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Otto Betz

Weiter als die letzte Ferne

topos taschenbücher, Band 1014

Eine Produktion des Matthias Grünewald Verlags

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Verlagsgemeinschaft topos plus

Butzon & Bercker, Kevelaer

Don Bosco, München

Echter, Würzburg

Lahn-Verlag, Kevelaer

Matthias Grünewald Verlag, Ostfildern

Paulusverlag, Freiburg (Schweiz)

Verlag Friedrich Pustet, Regensburg

Tyrolia, Innsbruck

Eine Initiative der

Verlagsgruppe engagement

www.topos-taschenbuecher.de

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN 978-3-8367-1014-5

2015 Verlagsgemeinschaft topos plus, Kevelaer

Inhalt

Ein neues Atemfeld

„Die Dinge singen hör ich so gern“

Rilkes meditative Wahrnehmung der Welt

„Ich halte den Brief noch für ein Mittel des Umgangs“

Rilke – der Briefschreiber

„Halte die Freude für mehr als das Glück“

Die Freude als Grundkraft der Schöpfung

„Ich habe ein Inneres, von dem ich nicht wusste“

Von der Öffnung der Sinne

„Wir kennen nur die Hälfte“

Vom Fragment und von der Ganzheit

„Ich muß einen Namen für Sie erfinden“

Vom Geheimnis des Namens

„Schönheit und Schrecken“

Das Doppelantlitz der Wirklichkeit

„Ich höre noch sein Lachen“

Rilke und der Humor

„Musik: Du Sprache wo Sprachen enden“

Rainer Maria Rilke und die Musik

„Laß dich von mir nicht trennen“

Rilkes Ringen mit Gott

„Ach in der Kindheit, Gott: wie warst du leicht“

Vom doppelten Antlitz Gottes

„Fontäne des seelischen Daseins“

Rilke und der Engel

„Aus beiden Reichen erwuchs seine weite Natur“

Orpheus und das unendliche Lob – ein Grundmotiv im Werk Rilkes

„Was ich an Heimat habe, liegt da und dort verteilt“

Rainer Maria Rilke – der Europäer

„Die Szenerie war Abschied“

Das Leben als Form des Abschiednehmens

Anmerkungen

Literaturverzeichnis

Ein neues Atemfeld

Es gab früher eine Art von Büchern, die man „Vademecum“ nannte, sie sollten Wegbegleiter sein, Schriften, die man immer in der Nähe haben wollte und möglichst in die Tasche stecken konnte. Man hat sie gewöhnlich nicht von vorn bis hinten durchgelesen, sondern sie vielmehr hie und da hervorgeholt, um zur Besinnung zu kommen oder anderen daraus vorzulesen. Für mich hatten viele Bücher von Rainer Maria Rilke diesen Charakter. Wenn ich mir mein Exemplar des Malte anschaue oder die Neuen Gedichte, vor allem natürlich die Duineser Elegien, dann merke ich an ihrem „mitgenommenen“ Zustand, dass ich sie oft mitgenommen habe, auf die Reise, auf eine Wanderung oder einfach ins nächste Café. Wie für viele andere Menschen auch wurde Rilke für mich zu einem Reisegefährten, der mich manchmal bestärkte, mir aber auch ins Gewissen redete, der mir die Augen öffnete und auf ganz indirekte Weise eine Richtung wies. Wieso ist Rilke, der doch ein Dichter war und kein Pädagoge, dem sein poetisches Werk am Herzen lag und der kein Volkserzieher sein wollte, wieso ist er für viele zu einer so maßgeblichen Gestalt geworden?

„Ich habe mich, seit ich denken kann, als Anfänger gefühlt“1, hat Rilke einmal in einem Brief von sich bekannt. Und wirklich: Er hat immer wieder den Mut zu einem Neubeginn gehabt, hat sich nicht auf das bis dahin Erfahrene und Geschaffene verlassen, sondern Neuland gesucht, aber auch neue Sehweisen und vor allem neue Sprachmöglichkeiten. Er ist sein ganzes Leben lang ein Fragender gewesen, und seine Antworten waren keine unumstößlichen Glaubenssätze, sondern Vorstöße ins Unbekannte. Eine Schule hat er nicht begründet, nicht einmal einen Jüngerkreis, vielleicht hat er deshalb so viele Freunde gefunden, die sich ihm verbunden fühlten.

Rilkes Dichtung hat mit unserer Alltagswelt und unserem Leben zu tun, trotz ihres hohen Tons und ihrer anspruchsvollen Sprache. Er lässt uns Leser an seinen Erfahrungen teilhaben und weckt in uns das Interesse, selbst auf Erfahrungen auszugehen. Er spricht von sich als einem, „der dem Leben immer noch lernend, staunend, aufnehmend“2 einverständig ist; was bleibt uns Lesern anderes übrig, als uns ebenso offen und vorurteilslos der Wirklichkeit zu stellen? Als ich noch ein Schüler war, stieß ich auf ein Rilkewort, das mich so ansprach, dass ich es mir gleich in mein Tagebuch schrieb: „Wenn Ihr Alltag Ihnen arm scheint, klagen Sie ihn nicht an; klagen Sie sich an, daß Sie nicht Dichter genug sind, seine Reichtümer zu rufen; denn für den Schaffenden gibt es keine Armut und keinen armen gleichgültigen Ort.“3 Das war der Rippenstoß, den ich damals brauchte und der sich ein Leben lang ausgewirkt hat. Wir sind ja alle geneigt, über die misslichen Bedingungen unseres Daseins Klage zu führen, um davon abzulenken, dass wir mit den uns gebotenen Chancen nicht umgehen können. Rilke erwartet von uns einen hohen Anspruch. „Wer mit Leichtem umgeht, geräth oft ans Geringe; im Schweren ist man immer wie unter Älteren und Großen“4, von einem solchen Satz kann man schon im Innern getroffen werden; und wir müssen es zulassen.

Dieses Buch greift Themen auf, die Rilke wichtig waren – und die im Leben jedes Menschen eine Rolle spielen. Wie werden wir mit der Bruchstückhaftigkeit unserer Existenz fertig? Können wir uns im Angesicht der Schrecknisse dieser Welt noch wirklich freuen? Welchen Stellenwert haben die Kunst und die Musik in unserem Leben? Wie kommen wir bei dem optischen Überangebot der Gegenwart noch zu einem wirklichen eindringenden Schauen? Welche Bedeutung haben die religiöse Frage und die Suche nach einem uns gemäßen Gottesverständnis in der Gegenwart?

Die Frage ist erlaubt, ob wir nicht einen Dichter überfordern, wenn wir von ihm Antworten auf solche Problemkreise erwarten. Nun, wir bekommen ja gerade keine fertigen Lösungen angeboten, wir werden vielmehr zum Gespräch eingeladen. Rilke überredet nicht, er drängt uns keine Meinung auf, wir werden höchstens in ein Netzwerk der Gedanken hineingenommen, unser Horizont soll sich ausweiten, konventionelle Muster werden überschritten, ein größerer Zusammenhang wird erkennbar. Es ist ja ein Glück, dass so viele Briefwechsel, gerade mit jungen Menschen, erhalten geblieben sind, mit Anita Forrer, mit Ilse Jahr, Eva Cassirer, Ilse Erdmann, Lisa Heise und anderen. Rilkes Gedichte, aber auch seine Briefe wurden für sie ein notwendiges Brot, Seelennahrung, Stärkung in Notlagen und Krisenzeiten. Ohne aus Rilkes Werk eine Hausapotheke machen zu wollen, wird man doch sagen dürfen: Sein lebendiges Wort wirkte (und wirkt) ins Dasein der Menschen hinein. Rilke hat nicht viel vom Trost gehalten, zu sehr fürchtete er, nur vage zu vertrösten. Es ging ihm um die ehrliche Konfrontation mit der harten Realität. Er war immer der Überzeugung, „daß die Güter des Lebens rein und unverdorben und im Tiefsten begehrenswert aus Umsturz und Untergang hervorgehen“5.

„Die Dinge singen hör ich so gern“

Rilkes meditative Wahrnehmung der Welt

„Heute war ein schöner, herbstlicher Morgen. Ich ging durch die Tuilerien. Alles, was gegen Osten lag, vor der Sonne, blendete. Das Angeschienene war vom Nebel verhangen wie von einem lichtgrauen Vorhang. Grau im Grauen sonnten sich die Statuen in den noch nicht enthüllten Gärten. Einzelne Blumen in den langen Beeten standen auf und sagten: Rot, mit einer erschrockenen Stimme“, so steht es in den Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge6. Eine Landschaft wartet nicht nur darauf, entdeckt zu werden, sie will nicht nur angeschaut werden, sie hat selbst ihre eigene Sprache und will gehört werden. Rilke hat sich sein Leben lang darum bemüht, aufmerksam zu sein, ein wachsames Auge auszubilden, ein „geräumiges Ohr“ zu entwickeln, um auch Zwischentöne wahrzunehmen und die Nuancen des Sehbaren nicht zu versäumen. Man kann sein Werk durchaus als „Schule der Wahrnehmung“ verstehen, was nicht eigentlich beabsichtigt war, sich aber ergab aus seiner Begabung und Bemühung, immer sensiblere Sinne auszubilden. „Und nichts ist gering und überflüssig“7, das ist seine anspruchsvolle Maxime. Deshalb war er darum bemüht, den Dingen, den Pflanzen, den Kunstwerken geruhsam zu begegnen, sich Zeit zu lassen, immer wieder zu ihnen zurückzukehren, sie nicht nur anzuschauen, sondern sie zum Sprechen zu bringen.

Als sich Rilke im September 1907 in Paris aufhielt, bekam er von seiner Frau Clara brieflich drei Zweige Heidekraut zugesandt. Er bedankte sich dafür am 13. September, aber sein Dank entwickelte sich zu einer kleinen Hymne auf dieses unscheinbare Gewächs, das nun plötzlich lebendig wird und sein Geheimnis offenbart: „Seither liegen sie (die drei Zweige) in meinem Buch der Bilder und durchdringen es mit ihrem starken ernsten Geruch, der eigentlich nur der Duft herbstlicher Erde ist. Aber wie herrlich ist er doch, dieser Duft. Nie, scheint mir, lässt sich die Erde so einatmen in einem einzigen Geruch, die reife Erde; in einem Geruch, der nicht geringer ist als der Geruch des Meeres, bitter, wo er an den Geschmack grenzt, und mehr als honigsüß, wo man meint, daß er an die ersten Töne stoßen müsse. Tiefe in sich enthaltend, Dunkelheit, Grab beinah, und doch auch wieder Wind, Teer und Terpentin und Ceylontee. Ernst und dürftig wie der Geruch eines Bettelmönchs und doch auch wieder wie kostbares Räucherwerk harzig und herzhaft. Und anzusehen: wie Stickerei, prachtvoll; wie drei mit violetter Seide: (einem Violett, so heftig-feucht, als ob es die Komplementärfarbe der Sonne wäre) in einem persischen Teppich eingestickte Zypressen. Du müsstest das sehen. Ich glaube, die kleinen Zweige können noch nicht so schön gewesen sein, da Du sie abschicktest: Du hättest sonst etwas Erstauntes dazu gesagt. Zufällig liegt jetzt eines auf dunkelblauem Samt einer alten Schreibschatulle. Das ist wie ein Feuerwerk: nein, eben wie ein persischer Teppich. Sind wirklich alle diese Millionen Ästchen von so wunderbarer Arbeit? Sieh die Farbigkeit des Grüns, in dem ein wenig Gold ist, und das sandelholzwarme Braun der Stämmchen mit ihrem neuen, frischen, inneren Kaumgrün. Ach, ich bewundere nun schon tagelang die Pracht dieser kleinen Fragmente und schäme mich recht, daß ich nicht glücklich war, als ich in alledem herumgehen durfte, im Überfluss.“8 Wie behutsam geht Rilke auf die Einzelheiten ein, wie gibt er seiner Freude Ausdruck über alle Entdeckungen. Und er öffnet uns die Augen, indem er uns nötigt, seinem Blick zu folgen, uns seinem Geruchsorgan anzuvertrauen, seinen Assoziationen Raum zu geben. Dabei beschönigt er die Dinge nicht, er nimmt sie, wie sie sind, und lehrt uns das Staunen. Wir sollen nicht „auswählen“, uns auf das Liebliche und In-die-Augen-Springende beschränken, in allem steckt das Geheimnisvolle und Bewundernswerte. Der blendende Schein der Sonne kann ebenso Anlass bieten wie das Prasseln der Regentropfen, über das, was sich gerade ereignet, nachzusinnen. Erst wenn man es wirklich vergegenwärtigt und in das Geschehen eintaucht, kann sein verborgenes Geheimnis wahrgenommen werden. „Nie hab ich die Harmonie des Regens so sorgfältig orchestriert gefunden, das harte Wintergrün der Steineichen, der etwas nachgiebigere glatte Lorbeer, das dichtverwickelte Gebüsch und der schon gegen den Frühling zu aufmerksame Boden, jedes ward zum besonderen Instrument und alle waren sie übereingestimmt von der Stille, die über das Ganze die Aufsicht behielt“, so teilt er seine Beobachtung am letzten Dezembertag des Jahres 1913 in Paris Eva Cassirer mit.9 Und es ist wichtig, dass er nicht nur die kostbare gezüchtete Rose liebt, sondern auch den „Wilden Rosenbusch“10:

Wie steht er da vor den Verdunkelungen

des Regenabends, jung und rein;

in seinen Ranken schenkend ausgeschwungen

und doch versunken in sein Rose-sein;

die flachen Blüten, da und dort schon offen,

jegliche ungewollt und ungepflegt:

so, von sich selbst unendlich übertroffen

und unbeschreiblich aus sich selbst erregt,

ruft er dem Wandrer, der in abendlicher

Nachdenklichkeit den Weg vorüberkommt:

Oh sieh mich stehn, sieh her, was bin ich sicher

Und unbeschützt und habe was mir frommt.

Mit einer bewundernswerten imaginativen Kraft beschwört Rilke die Wirklichkeit der Dinge: sie stehen plötzlich vor uns, rufen auch uns an und erwarten, dass wir mit einer vergleichbaren Behutsamkeit an sie herangehen. Es wird aber auch deutlich, welche Voraussetzungen erfüllt sein müssten, damit Dinge und Wesen eine Sprache bekommen, die von uns verstanden werden kann. Ohne eine Atmosphäre der Stille und der Besinnung geht alles an uns vorüber und erreicht uns nicht.

Wenn es nur einmal so ganz stille wäre.

Wenn das Zufällige und Ungefähre

Verstummte und das nachbarliche Lachen,

wenn das Geräusch, das meine Sinne machen,

mich nicht so sehr verhinderte am Wachen.11

Aber auch das schnelle Wort, die eilige Stellungnahme und die hurtig sich einstellenden Wortkaskaden helfen uns nicht weiter, sie verdecken vielleicht sogar die wahre Melodie, die erst gehört werden kann, wenn das eigene Geräuschemachen eingestellt wird. Es gibt Worte, die festlegen, die sich als zentnerschwere Urteile so gewichtig machen, dass man das leise Rauschen der „Ding-Sprache“ nicht mehr in sich aufnehmen kann. Schon in dem frühen Gedichtband Mir zur Feier artikuliert Rilke seine Sorge um die Sprache, die so gefährlich oberflächlich gebraucht wird, sodass sie ihre Kraft und wahre Substanz verliert:

Ich fürchte mich so vor der Menschen Wort.

Sie sprechen alles so deutlich aus:

Und dieses heißt Hund und jenes heißt Haus,

und hier ist Beginn und das Ende ist dort.

Mich bangt auch ihr Sinn, ihr Spiel mit dem Spott,

sie wissen alles, was wird und war;

kein Berg ist ihnen mehr wunderbar;

ihr Garten und Gut grenzt grade an Gott.

Ich will immer warnen und wehren: Bleibt fern.

Die Dinge singen hör ich so gern.

Ihr rührt sie an: sie sind starr und stumm.

Ihr bringt mir alle die Dinge um.12

Wenn Sprache mehr ist als ein Instrument des Informationsaustauschs, wenn sie den Dingen gerecht werden will und ihren geheimnisvollen Wert zu erkennen sucht, dann ist eine hohe Verantwortlichkeit gefragt. Und weil wir in unserem Bemühen um das „Sagbare“ immer wieder auf Grenzen stoßen, kommt es darauf an, das „Unsagbare“ (Rilke spricht vom „Unsäglichen“) so anzudeuten, dass sich Räume öffnen und neue Möglichkeiten der Einsicht und Erkenntnis gewonnen werden können. Gerade in einer Zeit der Sprachlosigkeit und der Geschwätzigkeit (diese beiden Anzeichen der Krise ergänzen sich ja) sind wir auf der Suche nach dem behutsamen Wort, das sich tastend ins Unbekannte vorwagt. „Wenn doch die Leute ein wenig Lust zum Unbegrenzten hätten …“, schrieb Rilke einmal in einem Brief. Er hatte den Mut dazu und war stets auf der Suche nach dem Unverbrauchten und Glaubwürdigen, das sich auf Erfahrung beruft. Dazu war es nötig, die Sinne immer wieder neu zu schärfen, weil gerade ihre Stumpfheit dafür sorgt, dass wir im Tristen und Trostlosen bleiben. Der Fürstin Thurn und Taxis schrieb er am 22. August 1915: „Es müsste nur unser Auge eine Spur schauender, unser Ohr empfangender sein, der Geschmack einer Frucht müsste uns vollständiger eingehen, wir müssten mehr Geruch aushalten, und im Berühren und Angerührtsein geistesgegenwärtiger und weniger vergesslich sein –: um sofort aus unseren nächsten Erfahrungen Tröstungen aufzunehmen, die überzeugender wären, die überzeugender, überwiegender, wahrer wären als alles Leid, das uns je erschüttern kann.“13 Eine solche These blieb bei Rilke keine bloße Theorie, er versuchte wirklich, den spontanen Vorkommnissen und Empfindungen gerecht zu werden und die Dinge auszukosten. Als er im Mai 1906 bei Rodin in Meudon wohnte, hatte er Sehnsucht nach dem Gesang der Nachtigallen. An seine Frau Clara schrieb er: „… bei uns im Garten ist keine Nachtigall, kaum viele Vogelstimmen; infolge der Jäger wohl, die jeden Sonntag hier vorüberkommen; aber manchmal in der Nacht wache ich auf davon, daß es ruft, irgendwo unten im Tal ruft, anruft aus ganzer Seele. Jene süße steigende Stimme, die nicht aufhört zu steigen; die wie ein ganzes in Stimme verwandeltes Wesen ist, dessen alles: dessen Gestalt und Gebärde, dessen Hände und Gesicht Stimme geworden ist, nächtliche, große, beschwörende Stimme. Fernher trugs die Stille manchmal an mein Fenster heran, und mein Ohr übernahms und zog es langsam ins Zimmer herein und, über mein Bett her, in mich ein. Und gestern fand ich sie alle, die Nachtigallen, und ging in einem lauen, überdeckten Nachtwind an ihnen vorbei, nein, mitten durch sie durch, wie durch ein Gedränge von singenden Engeln, das sich gerade nur teilte, um mich durchzulassen, und vor mir zu war und sich hinter mir wieder zusammenschloß. So, von ganz nahe, hörte ich sie. (…) Da fand ich sie: in allen diesen alten, vernachlässigten Parken (in dem mit dem schönen Haus, dessen Mauern langsam zusammenfallen, als ob ein Geschütz der Zeit gerade auf sie gerichtet wäre, und der, mitten durchgeschnitten von der Bahn, wie eine auseinandergefallene Frucht sein Inneres zeigt, welk und beschlagen; – und ein Stück weiter drüben in einem dichten Parkstück,) und dahinter und oben in den verschlossenen Gärten der Orangerie. Und von der anderen Seite kams herüber über die Mauern der alten Mairie und dann plötzlich neben mir aus einem kleinen, dichten Garten voll von Hecken und Fliedergebüsch –: kam so erkennbar und so mit ihm, der verhalten unter halbheller Nacht lag, ineinandergewoben, wie wenn man in einem Stück Spitze das Bild eines Vogels erkennt, aus denselben Fäden geschlungen, die Blumen bedeuten und Blühendes und dichtesten Überfluß. Und das war Lärm und war um mich und übertönte alle Gedanken in mir und alles Blut; war wie ein Buddha aus Stimmen, so groß und herrisch und überlegen, so ohne Widerspruch, so bis an der Grenze der Stimme, wo sie wieder Schweigen wird, schwingend mit derselben intensiven Fülle und Gleichmäßigkeit, mit der die Stille schwingt, wenn sie groß wird und wenn wir sie hören …“14 Rilke muss es als eine lebenslange Aufgabe empfunden haben, seine Sinne zu differenzieren, der ganze Körper ist ein aufnahmefähiges Organ, das erst allmählich in der Lage ist, die Zwischentöne wahrzunehmen. Schrieb er doch am 16. Januar 1912 der Fürstin: „Ich habe, zu verschiedenen Zeiten, die Erfahrung gemacht, daß sich Äpfel, mehr als sonst etwas, kaum verzehrt, oft noch während des Essens, in Geist umsetzen.“15 Und immer war er darum bemüht, den kleinen und scheinbar nebensächlichen Dingen ihr Recht und ihre Würde zuzuerkennen. Als er am 12. November 1901 seinem neunjährigen Schwager Helmuth Westhoff einen Brief schrieb, da versuchte er, ihm auch die Sinne zu öffnen und ihn zu einer anderen Betrachtungsweise anzuregen: „So kommt es, daß die meisten Menschen gar nicht wissen, wie schön die Welt ist und wieviel Pracht in den kleinsten Dingen, in irgendeiner Blume. Einem Stein, einer Baumrinde oder einem Birkenblatt sich offenbart. Die erwachsenen Menschen, die Geschäfte und Sorgen haben und sich mit lauter Kleinigkeiten quälen, verlieren allmählich ganz den Blick für diese Reichtümer, welche die Kinder, wenn sie aufmerksam und gut sind, bald bemerken und mit dem ganzen Herzen lieben. Und doch wäre es das Schönste, wenn alle Menschen in dieser Beziehung immer wie aufmerksame und gute Kinder bleiben wollten.“ Und dann fügt er noch an: „Das Kleine ist ebensowenig klein, als das Große – groß ist. Es geht eine große und ewige Schönheit durch die ganze Welt, und diese ist gerecht über den kleinen und großen Dingen verstreut; denn es gibt im Wichtigen und Wesentlichen keine Ungerechtigkeit auf der ganzen Erde.“16 Mit welcher Einfühlungsgabe wendet sich Rilke diesem Jungen zu, sucht sein Einverständnis zu gewinnen, ohne ihn zu überrumpeln! Es ist ein Bekenntnis zur Sinnhaftigkeit des Daseins, wie es sich immer wieder in seinem Werk findet; mit einer gewissen Verblüffung kann man beobachten, dass er diese Sinnhaftigkeit mit Vorliebe an Beispielen aus der Alltagswelt veranschaulicht.

Voller Apfel, Birne und Banane,

Stachelbeere … Alles dieses spricht

Tod und Leben in den Mund … Ich ahne …

Lest es einem Kind vom Angesicht,

wenn es sie erschmeckt. Dies kommt von weit.

Wird euch langsam namenlos im Munde?

Wo sonst Worte waren, fließen Funde,

aus dem Fruchtfleisch überrascht befreit.

Wagt zu sagen, was ihr Apfel nennt.

Diese Süße, die sich erst verdichtet,

um, im Schmecken leise aufgerichtet,

klar zu werden, wach und transparent,

doppeldeutig, sonnig, erdig, hiesig –:

O Erfahrung, Fühlung, Freude –, riesig!17

Rilke hatte manchmal Zeiten, da flossen ihm die Gedichte so leicht in die Feder, als würden sie ihm diktiert. Aber dann wieder gab es Lebensphasen, in denen er sich ausgetrocknet fühlte und nichts Gestalt gewinnen wollte. Er fühlte sich wie ein Maulwurf, der sich seine unterirdischen Gänge gräbt und sich kaum mehr an die Oberfläche traut. Er musste sich um Geduld bemühen und die begnadete Stunde erwarten, in der ihm das ersehnte Werk gelingen konnte. Deshalb brauchte er immer wieder die Einsamkeit und die Stille, bis sich eine „offene Stunde“ ankündigte und das lange Angesammelte und Vorbereitete die gültige Form annahm und ins Licht treten konnte. Am 19. Februar 1912 heißt es in einem Brief an die Fürstin Thurn und Taxis: „Dies ist so seltsam, wie alles kommt zu seiner Zeit und sich nicht zwingen läßt vorher, aber auch dann, wenns soweit ist, nicht mehr abhalten.“18 Und am 26. August 1912 heißt es: „Vielleicht wenn ich mir gar nichts vornehme, komm ich am ehesten in die rechten Verhältnisse, in die Temperatur, in der alle die in mir angestarrte Arbeit flüssig, gasförmig, geistig wird.“19 Es war natürlich keine Lethargie gefordert, sondern eine unangestrengte Aufmerksamkeit, die das wahrnehmen konnte, was gleichsam in der Luft lag und von seinen verborgenen Antennen nach innen geleitet wurde. Im Dezember 1906 hatte er seinem Gönner Karl von der Heydt geschrieben: „Ich muß sehen, nach und nach zu einem Kloster auszuwachsen und so dazustehen in der Welt, mit Mauern um mich, aber mit Gott und den Heiligen in mir, mit sehr schönen Bildern und Geräthen in mir, mit Höfen, um die ein Tanz von Säulen geht, mit Fruchtgärten, Weinbergen und Brunnen, deren Grund gar nicht zu finden ist.“20 Es war also ein recht ansehnliches Kloster, das er ersehnte, um sich darin zurückzuziehen. Vor allem sollte es die Möglichkeit geben, die Türen zum Trubel der Welt zu verschließen, damit sich umso intensiver die inneren Türen öffnen könnten, die man ja nicht einfach durch einen Willensakt aufsperren kann. Die Fähigkeit zur inneren Sammlung hatte er ja, wenn er auch manchmal klagte, er würde sich zu sehr im Äußerlichen verausgaben. Am 27. Februar 1913 schrieb er an Marie von Thurn und Taxis: „Ich brauche keine ‚Zerstreuung‘, die die Menschen einem immer bereiten möchten, ach, daß der käme, der mich zusammennähme wie ein Brennglas die im Raum zerstreute Sonne.“21 Und noch etwas gehört zu dieser sensiblen Art, im Leben zu stehen: die Erinnerung an Geschehnisse und Ereignisse, die uns geprägt haben und gleichsam habituell geworden sind. Bei all unserer Vergesslichkeit sollte es Vorgänge geben, die nicht ins Vergessen abrutschen dürfen, weil sie für unser Leben eine unvergleichliche Wichtigkeit bekommen haben. Auch in diesem Bereich ist ein behutsamer Umgang mit unserer Vergangenheit bedeutsam. Als die Fürstin Thurn und Taxis in einem ihrer Briefe Rilke an eine gemeinsame Reise in Oberitalien erinnert, bricht bei ihm gleich die ganze Bilderflut des damals Geschauten auf. Er schreibt am 26. November 1915, indem er die „Fluth von Erinnerung“ hereinbrechen lässt: „Draußen der Park: alles war Einklang zu mir, eine jener Stunden, gar nicht gebildet, sondern nur gleichsam ausgespart, als ob die Dinge zusammenträten und Raum gäben, einen Raum, unberührt wie ein Roseninnres, einen angelischen Raum, in dem man sich still hält; damals vergaß ich diesen Augenblick, er war in keiner Weise bestimmend für den ganzen Tag, jetzt steht er in einer eigenen Stärke und Überstandenheit in mir, als wäre er von einem höheren Grade Seins gewesen (…). Mir ist, als genügten sie, mein Inneres mit einem lauteren gleichmüthigen Glanz zu erfüllen, sie sind so recht Lampen in mir, ruhige Lampen –, und jemehr ich sie in der Erinnerung und im aufmerksamen Nachgefühl erwäge, desto mehr scheinen mir diese im hiesigen Sinn inhaltlosen Erlebnisse in eine höhere Ereignis-Einheit zu gehören. Aber was bin ich für ein Anfänger in ihnen; denn was müsste aus einer einzigen solchen Erfahrung für endgültige Lebensverwandlung hervorgehen können.“22

Die Selbstverpflichtung zu der sensiblen Offenheit eines Horchenden hat er bis zum Ende seines Lebens durchgehalten. Eines der letzten großen Gedichte Rilkes hat er einem Wiener Kunstsammler, dem Grafen Lanckoronski, gewidmet, dem er im August 1926 in Bad Ragaz begegnet war. Die zweite Strophe lautet:

Das Leiseste darf ihnen nicht entgehen,

sie müssen jenen Ausschlagswinkel sehen,

zu dem der Zeiger sich kaum merklich rührt,

und müssen gleichsam mit den Augenlidern

des leichten Falters Flügelschlag erwidern,

und müssen spüren, was die Blume spürt.23

Die Dichter sind angesprochen, aber im Grunde ist jeder gemeint, der sich um ein achtsames Leben müht. Dass diese Haltung etwas mit einer elementaren Frömmigkeit zu tun haben muss, wird in der letzten Strophe deutlich:

Im Schlafe selbst noch bleiben sie die Wächter:

Aus Traum und Sein, aus Schluchzen und Gelächter

Fügt sich ein Sinn … Und überwältigt sie´s,

und stürzen sie ins Knien vor Tod und Leben,

so ist der Welt ein neues Maß gegeben

mit diesem rechten Winkel ihres Knie´s!24

Rainer Maria Rilke hat den Versuch gemacht, auf meditative Weise die Welt zu betrachten und sie uns dadurch näher zu bringen. Es war ein Selbstversuch, wenn wir uns aber darauf einlassen, ihm ein Stück weit zu folgen, werden wir merken, dass auch unsere Weltbetrachtung sich ändert und wir etwas von dieser Behutsamkeit übernehmen. Absichtslos ist er unser Lehrer geworden; und das sind die besten Lehrer, bei deren Lehrstunde wir gar nicht merken, wie stark wir von ihnen geleitet werden.

… Antwort zu geben jedem, dem geringsten

Anruf des Lebens, das sich zu dir kehrt:

Oh Gunst, oh Geist, oh unaufhörlich Pfingsten!

Und jeder Gegen-Wert erweckt dir Wert.25

„Ich halte den Brief noch für ein Mittel des Umgangs“

Rilke – der Briefschreiber

Es ist immer wieder zum Erstaunen, wenn man die Fülle der Briefe bedenkt, die Rainer Maria Rilke im Laufe seines Lebens geschrieben hat. Eigentlich hat er jeden Tag seine „Brieffeder“ in Gang gesetzt. Das waren nicht nur kurze Mitteilungen, schnell hingeschriebene Notizen oder knappe Antworten auf die brieflich vorgetragenen Anfragen; er ging auf seine Briefpartner ein, nahm die Probleme ernst und teilte sich selbst auf eine durchaus persönliche Weise mit. Und er schrieb ja nicht nur an seine Freunde und guten Bekannten, sondern oft genug an absolut fremde Menschen, die durch seine Bücher Vertrauen zu ihm gefasst hatten und sich nun mit ihren persönlichen Anliegen an ihn wandten. Offenbar hatten viele Menschen die Vorstellung, ein Dichter, der so schöne und einfühlsame Gedichte schreiben kann, der muss auch geeignet sein, anderen in ihrer seelischen Not beizustehen oder einen hilfreichen Wink zu geben, einen Weg aus der Krise zu finden. Was an den Briefen von Rilke so fasziniert, ist, dass er sein briefliches Gegenüber ganz individuell zu fassen sucht, manchmal passt er sich auch im Sprachstil deutlich an. Wie unterschiedlich sind seine Briefe an Lou Andreas-Salomé und an die Fürstin Thurn und Taxis, an junge Menschen und unbekannte Fragesteller. Aber immer geht er geduldig und verhältnismäßig umfangreich auf seine Partner ein. Oft wuchsen ihm seine selbstauferlegten Briefpflichten über den Kopf und er konnte sie kaum noch bewältigen; trotzdem ließ er die gesponnenen Fäden nicht abreißen, entschuldigte sich aber, wenn ein Brief lange auf seine Antwort warten musste.

Am 2. August 1919 schrieb Rilke an Lisa Heise, eine junge Frau, die sich mit ihren Problemen an ihn gewandt hatte, er sei durchaus zu einem Briefwechsel bereit, sie solle ihm ruhig schreiben, auch wenn es zu längeren Verzögerungen kommen könne: „Ich gehöre zu den Menschen, den altmodischen, die den Brief noch für ein Mittel des Umgangs halten, der schönsten und ergiebigsten eines. – Freilich muß ich sagen, daß diese Verfassung meine Korrespondenz zuweilen über das Leistbare hinaus vermehrt, daß ferner – oft für Monate – die Arbeit, öfter noch (wie während des ganzen Krieges) eine unüberwindliche ‚sécheresse d’ame‘ mich verstummen und stumm bleiben lässt.“26 Er beendet aber seinen Brief mit dem Versprechen: „Ich werde lange ausbleiben, aber, wenn es Ihnen recht ist, immer wieder da sein, wissend, mitwissend, wie ich es heute zuerst habe sein dürfen.“27 Die Antworten seiner Briefpartner hat Rilke sehr aufmerksam gelesen und die Briefe verwahrt. Ihn freute es, wenn sich ein wirklicher Dialog entwickelte und wenn seine in gestochener Schrift verfassten und oft ausführlichen Briefe dankbar aufgenommen wurden. „Und wie tröstet es, für einen Moment meine Heimatlosigkeit, daß, wie Sie sagen, ein einziger Brief von mir die Erwartung Ihrer feierlich offenen Zimmer zu erfüllen vermochte.“28

Mit jedem persönlichen Brief wurde er ja auch mit dem Schicksal eines Menschen verknüpft, und wenn sich darin Nöte und Schmerzen niederschlugen, dann wurde auch er damit beladen. Rilke wusste darum und hat sich nicht dagegen gewehrt. In dem Briefwechsel mit der kranken und schmerzgeplagten Ilse Erdmann konnte er – am 31. Januar 1914 – seinen Brief mit der Versicherung enden: „Lassen Sie nun, so gut es geht, sich von diesen Zeilen überzeugen, daß Sie ‚ganz frei‘ schreiben können, wie an Niemanden und an Alle, wie man den Blick hebt und, innerlich schauend, meint in die Landschaft hinauszusehen, nicht anders: nur damit die Distanz da sei, die zum Schreiben nötig ist.“29 Und wenn sich auch bei ihm die Briefberge türmten und er nicht wusste, wann und wie er die Briefschulden abtragen sollte, konnte er einen Brief mit der Aufforderung schließen: „Schreiben Sie bald“, oder: „Mir fällt ein, ich weiß wenig von Ihrer Kindheit. Nichts.“30 Und am 22. August 1916 schrieb er an Ilse Erdmann: „Schreiben Sie mir oft, sooft der Moment es eingibt und lassen Sie alle Briefe fortgehen, halten Sie keinen zurück, bedenken Sie keine; und fühlen Sie mich als den Freund, zu dem die Großmuth (nein: die Natur Ihres Vertrauens) Ihres Vertrauens mich gemacht hat.“31

Was mag der Grund gewesen sein, dass Rilke sich auf eine so ausgedehnte Korrespondenz einließ? Er war doch so bedacht auf seine Einsamkeit und immer darum bemüht, einen geschützten Raum um sich zu schaffen. Das dichte Netz seiner Brieffreundschaften vermittelte ihm eine gewisse Beheimatung, er wurde dadurch gehalten und gestützt. Aber noch ein anderer Grund mag ins Gewicht fallen: Die „Brieffeder“ ergänzte und förderte die „Arbeitsfeder“. In den Briefen konnten sich seine Gedanken spielerisch entfalten, sie mussten nicht in das strenge Maß des künstlerischen Anspruchs eingeordnet werden. Manche Briefe strömen unbekümmert dahin, sind voller Anspielungen und plötzlicher Einfälle. Das Humorige und Kauzige, das Ironische und manchmal sogar das Satirische sind mögliche Stilmittel. Da waltet noch keine strenge Selbstzensur, die freien Assoziationen dürfen noch sprudeln. Aber daneben kommen auch die großen Themen zur Sprache, die ihn im Tiefsten bewegen. Wenn man genau hinschaut, kann man beobachten, dass sich in den Briefen auch die spätere Dichtung gleichsam vorbereitet, bis in manche Formulierung hin. Da werden manche Themen schon einmal – gleichsam auf Probe – durchbuchstabiert.

Unversehens geriet Rilke aber auch in die Rolle des Ratgebers, des Therapeuten und Seelsorgers. In diesen Fällen hat er es gewöhnlich vermieden, auf direkte Weise Entscheidungen anzubieten oder Lösungen zu präsentieren. Sein „Rat“ ist höchstens ein vorsichtiges Angebot; behutsam geht er mit der Problemlage um, voller Verständnis, aber ohne den Eindruck zu erwecken, er könne ein Patentrezept anbieten. Als er der kranken Ilse Erdmann, die keinen Lebensmut mehr hatte und am liebsten sterben wollte, helfen wollte, schrieb er ihr am 21. Dezember 1913: „Je weiter ich lebe, desto nötiger scheint es mir, auszuhalten, das ganze Diktat des Daseins bis zum Schluss nachzuschreiben, denn es möchte sein, daß erst der letzte Satz jenes kleine, vielleicht unscheinbare Wort enthält, durch welches alles mühsam Erlernte und Unbegriffene sich gegen einen herrlichen Sinn hinüberkehrt. Und wer weiß, ob wir nicht in jeweiligen Verhältnissen irgendwie davon abhängen, daß wir hier zu dem Ende gekommen sind, das uns nun einmal bereitet war; auch ist keine Sicherheit dafür gegeben, daß wir, aus zu großer Müdigkeit hier hinausflüchtend, drüben nicht vor neuen Leistungen stehen, vor denen sich die Seele, bestürzt und unberufen wie sie ankäme, erst recht beschämt fände.“32 Mit welcher Klugheit verdeutlicht Rilke dieser Frau, dass auch eine schwere Krankheit noch ihre Sinnhaftigkeit hat und durchgetragen werden soll! Jede Phase unseres Lebens hat noch ihre eigene Sinnspur und trägt dazu bei, die „Frucht“ des Lebens hervorzubringen. Verdeutlicht wird das mit dem schönen Gedanken, von jedem Menschen werde erwartet, ein „Wort“ in die Welt einzubringen, auch wenn es nur ein unscheinbares Wort ist. Am 15. März 1914 schreibt er ihr: „Ich werde das Gefühl nicht los, daß Sie früher oder später die Ernte Ihres Leidens antreten werden und daß das eine wehmütig wunderbare Zeit sein wird, voll leichter Beziehung ins Weite, Offene.“33 Das war keine Vertröstung und keine ablenkende Floskel. Die Schmerzen und die Lebensnot werden ernst genommen, aber sie bekommen einen größeren Horizont: Vor den entscheidenden Aufgaben unseres Lebens können und dürfen wir nicht fliehen. Es steht immer noch etwas aus, das durchgestanden werden muss.

Rilke führte den Briefwechsel auch dann weiter fort, wenn es ihm selbst schlecht ging und er sich fast völlig ins Verstummen zurückgezogen hatte. Nun konnte er nicht mehr der großmütig Gebende sein, der Wissende und Weltkluge, er steckte selbst in einer argen Misere. Kluge Ratschläge wären in dieser Situation unglaubwürdig gewesen, er empfand sich selbst als hilfsbedürftig und elend. In einer solchen Lage ließ er sein Gegenüber an seiner eigenen Not teilnehmen. Am 6. September 1916 schrieb er: „Wer bin ich denn auch, daß ich Sie mit dem Leben beruhigen dürfte –, der ich selbst ihm so gut wie nirgends gewachsen war, sondern höchstens imstand, wenn ich beschützt war vor ihm, seine hinreißenden Zusammenhänge auszusagen … Ich darf mich nicht mehr ausgeben, als für einen Hörenden und Schauenden.“34 Ist er nicht in der gleichen Situation wie die leidende Frau? Er kann nur seine Bereitschaft angeben, als Leidender an der Not anderer Leidender zu partizipieren, er kann sich nur als Gefährten der übrigen Kranken verstehen. Von einem herablassenden Trost hielt Rilke nichts, aber von der Identifikation mit einem Leidenden erhoffte er sich doch eine Öffnung ins Künftige.

In diesem erstaunlichen Brief kommt viel von dem Daseinsverständnis des Dichters zum Ausdruck. Das Leiden an der Welt, die Unzulänglichkeiten des Lebens, sie dürfen uns nicht davon abhalten, das Ganze der Schöpfung zu rühmen und staunend die Schönheit ihrer Ordnung anzuerkennen. In einem Widmungsgedicht an eine Frau Leonie Zacharias hatte er ja geschrieben: