Band 21 - Kampf um Merkur

 

Söhne der Erde

von S. U. Wiemer

ISBN: 9783832852108

© 2013 by readersplanet


 

 

Inhalt

I      4

II

III

IV

V

VI

VII

VIII

IX

X

 

I

Dampf waberte über dem schmalen Bachlauf, dessen Wasser in den frostklirrenden Merkurnächten zu Eis gefror.

Die Hitze hing wie ein lastendes Tuch über der Ebene, ließ die Luft flimmern und staute sich zwischen schroffen, von der Erosion zerfressenen Felsformationen. Der blonde Mann stand mit zusammengekniffenen Augen im Schatten eines Steinblocks. Leichter Wind trocknete den Schweiß auf seiner Stirn. Er presste den Schaft des Gewehrs an die Hüfte und lauschte.

Leises Rascheln im trockenen Gras. Die Zweige kahler Dornenbüsche knackten. Der Mann hoffte, dass ein paar von den kleinen Gelbschuppenechsen auftauchen würden, die auf dem ganzen Merkur verbreitet waren und schmackhaftes Fleisch lieferten. Echsen stellten den Hauptteil der Fauna des sonnennächsten Planeten. Von knapp fingerlangen Exemplaren bis zu gewaltigen Monstern, die ihre Existenz dem raschen Fortschreiten der Evolution verdankten, seit vor zweitausend Jahren die große Katastrophe die kosmischen Verhältnisse im Sonnensystem verändert hatte.

Der Mann dachte daran, dass die Erde jetzt zum zweiten Mal starb.

Barbarenpriester, aus dem Gefängnis ihrer Miniatur-Welt in einem Museum geflohen und mit einem uralten Raumschiff vom Mars entkommen, hatten eine der Atombomben gezündet, die auf Terra noch existierten. Die Antwort der Vereinigten Planeten war ein Kohlendioxyd-Ring in der irdischen Atmosphäre gewesen, der den ganzen Planeten dem Hitzetod auslieferte. Einen Planeten, der nach zweitausend Jahren wieder intelligentes Leben trug - ganz abgesehen von dem Volk aus der Mondstein-Welt, das für den Wahnsinn seiner Priester nichts konnte.

Jetzt waren die Barbaren mit zwei Schiffen zum Merkur unterwegs.

Der blonde Mann runzelte die Stirn, während er immer noch angestrengt in den Schatten zwischen den Felsen spähte. Ein paar Meilen entfernt in der Ebene war bereits der Landeplatz vorbereitet und eine kleine Station aus Schutzzelten errichtet worden. Fahrzeuge warteten: Beiboote und das halbe Dutzend Gleiter, das die Siedler bei ihrer Rückkehr nach zwanzig Jahren Strafkolonie noch vorgefunden hatten. Merkuria war wieder aufgebaut worden und würde auch den Terranern Platz bieten. Ihnen verdankten es die Siedler, dass sie der Gefangenschaft in den Bergwerken von Luna hatten entkommen können. Der blonde Mann wusste es und war dankbar dafür. Aber er wusste auch, dass ihr künftiges Zusammenleben nicht leicht sein würde - das Zusammenleben zwischen Menschen, die ein Abgrund von mehr als zweitausend Jahren trennte, weil die einen von der hochtechnisierten Welt der Vereinigten Planeten geprägt waren und die anderen einer Oase künstlich erzeugter Vergangenheit entstammten.

Für einen Moment hatte der blonde Mann nicht auf seine Umgebung geachtet.

Das harte, schabende Geräusch in seinem Rücken traf ihn wie ein Stich. Schuppen auf Stein! Ein schwerfälliges Tappen und Schleifen, das er kannte, das höchste Gefahr signalisierte und ihm das Blut in den Adern gefrieren ließ.

Drachenkammechsen!

Auf dem Absatz wirbelte der Mann herum und riss das Gewehr hoch. Eine Jagdwaffe, die wie ein Lasergewehr aussah, aber nur Hohlnadeln verschoss, stark genug, um den schuppigen Panzer der Echse zu durchdringen, aber nicht stark genug, um sie zu töten, außer bei einem genauen Treffer in eines der starren, kalten Reptilienaugen. Der Mann spürte das Würgen einer unsichtbaren Faust an der Kehle. Es war Leichtsinn gewesen, diesen Jagdstreifzug allein zu unternehmen, durchzuckte es ihn. Jetzt konnte er es nicht mehr ändern. Gebannt hing sein Blick an dem monströsen Echsenkörper. Die Bestien hatten gelernt, den Menschen mit ihren Waffen auszuweichen.

Diese hier musste er im Schlaf aufgestört haben, ahnungslos die unsichtbare Grenze überschreitend, die zwischen Flucht und Angriff entschied.

Ein dumpfes, kehliges Fauchen drang aus dem Rachen mit den nadelscharfen Zähnen.

Der Mann presste die Lippen zusammen und bezwang das Zittern seiner Hände. Langsam hob er das Gewehr an die Wange, zielte und hielt den Atem an, während er den Finger krümmte.

Ein sirrendes Zischen, ein silbriger Lichtreflex.

Das starre Reptilienauge zersprang wie eine Glaskugel. Jäh bäumte sich die Echse auf, warf den plumpen, schuppigen Schädel, krümmte und wand sich in dem wilden Todeskampf, den die winzige Hohlnadel in ihrem Gehirn auslöste. Klauenbewehrte Gliedmaßen trommelten gegen den Boden. Der schwere Schuppenschwanz peitschte, und eine dichte gelbliche Staubwolke wirbelte auf.

Der Mann war hastig zurückgewichen, sprang über einen scharfen Felsengrat hinweg und duckte sich tief zusammen.

Steine und Splitter prasselten, von ziellos schlagenden Klauen losgerissen. Ein langgezogenes, klagendes Gebrüll ließ die Luft zittern und erstarb in einem schwachen Röcheln. Durch den dichten Staubschleier sah der Mann den schweren, gepanzerten Leib zusammenbrechen. Ein letztes Zucken durchlief den Körper der Echse, dann lag sie still - ein Gebirge aus Knochen, Muskeln und Sehnen, das mit einem einzigen Hieb des plumpen Schwanzes einen Menschen hätte zermalmen können.

Der Mann richtete sich auf und wischte sich mit der flachen Hand den Schweiß von der Stirn.

Durch den leichten Overall konnte er die Hitze spüren, die er für Minuten vergessen hatte. Mit schleppenden Schritten ging er zum Bach hinüber und bückte sich, um ein paar Schlucke aus der hohlen Hand zu trinken.

Das Wasser war warm, fast heiß, und schmeckte nach dem allgegenwärtigen Staub, der sich nicht einmal aus den Häusern völlig verbannen ließ. Bei den häufigen, durch die krassen Temperaturunterschiede bedingten Stürmen konnte er zur Plage werden. Nicht die einzige und nicht die schlimmste Plage, mit der sich die Siedler tagtäglich auseinandersetzen mussten.

Der blonde Mann lächelte.

Was, dachte er, sollte man auch erwarten von einem Planeten, den die Wissenschaftler als unbewohnbare Hölle eingestuft hatten? Eine extreme, lebensfeindliche Welt. Seine Welt! Er liebte sie, seit er vor mehr als zwanzig Jahren zum ersten Mal den Fuß darauf gesetzt hatte. Er war damals entschlossen gewesen, sie zu verteidigen - und er war heute entschlossener denn je, sich nicht noch einmal von hier vertreiben zu lassen.

 

*

Auf dem Außenschirm der »Solaris« wuchs der Merkur als leuchtende Kugel aus der Schwärze des Alls.

In der Kanzel war es still bis auf das Summen der Instrumente. Die drei Männer auf den Andrucksitzen wirkten fremdartig in der Umgebung kühler Technik. Barbarische Krieger, in Leder gekleidet, dunkel gebräunt von einer Sonne, die auf der Erde in kurzer Zeit alles Leben vernichten würde.

Camelo von Landre bereitete sich darauf vor, in den Orbit einzuschwenken.

Bei der ersten Landung auf Merkur hatte sein Blutsbruder das kleine marsianische Patrouillenschiff geflogen, das ihnen auf der Erde in die Hände gefallen war. Jetzt lehnte Charru von Mornag reglos im Co-Piloten-Sitz. Er würde nur Instrumente ablesen müssen. Aber selbst dazu brauchte er Konzentration, selbst dazu war es notwendig, seine Nerven unter Kontrolle zu halten und seine Gedanken von der quälenden Gewissheit loszureißen, dass er Lara und Erlend verloren hatte, dass er seine Frau und seinen Sohn nach menschlichem Ermessen nie wiedersehen würde.

Lara war die Tochter des Generalgouverneurs der Venus, eine Bürgerin der Vereinigten Planeten.

Der marsianische Kommandant der »Solaris« hatte sie und das Kind als Geiseln benutzt, um mit dem Rest der gefangengenommenen Besatzung in einem Beiboot zu fliehen. Ein Forschungsschiff der Vereinigten Planeten hatte sie aufgenommen. Jetzt waren sie unterwegs nach Kadnos. Und nicht einmal Conal Nord, der innerlich schon lange auf der Seite der Terraner stand, würde seiner Tochter gestatten, wieder zu den Menschen zurückzukehren, zu denen sie inzwischen gehörte.

Wenigstens, dachte Charru, würden Lara und das Kind in Sicherheit sein, falls sich die Marsianer doch noch entschlossen, Merkur anzugreifen.

Mark Nord, der Anführer der Rebellen, war ein Bruder des venusischen Generalgouverneurs. Conal Nord hatte erreicht, dass die Siedler auf ihrem Höllenplaneten vorerst in Ruhe gelassen wurden. Aber dieses ungeschriebene Stillhalteabkommen war von Anfang an unsicher gewesen. Und ob es standhalten würde, wenn jetzt die Barbaren auf Merkur landeten, in denen die meisten Bürger der Vereinigten Planeten nicht viel mehr als wilde Tiere sahen...

Ein scharfes Knacken im Lautsprecher der Funkanlage unterbrach Charrus Gedanken.

»Merkur ruft Solaris! Merkur ruft Solaris!«

»Hier Solaris«, meldete sich der blonde, drahtige Beryl von Schun, der schon auf der alten »Terra« die Rolle des Bordingenieurs gespielt hatte.

»Die »Freier Merkur« ist vor ein paar Minuten glatt gelandet«, kam es aus dem Lautsprecher. »Ich wiederhole: Die »Freier Merkur« ist gelandet. Ihr könnt sofort herunterkommen, sobald wir euch im Leitstrahl haben.«

Charru atmete auf.

»Freier Merkur« war der Name der ehemaligen Luna-Fähre, mit der die Rebellen damals den Erdenmond verlassen hatten. Der Großteil der Terraner befand sich an Bord, weil die »Solaris« nur knapp zwanzig Menschen Platz bot. Dafür war sie ein Kampfschiff, verfügte über Waffen und wirksame Schutzschirme. Gegen die Kriegsflotte der Vereinigten Planeten konnte sie zwar im Ernstfall so gut wie nichts ausrichten, aber die Marsianer würden sie zumindest weniger leicht angreifen als ein unbewaffnetes Schiff wie die Fähre.

Eine Viertelstunde später schwenkte die »Solaris« in den Orbit.

Dunkelheit verbarg die Pionier-Siedlung, die Merkuria genannt wurde. Auf der anderen Seite des Planeten, wo der kleine Aufklärer mitten in einer kahlen, felsigen Ebene niedergehen würde, herrschte brütende Hitze. Die »Freier Merkur« hatte dort ihren Standplatz, weil sie zugleich als Ortungsstation diente. Und weil die Marsianer, falls sie bei einem Angriff ihre Gegner in der Nähe des Schiffes vermuteten, eine böse Überraschung erleben würden: Endlose, menschenleere Wüste, in der es von den monströsen Drachenkammechsen wimmelte.

Auch diesmal folgte die »Solaris« dem Leitstrahl nur bis knapp über die Planetenoberfläche, weil die Landung wegen der beschädigten Stützen mehr Fingerspitzengefühl erforderte, als der Steuercomputer aufbrachte.

Der Außenschirm zeigte die hitzeflimmernde Ebene, die Fähre mit ihrem stumpfgrauen Tarnanstrich, ein paar Schutzzelte und Fahrzeuge. Wie Ameisen wimmelten Gestalten herum. Das Schleusenschott der »Freier Merkur« spuckte einen steten Strom von Menschen aus, die sich verteilten, einen Halbkreis bildeten und der »Solaris« entgegensahen. Sie senkte sich in sicherer Entfernung zu dem anderen Schiff dem Boden zu. Camelos Hände lagen locker auf den Kontrollen. Er wirkte ruhig und beherrscht, aber auf seiner Stirn glitzerten feine Schweißperlen.

Charru konzentrierte sich auf die Instrumente.

Heulend und donnernd erschütterten die zündenden Bremstriebwerke den kleinen Aufklärer, schlugen mit der ganzen unbarmherzigen Wucht der Massenträgheit zu und ließen die Gurte der Andruck-Sitze knirschen. Charru biss die Zähne zusammen, Beryls Atem beschleunigte sich. Wieder und wieder schlug Camelos Faust auf den Schalter, bis er die Geschwindigkeit des Falls soweit verringert hatte, dass die »Solaris« beinahe sanft aufsetzte. Das dumpfe Orgeln lief in einem hellen, singenden Vibrieren aus.

Charru strich sich das Haar aus der Stirn. Er lächelte Camelo zu, der erschöpft wie nach einer körperlichen Anstrengung im Sitz lehnte. Beryl schloss für ein paar Sekunden die Augen, bevor er sich mit einem tiefen Atemzug wieder straffte.

»Mark und die anderen wissen noch gar nicht, dass wir John Coradi mitbringen, oder?« erkundigte er sich.

Charru schüttelte den Kopf.

Er hatte nicht daran gedacht. Jetzt wurde ihm klar, dass es wirklich besser gewesen wäre, die Merkur-Siedler auf den Anblick des Marsianers vorzubereiten. Für diesen war die Entführung von Lara, Erlend und zwei anderen zum Fiasko geworden. Er hatte gehofft, sich rehabilitieren zu können, wenn er dafür sorgte, dass Lara Nord zu ihrem Vater zurückkehrte. Wahrscheinlich wäre ihm das sogar gelungen. Aber er hatte nicht damit gerechnet, dass der Chef der marsianischen Vollzugspolizei den Befehl geben würde, die beiden anderen Geiseln noch vor dem Start der »Urania« zu liquidieren.

John Erec, ein unheilbar geistesgestörter Tempeltal-Mann.

Und Irnet! Ein siebzehnjähriges Mädchen, dessen Mitgefühl und Vertrauen Coradi dazu missbraucht hatte, seine heimtückischen Pläne zu verfolgen. Sie war eine Schachfigur für ihn gewesen, die er skrupellos benutzte. Und dass er mehr für sie empfand, dass er ihr ein tiefes, ihm bis dahin völlig unbekanntes Gefühl entgegenbrachte, hatte er erst begriffen, als sie sterben sollte.

Er war mit ihr von Bord des marsianischen Forschungsschiffs geflohen.

Eine kopflose Flucht, denn es hatte kaum eine Chance für ihn gegeben, die Wüste zu durchqueren. Und selbst, wenn es ihm gelungen wäre, die tote Stadt zu erreichen, wo er auf ein Beiboot der Terraner zu treffen hoffte - er hätte damit rechnen müssen, dass sie ihn ohne viel Federlesens umbringen würden.

Charru hatte ihn fast umgebracht.

Der Gedanke, dass der Marsianer in der Lage gewesen wäre, Lara und Erlend ebenfalls zu befreien, ließ sich auch jetzt nur schwer ertragen. Niemand außer Irnet brachte Coradi auch nur einen Funken Sympathie entgegen. Aber Tatsache blieb, dass er Irnet gerettet, sein Leben riskiert und seine Zukunft weggeworfen hatte. Nach alledem stand ihm nur noch der Merkur offen, und Charru hatte ihm sein Wort gegeben, dass ihm dort nichts geschehen würde.

Notwendig genug, denn für die Rebellen war John Coradi ein Verräter.

Er hatte zu den Teilnehmern an dem Besiedlungsprojekt vor zwanzig Jahren gehört. Als das Projekt für gescheitert erklärt wurde, war er unter denen gewesen, die freiwillig zurückkehrten. Daraus allein wäre ihm sicher kein Vorwurf gemacht worden, hätte er sich nicht zuerst auf Mark Nords Seite geschlagen und später Pläne und Verteidigungsstrategie der Rebellen ihren Gegnern preisgegeben.

Charru streifte die Gurte ab und folgte Beryl und Camelo aus der Kanzel.

Ein paar Minuten später standen die Passagiere am Fuß der ausfahrbaren Gangway. Der rothaarige Gillon von Tareth und der bärtige, hünenhafte Karstein. Eine blonde junge Frau, zwei Kinder und ein Baby - die einzigen, die in der toten Stadt Charilan-Chis vergebliche Rebellion gegen die vermeintlichen Götter überlebt hatten. Die Priester und ihre wenigen Anhänger drängten sich dicht aneinander, mit gesenkten Blicken, unsicher, als könnten sie immer noch nicht recht glauben, dass man sie wirklich vor dem Hitzetod auf Terra gerettet hatte. Irnet stand neben John Coradi, dessen Gesicht trotz der Sonnenbräune fahl wirkte. Im Kliniktrakt der »Solaris« waren seine gebrochenen Rippen versorgt worden und die Wunde an der Schulter, wo ihn Charrus Dolch getroffen hatte. Körperlich ging es ihm längst wieder gut. Was ihn belastete, war die Furcht vor der Begegnung, der er nicht ausweichen konnte.

Seine Augen flackerten, als er der hochgewachsenen blondhaarigen Gestalt Mark Nords entgegensah.

Aus der Richtung der Fähre näherten sich unter den Terranern ein paar weitere Siedler. Martell, Mikael und ein dritter Mann, die das Schiff zum Merkur gesteuert hatten. Dane Farr, der eigentlich als Pilot der »Solaris« vorgesehen gewesen und dann doch mit der Fähre geflogen war, weil Charru ihn nicht gefährden, ihn nicht in den verzweifelten und am Ende vergeblichen Versuch hineinziehen wollte, Lara und Erlend doch noch zu befreien. Lediglich fünf Tiefland-Krieger waren vor Tagen mit der »Solaris« auf der Erde zurückgeblieben: Charru und Camelo, Beryl, Gillon und Karstein. Sie hatten keine Chance gehabt. Das marsianische Forschungsschiff mit Lara und Erlend an Bord war vor ihren Augen gestartet, als sie in einem Beiboot den amerikanischen Kontinent anflogen.

Eine bittere Tatsache, die John Coradi, den sie wenig später in der Wüste entdeckten, fast das Leben gekostet hatte.

Jetzt stand er stumm da und biss die Zähne zusammen. Die Merkur-Siedler wussten, dass er für die Entführung von Lara und den anderen verantwortlich war, aber sie hatten nicht damit gerechnet, ihm noch einmal zu begegnen. Mark Nords Lächeln erlosch, als sein Blick auf die schwarze Uniform fiel. Martell, Dane Farr und drei, vier andere blieben ruckartig stehen. Nur der junge Mikael, der erst in der Strafkolonie auf Luna zu den Rebellen gestoßen war, begriff nicht sofort. Aber er spürte die Spannung und sah verständnislos von einem zum anderen.

Charru fluchte innerlich, weil er im Grunde nicht die geringste Lust verspürte, sich der berechtigten Wut der Siedler in den Weg zu stellen.

»Mark...«, begann er.

Ein erstickter Laut ließ ihn innehalten.

Es war Martell, dessen kräftiges, sonst so ruhiges Gesicht sich in besinnungslosem Hass verzerrte. Er hatte Sekunden gebraucht, um zu erkennen, wer da vor ihm stand. Jetzt verschleierten sich seine Augen, und er sog scharf die Luft ein.

»Du Hund!« knirschte er. »Du verdammter Hund von einem Verräter!«

Dabei setzte er sich schon in Bewegung, stieß Mikael mit dem Ellenbogen beiseite und stürzte sich keuchend auf den zurückweichenden Marsianer.

 

*

Lara empfand es als bittere Ironie, dass man ihr eine der komfortablen Gästesuiten im Regierungssitz von Kadnos zur Verfügung gestellt hatte.

Der kleine Erlend schlummerte friedlich in der weißen Schlafmulde. Lara saß auf einem Schalensitz, spürte die glatte Festigkeit des Kunststoffs und das kühle, besänftigende Licht der Leuchtwände, das ihr fremd geworden war. Ihr Vater lehnte mit verschränkten Armen am Fenster, das Gesicht unter dem schulterlangen blonden Haar ernst und beherrscht. Auch für ihn hatte sich die Wiedersehensfreude mit zwiespältigen Gefühlen vermischt. Alle anderen mochten in der Rückkehr seiner Tochter die Rettung einer Bürgerin der Vereinigten Planeten aus den Fängen primitiver Barbaren sehen - er wusste es besser.

Er kannte und achtete Charru von Mornag.

Dass Lara ihm gefolgt war und ein Kind von ihm hatte, wurde in der offiziellen Lesart einem psychischen Ausnahmezustand zugeschrieben. Conal Nord dagegen hatte Laras Entscheidung damals akzeptiert, hätte ihren Entschluss vielleicht sogar gebilligt, ohne den Gedanken an die Gefahr, der sie sich aussetzte. Dieser Punkt gab auch heute noch den Ausschlag. Sie wussten es beide.

»Kommandant Farringer hat einen ziemlich konfusen Bericht geliefert«, sagte der Venusier gedehnt.

Lara zuckte die Achseln. »Wahrscheinlich war er wütend, weil ich keine Spur von Dankbarkeit gezeigt habe, die alle erwarteten. Und da ich deine Tochter bin und er zumindest andeutungsweise die politischen Schwierigkeiten zwischen Mars und Venus kennt, dürfte er nicht gewagt haben, sich klar auszudrücken.«

»Möglich. Jedenfalls sind alle Formalitäten erledigt und...«

»... und ich kann zur Venus zurückkehren, als wäre nichts geschehen«, vollendete Lara. »Jeden anderen hätte man auf schnellstem Wege in ein Internierungslager gebracht. Oder liquidiert wie den armen Jon Erec.«

»Das war Kirrands Anweisung. Ein unglückseliger Zufall, dass die Nachricht zuerst bei ihm landete.«

»Glaubst du, der Präsident hätte eine andere Entscheidung getroffen?« fragte Lara bitter. »Und wenn, dann nur mit Rücksicht auf meine Gefühle, das heißt mit Rücksicht auf dich. Oder nicht einmal das, weil es ihm weder um dich noch um eure persönliche Freundschaft geht, sondern lediglich darum, politische Spannungen zu vermeiden.«

Conal Nord antwortete nicht.

Er wusste, dass Lara Recht hatte. Sein Blick streifte den dunklen Kopf des Kindes, dessen Augen, wenn es wach war, schon jetzt das gleiche durchdringende Saphirblau wie die seines Vaters zeigten.

»Er sieht dir nicht ähnlich«, sagte der Venusier aus einem Impuls heraus.

»Nein. Er wird ein Mornag. Nicht nur äußerlich, sondern auch in seinem Wesen, hoffe ich. Stört dich das - ein Barbarenkind als Enkel?«

»Du weißt genau, dass es nicht so ist. Du weißt, dass ich Charru immer respektiert habe - mehr als nur respektiert.«

»Dann lass mich zum Merkur«, sagte Lara heftig. »Lass mich dorthin zurück, wohin ich gehöre! Ich weiß, dass du es möglich machen könntest.«

»Nein, Lara. Und selbst wenn ich es könnte, würde ich es nicht tun. Jom Kirrand machte bereits den Sicherheits-Ausschuss rebellisch. Er hat Unterstützung im Rat...«

»Kirrand!« stieß Lara hervor. »Wie ich ihn hasse!«

»Es ist nicht nur der Vollzugschef, Lara. Jessardin hat die Operation »Tödlicher Ring« angeordnet, weil ihn die Analysen der Fakultät Friedensforschung dazu zwangen. Klare wissenschaftliche Aussagen, die er nicht ignorieren konnte, ohne die Grundlagen des gesamten Systems in Frage zu stellen.« Nord machte eine Pause und seufzte resignierend. »Jetzt sieht sich der Rat mit einem Bündnis zwischen Charru und meinem Bruder konfrontiert«, fuhr er fort. »Mit einem Kampfschiff auf dem Merkur und vor allem mit der Tatsache, dass sich das Problem durchaus nicht von selbst erledigen wird, weil die Rebellen keine reine Männergruppe mehr sind. Kannst du dir vorstellen, wie die wissenschaftlichen Analysen diesmal ausfallen? Und wie der Rat reagieren wird?«

Lara war blass geworden. »Heißt das, ihr habt bereits beschlossen, die Kriegsflotte zum Merkur zu schicken?«

»Wir? Du weißt sehr gut, dass ich versuchen werde, es zu verhindern.«

»Du kannst es verhindern!«

»Nein, Lara. Ich kann vielleicht Präsident Jessardin dazu bringen, dass er seinen persönlichen Einfluss einsetzt, aber...«

»Er wird nicht riskieren, dass sich die Venus aus der Föderation löst!«

»Nicht gern, bestimmt nicht. Aber bist du sicher, dass ihm diese Gefahr am Ende als kleineres Übel erscheinen würde, verglichen mit einem zerstrittenen Rat, der Merkur als ernste Bedrohung für den Frieden ansieht? Eine Bedrohung, wie es die Venus nie sein könnte!«

»Seit wann ist ein zerstrittener Rat denkbar, wenn der Präsident persönlich seinen Einfluss geltend macht?« fragte Lara mit einem sarkastischen Unterton.

»Das ist durchaus denkbar. Und es wird in dem Augenblick Realität werden, in dem Jessardin versucht, sich in einen offenen Gegensatz zur Wissenschaft zu stellen. Du warst länger als ein Jahr fort, Lara. Inzwischen hat sich hier eine Gruppierung herauskristallisiert, die zwar keine regelrechte Opposition betreibt, aber bei jeder anstehenden Entscheidung für radikale Lösungen gestimmt hat. Jom Kirrand, General Kane und sein Stab, Professor Raik von der Friedensforschung.«

»Und du glaubst, sie werden sich durchsetzen?«

»Das weiß ich nicht. Ich weiß nur, dass ich froh bin, dich unter diesen Umständen in Sicherheit zu wissen.«

»Aber ich will keine Sicherheit, ich...«

»Und dein Sohn? Willst du ihn der Gefahr aussetzen, die eine Invasion auf Merkur zweifellos mit sich brächte?«

Lara biss sich auf die Lippen. »Erlend gehört zu seinem Vater, zu seinem Volk! Und ich ebenfalls! Verstehst du denn nicht, dass es auch mein Schicksal ist, über das auf dem Merkur entschieden wird? Dass ich in Indri nur noch eine Fremde sein würde? Bitte, Vater, lass mich gehen! Hilf mir, damit ich...«

»Nein«, sagte Conal Nord ruhig. »Das kann, will und darf ich nicht. Vielleicht wirst du es später verstehen.«

Lara senkte den Kopf.