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Titelseite

1

Ich war wütend. Die Julisonne verbrannte mir den Nacken und meine Sandalen blieben bei jedem Schritt am Asphalt kleben. Ein altes Ehepaar ließ vor einem Kiosk einen Postkartenständer rotieren. Wahrscheinlich suchten sie verzweifelt eine Postkarte, die im neuen Jahrtausend gemacht worden war. Sie waren die einzigen Menschen, denen ich begegnet war, seit ich den Kurpark verlassen hatte, um Luft zu bekommen und Abstand von meinen Eltern, die mir diesen sinnlosen Ausflug ins Niemandsland beschert hatten. Was tat ich hier?

Mit meiner besten Freundin Kathi und ihrem Onkel hätte ich am nächsten Tag durchs Mittelmeer segeln können. Aber meine Eltern waren dagegen gewesen. Dieses Jahr wollten sie mich zur Abwechslung wieder mal nach Italien schleppen – Venedig, Pisa, Florenz. Zusammen mit einer Million anderer Touristen, mit denen ich stundenlang gotische Fassaden von Kirchen, Grabmäler und steinerne Jünglinge anstarren durfte.

„Wer weiß, was nächstes Jahr sein wird“, sagte meine Mutter. „Vielleicht ist das unser letzter gemeinsamer Sommer.“

Sie benahm sich theatralisch, wie üblich. Ich kratzte schließlich nicht ab, ich wurde nur erwachsen.

Vor diesem letzten gemeinsamen Sommer allerdings hatten sie noch diesen Programmpunkt hier eingeschoben. Auf der vierstündigen Fahrt heute Morgen hatte ich kein Wort gesprochen, mir dafür die Finger am Handy wund getippt – Kathi verstand mich. Sie packte Koffer und ich hätte heulen können.

Aus dem Kurpark hinter der hohen Mauer drang Applaus – er galt meinen Eltern. Sie wurden geehrt für ein Sozialprojekt, das sie ins Leben gerufen hatten – ein Heim für verlorene Seelen, ein Kindergarten für krebskranke Kaninchen oder ein Asyl für obdachlose albanische Pudel, ich wusste es nicht mehr und es war mir egal.

Jetzt saßen sie zwischen anderen Ärzten, Journalisten und Politikern mitsamt herausgeputzten Gattinnen auf schneeweißen Sesseln und hörten sich eine Lobesrede nach der anderen an, die ihrem unermüdlichen sozialen und medizinischen Einsatz galten.

Während der Begrüßung durch den Klinikdirektor hatte ich mir meine selbst genähte Stofftasche umgehängt, mich hinter einen Fliederbusch verdrückt und war über einen Rasen geschlichen, der in Wimbledon Karriere hätte machen können. Der Kurpark gehörte zu einer kardiologischen Privatklinik, in der vom Stress bis zum Herzinfarkt jeder behandelt wurde, der es sich leisten konnte, aber jetzt, wo ich mich ein wenig umgeschaut hatte, stellte ich es mir ziemlich schwierig vor, an einem Ort ins Leben zurückzufinden, der so trostlos war, dass er den Namen Burn-out verdient hätte. Da nützte nicht mal die hohe Mauer, die die grüne Luxus-Oase vom heruntergekommenen Rest trennte.

Neben dem Kiosk zerfiel ein Bahnhofsgebäude. Ob hier je ein Zug anhielt? Scheiben waren eingeschlagen. An der bröckelnden Fassade hingen Plakate von Sängern, die wahrscheinlich schon längst zahnlos vor sich hin sabberten. Nur die Graffitis machten einen frischen Eindruck.

Die Luft über dem Bahnhof flimmerte. Ich hatte Durst. Vermutlich sollte ich zurück in den Kurpark gehen, mir ein kühles Glas Sekt-Orange von einem Tablett holen und mich meinem Schicksal fügen. Aber als ich mich umdrehen wollte, blendete mich etwas. Ich hielt meine Hand vor die Augen und entdeckte einen altmodischen roten Koffer. Verlassen stand er neben einer verbogenen Straßenlaterne. Er fiel mir sofort auf, weil er anders war. Er sah nicht wie ein normales Gepäckstück aus, sondern wie ein Koffer, der von vergessenen Abenteuern kündete, von uralten Überseedampfern, von wagemutigen Fahrten ins Unbekannte, in die Freiheit. Das zumindest war es, was mir zuerst durch den Kopf schoss. Die gebogenen Kanten waren mit genietetem Stahlblech überzogen und reflektierten die Sonne – das hatte mich geblendet.

Ich ging näher. Der Koffer war außen mit Holzstäben verstärkt, aber in den Bauch eines Jumbojets hätte ich ihn trotzdem nicht geworfen, besser auf die Gepäckablage der transsibirischen Eisenbahn, wo er hingepasst hätte. Und obwohl er gar keine Geschichte erzählen konnte, kam mir dieser Koffer vor, als sei er angefüllt mit schönen Träumen, als brauchte ich ihn nur zu öffnen und alle Wünsche erfüllten sich und brächten Lösungen für mein kompliziertes Leben.

Ich verliebte mich in den Koffer und wusste, dass ich mich sofort wie eine dieser Abenteurerinnen fühlen würde, auf dem Weg in unbekanntes Land, sobald er in meinem Besitz war. Ich schaute mich um. Außer dem Postkarten-Ehepaar war niemand zu sehen. Mein Herz pochte nervös. Nimm ihn!, rief mir eine innere Stimme zu. Der Griff war ebenfalls aus glänzendem Stahlblech, glatt und fein lag er in meiner Hand. Ich hob den Koffer auf eine mit Taubenmist bekleckste Sitzbank neben der Straßenlaterne. Träume wogen schwerer, als ich gedacht hatte. Ich legte meine zitternden Finger auf die beiden Schlösser und wollte sie aufschnappen lassen, als mich das Motorengeräusch eines schnell näher kommenden Autos ablenkte. Mit einer Vollbremsung hielt direkt hinter mir ein staubiger Jeep an. Ich erschrak so, dass ich neben dem Koffer auf die Bank plumpste.

„Irina!“, rief der Fahrer aus dem Fenster. „Irina Pawlowa?“

Der Mann kam mir vertraut vor. Hatte ich ihn schon einmal irgendwo gesehen? Er schaltete den Motor ab, ging um den Geländewagen herum und kam mit offenen Armen auf mich zu; alt war er noch nicht, ganz jung aber auch nicht mehr.

„Ich suche Sie seit einer halben Stunde, also Sie und den Koffer. Darf ich Sie Irina nennen? Sie sehen viel jünger aus, als Sie sind. Ich bin Viktor – Chauffeur, Gärtner, Jäger, Einkäufer, Hausmeister, zuständig für alles Grobe in der Villa Morris.“ Er lachte und schüttelte meine Hand. Seine war groß, kräftig und fühlte sich nach harter Arbeit an – Schwielen, Hornhaut und Kratzwunden; entweder er hatte mit einer Katze gekämpft oder Rosen ausgerissen. Helle, freundliche Augen blickten mich an, eingerahmt waren sie von unzähligen feinen Lachfalten. Er hätte in einen Werbespot für silofreie Frischmilch auf eine Almwiese vor eine Kuh gepasst. Seine Haut war braun gebrannt, er war breitschultrig, groß und muskulös. Ein widerspenstiger weizenblonder Lockenschopf fiel ihm in die Stirn. Er trug ein grob kariertes Hemd, speckige Hosen und feste Schuhe wie ein Bergbauer.

„Wie war die Zugfahrt?“

Er wartete keine Antwort ab, sondern riss den Koffer meiner Träume von der Bank. Lieblos wuchtete er ihn auf den Rücksitz des Jeeps. Eine Stange Zigaretten, Schneeketten. Auf dem Boden dreckverschmierte Stiefel und ein Benzinkanister. Im Kofferraum stapelten sich Einkäufe – Getränke, Mehl, Zucker und andere haltbare Lebensmittel in erstaunlichen Mengen. Er öffnete die Beifahrertür.

„Bitte einsteigen!“

Zuerst verstand ich nicht. Ich drehte mich um, aber da war niemand. Er meinte mich.

„Ich will nicht drängen, aber wir werden in der Villa erwartet. Und die Fahrt ist, nun ja, ein wenig abenteuerlich. Ich hoffe, Sie sind schwindelfrei.“ Lachend ging er um den Wagen herum. Ich warf einen Blick auf den roten Koffer. Dann auf Viktor. Dann wieder auf den roten Koffer.

„Etwas nicht in Ordnung?“, fragte er mich über das Dach des Jeeps hinweg.

Ich schüttelte den Kopf. In meinem Magen schien sich eine Fackel entzündet zu haben, die rasch immer heißer wurde.

Viktor stieg ein und steckte den Schlüssel ins Zündschloss.

„Was ist? Kommen Sie?“ Er bückte sich, um mich ansehen zu können. Die Fackel in mir schien erneut aufzulodern und mir trat der Schweiß auf die Stirn.

Es war nur eine Frage gewesen. Eine Frage, die man mit Ja oder Nein beantworten konnte. Weiter nichts. Im Prinzip ganz einfach. Obwohl ich mich bisher eher mit „Vielleicht“ durchs Leben geschmuggelt hatte. Größere Entscheidungen hatten bisher meine Eltern für mich getroffen, bevor ich die Chance bekommen hatte, selbst darüber nachzudenken. Auch diesmal hatten sie entschieden, dass ich den Sommer in Italien verbringen sollte. Mit ihnen. Immer in sicheren Händen. Und jetzt hatte mir der Zufall einen Koffer geschickt. War das nicht ein Zeichen?

Ich war völlig in Aufruhr. Ja oder Nein? Gleich würde ich den Druck nicht mehr ertragen. Entscheide dich. Schnell. Viktor trommelte schon aufs Lenkrad. Hier war der Koffer. Dort meine Eltern. Ich im Niemandsland dazwischen.

„Irina!“ Viktor drehte den Zündschlüssel. Der Motor dröhnte auf. Die Fackel in mir schien mich zu verbrennen. Ja. Nein. Ja. Nein. Bei einem Vielleicht würde Viktor für mich entscheiden. Er würde entweder ohne mich fahren oder mich in den Wagen zerren. Beides gegen meinen Willen. Ja hieß, ich ließ mein vertrautes Umfeld zurück und folgte dem Koffer auf eine Reise mit ungewissem Ausgang. Nein hieß, ich entschied mich für die Sicherheit, ewig gelangweilt und eingehüllt ins mütterliche Wohlfühlprogramm, das mich auf Wattewolken bis hierher getragen hatte. NEIN! Davon hatte ich genug. Mir war, als legte sich in meinem Gehirn ein Schalter um. Wild entschlossen stieg ich ein. Ich schlug die Wagentür zu und folgte einem wildfremden Mann namens Viktor, der meine Träume in einem Koffer entführen wollte.

2

Du bist komplett wahnsinnig. Was hast du getan? Der Gedanke kam mir fast unmittelbar, aber er führte nicht etwa dazu, dass ich irgendetwas unternahm, um das Missverständnis aufzuklären. Ganz im Gegenteil, ich blieb stumm, während wir am Kurpark entlangkutschierten. Hinter einer Trauerweide auf dem Podium stand gerade mein Vater am Rednerpult. Meine Mutter saß in der ersten Reihe und blickte neben sich auf den leeren Sessel.

Im Seitenspiegel entdeckte ich eine junge Frau, die aus dem Kiosk kam. Suchend schaute sie sich um. Etwas biss mich in den Magen. Der Jeep bog um eine Hausecke und sie entschwand meinem Blick.

„Wir sind froh, dass das endlich geklappt hat“, sagte der Mann namens Viktor. „Lange haben wir nach jemandem wie Ihnen gesucht, der bereit ist, Zeit zu opfern.“

Nach jemandem wie mir? Zeit opfern? Wofür? Ich klammerte mich am Haltegriff über dem Fenster fest, musste raus, musste ihm sagen, dass ich einen Fehler gemacht hatte, dass er mich verwechselt hatte, dass der rote Koffer dieser jungen Frau gehörte. Und vor allem musste ich mich aus dieser eigenartigen Starre herausreißen. Aber ich tat es nicht.

Viktor passierte das Ortsschild und kam auf eine Überlandstraße mit wenig Verkehr. Trist und öde zeigte sich die weite Ebene. Die sengende Sonne hatte das Flussbett ausgetrocknet und das Gras verbrannt. Keine Tiere. Keine Häuser. Kein Leben, so schien es mir. Viktor überholte einen Traktor, der Mist verlor, dann eine Kolonne Radrennfahrer. Einer hatte orangefarbene Streifen am Helm. Als wir näher kamen, sah ich, dass der Helm verbeult war. Ein weißer Verband haftete an seinem Ellbogen und seine Knie waren aufgeschürft. Trotzdem jagte er im Windschatten seinem Vordermann nach. Weit weg am Horizont kratzte eine mächtige Gebirgskette an den Sommerwolken.

Viktor reichte mir ganz selbstverständlich eine Plastikflasche mit Wasser. „Wir werden zwei Stunden unterwegs sein. Falls Sie Durst haben.“

Dieses Sie machte mich nervös. Ich bat ihn, mich zu duzen, und fragte mich, wohin wir fuhren. Meine Eltern würden sterben vor Sorge, die rechtmäßige Besitzerin des Koffers war vermutlich schon bei der Polizei, dieser Viktor konnte ein massenmordender Irrer sein oder – was wahrscheinlicher war – seinen Irrtum jede Minute bemerken und sauwütend auf mich werden. Und doch, ich rührte mich nicht. Etwas in mir gab es, was mir zuflüsterte, dass ich diese Reise machen sollte. Sei sie auch noch so verrückt. Das zu wissen, half aber nicht gegen die mahnenden Stimmen meiner Eltern, die durch meinen Kopf dröhnten, als donnerten zwei aneinander vorbeifahrende Züge durch einen Tunnel. Hätte ich sie gehasst, wäre alles einfach gewesen, aber ich hasste sie überhaupt nicht. Ich hatte sie lieb und das wussten sie. Aber wussten sie auch, wie eingesperrt ich mich fühlte? Sie verboten mir alles, was Spaß machte. Ich wollte nicht nach Italien. Ich hatte andere Träume. Ihre Arbeit bewunderte ich, aber es war nicht meine Arbeit, sondern ihr Leben, während sie mir keins ließen, das ich leben konnte. Ich wollte meine eigene Reise machen. Und genau das tat ich jetzt. Einerseits fühlte sich das gut an, andererseits musste ich zugeben, dass ich mich vor meiner eigenen Courage fürchtete. Was erwartete mich? Wohin brachte mich Viktor? Ich kannte nicht einmal die Bestimmung der Frau mit dem Koffer. Und damit meine genauso wenig.

Ich kurbelte das Fenster herunter. Heißer Fahrtwind strich mir durchs Haar. In tiefen Zügen sog ich die Luft ein und mit einem Mal durchströmte mich ein Gefühl, das ich nicht gleich zuordnen konnte, das ich aber bis in die Zehenspitzen fühlte. War das … Freiheit?

„Alles okay?“, fragte Viktor lächelnd und musterte mich von der Seite.

„Alles okay!“ Und ich meinte es so, wie ich es sagte. Was machte ich auch so ein Theater um die ganze Sache? Was konnte schon passieren? Ich fuhr jetzt mal mit, schaute mir die Sache an und konnte ein, zwei Stunden so tun, als wäre ich jemand anders. In eine andere Haut und in ein anderes Leben schlüpfen. Nichts dabei. Wie hatte Viktor unser Ziel genannt? Villa Morris, erinnerte ich mich. Ein Hotel könnte so heißen. Oder eine Pension.

Wahrscheinlich war Irina Pawlowa nur auf dem Weg in diese Villa, um ein paar Tage Urlaub zu machen. Ich würde auf ihre Kosten eine kühle Cola trinken und dann erklären, dass etwas Unvorhergesehenes vorgefallen war und ich dringend zurückmüsste. Das Abenteuer würde nur so lange dauern, wie ich es wollte. Der Druck fiel von mir ab.

Ich öffnete meine Stofftasche mit dem bunten Muster, die ich selbst genäht hatte, griff nach meinem Handy und schrieb meinen Eltern eine Nachricht: Mir geht es gut. Bin nur kurz weg. Macht euch keine Sorgen, hab euch lieb. Marlene.

Wir verließen die Hauptstraße. Die Gebirgskette vor uns kam näher und näher, und bald kurvten wir Serpentinen nach oben. Die Straße wurde schmaler und führte uns in eine Schlucht. Links neben der Straße fiel die Böschung steil ab. In der Tiefe fraß sich ein Gebirgsfluss durch das Gestein und sah von hier oben aus wie ein Faden aus sprudelnder Milch. Jetzt wusste ich, warum Viktor mich gefragt hatte, ob ich schwindelfrei sei. Rechts der Straße stieg eine Felswand senkrecht empor. Gegenüber stürzten lange Wasserfälle aus den Felsen. Viktor war ein exzellenter Fahrer, trotzdem wurde mir jetzt doch beklommen zumute. So viel Unvorhergesehenes konnte passieren, so vieles, was ich bei meiner Entscheidung nicht bedacht hatte.

Wir verließen die Schlucht über eine Brücke. Danach kamen wir durch einen Kiefernwald. Viktor drosselte die Geschwindigkeit und hielt vor einer Schranke, auf der groß „PRIVATBESITZ“ stand. Kein Hinweis auf ein Hotel oder sonst etwas.

Er nestelte neben dem Ganghebel an einer Fernbedienung. Die Schranke öffnete sich und wir fuhren weiter. Der Asphalt wurde langsam löcherig und verwandelte sich in einen Schotterfeldweg. Wir holperten durch eine dunkle Säulenhalle aus Nadelbäumen und kamen an ungezähmten Wiesen vorbei; ein morsches, pilzüberwuchertes Holzkreuz am Wegrand – die Zivilisation musste meilenweit hinter uns liegen. Es wurde lichter. Schließlich erreichten wir eine Ebene, umgeben von grünen Hügeln, die sich wie Teppiche an den Füßen der hohen Berge ausbreiteten. Sie waren so saftig, dass ich Ausschau nach Kühen hielt, oder Bauern, die das Heu mähten. Nichts. Nur ein paar verstreute Holzhütten, die beim nächsten größeren Gewitter zusammenfallen würden. Eine grelle, von der Hitze flirrende Traumlandschaft. Warum lebten hier keine Menschen? Warum standen hier keine Skilifte? Lauerte hinter der Idylle eine Gefahr, die man nicht sehen konnte? Plötzlich stellte ich mir vor, dass wir beim nächsten Stein, über den wir polterten, abheben würden wie Astronauten auf dem Mond. Als ob die Gravitation hier schwächer wäre als anderswo. Als ob man sich hier nur vorsichtig bewegen dürfte, weil sonst etwas Schlimmes passierte. Spring nicht. Sonst fliegst du fort. Vögel waren auch nirgends. Alles, was ich sah, schien fest mit der Erde verwurzelt zu sein. Ich schob meine verrückten Gedanken weg und musste über mich selber lachen. Alles prächtig. Alles prima.

Wir sprachen kaum und das war mir ganz recht. So konnte ich mich nicht in falsche Fragen oder Antworten verstricken. Solange der rote Koffer in meiner Nähe war, konnte mir nichts passieren, bildete ich mir ein. Die Natur um mich herum wurde noch wilder. Ich kam aus der Großstadt. Das war alles neu und aufregend und ich beschloss, nicht weiter über die fehlenden Menschen in dieser Gegend nachzudenken. Dreimal fragte mich Viktor, ob es mich störte, wenn er sich eine Zigarette anzündete. Dreimal antwortete ich, dass es mich nicht störte, obwohl es mich störte. Er qualmte aus dem offenen Fenster. Je länger wir fuhren, umso kühler wurde es. Kurvenreich und holprig ging es aufwärts.

Vor einem Weidezaun mit quer liegenden Brettern hielten wir an. Viktor schob ein paar Bretter zur Seite, fuhr durch und brachte die Bretter wieder in die richtige Position. Der Weg führte uns nun bergauf in einen Wald, der dunkler und dichter schien als alle Wälder, durch die wir zuvor gekommen waren.

Mitten in der Düsternis, angelehnt an kolossale Baumstämme, tauchten zwei Steinsäulen auf, in denen ein altes schmiedeeisernes Tor verankert war. Wir hielten. An dem Tor hing ein Blechschild mit einer alten Schrift: ACHTUNG! SELBSTSCHUSSANLAGE! Die Tore waren mit einer schweren Eisenkette umwickelt. Nach Urlaub sah das nun wirklich nicht aus und das mulmige Gefühl verstärkte sich.

Was hatte Irina Pawlowa in dieser geheimnisumwitterten Villa Morris zu tun? Viktor stieg aus, öffnete die Kette mit einem Schlüssel, schob die quietschenden Eisentore auf, stieg wieder ein, fuhr hindurch und versperrte alles wieder. Den Schlüssel versenkte er in seiner Hosentasche und mir wurde in vollem Umfang bewusst, was ich hier tat. Ich war mit einem wildfremden Mann, der mich für eine andere hielt, unterwegs in eine Einöde, in der der einzige Hinweis auf Zivilisation ein Schild war, das auf eine Selbstschussanlage hinwies. Was hatte ich nur für eine bescheuerte Entscheidung getroffen?

Ich öffnete meinen Mund, um Viktor zu beichten, was ich getan hatte, und diesen Irrtum zu erklären. Aber ich kam nicht mehr dazu, denn vor uns öffnete sich das Dunkel des Waldes und ich fand mich im Paradies wieder.

3

Vor einer himmelhohen Felswand stand wie auf einem Tablett aus einer blühenden Wiese ein Schmuckkästchen. Das jedenfalls war mein erster Eindruck.

Noch nie hatte ich so ein schönes Bauwerk gesehen. Das riesige Haus war schon in die Jahre gekommen und alles andere als perfekt, aber es hatte eine magische Wirkung auf mich. Schmale Säulen ragten in die Höhe, zinnerne Wasserspeier reckten ihre Dachrinnen-Hälse von den Gaupen. Im ersten Stock zog sich ein Balkon mit zarten Ornamenten wie ein Halsband um das Haus. Hinter hohen Fenstern bauschten sich weiße Vorhänge. Die Schindeln auf der Fassade waren im Laufe von Jahrzehnten dunkelbraun, manche fast schwarz geworden. Eine Steintreppe führte auf die Veranda zum Eingang. Grasbüschel wuchsen an den Rändern. Links und rechts umrankten Rosensträucher die Holzsäulen.

Das Geräusch der zuknallenden Autotür ließ mich herumfahren.

„Willkommen in der Villa Morris“, sagte Viktor und lachte, als er meinen verdatterten Gesichtsausdruck sah. Ich klappte den Mund wieder zu und versuchte, mich zusammenzureißen. Ja, der Anblick war wunderschön, aber auf den zweiten Blick sah man, wie baufällig das Gebäude war. Der Hals eines Wasserspeiers war abgeknickt und die Bruchstelle notdürftig mit einem Klebstreifen umwickelt. Und die Stufen zum Eingang bröckelten.

Unwillkürlich musste ich an Sanatorien denken, die Lungenkranke vor hundert Jahren besucht hatten. So ein Sanatorium könnte das hier sein. Deswegen auch die Abgeschiedenheit. Keine Pension oder Hotel, wie ich vorhin gedacht hatte, sondern ein Kurheim. Ich nahm einen tiefen Atemzug und mir war, als durchströmte mich wirklich gleißendes Licht mit heilenden Kräften.

Ich sah, wie Viktor die rückwärtige Tür öffnete und den roten Koffer vom Rücksitz holen wollte.

„Nein, das mach ich“, sagte ich hastig und nahm dem erstaunten Mann den Koffer aus der Hand.

„Er ist schwer.“ Wahrscheinlich war er der Meinung, Irina sei lungenkrank, weil sie hier herkam, um sich zu erholen.

„Ich schaff das schon.“ Ich lächelte und fühlte mich stärker denn je. Um nichts in der Welt würde ich diesen Koffer loslassen. Zwei Zitronenfalter flatterten um mich herum.

Über der zweiflügeligen Eingangstür streckte ein bärtiger Gamsbock seinen ausgestopften Kopf aus der Wand und schaute mich finster an. WAIDMANNSHEIL stand in verschnörkelter Schrift darüber. Die Flügeltüren öffneten sich und heraus trat – ich erschrak im ersten Moment – eine Nonne: schwarzes bodenlanges Kleid, Kreuz an einer langen Kette um den Hals, weißer Stehkragen, Kopfbedeckung. Ihr Haar konnte ich nicht sehen. Die Frau war schmal und trug eine Brille, die viel zu groß wirkte. Keine Ahnung, wie alt sie war. Sie wirkte uralt und blutjung gleichzeitig. Falten hatte sie jedenfalls keine; ihre Haut war wie Wachs und irgendwie kam sie mir vor wie eine Abbildung von diesen Nonnen auf uralten vergilbten Schwarz-Weiß-Fotos, mal schlafend, mal tot.

Insgesamt passte ihre Erscheinung zu meiner Vermutung wie das Eckteil von einem Puzzle: Viele Sanatorien oder Kurheime wurden auch heute noch von Nonnen geführt. Wahrscheinlich gab es hier einen Seelsorger, Krankenschwestern, Ärzte und andere Kurgäste. Noch konnte ich aber keine entdecken.

„Frau Pawlowa! Schön, Sie zu sehen.“ Lächelnd blieb die Nonne unter dem Balkon auf der Veranda stehen. Ich trug den Koffer nach oben und hatte das Gefühl, als ob hier schon viele Menschen die Steine zu Fußtritten verformt hatten. Sie strahlten Hitze von der vielen Sonne ab. An einer Holzsäule rechts stand auf einem Metallschild: 1891.

„Viktor. Möchtest du Frau Pawlowa nicht das Gepäck abnehmen?“

„Das … das wollte er, aber … ich nehme meinen Koffer lieber selber“, stammelte ich, stellte den Koffer ab und glaubte, an einer Überdosis guten Holzgeruchs durchzudrehen, den das Haus aussandte, während mir die Nonne eiskalte Spinnenfinger reichte. Sie hielt kurz inne, legte für einen Augenblick die Stirn in Falten und musterte mich, während sie meine Hand festhielt.

„Sie sehen jung aus … sehr viel jünger, als Sie sind.“

Wie alt sollte ich denn ihrer Meinung nach sein? Ich lachte nervös und wollte etwas erwidern, fast lag es mir auf der Zunge – dass das alles kein Wunder war, schließlich handelte es sich hier um ein Missverständnis und ich brauchte gar keinen Kuraufenthalt, aber sie sprach schon weiter.

„Ich bin Schwester Maria Fidelis Steiner. Sie können mich Schwester Fidelis nennen. Wir haben miteinander korrespondiert.“

Ich schluckte. Worüber und weswegen hatten wir denn „korrespondiert“? Dieses Wort hatte ich zuletzt aus dem Mund meiner Großmutter gehört. Ich befreite mich von ihren Fingern und hielt mich mit beiden Händen am Koffer fest.

„Es freut mich sehr, dass wir endlich jemanden gefunden haben, der Noah das Schwimmen beibringt.“

Meine Theorie mit dem Kuraufenthalt bekam Risse und stürzte dann in sich zusammen. Ich sollte einem Noah das Schwimmen beibringen? Sofort hatte ich das Bild eines nervigen Vierjährigen vor Augen, vermutlich weil kein Erwachsener, den ich kannte, Noah hieß. Aber noch mehr störte mich das Wort Schwimmen. Alles, was damit zusammenhing, jagte mir Angst ein. Das war nicht immer so gewesen. Früher hatte ich es geliebt zu schwimmen, war sogar im Schwimmverein gewesen. Bis zu jenem furchtbaren Tag, an dem etwas schiefgegangen war. Was, daran konnte ich mich nicht mehr erinnern, aber an die Verzweiflung, keine Luft mehr zu bekommen, umso mehr. Seither machte ich um Gewässer aller Art einen Bogen.

Andererseits – war das nicht ohnehin alles egal? Viel länger konnte ich diese Rolle ja eh nicht durchhalten, oder?

Ich sog den Holzgeruch ein und den süßen Duft der Rosen. Sie rochen so betörend, dass mir davon fast schwindelig wurde. Es war warm, aber hier oben war die Luft viel angenehmer, angenehmer, als ich es je erlebt hatte. Eine Holzbank an der Hauswand und ein Schaukelstuhl an der Ecke luden ein, sich mit einem Buch hinzusetzen oder einfach nur ins Grüne, in die Weite oder auf die hoch aufragende, steile Felswand zu schauen, je nach Himmelsrichtung. Paradiesisch eben.

„Hatten Sie eine gute Reise?“ Schwester Fidelis lächelte und bat mich einzutreten. Sie erinnerte mich an die Stewards in dem Titanic-Film, die die Passagiere der ersten Klasse mit stolzgeschwellter Brust und golden polierten Knöpfen auf den Uniformen an Bord begrüßten.

Ich glaubte, einen Antiquitätensalon zu betreten. Eine breite Holztreppe, bespannt mit einem roten Teppich, führte von mir weg geradewegs nach oben und verlieh der Eingangshalle etwas Königliches. Die Geländerstäbe waren kunstvoll gedrechselt.

Auffällig waren die hohen Räume und die Vertäfelungen überall. Das Holz leuchtete in einem warmen Orangebraun. Der Blick nach draußen auf die zwei Rosenstöcke, den tiefblauen Himmel, die Tannenbäume und das Gebirge war traumhaft. Glitzerte in der Ebene hinter den Wipfeln ein See?

„Von dieser Halle aus kommen Sie in alle Himmelsrichtungen“, sagte Schwester Fidelis. „Falls Sie sich verlaufen, müssen Sie nur zusehen, wieder hierher zurückzufinden.“

Der Kachelofen neben der Treppe musste einmal eine Pracht gewesen sein. Jetzt war er alt. Und so herrschaftlich die Villa auch war, über allem hing der Atem des Verlassenwordenseins. Verwirrt atmete ich vergangenes, prachtvolles Leben ein und wusste nicht, was ich damit anfangen sollte.

Irina, wer bist du und wer sind diese Leute hier? Warum die Kette am Eingangstor? Warum der Chauffeur?

„Die Villa ist sehr schön, nicht wahr?“

Ich nickte mit offenem Mund und starrte auf einen riesigen ausgestopften Raubvogel, der mit ausgebreiteten Schwingen über der Treppe hing. Vielleicht sollte ich jetzt endlich mein Gehirn einschalten und mich auf und davon machen, solange es noch nicht zu spät war. An einen Kuraufenthalt hatte auch nur ich glauben können. Beklommen wandte ich meinen Kopf von dem aufgerissenen Schnabel über mir ab.

„Kommen Sie!“ Die Nonne stand schon auf der breiten Treppe, die im Bogen nach oben führte. „Aber passen Sie auf. Der Sisalteppich ist nur mit diesen dünnen Goldstangen befestigt. Man rutscht leicht aus.“

Ich zog meinen Kopf ein, als ich unter dem Steinadler hindurch leichtfüßig nach oben stieg, auf riesige Holzfenster zu, die von meinen Schultern aufwärts in die Höhe ragten. Eine mächtige Buche bewegte dahinter ihre sommergrünen Blätter. An diesem Tag schien alles wie mit Gold lackiert.

Im oberen Stockwerk erwarteten mich weitere Jagdtrophäen, diesmal war es ein Hirsch, der genau wie der Steinadler und die Gämsen dem Haus eine morbide Atmosphäre verlieh. Die nagelten hier tote Köpfe auf Holz. Wie krank war das denn?

„Passen Sie auf, dass Sie nicht drunterstehen, falls er herunterfällt.“ Die Nonne sah, wie erschrocken ich war, und lächelte verlegen. „War nur ein kleiner Scherz. Der hängt hier schon hundert Jahre. Sie brauchen keine Angst zu haben.“

Hatte ich trotzdem. Nicht vor dem Geweih, aber vor mir selbst. Wie war ich nur hierhergekommen? Heute Morgen noch saß ich mit meinen Eltern im Auto auf dem Weg nach Italien und jetzt war ich in dieser völlig fremden Welt gelandet. Paradies und Gruselkabinett in einem. Einen kurzen Moment bildete ich mir ein, der Hirsch schaute mich an. Ich hätte schwören können, er hatte seine Augen bewegt. Vermutlich drehte ich langsam durch. Nervös folgte ich Schwester Fidelis ans Ende des Flurs, die jetzt wieder die altmodische Stewardess mimte. „Ich habe die Master Suite für Sie richten lassen. Es ist ein Eckzimmer. Fantastische Aussicht und das Bad ist neu renoviert.“ Sie drückte die Klinke und ließ mich vor. „Bitte, treten Sie ein.“

Master Suite. Das alles kam mir vor wie in einem Film. Und ich hatte mir die Hauptrolle geschnappt, ohne das Drehbuch zu kennen. Ein großer, frei stehender Spiegel zog meine Aufmerksamkeit auf sich. Mir begegnen wollte ich aber nicht. Ich stellte den Koffer ab und blickte rechts aus dem Fenster. Von hier war die Felswand noch näher – beeindruckend, bedrohlich, zerklüftet und trotzdem wunderschön – Stein- und Gerölllawinen hatten ihre Bahnen gezogen. Das nachmittägliche Sonnenlicht ließ alles glasklar erscheinen. Noch nie hatte ich so etwas Gewaltiges und Monumentales gesehen. Ich konnte den Anblick nicht länger ertragen, etwas erdrückte mich daran. Schnell wandte ich mich ab. Auch hier gab es einen hohen, frei stehenden Kachelofen, nur durch ein Ofenrohr mit der Wand verbunden. Ein zartblaues Blattmuster zierte die cremeweißen Kacheln, besetzt mit ovalen Silbersteinen. „Originales Augartenporzellan aus Wien. Eine Rarität.“

War ich hier unfreiwillig in eine Touristenführung geraten?

Die Nonne sprach weiter. „Wenn Sie den roten Knopf neben dem Bett drücken, bekommt Anselm ein Signal in der Küche. Die Rufanlage ist seit 1923 in Betrieb.“

„Prima“, murmelte ich. Wer war Anselm? Irgendwie erinnerte mich das alles doch an ein Hotel.

Schwester Fidelis lächelte. „Packen Sie in Ruhe aus und erfrischen Sie sich ein wenig. In zwei Stunden gibt es Abendessen gleich neben der Eingangshalle. Falls Sie noch irgendetwas brauchen, finden Sie mich unten in meinem Kontor – die linke Tür unter der Treppe. Sie werden die Villa nach und nach kennenlernen.“

Sie ging. Die Tür fiel zu und ich war allein. Mit jeder Minute, die vergangen war, seit ich in Viktors Auto gestiegen war, war mir klarer geworden, dass ich mich in die schlimmste Situation meines Lebens manövriert hatte. Was war so falsch an den Vielleichts gewesen, mit denen ich mich bis jetzt durch mein Leben gebracht hatte? Ja, ich war eingeengt gewesen, ja, ich hatte Luft zum Atmen vermisst, sehr sogar, aber das hier – das war ein großer Irrtum. Ich sollte jetzt hinuntergehen, mich entschuldigen und schauen, dass ich wieder wegkam.

Sollte.

Aber ich tat es nicht. Ich wusste nicht, was genau mich zog, aber es war wie ein unsichtbares Band, das mich hier festhielt. Ich trat auf den Balkon. Unter mir breitete sich eine wilde, farbenprächtige Hochebene aus. Hohe Berge dahinter. Jetzt sah ich auch den Gebirgssee, der in der Abendluft flimmerte. Mehrere Bäche liefen darauf zu.

Ich atmete die würzigste Luft meines Lebens, die sich bis in meine Fingerspitzen ausbreitete. Unten lief jemand um den See. Aus der Ferne konnte ich nichts Genaues erkennen. Wie viele Leute lebten hier überhaupt? Platz war genug. Offen blieb nur, was sie taten.

„Gefällt dir das Zimmer?“, rief Viktor mir von unten zu. Der Kofferraum von seinem Jeep stand offen. Er schleppte all die vielen Einkäufe ins Haus, fast so, als wollte er sie für einen bevorstehenden Krieg bunkern. Bevor ich antworten konnte, war er auch schon verschwunden.

Ich ging zurück ins Zimmer. Mein Blick fiel auf den roten Koffer und jetzt endlich wurde mir klar, was das unsichtbare Band wirklich war. Es war der rote Koffer und die Tatsache, dass ich noch immer nicht wusste, welches Geheimnis er verbarg. Ich wuchtete ihn aufs Bett. Als hätte ich Angst davor, etwas Schreckliches darin zu entdecken, betrachtete ich ihn eine ganze Weile. Dann gab ich mir einen Ruck und legte meine Hände auf die Kofferschnallen. Ich ließ sie aufschnappen. Der Klang war verheißungsvoll. Ich schloss sie wieder und ließ sie noch einmal aufschnappen. Erst dann hob ich langsam den Deckel.

4

Das Muster auf der Innenverkleidung des Koffers sah aus wie das vergrößerte Innenleben einer Taschenuhr: Zahnrädchen, Schrauben und winzige Zeiger, in mehreren hauchdünnen Schichten übereinander. Es wirkte so lebendig, als könnte sich das Uhrwerk tatsächlich in Bewegung setzen. Ich berührte den Stoff im Deckel. Er fühlte sich an wie der Stoff eines trockenen Regenschirms. Ich fuhr mit den Fingernägeln darüber und schauderte bei dem Geräusch.

Sonst war nichts Außergewöhnliches darin. Nur perfekt gefaltete Kleider. Ich hob eine fast durchsichtige vanillefarbene Seidenbluse vom Stapel, dann einen knielangen, engen Rock, noch mehr Seidenblusen, teure Trägershirts, spitzenbesetzte Unterwäsche. Ich zog einen lavendelfarbenen BH heraus, hielt ihn vor mich hin und stellte mich vor den riesigen Spiegel. Die Besitzerin dieser geschmackvollen Garderobe hatte offenbar meine Größe. Zwei sportliche Badeanzüge waren in dem Koffer verstaut und eine Trainingshose, außerdem ein Paar feine Schühchen, Sportschuhe, ein warmer Pullover, eine Jacke und eine Kulturtasche, gefüllt mit allem, was man brauchte, sogar die Zahnbürste war noch originalverpackt. Außer Kleidern fand ich nichts. Kein Buch. Kein Ladegerät. Kein Kalender. Nichts, was einen Hinweis darauf gab, wer Irina Pawlowa war. Eine junge Frau, die schwimmen konnte und Wert auf gute Kleidung legte. Wie gern wäre ich so jemand. Nur für kurz, nur für ein paar Stunden oder einen Abend vielleicht.

Nur einen Abend.

Es war so verlockend: Die Möglichkeit, in eine fremde Rolle zu schlüpfen, lag direkt vor mir. Ich brauchte nur zuzugreifen. Ich verdrängte die nagenden Gedanken an meine Eltern, öffnete einen Antiquitätenschrank und gab mir viel Mühe, die Kleider sorgfältig einzuräumen. Bei mir zu Hause stopfte ich immer alles wahllos in eine Schublade oder ich ließ es einfach fallen. Bei mir zu Hause trug ich auch nur alte, gemütliche Klamotten. Aber jetzt war ich jemand anders. Und zum Abendessen würde ich mir eine dieser Seidenblusen und einen Rock anziehen.

Rasch schob ich die Slips unter die Strümpfe, räumte die Toilettensachen ins Bad, drehte am Porzellanknauf des Wasserhahns, roch an der Seife – Sandelholz – und steckte meine Nase in ein gut duftendes Flausch-Handtuch. Ich wollte mich gerade ausziehen, um zu duschen, als mir etwas klar wurde: Meine Mutter hatte mir auf meine SMS nicht geantwortet. Sie hatte nicht einmal versucht, mich anzurufen. Aber das sah ihr nicht ähnlich, sie musste es etliche Male versucht haben und war vermutlich vor Sorge inzwischen völlig durchgedreht. Ich kramte das Handy aus meiner Tasche, sank auf den Badewannenrand und bekam die Antwort: Ich hatte keinen Empfang. Logisch eigentlich. In dieser Umgebung schienen so wenig Menschen zu leben, dass ein Telefonnetz eher für die Füchse gewesen wäre.

Sicherheitshalber begab ich mich vom Bad ins Schlafzimmer. Auch nichts. Aber in dem Haus musste es doch wenigstens ein drahtloses Netz geben. Ich schaute unter den Einstellungen nach. Alles war aktiviert. Trotzdem kein Netzwerk – weder Telefon noch Internet. Das hatte ich noch nie erlebt. Vielleicht hatte Schwester Fidelis nur vergessen, das WLAN zu aktivieren. Ich verließ das Zimmer, versuchte die Jagdtrophäen an den Wänden zu ignorieren und hüpfte die Treppe hinunter. Im Kontor, hatte sie gesagt, sei sie, unter der Treppe. Eine Tür war halb angelehnt. Das musste es sein. Ich klopfte an.

„Kommen Sie nur herein“, sagte Schwester Fidelis und ich betrat ein original hundert Jahre altes Büro. Die Nonne saß an einem Sekretär mit unzähligen kleinen Schubladen, Fächern, Knöpfen und Aufsätzen – so einen Schreibtisch hatte ich mir immer gewünscht; einen, in dem es viele Verstecke für Tagebücher, geheime Notizen und Liebesbriefe gab. Fächer, in denen man noch Jahre später Kritzeleien und Zettel fand, die man schon längst vergessen hatte. Schwester Fidelis war über ein Notizbuch gebeugt, machte sich mit einem Bleistift klitzekleine Notizen, ließ es in einer Schublade verschwinden und blickte hoch.

„Äh … ich wollte nur fragen, ob es hier eine Internetverbindung gibt oder ein Telefonnetz.“

Erstaunt sah sie mich an. Entweder sie hatte noch nie in ihrem Leben davon gehört, oder ich hatte gerade die falsche Frage gestellt.

„Das habe ich Ihnen doch geschrieben.“ Sie zog ihre Stirn in Falten und blickte mich so eindringlich an, dass ich zwar rot wurde, sich mein Problem dadurch aber überhaupt nicht löste.

„Ja … äh … ja natürlich, ich dachte nur nicht, also schon, aber dass es gleich gar nirgends … äh.“

„Es ist wegen Noah … Sie wissen, es ist besser so.“ Sie nahm ihre Brille ab und schaute ein Loch in die Tischoberfläche.

Klar. Wegen Noah. Erziehung wie vor hundert Jahren, oder was? Kinder am besten fernhalten von neuen Medien, damit sie auf keinen Fall lernen, wie man damit umgeht? Oder das Kind war hyperaktiv, ein Albtraum, den man nicht unter Menschen lassen konnte, deswegen womöglich diese Abgeschiedenheit. Wo waren eigentlich die Eltern dieses Kindes? Noch hatte ich nichts von ihnen gehört. Abgesehen davon brauchte ich, verdammt noch mal, irgendeinen Kontakt zur Außenwelt.

„Sie waren doch damit einverstanden?“ Kurzsichtig blickte sie zu mir auf.

„Natürlich.“ Ich lachte verlegen, während mir unzählige wirre Gedanken durch den Kopf schossen. „Tut mir leid. Ich hatte nur nicht gedacht, dass Sie das so strikt durchziehen.“

„Wenn Sie doch einmal telefonieren wollen, sprechen wir mit Viktor. Er kann dann etwas organisieren.“

„Er wohnt nicht hier?“

„Nein. Viktor wohnt im Wald, nicht weit weg.“

„Sie meinen, es gibt im ganzen Haus kein Telefon?“ Ich war fassungslos. Hauptsache, eine Klingel für den Zimmerservice. Schwester Fidelis setzte ihre Brille wieder auf und lächelte mild. „Sie werden es nicht glauben, aber man kann auch ohne sehr gut leben.“

„Ja … wahrscheinlich.“ Ohne Internet und Telefon konnte man vielleicht leben, aber lustig war es nicht.

Ich wankte rückwärts aus dem Kontor und stolperte unter der Treppe beinah über eine altmodische Bügelmaschine, oder was das war.

Als ich die Treppe wieder hinaufstieg, hatte ich das Gefühl, ein Wollknäuel mit Zähnen verschluckt zu haben. Ich musste mich beruhigen, klar denken. Es gab also keine Verbindung zur Außenwelt und schon wieder hatte ich eine Gelegenheit verpasst, die Wahrheit zu sagen und mich nach Hause bringen zu lassen. Was war es eigentlich, das mich davon abhielt? War es dieser magische Ort, der mich nicht mehr loslassen wollte? Oder mein Stolz, weil ich nicht zugeben wollte, dass meine Entscheidung falsch war? Der Hirsch schien mich anzusehen, als wollte er mir sagen: „Merkst du eigentlich nicht, dass dein Wunsch in Erfüllung gegangen ist? Hast du dich nicht jahrelang genau danach gesehnt? Frei wolltest du sein. Einmal tun und lassen können, was du willst, ohne über jede Minute deines Lebens Rechenschaft abzulegen. Und jetzt, da es so ist, kriegst du Panik? Wo ist das Problem? Natürlich werden sich deine Eltern Sorgen machen. Na und? Sie haben dir dein Leben lang Sorgen gemacht, weil sie dich nie in Ruhe gelassen haben. Und falls du’s nicht mehr aushältst, brauchst du nur mit Viktor zu reden und der fährt dich zurück. Also alles kein Problem.“

Der Hirsch hatte recht. Ich beschloss, meine Rolle einen Tag durchzuziehen. Einen Tag würden meine Eltern ohne mich überleben.

Mein Handy warf ich in eine Emailleschüssel auf einer Kommode. Dann schüttete ich mir im Bad kaltes Wasser ins Gesicht. Dieses Wasser war nicht kalt. Es war eiskalt. Es war so kalt, dass der Hahn anlief. Ich hielt meine Zunge in den Strahl und nahm einen Schluck. So also schmeckte Quellwasser. Ich konnte gar nicht mehr aufhören zu trinken. Mir das Wasser aus den Augen wischend, hätte ich mich beinah auf den Koffer gesetzt, der immer noch offen auf meinem Bett lag. Ich ließ den Deckel zufallen und schob ihn unters Bett. Ein ungutes Gefühl zwickte mich in den Magen, ein Gefühl, als hätte ich etwas Unangenehmes vergessen. Ich verdrängte das Gefühl und ließ mich rücklings aufs Bett fallen, obwohl ich nicht müde war. Das eiserne Bettgestell quietschte leicht. Es hatte an jeder Ecke eine Messingkugel. Die Bettwäsche war rot bestickt mit VM.

Über mir knarrten die Holzdielen. Wer wohnte dort? Ich hielt es keine zehn Sekunden liegend aus. Mein Herz flatterte wie ein Papierfetzen im Wind. Ich sprang wieder auf, öffnete den roten Koffer noch einmal und das Muster des Uhrwerks beeindruckte mich genauso wie beim ersten Mal. Der Koffer war jetzt leer. Ich tastete den Deckel ab. Nichts. Aber dann fuhr ich über die Innenverkleidung, die zwar fest am Kofferboden haftete, aber trotzdem schien mir, als stimmte hier irgendwas nicht. Ich kniete mich auf den Fußboden, setzte meine Hand von außen wie einen Messzeiger an den Koffer, dahin, wo ich die Innenverkleidung in etwa vermutete, betrachtete ihn aus gleicher Augenhöhe und war mir ziemlich sicher, dass der Koffer einen zweiten Boden haben musste. Vielleicht gab es einen Reißverschluss an der Innenseite der Kante, den man aufziehen konnte, um schmutzige Kleider in dem Zusatzfach unterzubringen. Doch da war kein Reißverschluss. Akribisch tastete ich jeden Quadratzentimeter ab, fand aber weder ein Schlüsselloch noch sonst einen Hinweis auf einen zweiten Boden, geschweige denn darauf, wie man ihn öffnen konnte. Falls es denn einen gab. Aufgeregt schob ich den Koffer unters Bett und fragte mich, was Irina wohl darin verbarg.

Dann duschte ich mich, wusch mir den Schweiß vom Körper und zog ihre schicken Kleider an. Sie fühlten sich leicht und elegant an auf meiner Haut. Ich probierte die Schminksachen aus, die sie in einem extra Beutel aufbewahrte – Make-up, Rouge, Eyeliner, Lidschatten, Wimperntusche, Lippenstift –, malte in meinem Gesicht herum und stellte fest, dass ich hinterher fast zehn Jahre älter aussah. Ich öffnete meine langen Haare und bürstete sie glatt. Ein Sprühstoß aus einem Parfumflakon – süß, zu blumig. Dann legte ich mir noch einen hellen luftleichten Seidenschal um den Hals und schlüpfte in die halbhohen Schuhe. Fertig. Als ich vor den Spiegel trat, drehte ich mich nach allen Seiten um.

Der rote Koffer hatte eine andere aus mir gemacht. Meine Großmutter wäre stolz auf mich gewesen. Meine Großmutter. Sie besaß ein kleines Theater, in dem Künstler aus der ganzen Welt ein und aus gingen – Kabarettisten, Varietékünstler, Musiker und Sängerinnen, die sich gern extravagant kleideten; so wie meine Großmutter, die stets alle Fäden des Theaters in der Hand hielt und als Hausherrin die größte Künstlerin von allen war. „Ich kann nicht begreifen, dass es Leute gibt, die das Haus verlassen, ohne sich überlegt zu haben, was sie anziehen. Sie könnten gerade heute ihrem Schicksal begegnen.“ Es ging ihr dabei nicht darum, besonders hübsch oder schön zu sein, sie hätte es sogar cool gefunden, wenn ich in Gummistiefeln oder einem Taucheranzug aufgekreuzt wäre, nur mochte sie es nicht, dass mir meistens vollkommen egal war, wie ich daherkam. „Wenn du schon eine schlabberige Jogginghose trägst, dann versteck dich damit nicht unter der Kuscheldecke, sondern trage sie voller Stolz hinaus in die Welt. Steh dazu!“ Mir fiel auf, wie sehr ich sie und die stundenlangen philosophischen Gespräche mit ihr vermisste. Es kam mir wie eine Ewigkeit vor, seit ich sie das letzte Mal gesehen hatte. Das war keine so schöne Begegnung gewesen, weil wieder irgendwas Ungeplantes passiert war. Irgendwas war immer mit meiner Großmutter: Aufregungen. Skandale. Sensationen. Pleiten. Grandiose Erfolge. In ihrem kleinen Theater passierten die verrücktesten Dinge – sie musste sich mit depressiven Clowns, egozentrischen Diven, alkoholkranken Schauspielern und unzuverlässigen Technikern herumschlagen. Ständig hatte sie zu viel um die Ohren und meistens stand sie bis in die Morgenstunden hinter der Bar oder gab selbst etwas am Klavier zum Besten; in jungen Jahren war meine Großmutter eine gefragte Pianistin gewesen. Wie sehnte ich mich nach ihr, aber sobald dieses Abenteuer vorbei war, wollte ich mich bei ihr melden, ihr alles erzählen, mich von ihr in die angesagtesten Lokale entführen lassen, ein Mexikaner hier, eine Sushi-Bar dort, die beste Pizza der Stadt, Restaurants, in denen sie von allen Seiten erkannt und begrüßt wurde, Küsschen links, Küsschen rechts, ihr kennt doch meine Enkelin, die beste von allen.

Lächelnd verließ ich das Zimmer und merkte, dass ich mich ganz anders bewegte als in Jeans, ausgeleiertem Shirt und Ballerinas. Wie eine Kronprinzessin, die von den Fans sehnsüchtig erwartet wird, stieg ich die Treppe hinunter.

„Da sind Sie ja“, empfingen mich aber keine Fans, sondern nur Schwester Fidelis – der Steinadler schwebte über ihr. „Wir haben schon auf Sie gewartet. Noah kann es kaum erwarten, Sie kennenzulernen.“

Eine Standuhr schlug. Die Wände seufzten fast hörbar. Ich war eine Viertelstunde zu spät.

„Tut mir leid. Ich habe wohl die Zeit übersehen.“

„Das macht nichts, meine Liebe. Folgen Sie mir.“

Das Esszimmer war achteckig und umgeben von Fenstern. Die sinkende Sonne tauchte die Holzwände in goldenes Licht. Der Kachelofen hier kam mir fast vor wie ein Altar. Er war furchtbar groß, schneeweiß und die Kacheln stellten Tierköpfe dar, manche hätten Widderköpfe sein sollen, sahen aber aus wie Fratzen mit Teufelshörnern. Ich zuckte zurück, weil ich glaubte, eine Fratze streckte mir ihre Zunge entgegen. An der zu heißen Dusche konnte das nicht liegen. Eher an meiner Aufregung.

In der Mitte stand ein runder Tisch mit einem Kerzenleuchter, gedeckt wie im Nobelrestaurant. Für drei Menschen – die Nonne, das Kind und mich. Von den Eltern noch immer keine Spur.

Morgen würde ich ihnen die Wahrheit sagen. Morgen würde ich abreisen.

5

Gerade als ich mich setzen wollte, knarrte der Parkettboden. Ich hatte das Gefühl, ein Scheinwerfer ginge an, als der hübscheste Junge eintrat, den ich je gesehen hatte. Er war ungefähr so alt wie ich, einen halben Kopf größer und hatte einen perfekten Körper. Sein halblanges schwarzes, fast bläuliches Haar glänzte feucht, wahrscheinlich hatte er geduscht. Das Schönste an ihm aber waren seine großen Augen mit den langen Wimpern. Wie tiefblaue Saphire, die einen Brillantschliff erhalten hatten, strahlten sie aus seinem Gesicht.

„Noah! Das ist Frau Pawlowa.“ Schwester Fidelis berührte ihn an der Schulter. Er reichte mir seine Hand.

„Irina … bitte“, setzte ich hinzu und hatte das Gefühl, in eine Steckdose zu greifen. Schnell ließ ich seine Hand wieder los.

„Freut mich“, sagte er unfreundlich und setzte sich, ohne mich weiter zu beachten. Den Seidenschal und das Make-up hätte ich mir sparen können. Kein Albtraumkind. Ein stinkverwöhnter, arroganter Schönling.

„Nehmen Sie doch Platz, Irina“, bat mich Schwester Fidelis freundlich.

„Ja klar … sicher.“ Beinahe hätte ich den Sessel verfehlt und mich auf den Boden gesetzt. Verstohlen blickte ich zu Noah, der über mich hinwegsah. Ich drehte mich um, folgte seinem Blick, was war dort so interessant? Nichts außer einer Motte, die um die Vorhänge flatterte. Was machte dieser Junge hier am Ende der Welt mit einer Nonne in einem skurrilen Haus voll toter Viecher? Im Augenblick spielte er mit einer Silbergabel und würdigte mich keines Blickes. Er kam sich wohl vor wie etwas Besseres. Und der sollte Schwimmunterricht bekommen? Das war doch wohl alles ein schlechter Scherz. Von mir würde er den sicher nicht kriegen.

Noch einmal öffnete sich die Tür. Erwartet hatte ich … ich weiß nicht, wen ich erwartet hatte, auf jeden Fall nicht einen kleinen, dünnen Mann, der so unauffällig war, dass ich Mühe hatte, ihn zu beschreiben. Seine Haare waren eher grau, schütter, nicht mehr richtig vorhanden. Er trug einen Anzug, der ihm vielleicht einmal gepasst hatte, jetzt aber an ihm hing, als wäre er in ihm eingegangen wie ein zu heiß gewaschener Wollpullover, hatte ein hohlwangiges Gesicht und über seinem Adamsapfel war eine Fliege fest verknotet. Er jonglierte ein Tablett mit einer Karaffe voll Wasser und Gläsern herein. Auf den ersten Blick wirkte er steinalt, aber das war er gar nicht, nur furchtbar dünn und ausgemergelt.

„Das ist Anselm, unser begnadeter Koch“, erklärte mir Schwester Fidelis. „Sollten Sie Hunger haben, egal zu welcher Tages- und Nachtzeit, Anselm bereitet Ihnen die köstlichsten Menüs.“

Auch er reichte mir die Hand, nachdem er das Tablett abgestellt hatte, musterte mich mit einem freundlichen Blick und sagte: „Wenn Sie irgendetwas brauchen, können Sie sich jederzeit an mich wenden.“

Verdattert nickte ich.

„Ich bring dann die Suppe“, murmelte er und verschwand wieder.

„Bitte, Noah!“, sagte Schwester Fidelis und faltete die Hände.

Ich kapierte erst, was sie damit meinte, als Noah anfing, ein Gebet herunterzuleiern. Am liebsten hätte ich laut aufgelacht. Seinen Blick in der Tischdecke festgehakt, sprach Noah mit ruhiger Stimme und völlig ernst: „Bleibe bei uns, Herr, denn es will Abend werden, und der Tag hat sich geneigt …“