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Martin Keune

Knockout

Kriminalroman

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

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ebook im be.bra verlag, 2015

© der Originalausgabe:

berlin.krimi.verlag im be.bra verlag GmbH

Berlin-Brandenburg, 2015

KulturBrauerei Haus 2

Schönhauser Allee 37, 10435 Berlin

post@bebraverlag.de

Lektorat: Claudia Jürgens, Berlin

Umschlaggestaltung: Martin Keune (Foto: © bpk)

ISBN 978-3-8393-6141-2 (epub)

ISBN 978-3-89809-540-2 (print)

www.bebraverlag.de

Inhalt

FLIEGERBOMBE

ÜBERRASCHUNG, ÜBERRASCHUNG

SCHWERGEWICHTLER

DIXI

ZIRZOWS PROBLEME

GERMAN FAUSTKAMPF

TOD IM RING

MOABIT

GROSCHENKELLER

DIE KATAKOMBEN AM NÜRNBERGER PLATZ

IM TUNNEL

DER AMERIKANER

NACHTGEDANKEN

ZIRZOW IM ZOO

PREUSSENSCHLAG

FLUCHT AUS BERLIN

DAS SEESCHLOSS IN LANKE

SPARRING

ZIRZOWS COMEBACK

DER KAMPF

RINGGIRL ROSI

MARTHA UNDERGROUND

KNOCK-OUT

DAS GESTÄNDNIS

NACHWORT

FLIEGERBOMBE

Wahrscheinlich gab es lohnendere Orte, um eine Bombe explodieren zu lassen; Orte, wo mehr Menschen die Detonation hören würden, wo Bäume entlaubt werden konnten und Mauern zum Einsturz gebracht. Doch wenn man in dieser riesigen Stadt Berlin einen Ort gesucht hätte, wo man am wenigsten mit einer Bombe rechnen würde, dann wäre es hier; hier in den menschenleeren Gassen mit den Backsteinhäusern westlich der Friedrichstraße, wo selbst in dieser besonderen Nacht des Jahres Stille herrschte. Und es machte keinen großen Unterschied, ob die Bombe ein solider Sprengkörper mit Stahlmantel war – oder eine überfüllte Eckkneipe, die nur einen explosiven Namen trug und sich in dieser verlassenen Ecke der Stadt um etwas Bombenstimmung bemühte. Der Laden, auf den Sándor Lehmann in dieser Silvesternacht des Jahres 1931 zusteuerte, hieß Fliegerbombe, und als er, in einen dunklen Wollmantel gehüllt, den verschneiten Karlsplatz überquerte und rechts in die Luisenstraße abbog, deren Trottoirs mit Schneewehen zugedeckt waren, sah nichts im Viertel östlich der Charité nach einer Kneipe aus, die noch geöffnet hatte.

Doch Sándor wusste, wohin er wollte; die Bombe war ein, zwei Jahre lang sein zweites Zuhause gewesen – eigentlich sein erstes eigenes, richtiges Zuhause. Damals hatte er noch schräg gegenüber im 106er-Revier gearbeitet. Als Polizeianwärter hatte er die Arbeit unglaublich ernst genommen; als er zum ersten Mal einen der eben erst hopsgenommenen Ganoven am Tresen sein Bier trinken gesehen hatte, war das ein regelrechter Schock für ihn gewesen. Doch er hatte sich daran gewöhnt; er hatte sich überhaupt an vieles gewöhnt inzwischen – und besonders diese Ecknneipe machte es einem leicht, sich an sie zu gewöhnen und alles, was man sah, für normal zu halten. Sein Chef, Ernst Gennat, der legendäre Leiter der Mordkommission drüben am Alexanderplatz, hasste Schuppen wie die Fliegerbombe. Gennat wusste genau, dass sich hier die Halbwelt traf und dass es mit den Jungs vom 106er eine ganze Menge Berührungspunkte gab, die er lieber vermieden hätte – Berührungspunkte jeder Art. Manchmal berührten Fäuste Kinnspitzen oder Magengruben, manchmal berührten zwei Hände denselben Stapel Geldscheine, und beides war Ernst Gennat alles andere als recht.

Sándor Lehmann klappte den Mantelkragen herunter und fuhr sich mit der Hand durchs Haar. Manches sah der Chef zu eng; die Bombe war eine Kneipe, wie es sie in dieser Stadt Dutzende gab, und wenn die Mauscheleien zwischen den Guten und den Bösen nicht hier am Tresen stattfanden, dann fanden sie eben woanders statt, geheimer und versteckter und auch schlechter zu beobachten. Er selber hatte die Fliegerbombe – eben tauchte der schmale Eingang mit dem langen Flur dahinter im Schneetreiben auf – damals gern besucht, weil immer was los war. Denn für Berlins Boxszene war Rosis verräucherte Stehbierhalle der Anlaufpunkt Nummer eins, und irgendwer hatte immer gerade einen Überraschungssieg zu feiern, irgendeiner hatte immer Anlass, sein frisch zerknautschtes Gesicht in ein paar Eimer Bier zu tauchen und anschließend mit irgendeinem Fremden einen Streit anzuzetteln, um wenigstens nach dem Kampf noch etwas Brass loszuwerden. Eigentlich hatte das Lokal wohl einmal »Rosis Tanzbar« geheißen, aber zu einem der Boxer, dem sie auf der anderen Straßenseite in der Charité das Gesicht wieder zusammengenäht hatten, hatte der Chirurg angeblich gesagt: »Mann, was ist Ihnen denn passiert? Sind Sie von einer Fliegerbombe getroffen worden?« Ob das stimmte oder nicht: Der Satz hatte in der Kneipe mehrere Abende die Runde gemacht und immer grölende Heiterkeit erregt. Seitdem hatten alle Rosis kleines Lokal nur noch »Fliegerbombe« genannt, bis Rosi dem Druck der Massen nachgegeben und das neue Namensschild über die Tür geschraubt hatte; einen schnörkeligen Jugendstil-Schriftzug mit einer Pin-up-Vignette, einer jungen Frau, die auf einer riesigen Bombe ritt und Rosi nicht ganz unähnlich war.

Sándor wischte sich den Schnee von den Schultern und trat ein. Er war nicht immer so entspannt durch diese Tür gegangen; in die Bombe kam er in letzter Zeit vor allem, wenn er genervt war, wenn ein Fall klemmte, er einen Anschiss gekriegt hatte – oder wenn er eine Information brauchte, die nicht in den Akten stand, und er ein paar Fühler ausstrecken musste, ein paar Schnäpse spendieren, sich umhören. Manchmal machte er auch einen Bogen um den Laden, um Rosi nicht zu treffen, weil er Rosi nichts vormachen konnte, seitdem sie damals … egal. Manchmal ging er auch genau deshalb hin. Die Bombe, das war Nostalgie, die Rückkehr in seine ersten Jahre als Berliner Polizist. Es gab Abende, da erinnerte er sich gern an diese Vergangenheit, und Abende, da wich er ihr aus. Der Vergangeneheit – und Rosi.

Heute kam er nur auf eine Stippvisite hierher; ein schneller Besuch auf ein, zwei grüne Escorial, die Taschen voll mit lästig schwerem Kleingeld, das er von den Kollegen in der Mordkommission gesammelt hatte. Denn die Männer – und Gennats Sekretärin, Gertrud Steiner – hatten zusammengeworfen, um dem Chef zum Zweiundfünfzigsten (morgen, am Neujahrstag, kein Mensch hatte an Neujahr Geburtstag außer dem Chef) ein paar Eintrittskarten für einen großen Boxkampf zu schenken, und die bekam man hier in der Fliegerbombe zuverlässiger und meist auch preiswerter als an der Abendkasse im Spichernring.

Ja, es gab noch große Boxkämpfe, auch wenn die Zeiten schlecht waren; Jakob Domgörgen war ein Leichtgewicht mit Elan, eine Stahlfeder mit Sprungkraft, aber Phil Nefzger würde es ihm im Spichernring trotzdem schwer machen. Die Berliner Boxgemeinde fieberte dem ersten Kampf des neuen Jahres entgegen; Begegnungen wie diese waren selten geworden. Ernst Gennat, der Leiter der Mordkommission, war eigentlich kein Mitglied dieser enthusiastischen Gemeinde. Er wog mehr als die beiden Boxer zusammen, und dass er mal bei einer Festnahme handgreiflich geworden wäre, daran konnte sich niemand im Präsidium erinnern. Trotzdem liebte der dicke Mann vom Alexanderplatz das Boxen aus einer intellektuellen Distanz heraus; die schnellen Bewegungen, das Kalkül, das strategische Einsetzen der eigenen Kräfte reizten ihn wie ein kniffeliger Kriminalfall. Meist war der Chef zu knauserig mit seiner eigenen Zeit, um sich wirklich mal einen Kampf anzusehen – und vielleicht auch zu träge, den geliebten Plüschsessel im Büro zu verlassen –, aber wenn’s ein Geburtstagsgeschenk war, würde er sich den Spaß sicher gönnen.

In der Fliegerbombe ging es auch jetzt, fast zwei Stunden nach dem Jahreswechsel, noch hoch her. Andere Sportsmänner mochten ihre Körper mit Askese schonen; die Boxer und alle anderen, die den kleinen Laden heute rappelvoll machten, hielten nicht viel von Abstinenz. Sándor drückte dem Faktotum an der Tür, einem zahnlosen ehemaligen Seemann namens Geert, den Mantel in die Hand und sondierte die Lage. Er war oft genug hier gewesen, um noch immer mit einem einzigen schweifenden Blick zu erfassen, wer gerade da war. Im Grunde war es leicht zu erkennen: Die Boxer zum Beispiel ruderten bei ihren Erzählungen mit den Armen, schoben die Schultern vor oder nahmen die Fäuste vors Gesicht. Sie schwadronierten über ihre Kämpfe, erlebte oder erträumte, und ihre Muskeln schwadronierten mit. Die Polizeibeamten hatten schnelle Augen; während sie ihrem Gegenüber noch das Gesicht zuwandten, zuckten ihre Blicke hin und her. Sie wollten kontrollieren, ob sie gesehen wurden – und selber sehen, was es zu sehen gab. Die richtig harten Burschen oder jedenfalls – Sándor hatte zu viele von ihnen schon in der Mangel gehabt, um mit dem Adjektiv noch allzu verschwenderisch umzugehen – solche, die sich für hart hielten, saßen reglos vor ihren Getränken; sie taten entspannt, wollten nicht auffallen, versuchten, niemanden anzusehen, gleichgültig vor sich hin zu starren, während sie auf einen Lieferanten, einen Schuldner, einen Kumpan warteten. Alle anderen schrien durcheinander, lachten, klopften sich auf die Schultern.

Hinterm Tresen stand lächelnd Rosi, und Sándor fletschte die Zähne in ihre Richtung, ein Lächeln, das abgebrüht wirken sollte, aber ihm nicht gut gelang. Lächeln war keine seiner besten Übungen, und dass Rosis Anblick ihm noch immer jedes Mal einen kleinen Stich versetzte, ging ihm entschieden gegen den Strich. Rosi! Die viel zu große, viel zu ungelenke Person – in dieser aufgeregten Boxerkneipe hätte man eher einen resoluten Muttertyp erwartet, fand Sándor – stand mit verschränkten Armen an ihren vernickelten Zapfhähnen, großäugig, wachsam, mit einem ironischen Zug um den Mund. Diese Ironie, dieses fast geringschätzige Schmunzeln, mit dem sie quittierte, was um sie herum geschah: Das hatte Sándor vom ersten Tag an erstaunt. Verstand sie, was sie sah, durchschaute sie wirklich jeden einzelnen ihrer Kunden, und brachte sie wirklich ausnahmslos alldem diese typische Rosi-Mischung aus Wohlwollen und lächelnder Distanz entgegen? Er hatte es nie herausgefunden.

Rosies Lächeln veränderte sich kaum merklich, als sie ihn sah; vielleicht ging ein Hauch von Schmerz über ihr Gesicht, ein Anflug nur, wie wenn man ein paar Nüsse kaut und eine etwas bitterer schmeckt. Das war er, die etwas bitterere Nuss, er wusste es genau, auch wenn sie nie darüber gesprochen hatten. »Darüber sprechen«, das war gleich nach dem Lächeln seine zweitschlechteste Übung.

Aber da hatte ihn auch schon der Trubel verschluckt; Bekannte schlugen ihm auf die Schulter, alte Kollegen aus dem 106er, die an ihrem Posten festgewachsen waren und jetzt eifrig neue, junge Kollegen vorstellen wollten, denen sie eine große Kariere prophezeiten, wenn nur er, Sándor, seine schützende Hand über sie legte. Oder Boxer, die mal mit dem Gesetz in Konflikt geraten waren – mit ihm, Sándor, als Arm des Gesetzes – und die nicht nachtragend waren und dieser Tatsache bei jeder sich bietenden Gelegenheit spendabel Ausdruck verleihen wollten.

Drüben am Platz vor dem Neuen Tor hatte Sándor eine SA-Truppe im schweigenden Trott Richtung Charité marschieren sehen; wahrscheinlich die Nachtwache für einen verletzten Kameraden, dem bei einer Wirtshausprügelei ein Barhocker über den Schädel gezogen worden war. Außer dem Tratt-tratt-tratt der Stiefel war die Nacht still gewesen, der Schnee hatte alle Geräusche geschluckt. Vor der Anatomie hatte ein Kutscher besoffen auf dem Kutschbock geschlafen; das dürre Bimmeln der Gnadenkirche war nur schwach aus der Ferne zu hören gewesen. Aber hier, in der Fliegerbombe – hier verstand man sein eigenes Wort nicht. Drei Kerle redeten gleichzeitig auf ihn ein, während Sándor mit dem Kartenabreißer aus dem Spichernring noch einen guten Preis aushandelte. Rosi hatte er bisher nicht mal »Guten Abend« gesagt; auf Förmlichkeiten hatte sie aber auch noch nie sonderlich Wert gelegt. Also ließ er sich in den Trubel fallen, wunderte sich nicht, als plötzlich ein eiskalter grüner Escorial vor ihm stand, ein süßer, bitterer Schock, der ihm die Schulterblätter wohlig zusammenzog, während auf der mikroskopisch kleinen Bühne gegenüber der Bar jemand hinters Schlagzeug geklettert war und ein paar Takte probierte, dsch dsch dmmp, dmmp. Das war der Rhythmus, den er an dieser Stadt liebte – nicht den Gleichschritt der Stiefel draußen im Schnee, sondern dieses harte, trockene Tappen der Tom, das Sirren der Becken.

Eine ganze Weile hatte Sándor ein Doppelleben im nächtlichen Berlin geführt. Tagsüber hatte er den harten Bullen gemimt, nachts war er, versteckt hinter einem monströsen Schnurrbart, mit der Klarinette auf die Jazzbühnen der Stadt geklettert. Der große Fremde mit der Tröte hatte mit Leuten wie Julian Fuhs, Lud Gluskin oder James Kok gespielt – für einen Jungen aus dem Wedding eine unglaubliche Erfahrung. Vom Arbeiter-Schalmeien-Orchester an der Panke in den wilden Swing der funkelnden Tanzpaläste: Er hatte sich nie angestrengt für diese Ehre, nie geübt und nur immer darauf geachtet, dass der Schnurrbart richtig saß. Dabei war das Unsinn gewesen; in dieser entfesselten Zeit hätte er nackt in Kriegsbemalung auf den Tischen tanzen können, und niemand hätte daran Anstoß genommen. Niemand nahm Anstoß daran, dass ein großer, düster blickender Bulle mit blondem Krauskopf und schief gehauener Nase in eine viel zu klein wirkende Klarinette blies. Also tat er es noch immer ab und zu, und er tat es auch heute.

»Some of these days, you’ll miss me, honey«, plärrte sein Instrument die Gesangsstimme von Sophie Tucker nach, und wer den Song kannte, konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen über die synkopische, geradezu betrunken wirkende Parodie des Vaudeville-Klassikers von 1911. Schlagzeug und Klarinette blieben nicht lange allein, hinter dem Vorhang stand wahrhaftig ein zerkratztes, aber gut gestimmtes Klavier, und eine Stunde lang schepperte und schunkelte die Fliegerbombe ausgelassen durch die Nacht. Vielleicht vollführte der SA-Trupp draußen einen Wachwechsel und marschierte ignorant swinglos und zähneknirschend auf der anderen Straßenseite vorbei; das war egal: Die Bombe war noch nie das Ziel irgendwelcher Naziübergriffe gewesen, weil man wahrscheinlich wusste, dass hier drin eine ausgelassene Zweidutzendpackung Berliner Boxer, Bullen und Bösewichte nur darauf wartete, jemanden bis zur Neun und darüber hinaus auf die Bretter schicken zu können.

Wahrscheinlich war es drei, halb vier, als der Radau nachließ, und wahrscheinlich hatte Sándor von Anfang an gewusst, dass es so weitergehen würde: Rosi und er am Tresen, er schweigend, sie lächelnd. Manchmal schüttelte sie den Kopf, sah zu ihm rüber, öffnete kurz den Mund, um etwas zu sagen, und schwieg dann doch. Goss ihm stattdessen aus der halb leeren Flasche Genever, den er hasste, noch einen nach. Als das Schweigen zu lange gedauert hatte, war doch er es, der sprach.

»Wer ist denn eigentlich der Kerl da drüben?«

Rosi lachte auf, als hätte Sándor sich diesen Themenwechsel nur ausgedacht, um gar nicht erst zum Thema kommen zu müssen – aber richtig, ein Gast hatte die letzten zwei Stunden offenbar intensive Innenschau betrieben, war über dem Glas Mampe eingenickt und saß mit vornübergesunkenem Kopf auf einem Stuhl neben der Tür. Ein Boxer war das nicht, dafür war der Mann zu korpulent. Rosi seufzte, rutschte vom Hocker und stakste, selbst ein bisschen wackelig, zum Tisch des Gastes hinüber.

»He, Männeken, hier ist Feierabend. Ich kassiere!«

Der Mann antwortete nicht, und Rosi gab ihm einen freundschaftlichen, aber doch beherzten Klaps auf den Rücken. Der Kopf des Mannes klappte, als hätte Rosi einen geheimen Hebel umgelegt, langsam und ungesteuert in den Nacken, und die offenen Augen starrten an die wie ein Boxring mit alten Showscheinwerfern und Gerüststangen geschmückte Decke. Der rundliche Körper verlor den Halt auf dem Stuhl, und der Mann rutschte polternd vom Stuhl unter den Tisch, während Rosi aufschrie und Sándor fluchend vom Hocker sprang und neben sie trat.

ÜBERRASCHUNG, ÜBERRASCHUNG

Der Chef war wirklich hocherfreut über das geschmackvoll ausgesuchte, passende Geschenk, und die Kollegen, die mehr oder weniger verkatert am Neujahrstag Dienst schoben und zum Gratulieren vorbeischauten, wurden vom unermüdlichen Trudchen mit extrastarkem Kaffee und wahren Bergen von Neujahrpfannkuchen überhäuft – und mit selbst eingelegten sauren Heringen aus einem Fünf-Liter-Glas, für die die meisten noch dankbarer waren als für den Süßkram. Hansen, Schmitzke und der dicke Plötz sahen pflichtbewusst beim Alten vorbei; Sándor ließ sich – schließlich hatte er das Geschenk besorgt – sogar auf das staubige Plüschmöbel plumpsen, das das Büro des Chefs schon eine Weile zierte und normalerweise unter Schrumpfköpfen, Aktenordnern, beschlagnahmten und der Länge nach zu ballistischen Untersuchungen auseinandergesägten Waffen fast verschwand. Trudchen Steiner hatte aufgeräumt, und auch der Chef selbst machte einen gut sortierten, aufgeräumten Eindruck und legte eine Spannkraft an den Tag, hinter der Sándors nicht mal vierzig Jahre heute weit zurückblieben. Sándor brauchte zwei Tassen, zwei sehr große Tassen Kaffee, um zu begreifen, dass der Boss gar nicht so sehr von den Eintrittskarten zum Leichtgewichts-Boxkampf entzückt war, sondern vielmehr von der rätselhaften toten Männergestalt, die Sándor dankenswerterweise noch als Zugabe aus der Fliegerbombe mitgebracht hatte und die für Ernst Gennat offenbar das schönste Geburtstagsgeschenk war, das man ihm nur machen konnte. Natürlich hatte Sándor die Leiche nicht durch den Neuschnee geschleppt, obwohl das Leichenschauhaus mit den Sezierräumen der Kripo gleich um die Ecke in der Hannoverschen Straße lag, sondern genervt vom Eingang der Charité aus – dort gab es Telefon – Verstärkung gerufen. Die herbeitretenden SA-Männer hatte er angeschnauzt, sie sollten sich um ihren eigenen Kram kümmern, und Rosi, die mit ihren verschränkten Armen und der über die Schultern gelegten Lederjacke ernst und erwachsen ausgesehen hatte, hatte er nach Hause geschickt, statt sie als Zeugin mit aufs Präsidium zu nehmen.

Sie hatte ja sowieso nichts zu bezeugen. Der Mann war tot, einfach gestorben, verletzungsfrei, vielleicht an einem schlichten Herzstillstand. Sándor hatte gegrunzt, als die Gerichtsmediziner diese Vermutung geäußert hatten. Die Männer waren wahrscheinlich heilfroh, dass er ihnen diesmal kein verschmortes Wildschwein angeschleppt hatte zum Sezieren, und sie wussten genau, dass nichts einen echten Kriminalisten so beleidigte wie ein natürlicher Tod. Auch Gennat, der vom Präsidium aus zu Hause angerufen worden war und den Geburtstagsmorgen gleich hier in der Gerichtsmedizin begonnen hatte, war zunächst wenig erbaut gewesen über den schnöden Toten aus irgendeiner ohnehin bei ihm nicht sehr beliebten Kaschemme. Dann jedoch hatten die Gerichtsmediziner die Einblutungen im Brustbereich, im Bauchraum festgestellt, und von da an war es spannend geworden. Denn der Mann war erstickt. Erstickt nicht an Erbrochenem oder Essensresten; erstickt auch nicht an dem kleinen Plastikelefanten an der Mampe-Flasche, die Rosi im Lauf des Abends in sein Glas geleert hatte. Er war gestorben an einem Atemstillstand, den er in einem Zustand tiefer Bewusstlosigkeit erlitten hatte – so ungefähr drückten es die beiden Gerichtsmediziner aus, und Gennat, der die nackte Leiche wie ein verliebter Riesenvogel wieder und wieder umrundet hatte, übersetzte freudestrahlend dieses Detail, das aus dem trivialen Todesfall eine veritable Geburtstagsüberraschung machte: »Der Fettsack ist vergiftet worden. Vergiftet in der Silvesternacht!«

Am Vormittag, als die Gratulantenfrequenz gesunken war, musste Rosi dann doch noch ins Präsidium kommen; Gennat war in seiner Geburtstagsstimmung so nett und schickte ihr einen zivilen Wagen vorbei. Sándor hockte noch immer schweigend auf dem Sofa; den sechsten Kaffee rührte er nicht mehr an, während Gennat selbst die Vernehmung leitete. Oder, wie er selbst es nannte: das Gespräch.

Doch Rosi konnte ihnen nicht weiterhelfen; sie hatte gearbeitet, dem Mann gegen zehn, halb elf ein paar Mampe eingegossen. Ja, natürlich hatten andere an seinem Tisch gesessen; die Bombe war zu klein zum Alleinsitzen. Ob die mit ihm gesprochen hatten, konnte sie nicht sagen, und wer es gewesen war, wusste sie auch nicht mehr: Es war Silvester gewesen, sie hatte die Lampen etwas runtergedreht, ein paar der Jungs hatten ihre Mädchen mitgebracht – oder jedenfalls: Mädchen –, die wollten knutschten. Und es ging ja auch vom frühen Abend an hoch her in der Fliegerbombe, sie hatte alle Hände voll zu tun gehabt und keine Zeit, sich Gedanken über einen einzelnen Fremden zu machen, der da in ihrer kleinen Tanzbar saß. Einzelne Fremde – bekam Rosi rosige Wangen bei dem Satz? –, einzelne Fremde hatte sie regelmäßig immer wieder. Sándor blickte ihr nicht in die Augen.

Gennat hatte wieder und wieder nachgefragt, Details wissen wollen, jetzt schwieg er. Und Rosi blieb ungefragt noch eine Weile sitzen und schwieg auch, schien sich noch an ein Detail zu erinnern, setzte an, schwieg dann doch. Sándor, der diesen Zug an ihr gut kannte, fragte nach.

»Ja?«

Rosi schüttelte den Kopf. Redete schließlich.

»Ich habe nur darüber nachgedacht, ob der Kerl überhaupt Deutsch gesprochen hat.«

»Er muss ›Mampe‹ gesagt haben«, warf der Chef ein.

Rosi nickte. »Ja, aber kaum mehr. Ich glaube, er hat eine Hand gehoben und ›Mampe‹ gesagt, ich habe nachgefragt, welchen – Halb und Halb normalerweise –, dann habe ich ihm den gebracht. Er hat genickt. Und dann beim zweiten und dritten immer nur die Hand gehoben und noch einen bekommen. Sprechen habe ich ihn nie gehört, und schon gestern Abend hatte ich den Eindruck, dass der Mann vielleicht gar nicht schwieg, weil er nicht sprechen wollte …« »… sondern es gar nicht konnte«, vollendete Gennat den halben Satz, und Rosi nickte.

Gennat klatschte patschend in die Hände, und Sándor verdrehte die Augen. Gleich würde er Rosi ein Stück Kuchen anbieten aus Freude über die Denksportaufgabe, die sie ihm zum Geburtstag bereitet hatte.

»Lehmann, Sie fahren gleich noch mal rüber in die Gerichtsmedizin. Wir haben den Kerl ja nur nackt gesehen, und nackt gibt’s zwischen einem Franzosen oder Amerikaner und ’nem Deutschen keinen Unterschied. Hoffe ich zumindest.«

Niemand lachte, und Gennat fuhr fort: »Aber die Kleidung ist ja auch da. Schneideretiketten, Stoffmuster, geprägte Knöpfe, irgendwelche Abzeichen: Suchen Sie uns eine kleine Kollektion zusammen, ja? Dann machen wir es uns hier gemütlich und sichten das Material. Jede Wette, bis zum Abend wissen wir ganz genau, wo der Bursche seinen Tuxedo hat nähen lassen … in der Savile Row oder an den Champs-Élysées!«

Sándor nickte ergeben. Immerhin konnte er Rosi so an der Fliegerbombe absetzen, und etwas frische Luft würde den Mief der kurzen Nacht und den säuerlichen Geschmack des Kaffees wegpusten. Er erhob sich geräuschlos, nickte Rosi zu und bewegte den Kopf zur Tür. Sie sagte »tschüss« und ging hinaus. Sándor drehte sich noch einmal zu Ernst Gennat um, aber der Chef hatte beide Hände unter dem schlaffen Doppel-, ach was, Dreifachkinn gefaltet und schien mit verzücktem Lächeln über den rätselhaften Toten nachzudenken. Oder war das verdammte Geburtstagskind etwa eingeschlafen?

Irgendwann nachmittags hatten sie ihr Puzzlespiel vollständig auf einer frei geräumten Ecke des überdimensionalen Schreibtischs liegen, aber weiter brachte es sie nicht. Dass der Mann daktyloskopisch und optisch niemandem ähnelte, der bisher in polizeilichem Gewahrsam der Berliner Polizei fotografiert, gewogen und vermessen worden war, war eine erste Enttäuschung gewesen. Die bunten Schnipsel der Etiketten, die Sándor mit dem Skalpell der Gerichtsmediziner aus der Kleidung des Toten herausgeschnitten hatte, waren kaum mehr Anlass zur Freude. Gennat konnte sich auf die Schenkel klopfen, dass er mit der Savile Row sogar richtiggelegen hatte – aber Schuhe, Mantel, Brille, Hosen und Unterwäsche des Mannes waren alles andere als »very british«. Im Gegenteil: Als hätte der Mann geahnt, dass er als totes Rätsel in die Katakomben der Anatomie geraten würde, schien alles, was er trug, geradezu systematisch an allen möglichen Orten der Welt zusammengekauft worden zu sein. Nicht zwei Teile stammten aus demselben Land, und von Moskau bis New York, von London bis Prag und Budapest war alles dabei. Gennat schnaubte erregt, als hätte jemand ihm diesen Streich absichtlich gespielt und den Toten womöglich noch umgezogen, bevor Sándor und Rosi ihn fanden. Sándor, der draußen auf der Straße Fischbrötchen gegessen, im Archivraum neben seinem Büro eine halbe Stunde die Augen zugemacht hatte und jetzt, nach zwei Tassen Kaffee von Trudchen Steiner, wieder hellwach war, sah den Chef grinsend an. Gennat bemerkte die Grimasse erst nach einiger Zeit, und er fuhr empört auf.

»Was gibt’s da zu grinsen? Machen Sie sich einen Jux mit mir?« Sándor schüttelte den Kopf. Nein, das nicht. Aber als Bühnenmusiker hatte er dem Chef etwas voraus, er kannte Künstlergarderoben von innen und hatte ab und zu mal nachgesehen, was für einen ausgefallenen Frack, ein verrückt gemustertes Hemd die Kollegen getragen hatten, die jetzt draußen auf der Bühne in der Banduniform steckten. Musiker auf Tournee kauften sich ihre Klamotten überall in der Welt zusammen, und wer weiß, es gab ja Musiker in allen Kneipen dieser Stadt: Vielleicht war der Mann ein Musiker gewesen. Er hatte die Statur eines Posaunenspielers, fand Sándor. Den Brustkorb, die weichen Backen, den muskulösen Hals. Im Mantel in der Küchengarderobe hatte eine alberne Stetson-Schiebermütze gesteckt. Posaunisten liebten Schiebermützen!

Gennat lehnte sich zurück und steckte sich genüsslich eine der fetten Geburtstagszigarren an, die der Polizeipräsident selbst vorbeigebracht hatte. Wahrscheinlich hatte der Präsident die Dinger ebenfalls von einem honorigen Besucher überreicht bekommen und nicht für teures Geld um die Ecke am Alexanderplatz in Manolis lederausgeschlagenem Tabakwarenpalast erstanden – aber was zählte, war die Geste. Gennat grunzte zufrieden, und für einen Augenblick war er hinter der blauen Qualmwolke nicht mehr zu erkennen.

»Posaunenspieler, ja? Nicht schlecht, Lehmann.«

Der Rauch verzog sich, und Sándor konnte den Chef anerkennend nicken sehen.

»Posaunenspieler also. Oder … vielleicht doch … Handelsreisender, ein Vortragskünstler, ein fahrender Trickbetrüger?«

Sándors Lächeln gefror, er grunzte genervt.

Genannt zählte die Möglichkeiten an den Fingern beider Hände herunter.

»Ein Auftragsmörder, einer, der von der Altkleidersammlung des Winterhilfswerk profitiert. Ein Textilimporteur. Ein Wanderprediger. Ein …«

Sándor winkte ab. Ja, schon gut, zugegeben, sie hatten alle beide keine Ahnung. Die Gerichtsmediziner rätselten noch über die Todesursache und forschten in Knochen, Darm und Schleimhäuten nach einem geheimnisvollen, bisher unbekannten Gift, und sie selber, die beiden Oberkriminalisten, spielten im Präsidium Beruferaten. So kamen sie nicht weiter. Es war höchste Zeit, Feierabend zu machen – und zum Boxen zu gehen!

Natürlich hätten sie sich denken können, dass der Chef für private Vergnügungen nicht das »Mordauto« bemühte. Dienst war Dienst und Feierabend war Feierabend, da war Gennat kategorisch. Natürlich hätten die fünf Kommissare – Hansen, Schmitzke, der dicke Plötz, Sándor Lehmann und Gennat selbst – bequem in die extralange Mercedes-Limousine gepasst, mit der die Mordkommission auf Gennats Initiative hin zu den Tatorten rollte, um immer gleich alles handwerkliche Rüstzeug parat zu haben. Aber der Chef kannte kein Pardon, es musste die Untergrundbahn sein, und während Sándor, der sich einen freien Abend ohne ein »geliehenes« Vehikel aus der Asservaten-Garage tief unter dem Polizeipräsidium gar nicht mehr vorstellen konnte, noch schwach protestierte, bugsierte der dicke Mann sie schon hinüber zum Eingang des U-Bahnhofs und ließ es sich auch nicht nehmen, für jeden Mitreisenden einzeln mit Gönnermiene scheppernd zwei abgezählte Groschen in den Blechteller am Fahrkartenschalter zu werfen. Immerhin kam man für die zwanzig Pfennige quer durch die ganze Stadt, und weil der Alexanderplatz an der Nordring-Thielplatz-Linie lag, mussten sie während der knapp halbstündigen Fahrt durch den rußigen schwarzen Bauch Berlins nicht mal umsteigen. Die Männer ergatterten ab Friedrichstadt zwei Bänke im überfüllten Raucherabteil, von denen der Chef eine ganz für seine eigene Leibesfülle beanspruchte, und Gennat drängte den Männern seine Geburtstagszigarren geradezu auf. Im Nu war das hölzerne Abteil in dichte Wolken gehüllt. Trotzdem tauchten immer wieder Mitreisende hustend und mit roten Augen aus dem Nebel auf, um Ernst Gennat auf die Schulter zu klopfen oder ihm die Hand zu schütteln: Der Mann war, obwohl er sein vollgerümpeltes Büro im Polizeipräsidium kaum verließ, in der ganzen Stadt bekannt wie ein bunter, nein: dicker Hund. Fritz Lang, der Filmregisseur, hatte seinen Kriminalkommissar Karl Lohmann nach seinem Vorbild gestaltet, und Gennat, den seine Leute im Präsidium als verfressenen, aber gänzlich uneitlen, nur der Aufklärungsarbeit dienenden Vorgesetzten kannten, sonnte sich wahrhaftig in diesem Ruhm.

Alte Platanen, ein paar staubige Eckkneipen, Automobilverkehr, der aus Berlins neuem Zentrum um den Tauentzien herum in die südlichen Bezirke strömte: Der Nürnberger Platz war einer der unzähligen Plätze in dieser großen Stadt, die nicht Fisch und nicht Fleisch waren, nicht mehr zur mondänen Innenstadt gehörten und noch nicht zur weitläufigen Ödnis der Vorstädte. Östlich schlossen sich die gutbürgerlichen, von vielen wohlhabenden Juden bewohnten Straßenzüge des Bayerischen Viertels an, westlich ging es hinüber zum Ludwigkirchplatz, in dessen Mitte stolz eine der wenigen frei stehenden katholischen Kirchen Berlins prangte. Wer in der westlichen Stadthälfte gutes Geld verdienen wollte – mit einem Biergarten, einem Vergnügungsetablissement, einem Tanzschuppen –, der wurde, selbst in diesen zunehmend schlechten Zeiten, gehörig zur Kasse gebeten. Tauentzien und Ku’damm waren unerschwinglich; die Seitenstraßen überschätzt. Uhlandstraße, Nürnberger Straße zogen in der Miethöhe den großen Flaniermeilen schon nach, dabei waren die Besucherzahlen überall rückläufig. Einen Riesenladen mieten, um dann abseits der Besucherströme auf leere Tische zu starren: Das war ein Risiko, das kaum ein Gastronom eingehen wollte. Der Nürnberger Platz markierte die Grenze des Gebiets, das vom Tauentzien aus noch zu Fuß erreichbar war, bis zu der sich abendliche Bummelanten noch verlaufen konnten. Dahinter war tote Hose.

Ernst Zirzow wusste das vermutlich nur zu genau. Sein Büro hatte der ehrgeizige Box-Promoter in der Nürnberger im Haus des legendären Tanzpalastes Femina eingerichtet; dort empfing er die Manager ausländischer Boxer, dort ließ er Favoriten pressewirksam auf die Waage steigen. Der Kampf selbst fand dann hier, am Nürnberger Platz, im Spichernring statt – einer ehemaligen Industriehalle, die er mit tief gehängten Deckenleuchten und viel Neon über der schmalen Hofdurchfahrt veredelt hatte. Tagsüber kannte Sándor den Schuppen als verstaubte, angestoßene Schmuddelecke; nachts zog das bunt flackernde Licht alle Aufmerksamkeit auf sich, und im Gedränge der Schaulustigen fiel der beklagenswerte Zustand des Ortes kaum auf. Ernst Zirzow, der an seinen Vorgänger Josef Burda angeblich eine stattliche Ablösesumme bezahlt hatte, spielte hier ein riskantes Vabanquespiel. Solange die Zuschauerzahlen stimmten, würde niemand den Laden »pleite« nennen, auch wenn der Box-Sport, das meinungsbildende Berliner Boxblatt, in jeder zweiten Nummer die dürftige Lüftungsanlage, den Zustand der Toiletten und die klapprigen Sitzgelegenheiten rügte. Solange er es schaffte, dem Publikum aufregende Kämpfe zu servieren und die Stammgäste aus Halbwelt und Nachtleben sowie Künstler wie Fritz Kortner oder Hans Albers an den Spichernring zu binden – so lange konnte er das Schicksal vieler anderer ähnlicher Orte abwenden. Doch der Druck war groß. Es gab andere kleine Ringe, die Arena am Kaiserdamm, die Germaniasäle, den Saalbau Friedrichshain, den Karlsgarten am Hermannplatz und vor allem die Bockbrauerei Fidicinstraße – und es gab den Sportpalast, in dem die wirklich großen Kämpfe Zigtausende anlockten. Zirzow behauptete sich vorerst; er hatte ein gutes Händchen bei den abendlichen Paarungen, er behandelte die Presse mit einer Mischung aus Arroganz und Liebenswürdigkeit. Und er hatte Glück, immer wieder viel Glück. Letztlich trug das Halbwelt-Flair für viele Besucher zum Genuss eines Box-Abends bei. Es gab die Guten, die Bösen und die ganz Bösen, und am Ende lag einer auf dem Boden und wurde ausgezählt: Im Spichernring waren Probleme noch lösbar, da hatten Geschichten noch einen Anfang und ein Ende, während draußen in der wirklichen Welt für viele alles nur immer schlimmer wurde.

Sándor stubste den dicken Plötz grinsend an, als sie mit dem Chef aus der U-Bahn traten und auf den hell erleuchteten Eingang des Spichernrings zugingen. Gennat rieb sich die Hände, er schien sich schon jetzt außerordentlich auf den Abend zu freuen. Wahrscheinlich war er unterdessen auch selbst froh, dem verräucherten U-Bahn-Abteil entkommen zu sein; die ungewohnten großkalibrigen Zigarren hatten seinem sonst ferkelrosarot gefärbten Gesicht einen ungesunden Grauton verliehen, und als vor ihnen am Einlass ein kleiner, mausäugiger Mann mit Lederjacke einen dichten Schwall Zigarrenluft ausstieß, herrschte Gennat ihn an: »Haltense mal die Luft an, Männeken, andere wollen auch atmen!«

Der Kleine drehte sich amüsiert zu dem großen Polizeikommissar um, antwortete aber nicht und machte auch keine Anstalten, seinen Rauchkolben zu löschen. Stattdessen schob sich ein livrierter Hüne zwischen den Chef und den Raucher und fragte, ob er behilflich sein könne. Ganz offenbar war der Zigarrenzwerg hier Stammgast und genoss den Schutz des Personals, und jetzt erinnerte sich Sándor auch daran, den Mann drüben in der Femina im Publikum schon einmal gesehen zu haben. Bert Brecht, der kommunistische Dramatiker, der Starautor der Dreigroschenoper, lebte keine zweihundert Meter entfernt mit seiner jetzigen Frau, Helene Weigel, und der kleinen Tochter Barbara. Sein Faible fürs Boxen war sprichwörtlich; die Freundschaft zum Boxer Samson-Körner hatte ihn vor ein paar Jahren zu waghalsigen Vergleichen zwischen Theater und Boxsport verleitet. Sándor hatte das nicht näher verfolgt; immerhin schien der Mann noch immer einen guten Faustkampf zu schätzen, auch wenn er sich mit dem dicken Gennat und den Kriminalbeamten ganz sicher nicht persönlich anlegen wollte.

Im Spichernring, einer hohen Montagehalle von vielleicht dreißig mal zwanzig Metern, herrschte ein furchtbares Gedränge. Der erste Boxabend im neuen Jahr schien eine große Anziehungskraft zu haben; das konnte am angekündigten Hauptkampf liegen oder aber an der Erleichterung vieler Männer, die gesitteten Feiertage im Familienkreis endlich hinter sich zu haben und hier wieder bierkrugschwenkend und schreiend unter ihresgleichen sein zu können. Der Lärm war jedenfalls infernalisch; irgendwo in der Ecke spielte eine Kapelle verzweifelt gegen den Radau an. Sándor warf einen mitleidigen Blick hinüber, erkannte aber niemanden. Wahrscheinlich hatte Zirzow nicht viel Geld für die Musiker ausgegeben, weil es ohnehin egal war, was und wie gut sie spielten. Am Außenrand der Halle standen lange Biergartenbänke, und die Besucher rangelten um die besten Plätze. Zuspätkommende versuchten sich noch irgendwo dazwischenzuquetschen, wurden weggeschubst und schubsten selbst weg. Der Zustand der Stühle weiter vorne stand in einem lächerlichen Missverhältnis zu den Eintrittspreisen, die hier aufgerufen wurden und die auch Sándor hatte berappen müssen. Immerhin war die Sicht auf den Ring in der Saalmitte hier sehr gut, und die von der Decke herunterhängenden Scheinwerfer schienen der Rauchschwaden sogar Herr zu werden. Sándor, Gennat und die anderen Männer der Mordkommission sicherten sich ein paar Sitzplätze, und Gennat schob, ohne sich zu genieren, zwei Stühle zusammen, um seinem Leibesumfang entsprechend Platz zu haben.

Das Ringprogramm hatte noch nicht angefangen, aber Zirzow schien nur darauf gewartet zu haben, dass die Herren vom Abendblatt, Herold und besonders vom Box-Sport ihre erhöhten Sitzplätze auf den Barhockern an der Ballustrade hinter den Ringrichtern eingenommen hatten, um den sicher an die tausend Gästen zu demonstrieren, dass er fürs neue Jahr gute Vorsätze gefasst hatte, was den Zustand des Veranstaltungsortes anging. Der Boden rund um den Ring war schon jetzt mit Zigarrenstumpen, Essensresten und zerknüllten Programmzetteln übersät, und unter dem begeisterten Gejohle des Publikums machte sich nun eine junge Frau – eine der wenigen neben den drei Gardrobenfrauen draußen im Gang und einigen Frauen im Publikum in dieser verqualmten, verschwitzten Männerwelt – in überaus freizügiger Kleidung daran, den Unrat einzusammeln. Ihr knapper, weit geöffneter und eng taillierter Overall mit den kurzen Hosenbeinen war mit dem Schriftzug des Spichernrings bestickt, und das Bücken nach einem weiteren Papierknäuel oder einer Brottüte zelebrierte sie bewusst so aufreizend, dass das Publikum den Auftritt mit Applaus und anzüglichen Rufen quittierte und dabei wieder und wieder neue Abfallfetzen in die Saalmitte warf, um die Ring-Reinigerin erneut zum Bücken zu animieren.

Gennat schien sich blendend zu amüsieren; Sándor, der lieber eine Wand im Rücken hatte als eine Masse schreiender Proleten auf Bierbänken, ließ aus schmalen Augen die Blicke schweifen und suchte instinktiv in den dicht besetzten Reihen nach bekannten Gesichtern, nach tätlichen Auseinandersetzungen oder irgendwelchen anderen Anzeichen von Gefahr. Er mochte Menschenmengen nicht; dabei war draußen in Deutschland offenbar gerade die ganz große Zeit der Menschenmengen angebrochen; jeden Tag konnte man darüber in den Zeitungen lesen. Adolf Hitler hatte vor fünftausend Zuhörern gesprochen, Goebbels vor zweitausend; die Gewerkschaften hatten eine machtvolle Demonstration angekündigt und wollten Tausende auf die Straße bringen: All das waren Sándor schlichtweg zu viele Menschen. Er hatte zugegebenermaßen eine sehr einfache Vorstellung von menschlichem Miteinander: Zwei Männer und ein Revolver. Zwei Männer und ein Boxring. Ein Mann, eine Frau und ein Bett. Drei Menschen: Das roch schon nach Ärger – oder nach der Familie, die er selbst nie gehabt hatte. Tausend Menschen um einen Boxring gedrängt: Da konnte alles Mögliche passieren; ihm war, auch wenn er sich normalerweise seiner Haut zu wehren wusste, nicht wohl dabei. Im Ring hatte unterdessen ein erster Kampf begonnen, obwohl man, was dort stattfand, kaum »Kampf« nennen konnte, denn der einzige Boxer im Ring kämpfte offenbar gegen sich selbst. Alfred Hopp aus dem Wedding – ein Bantam-Gewichtler, der sich den Künstlernamen »Al« gegeben hatte, um amerikanischer zu klingen – trug eine viel zu weite Hose, die ihm bei jedem Schritt über die Knie rutschte. Und er machte viele Schritte. Das Programm-heft hatte ihn als »Grotesktänzer« angekündigt, und als grotesk konnte man in der Tat bezeichnen, was hier geschah. Hopp tänzelte auf dünnen Beinchen durch den Ring und mimte im Boxstil deutlich erkennbar eine ganze Reihe großer Namen – da, das war Schmeling, oder? –, und wenn die Zuschauer einen Uppercut oder eine gestreckte Gerade mit ungeduldigem Geschrei kommentierten, mit dem sie den Beginn der wirklichen Kämpfe forderten, sprang er urplötzlich auf die Seite des Gegners und nahm dort den eigenen Schlag an, schlug lang hin oder setzte sich so urkomisch auf den Hosenboden, dass der ganze Boxsport im Grunde als alberne Pantomime verspottet wurde. Die Kapelle war inzwischen auch noch lauter geworden, oder vielleicht hatten die Türsteher vor dem Beginn der Kämpfe auch nur die scheunentorgroßen Türen geschlossen, und es gab ein Echo. »Al« Hopp gelang es trotz zunehmender gellender Pfiffe von den Rängen, gleichzeitig zwei Boxer zu mimen – und sich dabei im Takt einer ziemlich schnellen Polka zu bewegen. Sándor blickte hinüber zum Chef, der wohlwollend im Takt klatschte und dabei eher wie ein infantiles Nashorn aussah als wie einer der scharfsinnigsten und modernsten Kriminalisten, die das Deutsche Reich oder vielleicht die ganze Welt in diesem Jahr 1932 zu bieten hatten …

SCHWERGEWICHTLER

Nach »Al« Hopps hektischen Verrenkungen begannen endlich die Kämpfe. Sándor hatte zuletzt gar nicht mehr Richtung Ring geblickt und stattdessen das Publikum, so weit er es über die verqualmte Saalmitte hinaus erkennen konnte, in ein paar der alten und neuen Schubladen gesteckt, die die letzten Jahre in seinem Kopf gezimmert hatten. Bert Brecht, den sie am Eingang getroffen hatten, war nicht alleine hier; ihn umgab eine ganze Traube von Menschen beiderlei – oder auch drei- oder viererlei – Geschlechts; eine gut gelaunte, schillernde künstlerische Boheme, die wie eine bunte Insel in dieser grauen Masse schwamm und sich dabei prächtig amüsierte, nicht obwohl, sondern gerade weil sie hier so deplatziert wirkte und sich mit ihrer elektrisierten Begeisterung so deutlich vom sonstigen dumpf grölenden Chor der Zuschauer abhob. Künstler jeder Couleur, für die der kämpfende Männerkörper ein Sinnbild des Aufbegehrens, des Authentischen, Echten war.

Nicht alle grölten. Sándor identifizierte eine ganze Reihe schweigender alter Bekannter der unteren kriminellen Ränge; kleine Fische aus dem Knast, für die Boxkämpfe im Spichernring eine Pflichtveranstaltung waren, weil sie hier Kollegen trafen und von neuen Seilschaften erfuhren, die vielleicht gerade einen Schränker oder Fahrer oder Fassadenmann suchten; eine mehr oder weniger gut bezahlte Rolle bei einer geplanten Straftat. Zwei, drei hatten ihn erkannt und den Platz gewechselt, ein, zwei hatten ihn erkannt und – um ihre Ehrbarkeit zu demonstrieren – seine Nähe gesucht. Er strafte alle mit kalter Ignoranz und beobachtete trotzdem jeden Einzelnen von ihnen unauffällig. Interessanter, viel interessanter waren die modernen Aufsteiger dieser Branche, oft herausgeputzte Gecken, die wie gut gelaunte Millionäre wirken wollten und doch nur wie Zierpudel aussahen, denen die Politik gerade etwas Morgenluft zuwedelte – Karrieristen ohne Skrupel, die auf Beute aus waren. Sándor versuchte sich die Gesichter zu merken; er kniff die Augen zusammen und war von der Menge der Eindrücke und der Größe des Publikums zunehmend überfordert.

Deshalb war er geradezu erleichtert, als endlich die Saalbeleuchtung erlosch und nur das Flutlicht den Boxring in der Mitte in gleißendes Licht tauchte. Zusammen mit dem erwartungsvollen Rumoren der Zuschauer und den letzten Tönen der Kapelle, die eine erlösende und etwas schrille Fanfare angestimmt hatte, wirkte das seilumspannte Viereck, auf das nun alle blickten, wie der Schmelzofen der Hölle selbst.

Kämpfe im Spichernring – Kämpfe in den Boxringen Berlins überhaupt – liefen immer nach dem gleichen Muster ab. Das Prinzip des Anheizens erforderte, dass das wichtigste, hochkarätigste Duell natürlich nicht als Erstes über die Bühne ging, sondern als ersehntes Finale den Abend beschloss. Trotzdem musste der erste Kampf schon etwas Besonderes bieten, ein neues Gesicht oder einen auswärtigen Champion, der in einer unterfordernden Paarung das verhasste Feindbild abgab und seinen einheimischen Gegner aggressiv und möglichst blutrünstig auf die Bretter schickte. Das brachte das Publikum auf die Palme, kurbelte den Alkoholkonsum an und ließ den Blutdruck und die Stimmung im Saal steigen. Schon deshalb musste ein gut besuchter Kampfabend wie dieser möglichst mit einem Schwergewichts-Fight beginnen, und der Promoter Ernst Zirzow hatte mit sicherer Hand den Düsseldorfer Paul Wallner für diese Rolle ausgewählt.

Wallner, ein blonder Hüne, der schon beim Einstieg durch die seitlichen Seile mit Pfiffen und wütenden Rufen begrüßt wurde, war entweder geistig zu beschränkt, um von dieser Woge von Hass beeindruckt zu sein, oder zu abgebrüht, zu sicher seiner eigenen boxerischen Überlegenheit. Vielleicht stimmte auch schlichtweg die Bezahlung, die er für diese undankbare Aufgabe bekam. Jedenfalls steuerte der Mann gelassen seine Ringecke an und wich einem geworfenen Bierkrug nicht aus, sondern wischte das Glas im Flug mit einer einzigen Geste zu Boden, als verscheuche er eine lästige Stubenfliege.

Sein Gegner war ebenfalls kein Berliner; Zirzow wollte offenbar keine Saalschlacht riskieren. Am Rande der Kämpfe kam es regelmäßig zu Handgreiflichkeiten im Publikum, wenn eine ringrichterliche Entscheidung angezweifelt wurde oder ein Liebling der Massen Keile kriegte. Der Boxer Harry Such aus Hamburg hatte beim Wiegen 88 Kilo auf die Waage gebracht; viel Sprungkraft schien nicht dabei gewesen zu sein, denn jetzt begann endlich der Kampf, und schon nach fünf Sekunden erwischte ihn Wallner mit einem geradezu schulbuchmäßigen linken Haken, der den Mann mühelos von den Beinen hob. Das Publikum war aus dem Häuschen; eben hatten die teuer bezahlten Kämpfe erst angefangen, jetzt sollte der erste schon vorbei sein?

»Such! Such! Such!«, wurde beim Anzählen des Ringrichters beschwörend skandiert, und Harry Such, der sich vermutlich insgeheim schon mit der Horizontalen abgefunden hatte, kam schwankend noch einmal auf die Beine, was im Grunde für sich betrachtet schon eine Leistung war. Wallner bemühte sich um sportliche Fairness, gute Beinarbeit, filigrane Athletik – doch der Hamburger war einfach kein Gegner für ihn, und nur eine gute Minute später klaffte über der Augenbraue des Mannes eine tropfende Platzwunde, und die Nase blutete, um das wüste Bild zu vollenden, gleich mit. Als Wallner unter dem aufmunternden Gejohle noch eine gestreckte Gerade in Suchs Gesicht landete, knickte der Hamburger in den Knien ein und fiel um, um liegen zu bleiben.

Der Ringrichter brach den Kampf ab, und ein schwerfälliger Mann mit Glatze, der Ringarzt, kniete sich mit seiner weißen Hose in die blutige Lache neben dem Mann, schüttelte missbilligend