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Über dieses Buch:

Henri Laroque hat Schuld auf sich geladen – eine Schuld, die er sich selbst nicht vergeben kann und für die er den Rest seines Lebens Buße tun will. Seit Jahren lebt er als Obdachloser auf dem Pariser Friedhof Montparnasse wie ein Aussätziger. Bis er das Plakat sieht – das Plakat einer Opernsängerin. Und ihr Gesicht ruft Erinnerungen wach …

So macht sich Henri gemeinsam mit seinem Bruder auf den Weg nach Italien, um sich seinen Dämonen zu stellen: eine Reise in die Vergangenheit, zurück in jene Nacht, in der er alles verlor. Als der Krieg seine hässlichste Fratze zeigte und brutal Einzug in die Abgeschiedenheit des kleinen Städtchens Lavara hielt. Und nicht nur das Leben des Soldaten Henri, sondern auch das einer jungen italienischen Sängerin für immer zerstören sollte …

Alexandra von Grote erzählt eine Geschichte um Schuld und ein ungesühntes Verbrechen, in der dennoch die Hoffnung aus jeder Zeile leuchtet wie ein Stern.

Über die Autorin:

Alexandra von Grote ging in Paris zur Schule und machte dort das französische Abitur. Sie studierte in München und Wien Theaterwissenschaften und promovierte zum Dr.phil.

Nach einer Tätigkeit als Fernsehspiel-Redakteurin im ZDF war sie Kulturreferentin  in Berlin.

Seit vielen Jahren ist sie als Filmregisseurin tätig. Sie schrieb zahlreiche Drehbücher, Gedichte, Erzählungen und Romane. Ihre Romanreihe mit dem Pariser Kommissar LaBréa wurde von der ARD/Degeto und teamWorx Filmproduktion verfilmt.

Alexandra von Grote lebt in Berlin und Südfrankreich.

Bei dotbooks erschienen bereits der Kriminalroman »Nichts ist für die Ewigkeit« sowie die Provence-Krimi-Reihe um Florence Labelle:
»Die unbekannte Dritte«
»Die Kälte des Herzens«
»Das Fest der Taube«
»Die Stille im 6. Stock«

Zudem veröffentlichte Alexandra von Grote bei dotbooks die Krimi-Reihe um Kommissar LaBréa:
»Mord in der Rue St. Lazare«
»Tod an der Bastille«
»Todesträume am Montparnasse«
»Der letzte Walzer in Paris«
»Der tote Junge aus der Seine«
»Der lange Schatten«

Mehr Informationen über Alexandra von Grote finden Sie auf ihrer Website: http://www.alexandra-vongrote.de/

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eBook-Originalausgabe April 2015

Copyright © 2015 dotbooks GmbH, München

Copyright © Alexandra von Grote

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Maria Seidel, atelier-seidel.de unter Verwendung eines Bildmotivs von Seleneos/photocase.de

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH

ISBN 978-3-95824-174-9

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Alexandra von Grote

Die Nacht von Lavara

Roman

dotbooks.

Alles schien so friedlich und ohne Hinterhalt.

Marlen Haushofer »Das fünfte Jahr«

Erstes Kapitel

Paris 1994

Die Tür klemmte. Zum ersten Mal in all den Jahren. Von Anfang an war ihr Mechanismus schwer gängig gewesen, aber geklemmt hatte sie nie. Irgendwann in den siebziger Jahren fand Henri bei einem seiner täglichen Streifzüge wenige Straßen entfernt in einer Mülltonne eine leere Plastikflasche mit Erdnußöl. Die wenigen Tropfen, die noch darin enthalten waren, reichten aus, um die Angeln der mit Reliefs verzierten Eisenpforte zu ölen. Danach konnte Henri die Tür viele Monate lang völlig geräuschlos öffnen. Das kam seiner Art zu leben entgegen. In Sekundenschnelle war seine Gestalt wie vom Erdboden verschluckt. Sofern ihn jemand gesehen haben mochte, entpuppte sich dies für den Betrachter als Trugbild. Doch im Lauf der Zeit hatte sich der Rost erneut in den Türscharnieren festgefressen, und am heutigen Abend mußte Henri energisch mit einem Fußtritt nachhelfen.

Von unten drängte die völlige Dunkelheit in die regnerische Dämmerung und schwärzte sie, als sei die Nacht schon weit fortgeschritten.

Es roch nach Tod und der Vergänglichkeit namenloser Existenzen. Die Kälte, die Henri umfing, als er über die zerbrochene Marmorplatte nach unten stieg, legte sich über ihn wie der Mantel der Zeit. Nichts hatte sich geändert in den letzten Jahrzehnten. Bis auf eines: Er war alt geworden. So alt, daß seine Kindheit und Jugend wie vergilbte Bilder aus einem fremden Fotoalbum erschienen. Wenn er in einem der Bistros auf dem Boulevard Montparnasse eine Toilette aufsuchte und in den Spiegel blickte, sah er die Spuren, die die vielen Jahrzehnte hinterlassen hatten. Scharfe Furchen in den Wangen, einen mit Altersflecken übersäten, faltigen Hals, gelbe Stummelzähne. Seine einst feuerroten Haare, die ihm zu Schulzeiten den Spitznamen Henri la Flamme eingebracht hatten, waren nun mit grauen und weißen Strähnen durchsetzt. Ebenso wie der Bart. Alle drei Wochen suchte Henri den kleinen Friseursalon in der Rue Stanislas auf, dessen Besitzer ihm eine kostenlose Rasur und einen schnellen Haarschnitt spendierte. Im Anschluß an den Friseurbesuch begab er sich stets in die öffentliche Badeanstalt in der Rue Ferrandi. Frisch gewaschen, mit rosigen Wangen und nach billiger Seife duftend, erwiesen sich seine Streifzüge durch das Viertel danach als wesentlich ergiebiger. In der Küche des Dôme waren die Fischreste, die einer der Küchenjungen ihm zusammenpackte, großzügiger bemessen. Manchmal lag sogar eine halbe Seezunge dabei. Die Bäckerei Salandre gab statt alten Brotresten ein frisches Pain de Campagne. Der junge Angestellte in der Weinhandlung Nicolas steckte ihm eine Literflasche Rotwein zu, mit der er viele Tage auskam. Er gehörte nicht zu denen, die übermäßig tranken.

Das Älterwerden war ein Zustand, der sich über viele Jahre hinzog und sich schubweise verschlechterte. Im letzten Jahrzehnt hatte es nacheinander die Hände, den Rücken und das Herz getroffen. Seit dieser Zeit ging Henri nach vorn gebeugt, vermochte die Finger nicht mehr zu strecken und spürte hin und wieder Stiche in der linken Brustseite.

Henri stieg in die Dunkelheit hinab, wandte sich einige Schritte nach rechts und tastete sich zu seiner Lagerstatt. Ein Haufen Decken türmte sich auf einer Holzpalette, die der Getränkelieferant des Supermarktes an der Ecke ihm vor vielen Jahren geschenkt hatte. Henri vergrub sich in die feuchten, modrigen Stoffbahnen, dehnte seinen schmerzenden Rücken und ließ noch einmal den Tag wie einen entfernten Lichtstrahl an sich vorüberziehen. Ein Tag wie die meisten in seinem Leben. Doch am Nachmittag, auf dem Nachhauseweg, hatten gleich zwei unerwartete Zwischenfälle seinen routinemäßigen Ablauf gestört.

Am Morgen war er durch die kleine Tür ins Tageslicht geschlüpft, den Kiesweg entlanggeschlendert, um als erstes die Toilette am Haupteingang aufzusuchen. Das hatte er immer so gehalten. Bis auf sehr wenige Notfälle (einmal im Schneesturm, das andere Mal, weil ihn hohes Fieber schüttelte und er ständig kollabierte) verrichtete er seine Notdurft nie im Freien. Wie er sich überhaupt selten gehenließ. Er war keiner, der sein verarmtes Dasein zum Anlaß nahm, gewisse Regeln geringer zu schätzen. Streng achtete er darauf, seine Eßmanieren, trotz erschwerter, äußerer Umstände, nicht allzusehr zu vernachlässigen. Auch ein höfliches und zuvorkommendes Auftreten waren ihm wichtig.

Nach dieser ersten morgendlichen Erleichterung hatte er in der Metrostation Raspail Schutz vor einem Regenschauer gesucht und im Eingangsbereich ein frisches, kaum angebissenes Croissant gefunden. Anschließend hielt er einen Schwatz mit der Blumenfrau in der Rue Robert, die ihm zwei Tassen Kaffee anbot. Punkt zwölf ging er zur Schule der Ursulinerinnen, wo er sich seine tägliche Portion Schulkantinenessen abholte. Heute gab es Hühnerschenkel mit Pommes frites und einen Becher Vanillejoghurt als Nachtisch. Agnès, die Köchin der Kantine, war ihm vor zehn Jahren im Abschnitt 12 begegnet. Dort hatte ihr Mann nach einem langen und elenden Todeskampf seine letzte Ruhestatt gefunden, gleich hinter der Grabstätte des peruanischen Dichters César Vallejo. Für den weißen Marmorgrabstein, ein letzter Wille des Verstorbenen, mußte Agnès ein Vermögen hinblättern. An einem heißen Mainachmittag war Henri mit der rotbackigen Witwe ins Gespräch gekommen, wenige Tage nach der Beerdigung ihres Mannes. Sie hatte ihm ihr ganzes Leben erzählt, beginnend mit der Kindheit als Schlachterstochter in einem Dorf in der Normandie. Geduldig hatte Henri ihr zugehört, hin und wieder eine Frage gestellt, auf die sie bereitwillig ergänzende Antworten gab. Er selbst schwieg weitgehend, was seine Lebensgeschichte betraf. Das schien Agnès nicht zu stören, denn ihr eigenes Herz quoll über von Geschichten und Erinnerungen. So waren sie Freunde geworden. Seit der Zeit zweigte Agnès täglich in der Schule ein warmes Essen für Henri ab. Nur mittwochs, wenn die Kinder schulfrei hatten, sowie an den Sonntagen mußte er sich anderswo versorgen. Dafür kam dann das Dôme infrage, manchmal auch das Sélect. Doch seit der alte Oberkellner nicht mehr dort arbeitete, war es hier schwieriger.

Den Nachmittag hatte Henri zu einem großen Teil in der Metrostation Notre-Dame-des-Champs verbracht, wo er gezielt die Papier- und Abfallkörbe durchstöberte. Er fand eine Zigarettenpackung, in der noch eine Filterzigarette steckte. Eigentlich war Henri Nichtraucher. Doch ab und zu verwöhnte er sich mit einem Zigarillostummel oder einer großzügig angerauchten Zigarette, die die Leute weggeworfen hatten. Eine ganze Zigarette war etwas Besonderes. Vorsichtig verstaute er sie in der Tasche seines Mantels, bis er Gelegenheit haben würde, sie in Ruhe zu genießen. Kurz darauf fand er eine Colaflasche, die nur zur Hälfte geleert war. Zum Schluß fischte Henri eine weiße Plastiktüte aus einem Abfalleimer, in der sich ein halbes Baguette und ein Päckchen Salami befanden. Die Sachen waren frisch, und niemand hatte sie angerührt. Jemand mußte sie versehentlich weggeworfen haben. Das würde sein Abendessen sein.

Die Freitagsausgabe von Le Monde, achtlos auf einen der Bahnsteige geworfen, bot für die nächsten zwei Stunden Ablenkung. Henri setzte sich am Ende des Bahnsteigs auf eine Bank und blätterte die Zeitung durch. 

Auf Seite 4 entdeckte er das Foto eines älteren, distinguiert wirkenden Herrn mit Bärtchen und dunkler Hornbrille. Henri erkannte ihn sofort. In Sekundenbruchteilen schälte sich das Gesicht des Mannes aus der Tiefe der Erinnerung. In all den Jahren hatte er sich kaum verändert. Im Alter schienen die Merkmale seiner Physiognomie sogar noch stärker und klarer hervorzutreten. Es gab keinen Zweifel, die Bildunterschrift und der danebenstehende, zweispaltige Text bestätigten es. Der Mann war kürzlich mit seiner Gattin nach Paris übersiedelt und hatte eine herrschaftliche Villa in Neuilly bezogen. Nachdem er die Leitung seines Firmenimperiums einem seiner Söhne überlassen hatte, führte er nun das geruhsame Leben eines Pensionärs. Zu seinen festen Gewohnheiten gehörte der tägliche Spaziergang am Morgen durch den Park seines Anwesens und die umliegenden Alleen des Villenviertels.

Die Villa lag nur ein paar Straßen weiter als das Haus, in dem Henri seine Kindheit verbracht hatte und in dem heute sein Bruder Philippe lebte. Das konnte kein Zufall sein. Henri ließ die Zeitung sinken. Seine Schläfen pochten, und seine Knie begannen zu zittern.

Auf dem Rückweg zu seinem Domizil im Abschnitt 18 ging er durch die Rue Vavin. Dort kam er an einem Bauzaun vorbei, der ein großes Brachgrundstück eingrenzte. Hier sollte im nächsten Jahr ein Komplex mit Luxus-Appartements entstehen. Der Zaun war über und über mit Film- und Konzertplakaten beklebt, mit Reklamezetteln, Hinweisen auf Sonderangebote in den Supermärkten. Übereinandergepappte Papierschichten, die sich an den Ecken nach oben blähten wie die Segel einer alten Kogge. Eines der neueren Plakate kündigte einen Abend mit Opernarien an. Die italienische Solistin, eine dunkelhaarige, nicht mehr junge Frau blickte den Betrachter mit verhaltenem Lächeln an.

Als Henri weiterging, drehte er sich noch einige Male um. Das Gesicht der Sängerin starrte ihm nach. Plötzlich fing er an zu rennen. Doch es war mehr ein Humpeln. Den Oberkörper weit nach vorn gekrümmt, kämpfte sich Henri bis zur nächsten Ecke. In schnellem Auf und Ab bewegten sich seine Lippen wie ein murmelnder Bachlauf. Als der Bretterzaun seinem Blick entschwunden war, verlangsamte sich sein Schritt.

Auf dem zehnminütigen Weg bis zum Haupteingang schwirrten die Gedanken in seinem Kopf wie ein Schwarm aufgescheuchter Insekten. Bilder einer fremden Stadt und einer jungen Frau tauchten auf, wurden überlagert vom Foto des alten Mannes aus der Zeitung und dem Porträt der Sängerin auf dem Konzertplakat. Angst überfiel Henri, und er beschleunigte erneut seine Schritte. Um ein Haar hätte ihn ein Taxi erfaßt, als er eine Straße überquerte. Der Fahrer hupte wütend, und dieser Ton vermischte sich mit einer Melodie, die Henri kannte, solange er zurückdenken konnte. Damals, vor langer Zeit … Doch die junge Sängerin in jener Novembernacht vor fünfzig Jahren hatte weder gelächelt, noch hatte man ihr Bild auf ein Plakat gedruckt. Wie aus einem bösen Traum entsprungen war sie ihm begegnet und hatte seinem Schicksal eine entscheidende Wende gegeben.

Das Brausen in seinem Kopf kam erst zum Stillstand, als Henri das schmiedeeiserne Tor des Haupteingangs erreichte. Er grüßte den Friedhofswärter, der auf dem Sprung war, in den Feierabend zu entschwinden. Dann wurde das Tor abgeschlossen, und niemand konnte den Friedhof mehr betreten. Henri hatte sich vor Jahren heimlich einen Schlüssel besorgt, um sich unabhängig von den Schließungszeiten zu machen. Doch morgens benutzte er den Schlüssel nie. Die Gefahr, daß ihn jemand von der Friedhofsverwaltung damit ertappen könnte, erschien ihm zu groß.

Ein scharfer Wind war aufgekommen, wirbelte dunkle Wolkenfetzen über den Horizont und trieb das nasse Laub vor sich her, das auf den Wegen lag.

Henri setzte sich auf die Bank an der Avenue Principale und griff in die weiße Plastiktüte. Die Mahlzeit aus Brot und Wurst stärkte ihn. Er versuchte, sich die Stimme des Mannes aus der Zeitung ins Gedächtnis zu rufen. Klang sie jetzt, viele Jahre später, immer noch so kalt und schneidend?

Henri beendete sein Abendbrot und ging, so schnell es sein gebeugter Rücken erlaubte, zum Abschnitt 18. Zwischen den Ruhestätten des Schauspielers Poiret und des Bildhauers Brancusi lag sein Zuhause.

Das war sein Tag gewesen. In der Zeitung hatte Henri das Datum bemerkt: Freitag, der 7. November. Natürlich wußte er auch, daß man das Jahr 1994 schrieb.

Er drehte seinen schmerzenden Körper auf die linke Seite, lockerte das schmuddelige Halstuch, ein sogenanntes Palästinensertuch, und schlang die feuchten Decken enger um seine Schultern.

In Kürze war er eingeschlafen.

Zweites Kapitel

Der Taxifahrer bremste so scharf, daß Carla Tognelli, die sich nicht angeschnallt hatte, gegen den Vordersitz geschleudert wurde. In letzter Sekunde konnte sie sich mit den Händen abstützen. Jim Biberstein, der vorn auf dem Beifahrersitz saß, stieß einen leisen Fluch aus und blickte der Gestalt nach, die soeben die Straße überquert hatte. Wütend hupte der Taxifahrer, kurbelte die Scheibe herunter und rief:

»Kannst du nicht aufpassen, du Penner?!«

Der alte Mann, der um ein Haar ins Auto gelaufen wäre, drehte sich nicht um. Mit eiligen Schritten humpelte er am Eingang des Hotels vorbei und bog nach einigen Metern von der Rue Vavin auf den Boulevard ab. Das rotweiße Palästinensertuch, das er lose um den Hals geschlungen trug, stand in grellem Kontrast zu den grauroten Haaren des Alten.

Das Taxi hielt vor dem Eingang des Hotels. Jim Biberstein stieg aus, öffnete die hintere Tür und half Carla aus dem Wagen. Nachdem Jim dem Fahrer einen Hundertfrancsschein in die Hand gedrückt und auf das Wechselgeld verzichtet hatte, folgte er Carla in die Hotelhalle.

»Bestellen Sie für 20 Uhr einen Wagen, Jim«, sagte Carla und blickte auf ihre Armbanduhr. »Jetzt ist es halb fünf. In zwei Stunden möchte ich mein Abendbrot auf dem Zimmer serviert bekommen. Das Übliche.«

Jim nickte. Er kannte Carlas Wünsche. Das Übliche bedeutete eine Rinderconsommé, zwei Scheiben Toast mit Lachs und ein Kännchen Pfefferminztee. Seit Jim als Carlas persönlicher Agent und Manager tätig war, hatte sich nichts daran geändert. Vor einem Konzert nahm Carla Tognelli stets ein heißes Bad und bestellte ein leichtes Abendessen. Danach ruhte sie und ging in Gedanken ein letztes Mal das Repertoire des Abends durch. Im Anschluß daran folgte ein halbstündiges Einsingen, um die Stimme von möglichen Schlacken zu befreien. Eine Stunde vor Beginn der Vorstellung wollte sie in ihrer Garderobe sein. Sie nahm sich Zeit zum Schminken und Ankleiden. Die letzte Viertelstunde vor dem Auftritt widmete sie erneut dem Einsingen und bestimmten, technischen Vokalübungen.

Jim blickte Carla kurz nach, als sie zum Fahrstuhl ging, um in ihr Zimmer im vierten Stock zu fahren. Die hohe, schlanke Gestalt mit den schmalen Schultern, auf die Carlas volle schwarze Haare in leichten Naturwellen fielen, zog viele Blicke auf sich. Einige Hotelgäste erkannten sie. Ein älteres Ehepaar, das gerade den Fahrstuhl verließ, grüßte devot und drehte sich mehrmals nach ihr um.

Jim ließ sich an der Rezeption den Schlüssel seines eigenen Zimmers geben und nahm den Weg durchs Treppenhaus. Er hatte genügend Zeit, die Faxe durchzusehen, die in der Zwischenzeit bei ihm angekommen sein dürften. Journalisten-Anfragen nach Interviews, Termine für Studio-Aufnahmen, Flug-Buchungen und vieles mehr. Es mußten Telefonate geführt werden, vor allem mit dem Direktor der Met in New York. Im Mai des nächsten Jahres sollte die Sopranistin dort mit dem gleichen Programm wie hier in Paris gastieren. Doch bisher konnte noch keine Einigkeit über die Höhe der Gage erzielt werden.

Man konnte Carla Tognelli nicht als kapriziös oder schwierig bezeichnen. Privat lebte sie äußerst zurückgezogen. Jim wußte praktisch nichts von ihr, außer einigen Eckdaten ihrer Biographie. Die Tognelli galt als harte Arbeiterin, die sich nicht allein auf ihr außergewöhnliches Talent verließ. Eine Perfektionistin, selten wirklich zufrieden mit ihrer Leistung. Auf der Bühne war sie eine bemerkenswerte Erscheinung. Mit ihren fünfzig Jahren blickte sie auf eine fast dreißigjährige Karriere zurück.

Seit dreizehn Jahren arbeitete Jim als Carlas Manager. Er war ihr Agent, Finanzberater, Mädchen für alles und guter Freund. Er bereiste mit ihr die Opernhäuser und Konzertsäle der Welt, und sein eigenes Leben hatte sich ihrer Karriere gänzlich untergeordnet. Trotz der engen Zusammenarbeit und des häufigen Zusammenseins hatte sich zwischen Jim und Carla nie etwas anderes entwickelt als eine auf Respekt und Vertrauen gegründete Freundschaft. Obgleich Jim sich mehr erhofft hatte, akzeptierte er dies mit der ihm eigenen Diskretion und Zurückhaltung. Carla Tognelli hielt Distanz zu ihm, wie sie sich auch den meisten Menschen gegenüber äußerst reserviert zeigte. Sie hatte nie geheiratet. Der kleine Freundeskreis, zu dem sie Kontakt pflegte, bestand größtenteils aus Kollegen. Familienangehörige kannte Jim nicht, er wußte nicht einmal, ob sie existierten. Ebensowenig gab es einen Mann oder Liebhaber in Carlas Leben. Jim fand das erstaunlich, ja beinahe beunruhigend. Carla war nicht nur eine großartige Künstlerin, sondern auch eine äußerst attraktive Frau. Doch leidenschaftliche Gefühle für Menschen schien sie nicht empfinden zu können. Emotionen lebte sie auf der Bühne aus. Das genügte ihr offenbar. Oder täuschte er sich?

Unter den vielen Faxnachrichten, die erwartungsgemäß eingegangen waren, befand sich auch eine für Carla. In blumigen Worten wurde eine Botschaft übermittelt, die Jim in Erstaunen versetzte. 

Er legte das Fax neben seinen Zimmerschlüssel auf das Tischchen im Entrée. Dann ging er zur Bar und schenkte sich einen Whisky ein. Wenig später erledigte er ebenso routiniert wie sorgfältig die anstehenden Telefonate.

***

Carla nahm das große Badelaken, das auf der Stange über der Wanne hing, und trocknete sich ab. Die Haare hatte sie hochgesteckt und ein dünnes Leinentuch darum geschlungen. Immer noch rochen sie leicht nach Tabakrauch. Kostüm, Bluse und Mantel hingen auf dem kleinen Balkon, um zu lüften. 

Sie hätte den nachmittäglichen Empfang in der italienischen Botschaft absagen sollen. Carla haßte Partys und Gesellschaften. Die Menschen standen herum, redeten dummes Zeug und schlugen auf diese Weise die Zeit tot. Viele rauchten, und Carla hatte Mühe, sich von den dichtesten Qualmwolken fernzuhalten. Doch der Empfang fand ihr zu Ehren und anläßlich ihres heutigen Pariser Soloabends statt, und so konnte sie schlecht fernbleiben. Sie hatte ein paar Gläser Orangensaft getrunken, freundlich Hände geschüttelt und Belanglosigkeiten von sich gegeben. Alles in allem war es ein vergeudeter Nachmittag gewesen. Viel lieber hätte sich Carla die Francesco-Clemente-Ausstellung im Centre Pompidou angesehen. Dafür mußte an einem der nächsten Tage Zeit sein.

Carla zog den Bademantel über und ging in den angrenzenden kleinen, antik eingerichteten Salon. Sie nahm den Hörer des drahtlosen Telefons, ließ sich auf einen der Sessel fallen und wählte eine lange Nummer.

»Hallo? Ja, ich bin’s. Wie geht es dir, was macht deine Erkältung? – Umso besser! Hast du sie auch regelmäßig genommen? – Ach so. Was kochst du denn Schönes? – Aha. Schade, daß ich nicht da bin, das wäre jetzt genau das Richtige für mich! – Ja, heute Abend. Um neun. Nein, in Paris beginnen Oper und Konzert erst um neun. Was? Na, wie immer, Lampenfieber! – Ja, natürlich. Wenn nichts dazwischenkommt, bin ich spätestens Freitag in Lavara. – Also, ich mache jetzt Schluß. Ja, danke, du auch! Grüße bitte Fabrizio. Ich umarme dich, Ginella.«

Sie legte den Hörer beiseite, zog die Knie an und lehnte sich zurück. Für einen kurzen Moment huschte ein Lächeln über ihr Gesicht. Tante Ginas warme, brüchige Stimme klang in ihrem Innern nach, ein vertrauter Ton seit Kindertagen. Es ging ihr gut, hatte sie gesagt. Wie es einem eben geht, wenn man Anfang siebzig ist. Die Erkältung von letzter Woche hatte sie fast überstanden. Die neuen Herztabletten halfen nicht viel. Das Wetter war schön, ungewöhnlich für diese Jahreszeit. Normalerweise regnete es Anfang November in Latium.

Carla ging zum Bett, schlug die Decke zurück und ließ sich auf die frischen, duftenden Laken gleiten. Sie schloß die Augen und rief sich die Arien ins Gedächtnis, die sie am heutigen Abend singen würde. Beginnen würde sie mit einer Verdi-Arie aus der Sizilianischen Vesper. Anschließend käme dann die Catalani-Arie aus La Wally.

Auf den Plakaten, die Carlas Gala-Abend ankündigten, war eigens darauf hingewiesen worden, daß sie die Catalani-Arie heute zum ersten Mal live singen würde. Es war eine Premiere. Eine, auf die die Opernwelt lange gewartet hatte. Normalerweise gehört diese Arie zum Repertoire jeder großen Sopranistin. Es galt in Fachkreisen als großes Rätsel und ungelüftetes Geheimnis, warum Carla Tognelli diese Arie nie auf einer Bühne gesungen hatte. Es existierte lediglich eine Studio-Aufnahme aus dem Jahr 1971.

Carla wußte, daß das Recital seit Monaten ausverkauft war. Sie hoffte, daß auch der besondere Gast, den sie persönlich zu der heutigen Gala eingeladen hatte, erscheinen würde. Das war das Wichtigste an diesem Abend. Jahrelang hatte sie auf diesen Tag hin gefiebert und gleichzeitig Angst vor ihm gehabt. Jetzt schien der Moment gekommen. Was würde sie empfinden, wenn es vorbei wäre? Genugtuung, das Gefühl, einen Sieg errungen zu haben? Würde der Schmerz, der sie ihr Leben lang begleitet hatte und dem sie nur entfliehen konnte, indem sie sich in die Welt der Musik zurückzog, ein wenig gelindert werden? Carla wußte es nicht. Doch es war den Versuch wert.

Drittes Kapitel

Punkt acht erschien Carla in der Hotelhalle, wo Jim Biberstein sie bereits erwartete. Er hatte seinen großen schwarzen Regenschirm gezückt, denn seit einer Viertelstunde nieselte es erneut. Jim schlug den Kragen seines Trenchcoats hoch und ging als erster durch die Tür, um den Schirm aufzuspannen.

Carla trug einen schwarzen Kaschmirmantel und einen breiten, leuchtendblauen Schal. Ihre Füße unter der knöchellangen Latexhose steckten in roten Turnschuhen. Auf dem Weg vom Hotel zu den Opernhäusern oder Konzertsälen kleidete sich Carla stets bequem. Sie haßte es, kurz vor ihren Auftritten in enge Sachen gezwängt zu sein. Es reichte schon, daß ihre Bühnenkleider meist auf Figur geschnitten waren, mit Dekolleté und eingenähter Korsage.

Sie stiegen in das bereitstehende Taxi. Wie immer nahm Jim auf dem Beifahrersitz neben dem Chauffeur Platz. Als der Wagen auf den Boulevard Montparnasse bog, drehte sich der Manager nach hinten.

»Es ist ein Fax für Sie eingegangen, Carla.« Er zog ein Stück Papier aus der Manteltasche, um es nach hinten zu reichen. Doch Carla winkte ab.

»Nein, nein. Lesen Sie vor, Jim.«

Biberstein zögerte einen Moment und hielt das Fax unschlüssig in der Hand. Carla lächelte.

»Sie haben es doch sicher bereits gelesen und wissen, was drinsteht.«

Jim zuckte vage mit den Schultern und setzte sich umständlich seine Brille auf. Dann räusperte er sich kurz, wobei er schützend die Hand vor den Mund hielt. Eine für ihn typische Geste.

»Verehrte Gnädige Frau«, begann Jim. »Für die beiden Karten zu Ihrem Gala-Abend in der Opéra Bastille möchte ich mich sehr herzlich bedanken. Ich fühle mich geehrt und geschmeichelt, daß Sie ganz persönlich diese Einladung ausgesprochen haben. Lassen Sie mich Ihnen versichern, daß meine Gattin und ich sehr gern zu Ihrem Abend kommen. Schon in jungen Jahren war ich ein Opernfan, und noch heute schätze ich insbesondere die italienischen Komponisten.

Im Gegenzug möchte ich Ihnen ebenfalls eine Einladung zukommen lassen. Morgen, am 8. November 1994, findet anläßlich meines Geburtstages ab 12 Uhr ein großer Empfang in meinem Privathaus in der Rue des Mûriers Nummer 3 in Neuilly statt. Ich würde mich freuen, wenn Sie mir die Ehre Ihres Besuches erweisen würden. Mit ergebener Hochachtung, François Duforge.«

Ohne eine Miene zu verziehen, hatte Carla zugehört. Jim faltete das Blatt zusammen und reichte es Carla, die es in ihre Handtasche steckte. Erneut räusperte er sich und sagte vorsichtig: »Ich wußte nicht, daß Sie für heute Abend einen persönlichen Freund eingeladen hatten.«

»Das ist kein persönlicher Freund, Jim. Auch wenn es etwas merkwürdig klingt, aber wir sind uns noch nie begegnet. Sagen wir so: Uns verbindet sehr viel mehr als eine persönliche Freundschaft. Unsere Schicksale sind miteinander verwoben.«

Jim, der keine Ahnung hatte, was damit gemeint sein konnte, runzelte die Stirn.

»Nun gut, Carla, das alles geht mich natürlich nichts an. Doch falls Sie die Einladung zu seinem Geburtstagsempfang morgen annehmen wollen, muß ich entsprechend umdisponieren.«

»Ich weiß noch nicht, ob ich annehme.«

»Den Interviewtermin mit Paris Match kann ich natürlich auf Anfang der Woche verlegen«, sagte Jim. »Geben Sie mir morgen früh Bescheid, wenn ich einen Wagen nach Neuilly bestellen soll.«

Carla nickte vage.

»Verzeihen Sie, Carla, ich möchte nicht indiskret sein.« Jim hielt einen Moment inne, bevor er fortfuhr: »Aber eine Geburtstagsfeier mit großem Empfang läßt darauf schließen, daß es sich höchstwahrscheinlich um einen runden Geburtstag handelt. Haben Sie denn eine Ahnung, wie alt Monsieur Duforge wird? Ich würde mich noch um ein entsprechendes Präsent kümmern.«

»Bloß nicht, Jim!« Abwehrend hob Carla beide Hände. »Ein Geschenk wäre in dem Fall ganz unpassend. Ich wüßte auch nicht, was man einem älteren Herrn schenken sollte. Meines Erachtens müßte das morgen sein achtzigster Geburtstag sein.«

Sein achtzigster Geburtstag? fragte Jim sich erstaunt. Wer war dieser Mann? Hatte er in Carlas Vergangenheit eine Rolle gespielt? Höchst eigenartig, daß er am Abend einen riesigen Strauß roter Rosen in Carlas Garderobe hatte schicken lassen. Das erfuhr Jim vor einer halben Stunde, als er mit der Garderobiere telefonierte, um zu fragen, ob Carlas Bühnenkleid bereitlag.

Wenig später fuhr das Taxi über die Bastille zum Bühneneingang der Oper.

An der Abendkasse drängten sich die Menschen. Viele hofften noch auf eine Karte. Der Schwarzmarkt würde blühen. Jim wußte, daß die Karten für Carlas Solo-Abende unter der Hand vierstellige Summen erzielten.

***

Der Applaus ebbte ab, der Dirigent hob den Taktstock, und Carla Tognelli begann mit der Arie Mercè, dilette amice von Giuseppe Verdi.

Von der Bühne aus blickte Carla in den dunklen Schlund des Zuschauerraumes. Es war, als schickte sie die Töne der Arie in die Weite des Nichts.

Das hatte Carla noch nie gestört. Auf einer Bühne zu stehen, im Rampenlicht, bedeutete, daß man gesehen wurde, aber selbst nicht sah. Weder das Publikum noch architektonische Einzelheiten eines Konzertsaales. Das blendende Scheinwerferlicht hatte den Vorteil, daß man sich ganz auf die Performance konzentrieren konnte. Das war besonders wichtig für die erste Arie. Stets begann Carla ihre Konzerte mit einer Verdi-Arie. Entweder aus der Traviata, dem Rigoletto oder der Sizilianischen Vesper. Vorwiegend heitere, rhythmische Arien, die das Publikum leicht ansprachen und eine unbeschwerte und gelöste Stimmung schafften.

Mercè, dilette amice war so eine Arie. Carla gestaltete sie beinahe spielerisch, wiegte ihre Gestalt an einigen Stellen tänzerisch hin und her. Ihr Gesicht verstrahlte Heiterkeit, überschäumende Lebensfreude.

Nach Ende der Arie, die zu den kürzeren ihres Repertoires gehörte, erlosch das Licht auf der Bühne, und begeisterter Applaus setzte ein. Nach wenigen Sekunden wurde der Scheinwerfer wieder eingeschaltet, und Carla verbeugte sich. Wiederum sah sie die Menschen nicht, die ihr zujubelten.

Das würde sich bei der nun folgenden Arie Ebben? Ne andró lontana aus der Oper La Wally von Alfredo Catalani ändern. Mit dem Inspizienten und dem Maestro hatte sie eine spezielle und ungewöhnliche Lichtregie abgesprochen. Das schwarze Nichts zwischen Zuschauerraum und Bühne sollte aufgehoben werden. Sie wollte von der Rampe aus die ersten drei, vier Zuschauerreihen überblicken können.

Die Bühne wurde in ein diffuses Licht getaucht. Carla Tognelli schlang eine schwarze Stola um ihre Schultern, löste die Spange, die ihre Haare hochgesteckt hielt, sodaß diese offen und ungebändigt ihr Gesicht umrahmten, und trat einige Schritte an die Rampe. Kein Spot war auf sie gerichtet. Stattdessen hellte sich der Zuschauerraum auf. Carla bemerkte, daß einige Menschen erstaunt und irritiert reagierten, sich umdrehten. Unruhe entstand, die jedoch sofort erlosch, als die Streicher begannen.

Die ersten Takte der Catalani-Arie erklangen. Wie ein starker Windhauch in den Bäumen, ein plötzliches Wehen wie vor einem großen Sturm strömten die Klänge in den Raum. Hin und her wogte die Melodie, steigerte sich bedrohlich. Dann ertönten aus der Mitte der Streicher heraus fünf Anschläge auf dem Flügel, monotonen und düsteren Glockenschlägen gleich.

Fast unmerklich setzte Carla Tognellis Stimme ein. Noch immer stand sie im Halbdunkel an der Bühnenrampe.

Als sie die Arie knapp zur Hälfte beendet hatte, erhob sich in der Mitte der ersten Reihe ein älterer Herr, verließ seinen Platz und ging Richtung Ausgang. Er war weißhaarig, mit Oberlippenbärtchen und von zarter, fast schmächtiger Gestalt. Seine Haltung schien gebeugt, dennoch bewegte er sich schnell, beinahe überhastet. Carla wußte sofort, wer es war. Die alte Dame, die neben ihm saß (vermutlich seine Ehefrau), wollte ihm folgen. Doch der Mann machte eine kurze, abwehrende Handbewegung, und die Frau glitt unschlüssig in ihren Sessel zurück.