will die kurze Pause doch genießen! Jetzt geh schon!“ Als Leontine weg war, nahm er einen kräftigen Schluck aus der Flasche und lehnte sich zufrieden in seinen Sessel zurück.

„Wie ich sie alle hasse“, sagte Leontine zu sich selbst, während sie sich mehrmals vor dem applaudierenden Publikum anmutig verneigte. Sie versuchte, so gut es ging, freundlich zu lächeln. Tränen stiegen in ihre ­Augen. Nicht vor Freude, sondern vor Zorn.